5. KAPITEL

Fiona verschloss die Tür ihres Apartments und stellte die Heizung an, weil es abends immer etwas kühl war. Dann ging sie langsam über den Flur ins Schlafzimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante, streifte die Schuhe ab und ließ sich in die Kissen sinken.

Noch nie im ganzen Leben war ich so müde, überlegte sie und schloss die Augen. Es war erst sechs Uhr, doch sie hatte das Gefühl, mindestens eine Woche nicht geschlafen zu haben. Sie war seelisch und geistig völlig erschöpft.

Reglos lag sie da und ging in Gedanken die Ereignisse des Tages noch einmal durch. Nichts war so verlaufen, wie sie es sich am Morgen, als sie zu Charlotte gefahren war, vorgestellt hatte, außer dass Philips Mutter sie nicht wieder erkannt hatte.

Die größte Überraschung war Charlotte selbst gewesen. Ob es ihr gefiel oder nicht, Fiona war beeindruckt von deren Herzlichkeit und Wärme.

Nachdem Philip gegangen war, war die Atmosphäre beim Lunch und den Nachmittag über entspannt und angenehm gewesen. Wenn Fiona Charlotte zum ersten Mal begegnet wäre, hätte sie sie sogar sehr gemocht. Mit ihren sechzig Jahren war Philips Mutter eine erstaunlich liebenswerte Frau. Man konnte sich leicht mit ihr unterhalten, sie wirkte vernünftig und war bereit zuzuhören.

Unter normalen Umständen hätte Fiona keine Probleme, die Hochzeit zu organisieren. Doch dummerweise existierte Philip jetzt nicht mehr nur in ihren Erinnerungen, sondern war in gewisser Weise in ihr Leben zurückgekehrt. Schlimmer noch, Fiona fühlte sich gegen ihren Willen immer noch zu ihm hingezogen. Sie liebte ihn nicht mehr, aber ihr Körper reagierte auf ihn.

Glücklicherweise empfindet er nicht genauso wie ich, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr erster Eindruck, dass auch er sich noch zu ihr hingezogen fühlte, war sicher falsch gewesen, denn Philip hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht mehr sein Typ sei. Sie gefiel ihm nicht als schlanke Brünette. Und es gefiel ihm auch nicht, dass sie eine selbstständige, unabhängige Karrierefrau war, die die Verantwortung für ihr Leben selbst in die Hand genommen hatte.

Wahrscheinlich irritierte es ihn, dass sie ganz anders war als damals.

Noni mit ihrem gefärbten hellblonden Haar hatte mit den üppigen Rundungen sehr weiblich gewirkt. Sie hatte Miniröcke und enge Tops getragen, um ihre tolle Figur zu betonen.

Fiona schauderte bei dem Gedanken an diese Zeit.

Aber Philip war nicht nur von ihren körperlichen Reizen begeistert gewesen, sondern auch von Noni selbst. Sie war naiv, unwissend und leicht zu beeindrucken gewesen und hatte ihren reichen, gut aussehenden und intelligenten Freund für ein Geschenk des Himmels gehalten. Sie hatte ihn so sehr bewundert, dass sie alles für ihn getan hätte.

Und am Ende ist es auch so gekommen, überlegte Fiona verbittert.

Fiona war das Gegenteil von Noni, sehr schlank, elegant, gepflegt und weltgewandt. Sie hatte glattes schwarzes Haar, war unabhängig und nicht mehr zu beeindrucken. Sie kleidete sich nicht mehr provozierend oder verführerisch, sondern ihrem Image als Geschäftsfrau entsprechend. Ihre Karriere war ihr wichtiger als jeder Mann.

Sie war sich ziemlich sicher, dass Corinne eine liebe, nette junge Frau war, die Philip anbetete und sich ihm in jeder Hinsicht unterordnete, sodass er sich groß und wunderbar fühlte. Wahrscheinlich hatte die Blondine eine üppige Figur und langes Haar. So oder so ähnlich stellte Fiona sich Philips Verlobte vor. Sie hatte nicht vergessen, dass er schon immer eine Schwäche für vollbusige Blondinen gehabt hatte.

Plötzlich läutete das Telefon neben dem Bett und riss Fiona aus den quälenden Gedanken. Sie runzelte die Stirn und stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es erst zwanzig nach sechs war. Hoffentlich war es nicht Mark und erst recht nicht Philip.

„Fiona Kirby“, meldete sie sich betont geschäftsmäßig.

„Da bist du ja endlich.“

Sie seufzte erleichtert. „Ja, Owen, ich bin gerade nach Hause gekommen.“

„Wie ist es gelaufen? Ich konnte unmöglich bis morgen warten, ich bin viel zu gespannt.“

„Es ist alles in Ordnung, ich habe den Auftrag.“

„Was? Du hast den Auftrag? Dann ist es Mrs Forsythe egal, dass du ihre Schwiegertochter warst?“

„Ja, aber nur weil sie es nicht weiß und mich nicht erkannt hat.“

„Du liebe Zeit“, stöhnte Owen auf.

„Keine Panik, Owen. Mein Exmann tauchte überraschend auf, und er wusste natürlich sogleich, wer ich bin. Er hat es jedoch seiner Mutter nicht gesagt, sondern mir bei passender Gelegenheit erklärt, ich solle mir keine Gedanken machen und den Auftrag einfach annehmen. Wir haben so getan, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt.“

„Na, das war ja wirklich nett von ihm. Aber du hattest schon erwähnt, er sei nett, oder?“

„Ja, aber er ist nicht mehr so nett wie damals. Er ist Strafverteidiger und will immer alles ganz genau wissen. Er hinterfragt alles. Dass er mich engagiert hat, damit ich seine Hochzeit arrangiere, hat eher etwas mit Diplomatie und Zweckmäßigkeit als mit Nettigkeit zu tun. Zum einen war seine liebe Mutter schon von mir beeindruckt, und er wollte sie nicht enttäuschen. Zum anderen findet die Hochzeit schon in zehn Wochen statt, sodass nicht mehr viel Zeit bleibt. Mrs Forsythe hat angeboten, uns das doppelte Honorar zu bezahlen.“

„Wie hast du das denn geschafft?“

„Glaub mir, es war Zufall. Ich versuchte, mich aus der ganzen Sache herauszuwinden, und habe deshalb behauptet, ich hätte kaum noch Termine frei. Und dann hat Mrs Forsythe mir den Vorschlag unterbreitet. Du weißt ja, wie solche Leute sind. Sie denken, sie könnten für Geld alles kaufen.“

„Das können sie auch“, antwortete Owen begeistert. „Das doppelte Honorar! Wow, Fiona, das ist fantastisch.“

„Beruhige dich, Owen. Philip kommt morgen Mittag und will sich die Empfehlungsschreiben und die Fotomappe ansehen, ehe er den Vertrag unterschreibt.“

„Das ist doch nur noch eine Formalität. Niemand hat bessere Referenzen als du.“

„Genau, das habe ich mir auch gesagt. Danach will er mit mir zum Lunch gehen.“

„Ach ja?“

„Es ist nicht so, wie du denkst, Owen. Er ist nur neugierig, sonst nichts.“

„Hoffentlich, meine Liebe. Wir brauchen keine Komplikationen. Du solltest morgen nicht zu sexy auszusehen.“

„In den Outfits, die ich zur Arbeit anziehe, sehe ich nie sexy aus.“

Ist die Frau blind? fragte Owen sich. Wie erklärte sie es sich denn, dass sich so viele Männer für sie interessierten? „Trotzdem würde ich vorschlagen, du ziehst morgen das elegante schwarze Kostüm nicht an, das du dir kürzlich zugelegt hast“, riet er. „Am besten ziehst du überhaupt nichts Schwarzes an. Nimm lieber Grau oder noch besser Braun. Das beruhigt die Gefühle.“

Fiona lachte. „Keine Sorge, Owen, ich kann anziehen, was ich will, denn ich bin nicht mehr Philips Typ.“

„So? Aber er ist immer noch dein Typ, oder?“

„Nur äußerlich.“

„Eben, deshalb bin ich ja so beunruhigt.“

„Du liebe Zeit“, fuhr sie ihn an. „Soll ich die Hochzeit organisieren oder nicht? Entscheide dich endlich.“

„Natürlich organisieren wir die Forsythe-Hochzeit, noch dazu zum doppelten Honorar. Dafür nehme ich beinah alles andere in Kauf.“

„Dann halt auch den Mund, Owen. Außerdem blockierst du die Leitung. Philips Verlobte will anrufen.“

Nachdem das Gespräch beendet war, legte Fiona sich auf den Rücken und blickte zur Decke.

„Scher dich zum Teufel, Philip! Und du dich auch, Owen“, sagte sie nach einigen Minuten laut vor sich hin. „Ich trage Schwarz, wann immer es mir passt.“

Dann schwang sie die Füße aus dem Bett, stellte die Schuhe in den Schrank und schlüpfte aus dem Hosenanzug. In ihren Dessous ging sie ins Badezimmer und zog sich aus. Dann betrachtete sie ihren nackten Körper und ihre vollen Brüste im Spiegel. Ihr fiel Philips Bemerkung wieder ein, sie könne einige Kilo mehr gut vertragen.

Das stimmt gar nicht, überlegte sie ärgerlich. Zugegeben, sie war viel schlanker als damals, aber sie hatte immer noch üppige Brüste, einen wohl gerundeten Po und schöne Beine. Sie gestand sich ein, dass ihre Arme, ihr Hals und ihre Schultern beinah zu schlank waren. Auch ihr Gesicht war nicht mehr so rund, was jedoch besser ihr passte, wie sie fand, weil jetzt ihre Lippen voller und ihre Augen größer wirkten.

Doch es war durchaus möglich, dass Philip genau wie Owen üppigere Frauen bevorzugte. Vielleicht war Corinne ja dick oder zumindest rundlich.

Nein, das war nicht möglich, denn Charlotte hatte gesagt, sie würde eine schöne Braut sein. Und Charlotte war fest davon überzeugt, dass man nie zu schlank und nie zu reich sein könne.

Als das Telefon wieder läutete, eilte Fiona ins Schlafzimmer, ohne sich etwas überzuziehen.

„Fiona Kirby“, meldete sie sich freundlich.

„Philip Forsythe hier, Miss Kirby.“

Fiona versteifte sich. Die förmliche Anrede konnte nur bedeuten, dass Corinne nicht weit weg war.

Sogleich stellte Fiona sich die beiden im Bett vor, nachdem sie sich geliebt hatten.

„Ja, Mr Forsythe?“, erwiderte sie genauso förmlich und hatte dabei das Gefühl, einen Eisklumpen in der Brust zu haben.

„Corinne hat mich gebeten, für sie anzurufen. Sie ist noch etwas scheu. Ich gebe sie Ihnen.“

Fiona sah die Szene vor sich, wie er seiner Verlobten den Hörer reichte und sich die Schnur über seine nackte Brust legte. Er lag so dicht neben ihr, dass er genau verstehen konnte, was Fiona am anderen Ende der Leitung sagte.

„Hallo, Fiona? Hier ist Corinne.“ Die Stimme klang angenehm sanft und anrührend.

Fiona zauberte ein Lächeln auf die Lippen, um munter und fröhlich zu klingen. „Hallo, Corinne. Charlotte hat mir viel Gutes über Sie erzählt.“

„Wirklich? Lieb von ihr. Aber sie ist ja auch ein ganz lieber Mensch, finden Sie nicht auch?“

„Oh ja, bestimmt. Da Sie schon bald heiraten, Corinne, sollten wir uns so rasch wie möglich treffen. Sobald ich weiß, was für ein Kleid Sie tragen werden, kann ich besser planen.“

„Oh. Na ja, ich bin noch sehr unentschlossen. Carmel hat mir versprochen, mich zu begleiten. Sie ist meine Freundin und kann am besten entscheiden, was mir steht und was nicht. Wir machen immer alles zusammen. Außer Carmel werde ich keine Brautjungfer haben. Sie hat sich für ein schwarzes Kleid entschieden.“

„Nur eine Brautjungfer?“, fragte Fiona verblüfft. Dass die Freundin Schwarz tragen wollte, störte Fiona nicht. Es war seit zwei Jahren in Mode.

„Ja. Carmel ist meine einzige Freundin, und ich habe keine Schwestern. Philip auch nicht.“

„Ich verstehe. Es ist Ihre Hochzeit, und ich bin nur dazu da, Ihnen Ihre Wünsche zu erfüllen. Charlotte hat angedeutet, es würde eine große Feier.“

„Das stimmt. Mein Daddy hat Größen aus der Politik eingeladen. Und die Forsythes sind eine unendlich große Familie.“

„Wann haben Sie und Carmel in der kommenden Woche Zeit, mit mir das Kleid auszusuchen?“

„Mir ist es egal an welchem Tag. Carmel hat Urlaub und ist sowieso momentan bei mir. Was ist, Philip? Ach ja, Philip sagt, dass es morgen nicht geht, weil er dann zu Ihnen kommt. Was, Philip?“

Fiona wartete mit finsterer Miene. Offenbar lagen sie nicht im Bett, denn Philips Stimme war zu weit weg.

„Philip hat mir gerade erzählt, dass er Sie zum Lunch eingeladen hat. Wissen Sie was? Überreden Sie ihn, mit Ihnen ins Moby Dick zu gehen. Es ist ein neues Restaurant unten am Meer, in der Nähe von ‚The Rocks‘. Es wird Ihnen gefallen.“

Fiona verzog die Lippen. Die Frau war wirklich nett und überhaupt nicht eifersüchtig. Wenn Philip mein Verlobter wäre, würde ich es nicht zulassen, dass er sich mit einer mir fremden Frau zum Lunch verabredet, dachte sie.

„Leider habe ich morgen nur wenig Zeit, Corinne. Es reicht höchstens für einen Kaffee in irgendeinem Café. Treffen wir uns doch am Dienstag. Ich hole Sie und Carmel um zehn bei Ihnen zu Hause ab. Ist das okay?“

„Ja, eine gute Idee.“ Corinne nannte Fiona die Adresse in Mosman.

„Sind Sie da jetzt auch?“, fragte Fiona, als würde irgendein masochistischer kleiner Teufel sie reiten.

„Oh nein. Ich bin übers Wochenende bei Philip im Apartment seiner Familie an der Double Bay.“

„Ah ja, ich verstehe.“ Fiona schloss die Augen und hätte am liebsten geweint.

Es war schrecklich unfair. Wie war es überhaupt möglich, dass sie auf einen Mann eifersüchtig war, den sie gar nicht mehr liebte?

Schnell fand sie einen weniger beunruhigenden Grund für ihre heftigen Reaktionen. Ich bin nicht wirklich eifersüchtig, sondern beneide Philip, dass er über die Sache von damals hinweggekommen ist, versuchte sie sich einzureden. Sie beneidetet ihn, weil er sich so etwas Normales wie Frau und Kinder wünschte und weil er eine Partnerin gefunden hatte, mit der er sein Leben verbringen wollte.

Fiona konnte Corinne nicht hassen, obwohl sie es gern getan hätte. Stattdessen hasste sie sich selbst und kam sich richtig verschroben vor.

„Philip will noch mal mit Ihnen sprechen, Fiona“, ertönte Corinnes Stimme. Fiona verkrampfte sich das Herz. „Hier ist er. Dann bis Dienstag.“

„Ja, ich freue mich, Corinne.“ Fiona hielt den Atem an, bis Philip am Apparat war.

„Vielleicht verspäte ich mich etwas“, erklärte er sachlich. „Ich muss morgen ganz früh ins Gericht. Es kann sein, dass es etwas länger dauert.“

„In Ordnung“, erwiderte sie. „Aber wie ich eben schon zu Corinne sagte, habe ich keine Zeit, zum Lunch zu gehen. Meist esse ich nur eine Kleinigkeit zwischendurch.“

„Wenn überhaupt“, antwortete er.

„Was hast du eigentlich immer mit meinem Gewicht?“, fuhr sie ihn an. „Merk dir eins, für meine Größe habe ich das Idealgewicht. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe damals zu viel gewogen. Wenn du mich jetzt sehen könntest, wäre dir klar, dass ich vollkommen okay bin.“

„Und das heißt?“

„Dass ich nackt hier stehe und mehr als genug zu bieten habe, um Männer zu begeistern.“

„Das glaube ich, Fiona“, spottete er. Er sprach jetzt so frei mit ihr, dass sie vermutete, Corinne sei aus dem Raum gegangen. „Aber ich bin nicht wie die meisten Männer und nicht mehr interessiert. Ich will nur Klarheit, um einen Schlussstrich ziehen zu können.“

„Klarheit?“, wiederholte sie verständnislos.

„Richtig. Es gibt da zwei Dinge, die ich dich schon immer fragen wollte. Und nachdem wir uns gestern unterhalten haben, sind noch einige andere Fragen aufgetaucht. Ich will die Antworten aus erster Quelle hören, wie man so sagt. Deshalb bleibt es bei der Verabredung zum Lunch, sonst unterschreibe ich den Vertrag nicht. Ist das klar?“

Fiona schwieg. Sie war zornig und irritiert zugleich. Was für Fragen meinte er?

„Okay, dann wäre das geklärt“, fuhr er fort. „Morgen will ich die Wahrheit erfahren.“

Dann legte er auf.