12. KAPITEL
„Wolltest du nicht heute Morgen Philip und seinen Freund in der Stadt treffen?“, fragte Owen, als Fiona am nächsten Dienstag um halb neun ins Büro kam.
„Erst um elf“, erwiderte sie und bemühte sich, ihre Nervosität zu verbergen.
Owen kniff die Augen zusammen und betrachtete Fiona. „Das grüne Kostüm ist neu, stimmt’s?“
„Ja. Gefällt es dir?“
„Du wirkst darin wie eine frische Brise.“
„Ist das schlimm?“
„Nur wenn du deinen Exmann triffst.“
„Würdest du damit bitte aufhören, Owen?“
„Ja, aber erst wenn du nach der Hochzeit heil und sicher wieder hier bist. Zumindest triffst du Philip heute zum letzten Mal.“
Owens Bemerkung erinnerte Fiona daran, dass es heute die letzte Gelegenheit wäre, etwas wegen Corinne zu unternehmen.
„Das stört dich, stimmt’s?“, fragte Owen scharf.
Er hatte recht, aber Fiona versuchte, eine unbekümmerte Miene aufzusetzen. „Nein, nicht wirklich. Warum?“
„Nur so. Seit du diesen Auftrag angenommen hast, habe ich so ein Gefühl, dass es Probleme geben wird.“
„Du hast darauf bestanden, dass ich den Job annehme“, erklärte sie.
„Ja, das brauchst du nicht so zu betonen. Klappt alles?“
„Reibungslos. Ich hatte noch nie so wenig Ärger. Alle meine Vorschläge werden akzeptiert. Falls alles so läuft, wie ich es geplant habe, wird es eine großartige Sache.“
„Wieso falls?“
Fiona glaubte nicht, dass Philip die Hochzeit noch absagen würde. Aber sie wollte ihn wenigstens darauf hinweisen, was für eine Frau er heiratete.
„Ach, du weißt schon“, erwiderte sie ausweichend und ging weiter, „es kann immer etwas passieren. Man hat eben nicht alles unter Kontrolle. Ein Fall von höherer Gewalt oder so.“
„Solche Fälle interessieren mich nicht“, rief er hinter ihr her. „Nur Teufelskram beunruhigt mich.“
Fiona musste lachen. Glaubte Owen ernsthaft, sie hätte vor, den Bräutigam zu verführen? Selbst wenn sie es wollte – und in ihren dunkelsten Augenblicken dachte sie sogar darüber nach –, würde Philip nicht darauf eingehen. Er hatte ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, was er von ihr hielt.
Deshalb fühlte sie sich auch nicht schuldig, dass sie seinetwegen ihr neues Kostüm angezogen hatte. Sie könnte nackt vor Philip stehen, ohne dass er reagierte. Na ja, vielleicht würde er doch irgendwie reagieren …
Pünktlich um elf war sie am Treffpunkt. Philip blickte sie kühl an, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. In dem anthrazitgrauen Anzug und dem hellblauen Hemd sah er umwerfend gut aus.
„Steve kommt immer zu spät“, erklärte er und sah auf die Uhr.
„Warten wir noch?“, fragte sie. Sie standen im Foyer des eleganten Herrenausstatters in der King Street.
„Nein, so viel Zeit habe ich nicht. Nach dem Lunch bin ich mit einem Kunden verabredet. Wir können eine Nachricht für Steve an der Rezeption hinterlassen.“
Nachdem sie es getan hatten, wurden sie von einem gut gekleideten jüngeren Mann in die Verkaufsräume geführt, wo man ihnen die neuesten Modelle zeigen wollte.
„Meine Verlobte wünscht, dass ich einen schwarzen Smoking trage“, unterbrach Philip den Mann. „Dazu ein weißes Hemd und eine schwarze Fliege. Etwas anderes kommt nicht infrage.“
„Ah ja. Würden Sie und Ihre Verlobte dann bitte mit mir kommen?“ Er lächelte Fiona freundlich an.
Sogleich warf Philip ihr einen so zornigen Blick zu, dass sie dem Mann prompt erklärte, sie sei nicht Philips Verlobte. Verblüfft entschuldigte sich der Verkäufer.
„Und ich hatte schon gedacht, was für ein attraktives Paar Sie seien.“ Er lachte verlegen auf.
„Fiona ist Mitinhaberin von Five-Star Weddings“, sagte Philip steif.
„Ja, stimmt, jetzt erkenne ich sie wieder.“
Danach hielt Fiona sich im Hintergrund, während Philip sich verschiedene schwarze Anzüge zeigen ließ. Schließlich entschied er sich für einen sehr eleganten, aber traditionellen Smoking.
„Ich werde ihn anprobieren“, verkündete er. „Mein Freund kommt etwas später, er soll denselben nehmen.“ Dann verschwand er in der Umkleidekabine, die sogar eine richtige Tür hatte.
Fiona seufzte. Es verlief anders, als sie gehofft hatte. Steve war nicht da, und Philip behandelte sie so kühl, dass sie unmöglich mit ihm über seine Verlobte reden konnte.
Plötzlich wurde die Tür geöffnet. „Ich komme mit dieser verdammten Fliege nicht zurecht“, erklärte Philip und suchte den Verkäufer, der jedoch mit einem anderen Kunden beschäftigt war.
„Fiona, du musst mir helfen“, sagte er verzweifelt.
Zögernd ging sie in die Umkleidekabine, die für zwei Personen viel zu klein war.
Die Tür schloss sich automatisch hinter ihr. Fiona bemühte sich, kühl und ruhig zu bleiben, während sie die Fliege befestigte. An solche Aufgaben war sie gewöhnt. Doch Philips Nähe irritierte sie. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und ihre Hände wollten ihr nicht gehorchen. Ihr erster Versuch, die Fliege zu binden, misslang, und der Zweite auch.
„Ich befürchte, du musst dir von jemand anders helfen lassen.“
Da er schwieg, sah sie ihm in die Augen und wünschte sogleich, sie hätte es nicht getan. Er war ihr viel zu nah.
Seine Miene wirkte gequält. In dem Moment wurde Fiona klar, dass er noch etwas für sie empfand.
„Warum hast du mich verlassen?“, fragte er ärgerlich. „Warum, verdammt noch mal?“
„Oh Philip“, stieß sie hervor und streichelte ihm die Wange.
Plötzlich packte Philip sie an den Schultern, zog sie an sich und presste den Mund auf ihren.
Fiona öffnete leicht die Lippen, um Luft zu holen, was sich als fataler Fehler erwies. Offenbar hielt Philip es für eine Einladung, ihren Mund mit der Zunge zu erforschen. Er umfasste sogleich ihr Gesicht und schob sie an die Wand mit dem Spiegel.
Philip hatte schon immer leidenschaftlich und gern geküsst. Doch dieses Mal war sein Kuss jenseits von Begierde und Leidenschaft.
Zuerst war Fiona bestürzt über sein brutales Verlangen. Doch Erregung breitete sich in ihr aus. Es kam ihr gefährlich und tollkühn zugleich vor. Sie erwiderte seine Küsse, umkreiste seine Zunge verführerisch mit ihrer, und in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, während ihr das Blut in den Schläfen pochte. Sie schmiegte sich an ihn und fing an, sich an ihm zu reiben.
„Oh nein“, stöhnte er auf.
Plötzlich klopfte jemand an die Tür, und sie blickten sich groß an.
„Bist du da, Philip?“
Philip schloss sekundenlang die Augen, während Fiona kaum glauben konnte, wie schnell aus besinnungsloser Lust ein Gefühl tiefster Demütigung wurde. Sie wäre am liebsten im Boden versunken.
Sie nahm die Hand von seiner Hose und errötete.
„Ja, Steve“, antwortete er kurz angebunden und warf Fiona einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ich bin hier. Einen Moment noch. Fiona hat Mühe, die Fliege zu binden.“
„Wer, zum Teufel, ist Fiona?“
„Die Frau, die meine Mutter für die Hochzeitsvorbereitungen engagiert hat.“
„Ach so. Ich bin in der Umkleidekabine gegenüber und probiere den Anzug an, den du mir ausgesucht hast.“
„Okay.“
Während der kurzen Unterhaltung sah Philip Fiona kühl und zornig an. Schließlich fuhr er sie an: „Was hast du dir dabei gedacht, mich so zu berühren?“
„Ich … ich konnte nicht anders“, erklärte sie etwas hilflos. Sie war bestürzt über den Vorwurf. Doch dann nahm sie sich zusammen und wehrte sich. „Aber du hast mich zuerst geküsst. Hast du das vergessen?“
„Nachdem du mein Gesicht gestreichelt und mich so sehnsüchtig angesehen hast. Und was soll das heißen, du konntest nicht anders? Was ist das für eine lausige Entschuldigung? Bist du etwa nymphoman, dass du jeden Mann anfassen musst, der dir zu nahe kommt?“
„Red doch nicht solchen Unsinn! So bin ich nicht, jedenfalls normalerweise nicht“, erwiderte sie.
„Ach ja, du machst es nur bei mir. Du liebe Zeit, wie pathetisch. Warum gibst du nicht zu, dass du sexbesessen bist, Fiona? Das warst du damals schon.“
„Dass ich dich gestreichelt habe, hatte zuerst nichts mit Sex zu tun.“
Er lachte. „Glaub mir, Süße, am Ende ging es dir nur noch um Sex.“
„Nachdem die Dinge außer Kontrolle gerieten“, entgegnete sie. „Wieso wagst du es überhaupt, mich als sexbesessen zu bezeichnen? Du hast mich zuerst geküsst, und es war kein freundschaftlicher oder platonischer Kuss. Was bist du denn, Philip?“, fragte sie hitzig. „Ein Lüstling, der über jede Frau herfällt, die ihm zu nahe kommt?“
„Das passiert mir nur bei dir, Fiona“, gab er reumütig zu. „Es hat wohl etwas mit den alten Zeiten zu tun. Die Erinnerungen sind verdammt mächtig. Wenn Steve uns nicht unterbrochen hätte, hätte ich dich gewähren lassen. Ich hätte mich eingereiht in die lange Liste deiner Opfer, die vor deinem Haus Schlange stehen.“
Er lachte auf. „Verdammt, erst jetzt begreife ich, warum es mir so schwer gefallen ist, dich zu vergessen, Fiona. Ich warne dich jedoch, halt dich von mir fern. Du hast deine Chance gehabt und sie verspielt. Ich liebe Corinne und werde sie heiraten.“
„Ja, aber liebt sie dich auch?“, warf Fiona ihm verletzt und ärgerlich an den Kopf.
Philip blickte sie ungläubig an. Dann blitzte es in seinen Augen verächtlich auf. „Geh bitte“, forderte er sie auf. „Sofort. Ich will dich bis zur Hochzeit nicht mehr sehen, und dann auch nur, wenn es unbedingt nötig ist. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
Sie begriff, dass sie jede Chance verspielt hatte. Jedes Wort wäre sinnlos und würde alles nur noch schlimmer machen. Doch sie wollte auch nicht einfach so verschwinden.
„Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, Philip, aber ich sorge mich wirklich um dich. Was ich gesagt habe, war nur in deinem Interesse. Ich habe sowieso immer nur in deinem Interesse gehandelt.“
„Wenn es so ist, hast du eine seltsame Art, es zu zeigen“, antwortete er kühl und hart. „Gehst du jetzt bitte?“
Sie zögerte immer noch. „Und was ist mit den Anzügen für die Hochzeit? Owen wird mich fragen.“
„Erklär ihm, der Bräutigam würde sich selbst darum kümmern und hätte dich aus der Verantwortung entlassen.“
Seine eisige Kälte konnte sie kaum ertragen. „Es tut mir sehr leid, Philip.“
Er presste die Lippen zusammen. „Bitte geh endlich.“
Sie sah ihn noch einmal verzweifelt an, dann ließ sie ihn allein.