9. KAPITEL
Im Watermark war er offenbar bekannt. Er wurde mit seinem Namen begrüßt, und man hatte ihm einen der besten Tische reserviert, in einer abgeschirmten Nische mit einem einmalig schönen Ausblick.
Auch von den anderen Plätzen aus hatte man eine herrliche Aussicht, denn das Restaurant lag direkt am Strand. Die breite Fensterfront gab den Blick frei aufs Wasser, und die relativ einfache Innenausstattung lenkte die Gäste nicht ab von der Schönheit der Natur.
Fiona gefiel es ausgesprochen gut. Sie hätte die Umgebung sicher gebührend bewundert, wenn sie nicht so irritiert gewesen wäre. Welche Frage wollte Philip ihr noch stellen, nachdem er die Erklärungen, die sie ihm vor zehn Jahren gegeben hatte, akzeptiert hatte? Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn jetzt noch beschäftigte.
Außerdem musste sie sich selbst erst einmal die Frage beantworten, ob sie ihn damals wirklich geliebt hatte oder nicht. Was sie vorhin im Auto empfunden hatte, war nur sexuelles Verlangen gewesen, dessen war sie sich sicher.
Das bedeutete jedoch nicht, dass ihre Gefühle für Philip immer so oberflächlich gewesen waren. Ich habe ihn geliebt, das weiß ich genau, überlegte sie. Und nur weil sie ihn so tief und aufrichtig geliebt hatte, war sie zu dem Opfer bereit gewesen.
Zufrieden mit der Lösung, blickte sie von der Speisekarte auf, die sie mit leerem Blick betrachtet hatte.
Philip studierte die Weinkarte. Er sah ungemein ernst und attraktiv aus. Fiona beobachtete ihn eine Zeit lang, ohne dass er es merkte, und ließ dann den Blick durch das Restaurant gleiten.
„Du bist sicher oft hier, Philip, oder?“
Als er sie ansah, lächelte sie. Sie war fest entschlossen, sich ganz natürlich zu benehmen.
„Ja, ziemlich oft“, antwortete er. „Hier kann ich wenigstens Wein zum Dinner trinken, weil ich zu Fuß nach Hause gehe.“
„Du hast schon immer gern Wein getrunken.“ Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Wir haben uns damals doch unterhalten, Philip“, erklärte sie, ohne nachzudenken. „Ganz besonders am Anfang. Erinnerst du dich an den ersten Abend, als du mich in das exklusive Restaurant in der Stadt eingeladen hattest? Ich war entsetzt darüber, wie viel die Flasche Wein kostete. Wir haben über alles Mögliche geredet, bis wir gehen mussten. Wir waren die Letzten, nach uns wurde geschlossen.“
Er lächelte wehmütig. „Natürlich erinnere ich mich daran, sehr gut sogar. Ich wollte dich mit dem Wein und dem Gespräch beeindrucken.“
„Das ist dir auch gelungen.“
„Wirklich?“, fragte er ironisch.
„Ja, Philip, wirklich.“
„Heutzutage bist du sicher nicht mehr so leicht zu beeindrucken. So, was möchtest du trinken, Fiona?“, fragte er, als der Ober erschien. „Ich muss mich zurückhalten, weil ich noch fahren muss.“
„Wir können uns ja eine Flasche teilen“, schlug sie vor.
„Weißwein oder Rotwein?“
„Einen Chardonnay“, erwiderte sie.
Er zog eine Augenbraue hoch und reichte ihr die Karte. „Dann such einen aus“, forderte er sie auf.
Sie zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie sich auf die Weinkarte konzentrierte und schließlich einen tasmanischen Chardonnay auswählte, den sie noch nie probiert hatte. Hoffentlich ist er so gut, wie der Preis zu versprechen scheint, schoss es ihr durch den Kopf. Dann bestellte sie sehr selbstsicher und gab dem Ober die Karte zurück.
Philip beobachtete sie und schien nicht genau zu wissen, ob er sie bewundern sollte. „Du kennst dich mit Wein jetzt wirklich gut aus“, sagte er, als sie wieder allein waren.
Fiona zuckte die Schultern. „Ich habe viel dazugelernt.“
Er lehnte sich zurück und sah sie nachdenklich an. „Ja, das habe ich schon begriffen. Und ich muss zugeben, ich bin neugierig. Wie hast du dich von Noni in Fiona verwandelt? Du machst alles anders, du gehst anders, du sprichst anders, du kleidest dich anders. Das war sicher schwierig und teuer.“
„Ja.“
„Wer hat es dir bezahlt? Dein Exmann, der Trucker? Oder irgendein Sugar-Daddy, den du nach der Scheidung kennengelernt hast?“
Sie runzelte die Stirn. Er hatte wirklich eine schlechte Meinung von ihr. „Ich habe mir das Geld für die Abendschulen, die Modelkurse, die Redekurse und vieles andere mehr selbst verdient.“
„Was genau hast du gemacht?“
„Zuerst habe ich die Hochschulreife erworben. Was glaubst du, wie lange ich dazu gebraucht habe?“
„Bestimmt nicht lange. Du warst schon immer intelligent, auch wenn du dich selbst nicht so gesehen hast. Aber womit hast du das Geld verdient? Es war sicher nicht leicht.“
„Die Woche über habe ich in einer Fleischfabrik gearbeitet und am Wochenende als Bedienung in einem Hotel, das sich auf Hochzeitsfeiern spezialisiert hatte. Da habe ich auch gelernt, wie man Hochzeiten organisiert und dergleichen. Owen hat auch da gearbeitet. Er …“
Sie unterbrach sich, weil der Ober den Wein servierte. Sie nickte, als er ihr das Etikett präsentierte. Und nachdem er die Flasche geöffnet und ihr einen Schluck zum Probieren eingeschenkt hatte, gab sie ihr Okay. Dann sah sie leicht ungeduldig zu, wie er die Gläser füllte und die Flasche in den Eiskübel stellte. Sie konnte es kaum erwarten, Philip zu erzählen, was sie aus eigener Kraft geschafft hatte.
„Möchten Sie schon das Essen bestellen, Mr Forsythe?“, fragte der Ober schließlich.
Fiona freute sich, als Philip ihn bat, in einigen Minuten zurückzukommen. Dann beugte er sich vor und blickte ihr tief in die Augen.
„Erzähl weiter“, forderte er sie liebevoll auf. „Du hattest gesagt, Owen hätte auch da gearbeitet.“
„Ja, er war für die Tischdekoration und die Blumen verantwortlich. Er ist sehr kreativ. Die Woche über arbeitete er in einem Kostümverleih. Seine Mutter war Schneiderin und hat ihm viel beigebracht über Kleider, insbesondere Brautkleider. Nach den Empfängen haben wir immer zusammen Kaffee getrunken und uns über Zukunftspläne unterhalten. Ich wollte in der Werbung arbeiten und er mit einem eigenen Dienstleistungsunternehmen Hochzeitsfeiern ausrichten und organisieren. Nachdem wir festgestellt hatten, dass sich unsere Ideen ergänzten, konzentrierten wir uns darauf, gemeinsam etwas aufzubauen. Wir haben beide wie verrückt gespart, und nach ungefähr einem Jahr wurde Five-Star Weddings gegründet. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass wir einiges geleistet haben.“
„Es ist erstaunlich. Dein Vater ist bestimmt stolz auf dich.“
„Na ja … nicht unbedingt. Wir haben keinen Kontakt mehr.“
„Wie ist das denn passiert?“
Fiona seufzte. „Es gefiel ihm nicht, dass ich mich von Kevin scheiden ließ. Und dann hat er wieder geheiratet, und Doreen mag mich nicht. Sie denkt, ich sei hochnäsig oder so. Mein Vater hat sich ihrer Meinung angeschlossen.“ Sie lächelte traurig. „Seltsam, deine Mutter meinte, ich sei billig und gewöhnlich, während mein Vater behauptete, ich sei ein Snob. Man kann es den Leuten nicht recht machen.“
„Da fällt mir etwas ein.“ Philip runzelte die Stirn und richtete sich auf.
„Was?“
„Die Frage, die ich dir stellen wollte.“
Fiona versteifte sich.
Philip warf ihr einen prüfenden Blick zu. „In unserer Hochzeitsnacht …“
Sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. „Was war damit?“
„Erinnerst du dich, als der Arzt weg war und meine Mutter mich in die Apotheke schickte, um die Schmerztabletten für dich zu holen?“
„Ja …“
„Hat meine Mutter irgendetwas zu dir gesagt? Dich vielleicht dazu gedrängt, mich zu verlassen? Aus deinen gestrigen Bemerkungen schließe ich, dass ihre Kritik dich weit mehr berührt hat, als ich ahnte. Vielleicht hat sie dich emotional erpresst oder dich bestochen, dir Geld angeboten …“
„Mich bestochen!“, unterbrach Fiona ihn schockiert und ärgerlich. „Du glaubst doch nicht wirklich, ich hätte dich für Geld verlassen, oder?“
„Ich habe daran gedacht, Fiona. In der kurzen Zeit, in der ich weg war, hattest du dich völlig verändert. Erst hattest du dich an mich geklammert und um dein Baby geweint, und eine halbe Stunde später warst du kühl und gleichgültig. Du konntest mich kaum ansehen, als du mir deinen Entschluss mitteiltest, die Ehe und unsere Beziehung zu beenden. Da liegt es nahe, dass ich mich frage, ob meine Mutter etwas damit zu tun hatte.“
„An dem Abend habe ich nicht mit ihr geredet. Sie war wahrscheinlich sehr erleichtert darüber, dass ich mein Baby verloren hatte. Und das konnte ich nicht ertragen.“
Er nickte langsam und traurig. „Ich verstehe. Nun ja, ich wollte nur sicher sein.“
„Bitte, Philip, können wir das Thema ein für alle Mal beenden?“, bat sie ihn.
„Regt es dich immer noch auf?“
„Natürlich! Ich habe an dem Tag mein Baby verloren. Daran mag ich gar nicht denken.“
Er runzelte die Stirn. „Hast du dich deshalb entschlossen, keine Kinder zu bekommen? Weil du Angst hast, es könnte wieder passieren?“
Fiona spürte, dass ihre Emotionen sie zu überwältigen drohten. Sie wollte nicht vor Philip zusammenbrechen, denn sie hatte nicht so lange durchgehalten, um jetzt schwach zu werden.
„Ich habe mich nicht unbedingt gegen Kinder entschieden, sondern gegen die Ehe. Und ich halte nicht viel davon, Kinder zu haben, ohne verheiratet zu sein. Nicht aus irgendwelchen moralischen Gründen. Ich bin eher der Überzeugung, dass Kinder Vater und Mutter brauchen, die sich lieben und in einer stabilen Beziehung leben. Dann haben sie die besten Chancen, verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden statt hilflose Neurotiker.“
„Hältst du dich etwa für eine hilflose Neurotikerin?“
„Manchmal. Du liebe Zeit, da kommt der Ober wieder. Was bestellen wir?“
Es war eine willkommene Ablenkung, sich auf die Speisekarte zu konzentrieren. Doch schon bald war der Ober wieder weg und Fiona mit Philip allein. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so angespannt gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die nächsten zwei Stunden überstehen sollte.
Über die Vergangenheit wollte Fiona nicht mehr reden, das fand sie unerträglich. Und sie konnte es auch nicht ertragen, Philip anzusehen und dabei an all das Schöne zu denken, was sie gemeinsam erlebt hatten.
Ich bin wirklich neurotisch und hilflos, überlegte sie.
„Hast du schon deine Trauzeugen bestimmt?“, unterbrach sie unvermittelt das unbehagliche Schweigen, das plötzlich zwischen ihnen herrschte.
Philip versteifte sich. „Warum?“
„Ich will mit euch möglichst bald die Anzüge aussuchen, am besten schon in der nächsten Woche. In deiner Größe muss wahrscheinlich etwas bestellt werden.“
„Steve ist Trauzeuge“, erklärte er mit besorgter Miene.
„Steve von der Universität?“
„Ja.“
Steve war Stammkunde in dem Fischrestaurant in Newton gewesen, wo Fiona vor zehn Jahren gearbeitet hatte. Weil es in der Nähe der Uni lag, war es bei den Studenten sehr beliebt. Steve hatte Philip überredet, ihn ins Restaurant zu begleiten, um das bezaubernde Mädchen hinter der Theke kennenzulernen.
Als Philip sich gleich am ersten Abend mit Noni verabredet hatte, war Steve eifersüchtig gewesen, denn er hatte sich selbst für sie interessiert.
Fiona seufzte. Die ganze Sache wurde immer komplizierter. „Muss es ausgerechnet er sein?“
„Er ist mein bester Freund, und ich habe ihn schon gefragt. Aber er wird dich wahrscheinlich nicht erkennen“, erklärte Philip. „Und wenn doch, dann sage ich ihm die Wahrheit. Ich kann ihm vertrauen.“
„Interessiert er sich vielleicht auch für Corinne?“
„Du liebe Zeit, nein. Wie kommst du darauf?“
„Weil er sich damals für mich interessiert hat.“
„Ach so. Nein, ich glaube, er mag Corinne nicht.“
Fiona war überrascht. „Warum nicht?“
„Das weiß ich nicht genau. Und er selbst wisse es auch nicht, hat er behauptet. Aber Steve ist ziemlich engstirnig, was Frauen angeht. Sie müssen seiner Meinung nach so richtig zum Anfassen sein.“
„Na, danke für das Kompliment.“
„Ach Fiona, gib doch zu, dass du damals herrlich sexy warst.“
„Das bin ich aber nicht mehr.“
Seine Handbewegung schien auszudrücken, dass er anderer Meinung war. „Wenn du das trägst, was du gestern anhattest, wird Steve kaum Notiz von dir nehmen. Doch in dem heutigen Outfit würde er dir zu Füßen liegen.“
Fiona wollte beleidigt sein, lachte aber stattdessen. „Vielleicht ziehe ich es sogar an, falls Steve noch so gut aussieht wie damals. Aber was ist mit dir? Du liegst mir heute nicht zu Füßen.“
„Fang nicht an, mit mir zu flirten, Fiona“, warnte er sie scharf. „Heb es dir auf für deinen Mark und andere. Und lass auch Steve in Ruhe. Er sucht gerade eine Frau zum Heiraten, und ich glaube nicht, dass du dafür die Richtige bist, oder?“
„Ich werde mich bemühen, mich zu beherrschen“, erwiderte sie schroff.
„Tu das.“
Die Vorspeise wurde serviert, und Fiona trank immer wieder einige Schlucke Wein dazu. Plötzlich drehte sich alles in ihrem Kopf, und sie hörte auf zu essen.
Philip blickte von seinem Teller mit den Austern auf. „Schmeckt es dir nicht?“
„Doch. Ich bin es aber nicht gewöhnt, zum Lunch so viel zu essen. Wenn du jetzt wieder auf mein Gewicht anspielst, bringe ich dich um.“
„Das würde ich doch nie tun. Ich habe sowieso bemerkt, dass du nicht ganz so dünn bist, wie ich zuerst dachte. Vielleicht liegt es daran, dass du keine Dessous trägst.“
Entsetzt stellte Fiona fest, dass sich ihre Jacke geöffnet hatte. Unter dem schwarzen Seidentop zeichneten sich deutlich ihre Brüste ab, denn sie hatte keinen BH angezogen. Ärgerlich biss sie die Zähne zusammen und schloss den Knopf der Jacke.
„Meinetwegen brauchst du ihn nicht zuzumachen“, sagte Philip spöttisch. „Mir hat es gefallen.“
„Männer sind doch alle gleich“, fuhr sie ihn an.
„Hat Mark es gern, dass du keine Dessous trägst?“
„Natürlich habe ich etwas an unter dem Kostüm.“ Sie errötete, als sie sich daran erinnerte, dass sie seinetwegen damals auf Unterwäsche verzichtet hatte. „Hör auf, mich zu verwirren.“
„Tut mir leid.“
„Das glaube ich dir nicht. Und das beweist nur, wie sehr ich mich gestern getäuscht habe.“
„Wieso?“
„Ich dachte, du hättest dich nicht verändert, außer dass du noch besser aussiehst. Aber du hast dich doch verändert – und bestimmt nicht zu deinem Vorteil. Du bist hart und zynisch geworden, Philip.“
„Ach ja? Menschen ändern sich eben, Fiona. Du bist das beste Beispiel dafür.“
„Man kann wohl von dir nicht erwarten, dass du dich mit ironischen Bemerkungen zurückhältst.“
„Meinst du?“ Er schob den Teller weg. „Ich kann ja versuchen, meine Zunge zu hüten und höflicher zu sein.“
„Tu das.“
„Trinken wir auf einen Waffenstillstand?“, schlug Philip vor und hob das Glas.
„Nur wenn du ihn einhalten willst und wenn du dich so benimmst, wie ich es erwarte.“
Er stellte das Glas wieder hin. „Vielleicht erklärst du mir erst einmal, was genau du erwartest.“
„Gut. Wir gehen höflich miteinander um, auch wenn wir allein sind. Und wir reden nicht mehr über die Vergangenheit. Wir machen keine sarkastischen Bemerkungen und uns gegenseitig keine Schwierigkeiten. Das alles gilt, bis du in die Flitterwochen fährst.“
„Hm. Du verlangst ziemlich viel.“
„Wir können so tun, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt.“
Er lachte. „Das ist völlig unmöglich.“
„Versuch es einfach, und betrachte es als Herausforderung.“
„Als Herausforderung? Für mich ist es eher ein Test, wie viel ein Mensch ertragen kann, Fiona.“ Er hob das Glas wieder. Seltsamerweise weckte sein zynisches Lächeln erotische Gefühle in ihr. „Okay, auf deinen Waffenstillstand.“
Zögernd hob Fiona das Glas und stieß mit ihm an. Dann warf Philip ihr einen harten Blick zu, ehe er den Wein austrank.