35.
Dienstagmorgen, der fünfzehnte Dezember
Noch ehe sich die Aufzugtüren schließen, hat Erik mehr als zehnmal auf den Knopf gedrückt. Es weiß, dass es dadurch nicht schneller geht, kann aber einfach nicht anders. Der Gedanke an Benjamins Worte aus der Dunkelheit des Autos vermischt sich mit seltsamen Erinnerungsfragmenten, die der Film aufgewirbelt hat. Erneut hört er Eva Blaus schwache Stimme von einem Mann mit Pferdeschwanz sprechen, der einen Menschen mitgenommen hat, aber es gab einen verlogenen Zug um ihren Mund, etwas, das an ihm zerrte.
Während die Aufzugkabine jammernd nach unten sinkt, dröhnt es über ihm im Schacht.
»Das verwunschene Schloss«, sagt er und hofft inständig, dass es nur ein Zufall ist und Benjamins Verschwinden nichts mit seiner Vergangenheit zu tun hat.
Der Aufzug hält, und die Türen gehen auf. Er eilt durch die Tiefgarage und in ein enges Treppenhaus. Zwei Etagen tiefer schließt er eine Stahltür auf, eilt einen weißen Tunnel bis zu einer gesicherten Tür hinab, drückt lange auf den Knopf der Sprechanlage, bis sich widerwillig jemand meldet, beugt sich vor und erläutert sein Anliegen. Hier unten ist keiner willkommen, denkt er. Im Magazin sind alle Krankenakten archiviert, alle Forschungsergebnisse, alle Experimente, Tests und Dokumentationen zu Contergan und zweifelhaften Untersuchungsmethoden lagern hier. In den Regalen stehen Tausende von Ordnern, in denen die Ergebnisse der heimlichen Laborproben von HIV-Verdachtsfällen aus den achtziger Jahren aufbewahrt werden, die Zwangssterilisierungen und die Zahnexperimente an Debilen, als die schwedische Zahnpflegereform durchgesetzt werden sollte. Man zwang Waisen aus Kinderheimen, Geisteskranke und Greise, Zuckermasse im Mund zu haben, bis ihre Zähne von Karies zerfressen wurden.
Die Tür surrt, und Erik tritt in überraschend warmes Licht. Das Magazin ist so beleuchtet, dass man sich darin wohlfühlt und es einem nicht wie eine fensterlose Höhle tief unter der Erde vorkommt.
Aus dem Wachhäuschen schallt ihm Opernmusik entgegen: die perlenden Koloraturen eines Mezzosoprans. Erik sammelt sich, versucht Ruhe auszustrahlen und zwingt sich zu einem Lächeln.
Ein kleiner Mann mit einem Strohhut auf dem Kopf kehrt ihm den Rücken zu und gießt Blumen.
»Hallo Kurt.«
Der Mann dreht sich um und wirkt freudig überrascht:
»Erik Maria Bark, lange nicht gesehen. Wie geht’s denn so?«
Erik weiß nicht recht, was er sagen soll.
»Ich weiß nicht«, antwortet er ehrlich. »In meiner Familie passieren ein paar blöde Dinge.«
»So, so, na dann …«
»Schöne Blumen«, bemerkt Erik, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen.
»Stiefmütterchen. Ich bin ganz verrückt nach ihnen. Conny hat herumgemotzt, hier unten könne nichts blühen. ›Hier soll nichts blühen können?‹, habe ich gesagt. Sieh mich an!«
»Genau«, antwortet Erik.
»Ich habe überall Quarzlampen installiert.«
»Ach was.«
»Das reinste Solarium«, scherzt Kurt und hält eine Tube mit Sonnencreme hoch.
»Ich kann leider nicht lange bleiben.«
»Creme dir trotzdem lieber die Nase ein«, sagt Kurt, presst einen Klacks aus der Tube und hält die Sonnencreme vor Eriks Nasenspitze.
»Danke, aber …«
Kurt senkt die Stimme und flüstert mit funkelnden Augen:
»Manchmal laufe ich hier unten nur in der Unterhose herum. Aber das muss unter uns bleiben.«
Erik lächelt ihn an und spürt die Anstrengung in seinem Gesicht. Es wird still, und Kurt sieht ihn an.
»Vor Jahren«, beginnt Erik, »habe ich meine Hypnosesitzungen gefilmt.«
»Wie lange ist das her?«
»Ungefähr zehn Jahre, es sind Videokassetten, die …«
»Video?«
»Ja, ich weiß, die waren auch damals schon völlig aus der Mode«, fährt Erik fort.
»Die Videos sind alle digitalisiert worden.«
»Gut.«
»Sie sind im Computerarchiv.«
»Und wie komme ich an sie heran?«
Kurt lächelt, und Erik sieht, wie weiß die Zähne in seinem sonnengebräunten Gesicht sind.
»Dabei kann ich dir helfen.«
Gemeinsam gehen sie zu vier Computern, die neben den Regalen in einer Nische stehen.
Kurt tippt das Passwort ein und blättert in den Dateiordnern über digitalisierte Aufnahmen.
»Stehen die Bänder unter deinem Namen?«, fragt er.
»Das müssten sie eigentlich«, antwortet Erik.
»Das tun sie aber nicht«, erklärt Kurt zögernd. »Ich versuche es mal mit Hypnose.«
Er tippt das Suchwort ein.
»Da haben wir ein paar Sachen, sieh selbst.«
Keiner der Treffer hat etwas mit Eriks Dokumentation seiner Therapie zu tun. Das Einzige, was mit ihm zu tun hat, sind Dokumente zu Anträgen auf und Bewilligungen von Forschungsmitteln. Er sucht nach »verwunschenes Schloss« und versucht es anschließend mit dem Namen Eva Blau, auch wenn die Mitglieder seiner Gruppe nicht stationär behandelt wurden.
»Es gibt nichts«, sagt er müde.
»Na ja, es gab bei der Umstellung reichlich Ärger«, meint Kurt. »Es ist ziemlich viel kaputtgegangen und …«
»Wer hat die Sachen digitalisiert?«
Kurt wendet sich zu ihm um und zuckt bedauernd mit den Schultern.
»Conny und ich.«
»Aber die ursprünglichen Bänder müssen doch noch irgendwo sein«, wendet Erik ein.
»Tut mir leid, aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung.«
»Glaubst du, dass Conny etwas darüber weiß?«
»Nein.«
»Ruf ihn an und frag ihn.«
»Er ist unten in Simrishamn.«
Erik wendet sich ab und versucht, ruhig zu denken.
»Ich weiß, dass eine Menge irrtümlich eingestampft worden ist«, sagt Kurt.
Erik starrt ihn an.
»Es handelt sich hier um einzigartiges Forschungsmaterial«, sagt er matt.
»Ich hab doch schon gesagt, dass es mir leid tut.«
»Ich weiß, ich wollte dir keine …«
Kurt zupft ein braunes Blatt von einer Pflanze.
»Du hypnotisierst nicht mehr, stimmt’s?«, sagt er. »Du hast aufgehört, oder?«
»Ja, aber jetzt muss ich mir die Sachen ansehen, die …«
Erik verstummt, kann nicht mehr weitersprechen, will nur in sein Zimmer zurückkehren, eine Tablette nehmen und schlafen.
»Wir haben hier unten immer wieder Probleme mit der Technik gehabt«, spricht Kurt weiter. »Aber wenn wir das Thema ansprechen, heißt es jedes Mal, wir sollen tun, was wir können. Halb so wild, haben sie gesagt, als wir aus Versehen ein ganzes Jahrzehnt Lobotomieforschung gelöscht haben. Alte Aufnahmen, 16 Millimeter, die in den Achtzigern auf Videos überspielt wurden, es aber nicht mehr bis ins Computerzeitalter geschafft haben.«