14.
Donnnerstagabend, der zehnte Dezember
Joona blickt den dunklen und leeren Korridor hinunter. Es ist Abend, kurz vor acht, er ist als Einziger aus der Abteilung noch da. In allen Fenstern leuchten Adventssterne, und die elektrischen Kerzenständer werfen einen sanften, runden Doppellichtkegel, wenn sie sich im schwarzen Glas spiegeln. Anja hat eine Schale Weihnachtsgebäck auf seinen Schreibtisch gestellt, und er isst viel zu viel davon, während er seine Kommentare zum Protokoll der Vernehmung Evelyns schreibt.
Nachdem Evelyns Lügen aufgeflogen waren, hatte der Staatsanwalt beschlossen, Untersuchungshaft anzuordnen. Er hatte sie davon unterrichtet, dass sie der Beteiligung an Mord in mehreren Fällen dringend tatverdächtig sei und das Recht habe, sich einen Rechtsbeistand zu suchen. Den Ermittlern blieb nun eine dreitägige Frist, bis endgültig über die Untersuchungshaft entschieden werden musste. Entweder würden dann so triftige Gründe für den Verdacht vorliegen, dass das Gericht ihre Schuld zumindest als wahrscheinlich erachten würde, oder man musste sie auf freien Fuß setzen.
Joona ist bewusst, dass Evelyns Lüge noch lange nicht ihre Schuld beweist, aber sie verschafft ihm drei Tage, um herauszufinden, was Evelyn verbirgt und warum.
Er druckt das Protokoll aus, legt es in den Postausgang für die Staatsanwaltschaft, fährt anschließend mit dem Aufzug nach unten, verlässt das Polizeipräsidium und setzt sich in seinen Wagen.
Am Fridhemsplan hört Joona sein Handy klingeln, bekommt es aber irgendwie nicht aus dem Mantel. Es ist durch ein Loch in der Manteltasche im Futter gelandet. Die Ampel springt auf Grün um, und die Autos hinter ihm hupen schon. Er fährt auf die Bushaltestelle vor dem Restaurant der Hare-Krishna-Bewegung, schüttelt das Telefon heraus und ruft zurück.
»Hier spricht Joona Linna — du hast mich angerufen?«
»Ja, gut, dass du dich meldest«, sagt Polizeimeister Ronny Alfredsson. »Wir wissen nicht, was wir tun sollen.«
»Habt ihr mit Evelyns Freund gesprochen, Sorab Ramadani?«
»Das hat nicht so gut geklappt.«
»Habt ihr es auf der Arbeit versucht?«
»Das ist es nicht«, erwidert Ronny. »Er ist hier, in seiner Wohnung, aber er will uns nicht aufmachen, will nicht mit uns reden. Schreit, dass wir verschwinden sollen, dass wir die Nachbarn stören, dass wir ihn schikanieren, weil er Moslem ist.«
»Was habt ihr zu ihm gesagt?«
»Nichts, nur dass wir seine Hilfe bräuchten, wir haben es genauso gemacht, wie du uns gesagt hast.«
»Verstehe«, sagt Joona.
»Dürfen wir die Tür gewaltsam öffnen?«
»Ich komme zu euch. Lasst ihn solange in Ruhe.«
»Sollen wir draußen am Wagen warten?«
»Ja.«
Joona blinkt, wendet und fährt am Zeitungshochhaus vorbei auf die Västerbron. In der Dunkelheit leuchten alle Fenster und Lichter, sodass der Himmel wie eine graue, diesige Glocke über der Stadt hängt.
Er denkt an die Untersuchung der Tatorte. Das Muster, das sich abzeichnet, kommt ihm seltsam vor. Manche Sachverhalte erscheinen ihm schlicht unvereinbar. An der roten Ampel auf der Heleneborgsgatan nutzt Joona die Zeit, um die Akte zu öffnen, die auf dem Beifahrersitz liegt. Er blättert rasch in den Fotos vom Sportplatz. Drei Duschen ohne Trennwände. Das Blitzlicht der Kamera wird von weißen Kacheln reflektiert. Auf einem der Bilder sieht man den Abzieher mit seinem Holzstiel. Er steht an die Wand gelehnt. Die Gummilamellen sind von einer großen Blutpfütze, Wasser und Schmutz, Haaren, Pflaster und einer Flasche Duschgel umgeben.
Neben dem Bodenabfluss liegt ein Arm. Das entblößte Kugelgelenk ist von Knorpel und abgeschnittenem Muskelgewebe umgeben. Das Jagdmesser liegt mit abgebrochener Spitze in der Dusche.
Åhlén hat die Spitze des Messers mit Hilfe einer Computertomographie gefunden, sie steckte in Anders Eks Beckenknochen.
Der übel zugerichtete Körper wurde auf dem Fußboden zwischen der Holzbank und den verbeulten Blechschränken zurückgelassen. An einem Haken hängt eine rote Sportjacke. Überall ist Blut, auf dem Boden, auf Türen und Bänken.
Während er auf Grün wartet, trommelt Joona auf das Lenkrad und überlegt, dass die Techniker massenhaft Spuren und Fingerabdrücke und Fasern und Haare gesichert haben. Es handelt sich um riesige Mengen DNA, von Hunderten Menschen, aber noch passt nichts davon zu Josef Ek. Große Teile des gesammelten genetischen Materials waren verschmutzt und die DNA-Mischspuren so komplex, dass die Analyse des kriminaltechnischen Labors erschwert wurde.
Er hat die Kriminaltechniker gebeten, ihr Augenmerk vor allem darauf zu richten, ob an Josef Ek Blut seines Vaters nachzuweisen ist. Die große Menge Blut vom zweiten Tatort, mit der sein Körper bedeckt war, ist nicht relevant. Alle im Haus waren mit dem Blut der anderen beschmiert. Josef hatte genauso Blut von seiner Schwester auf sich wie sie von ihm. Aber wenn sie Blut von Josefs Vater an Josef oder Spuren von Josef in dem Umkleideraum finden, lässt sich seine Anwesenheit an beiden Tatorten nachweisen. Das würde ausreichen, um Anklage zu erheben.
Schon im Krankenhaus von Huddinge wurde eine Ärztin namens Sigrid Krans vom SKL in Linköping, das in Schweden sämtliche DNA-Analysen durchführt, angewiesen, an Josef Eks Körper alle biologischen Spuren zu sichern.
Auf Höhe des Högalidparks ruft Joona Erixon an, einen sehr dicken Mann, der für die Tatortuntersuchung in Tumba verantwortlich ist.
»Vergiss es«, meldet sich eine schleppende Stimme.
»Erixon?«, scherzt Joona. »Erixon? Könnte man vielleicht ein Lebenszeichen bekommen?«
»Ich schlafe«, lautet die müde Antwort.
»Sorry.«
»Quatsch, aber ich bin ehrlich gesagt schon auf dem Heimweg.«
»Habt ihr in der Umkleide etwas von Josef gefunden?«, erkundigt sich Joona.
»Nein.«
»Natürlich habt ihr das.«
»Nein«, antwortet Erixon.
»Ich glaube, du arbeitest schlampig.«
»Da irrst du dich«, erwidert Erixon ruhig.
»Hast du unseren Freunden in Linköping ein bisschen Druck gemacht?«, fragt Joona.
»Mit all meinem Gewicht«, antwortet Erixon.
»Und?«
»Sie können an Josef keine DNA von seinem Vater finden.«
»Denen glaube ich auch nicht«, sagt Josef. »Er muss doch verdammt nochmal blutüberströmt …«
»Nicht ein Tropfen«, unterbricht Erixon ihn.
»Das stimmt nicht.«
»Sie klangen jedenfalls, als wären sie sehr zufrieden mit sich.«
»Low-copy-number-Proben?«
»Nein, nicht einen Mikrotropfen, nichts.«
»Also … so viel Pech können wir doch gar nicht haben.«
»Können wir schon.«
»Nein.«
»Du wirst dich wohl damit abfinden müssen«, sagt Erixon.
»Okay.«
Sie beenden das Gespräch, und Joona überlegt, dass manches, was zunächst wie ein Rätsel aussieht, oft nur auf Zufällen beruht. Die Vorgehensweise des Täters scheint an beiden Orten identisch gewesen zu sein: besinnungslose Messerhiebe und aggressive Versuche, die Körper zu zerstückeln. Deshalb ist es so seltsam, dass sie kein Blut des Vaters an Josef gefunden haben, wenn er wirklich der Täter ist. Er hätte so blutverschmiert sein müssen, dass er Aufmerksamkeit erregt hätte, denkt Joona und ruft Erixon noch einmal an.
»Ja.«
»Mir ist da was eingefallen.«
»Nach zwanzig Sekunden?«
»Habt ihr die Damenumkleide untersucht?«
»Da ist keiner gewesen — die Tür war abgeschlossen.«
»Das Opfer hatte den Schlüssel wahrscheinlich dabei.«
»Aber …«
»Kontrolliert die Bodenabflüsse in der Frauendusche«, beharrt Joona.
Nachdem er um den Park Tantolunden gefahren ist, biegt Joona in einen Fußgängerweg und parkt vor den Hochhäusern, die dem Park zugewandt stehen. Er fragt sich, wo der wartende Streifenwagen stehen mag, überprüft die Adresse und überlegt, ob Ronny und sein Kollege womöglich an der falschen Tür geklopft haben. Er verzieht den Mund. Das würde jedenfalls Sorabs Weigerung erklären, sie hereinzulassen, weil er dann nämlich nicht einmal Sorab heißen würde.
Die Abendluft ist kühl. Er geht mit schnellen Schritten zum Hauseingang und denkt daran, wie Josef den Tathergang unter Hypnose beschrieben hat. Wenn seine Schilderung mit dem tatsächlichen Ablauf der Tat übereinstimmt, tut Josef nichts, um sein Verbrechen zu verbergen, er schützt sich nicht. Er denkt nicht an die Folgen, sondern lässt zu, dass er von Blut bespritzt wird.
Joona überlegt, dass der hypnotisierte Josef Ek vielleicht nur das Gefühl beschrieben hat, einen verwirrten und rasanten Tumult, während er rein körperlich, äußerlich, vor Ort, vielleicht auch ganz überlegt gehandelt hat und systematisch vorgegangen ist. Vielleicht hat er Regenkleidung getragen und in der Damenumkleide geduscht, bevor er nach Hause gefahren ist.
Er muss mit Daniella Richards sprechen, um zu erfahren, wann Josef Ek sich ihrer Meinung nach zumindest so weit erholt hat, dass er vernehmungsfähig ist.
Joona betritt das Haus, holt sein Handy heraus und sieht sein Gesicht in den schwarzen Feldern der im Schachbrettmuster gekachelten Wand: das helle, frostige Gesicht, den ernsten Blick und die blonden zerzausten Haare. Während er auf den Aufzug wartet, ruft er Ronny an, der sich jedoch nicht meldet. Vielleicht haben die beiden einen letzten Versuch unternommen und sind von Sorab hereingelassen worden. Joona fährt in den sechsten Stock hinauf, wartet, bis eine Mutter mit Kinderwagen in den Aufzug gestiegen ist, geht dann zu Sorabs Tür und klingelt.
Er wartet einen Moment, klopft an, wartet ein paar Sekunden, schiebt dann mit der Hand den Briefeinwurf auf und sagt:
»Sorab? Ich heiße Joona Linna. Ich bin Polizist, Kriminalpolizei.«
Man hört ein Geräusch hinter der Tür, als hätte sich jemand schwer gegen sie gelehnt, der sich nun jedoch rasch entfernt.
»Sie sind der Einzige, der wusste, wo sich Evelyn aufhielt«, fährt er fort.
»Ich habe nichts getan«, sagt ein Mann mit einer dunklen Stimme in der Wohnung.
»Aber Sie haben erzählt, dass …«
»Ich weiß nichts«, schreit der Mann.
»Ist ja gut«, sagt Joona. »Ich möchte aber trotzdem, dass Sie die Tür öffnen, mich ansehen und mir dann sagen, dass Sie nichts wissen.«
»Gehen Sie weg.«
»Öffnen Sie die Tür.«
»Verdammt … könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen, ich habe mit der Sache nichts zu tun, ich will da nicht reingezogen werden.«
Seine Stimme ist voller Angst. Er verstummt, atmet, schlägt mit der Hand gegen etwas.
»Evelyn geht es gut«, sagt Joona.
Es raschelt leise im Briefeinwurf.
»Ich dachte …«
Er verstummt.
»Wir müssen mit Ihnen reden.«
»Ist es wahr, dass Evelyn nichts passiert ist?«
»Jetzt machen Sie schon die Tür auf.«
»Ich habe doch gesagt, dass ich nicht will.«
»Es wäre gut, wenn Sie mitkommen könnten.«
Für einen Moment herrscht Stille zwischen ihnen.
»Ist er öfter hier gewesen?«, fragt Joona unvermittelt.
»Wer?«
»Josef?«
»Wer ist das?«
»Evelyns Bruder.«
»Er ist nicht hier gewesen«, sagt Sorab.
»Wer ist dann hier gewesen?«
»Hast du immer noch nicht kapiert, dass ich keine Lust habe, mit dir zu reden?«
»Wer ist hier gewesen?«
»Ich habe nicht gesagt, dass jemand hier gewesen ist, stimmt’s, du versuchst nur, mich reinzulegen.«
»Nein, das tue ich nicht.«
Wieder wird es still. Dann hört man herzzerreißendes Schluchzen hinter der Tür.
»Ist sie tot?«, fragt Sorab. »Ist Evelyn tot?«
»Warum fragen Sie das?«
»Ich will nicht mit dir reden.«
Schritte entfernen sich ins Wohnungsinnere, und man hört, dass eine Tür geschlossen wird. Laute Musik wummert in der Wohnung. Als Joona die Treppen hinuntergeht, denkt er, dass jemand Sorab solche Angst eingejagt haben muss, dass er Evelyns Versteck verraten hat.
Joona tritt in die kühle Luft hinaus und sieht, dass zwei Männer in Trainingsjacken mit dem Logo eines Fitnesscenters bei seinem Auto auf ihn warten. Als sie ihn kommen hören, drehen sie sich um. Der eine setzt sich mit einem Handy am Ohr auf die Motorhaube. Joona taxiert die beiden in Windeseile. Sie sind um die dreißig. Der Mann auf der Motorhaube hat einen kahlrasierten Schädel, während der andere eine Frisur wie ein Schuljunge hat. Nach Joonas Schätzung wiegt der Kerl mit der Jungenfrisur mehr als hundert Kilo. Möglicherweise trainiert er Aikido, Karate oder Kickboxen. Wahrscheinlich nimmt er Wachstumshormone, denkt Joona. Der andere hat vielleicht ein Messer, aber wahrscheinlich keine Handfeuerwaffe.
Eine dünne Schneeschicht bedeckt den Rasen.
Joona biegt ab, als hätte er die Männer nicht bemerkt, und geht in Richtung des beleuchteten Fußwegs.
»Alter«, ruft der eine.
Joona ignoriert die beiden und spaziert stattdessen zu einer Treppe neben einer Straßenlaterne mit einem grünen Papierkorb.
»Willst du dein Auto nicht haben?«
Joona bleibt stehen und wirft einen schnellen Blick die Häuserfassade hinauf. Er erkennt, dass der Mann, der auf seiner Motorhaube sitzt, mit Sorab telefoniert, der sie von seinem Fenster aus beobachtet.
Der Größere der beiden nähert sich vorsichtig, und Joona dreht sich um und geht ihm entgegen.
»Ich bin Polizist«, sagt er.
»Und ich bin ein Gorilla.«
Joona zieht schnell sein Handy aus der Tasche und wählt erneut Ronnys Nummer. Sweet Home Alabama ertönt in der Tasche des anderen Mannes, der aufsteht, breit grinst, Ronnys Telefon herauszieht und sich meldet.
»Ja, hier sind die Bullen.«
»Worum geht es hier eigentlich?«, sagt Joona.
»Du sollst Sorab in Ruhe lassen — er will nicht reden.«
»Glaubt ihr wirklich, dass ihr ihm helft, wenn ihr …«
»Das ist eine Warnung«, unterbricht der Mann Joona. »Mir ist scheißegal, wer du bist, du sollst dich von Sorab fernhalten.«
Joona wird klar, dass die Situation gefährlich werden könnte, erinnert sich, dass er seine Pistole in seinem Büro im Polizeipräsidium eingeschlossen hat, und hält Ausschau nach einer Schlagwaffe.
»Wo sind meine Kollegen?«, fragt er mit ruhiger Stimme.
»Hast du mich verstanden? Du sollst Sorab in Ruhe lassen.«
Der Mann streicht sich hastig über seine Jungenfrisur, atmet schneller, dreht sich seitlich, kommt etwas näher und hebt die Ferse des hinteren Fußes ein paar Zentimeter vom Boden.
»Als ich jünger war, habe ich viel trainiert«, sagt Joona. »Und wenn du mich angreifst, werde ich mich verteidigen und euch verhaften.«
»Wir machen uns vor Angst in die Hose«, sagt der auf dem Auto.
Joona lässt den Mann mit der Jungenfrisur nicht aus den Augen.
»Du hast dir überlegt, gegen meine Beine zu treten«, sagt Joona. »Weil du weißt, dass du für hohe Tritte zu unbeweglich bist.«
»Idiot«, murmelt der Mann.
Joona bewegt sich nach rechts, um in eine bessere Position zu kommen.
»Wenn du wirklich zutrittst«, fährt Joona fort, »werde ich nicht zurückweichen, wie du es von anderen gewohnt bist, sondern angreifen und in deine rechte Kniebeuge treten, und wenn du dann nach hinten fällst, trifft mein Ellbogen hier deinen Nacken.«
»Oh Mann, der redet vielleicht eine Scheiße«, sagt der Mann auf dem Auto.
»Ja«, grinst der andere.
»Wenn du dabei die Zunge herausstreckst, wirst du sie dir abbeißen«, prophezeit Joona.
Der Mann mit der Jungenfrisur lässt seinen Körper ein wenig pendeln, und als er zutritt, tut er es langsamer als erwartet. Joona hat schon einen ersten Schritt gemacht, als der Angreifer seine Hüftdrehung einleitet. Bevor der Mann das Bein ausstreckt und sein Ziel trifft, tritt Joona ihm mit aller Kraft in die Kniebeuge des Beins, auf das der Mann mit der Jungenfrisur sein ganzes Gewicht verlagert hat. Er verliert das Gleichgewicht und fällt nach hinten, während Joona sich dreht und ihn mit dem Ellbogen im Nacken trifft.