33.

 

Montagnachmittag, der vierzehnte Dezember

 

 

 

 

 

Erik Maria Bark sitzt am Schreibtisch seines Arbeitszimmers. Durch das Fenster zum menschenleeren Innenhof des Krankenhauses fällt bleiches Licht herein. In einer Plastikverpackung mit Deckel liegen die Reste eines Salats. Neben der Tischlampe mit ihrem rosa Schirm steht eine Zweiliterflasche Coca-Cola. Er betrachtet den Ausdruck des Fotos, das Aida Benjamin geschickt hat: In der nächtlichen Dunkelheit formt das gleißende Blitzlicht einen hell erleuchteten Raum aus wildwüchsigem Gras, einer Hecke und der Rückseite eines Zauns. Obwohl er so nahe herangeht, wie es nur geht, erschließt sich ihm nicht, was das Bild eigentlich zeigen will, was sein Objekt ist. Er hält sich die Aufnahme dicht vor die Augen und versucht zu verstehen, ob etwas in dem Laubkorb aus Plastik liegt.

Erik überlegt, Simone anzurufen und sie zu bitten, ihm den genauen Wortlaut der Mail vorzulesen, damit er exakt weiß, was Aida Benjamin geschrieben hat und wie Benjamins Antwort lautete, sagt sich dann jedoch, dass er es Simone ersparen sollte, mit ihm zu reden. Er begreift nicht, wie er so boshaft sein konnte, ihr gegenüber zu behaupten, dass er ein Verhältnis mit Daniella hat. Vielleicht hat er es nur getan, weil er sich danach sehnt, dass sie ihm verzeiht, und weil sie immer so schnell bereit ist, ihm zu misstrauen.

Plötzlich hört er in Gedanken wieder Benjamins Stimme bei seinem Anruf aus dem Kofferraum und wie er versucht hat, erwachsen zu sein, nicht ängstlich zu klingen. Erik nimmt eine rosa Kapsel Citodon aus seiner hölzernen Schatulle und schluckt sie mit kaltem Kaffee. Seine Hand zittert so stark, dass er Mühe hat, die Tasse wieder auf der Untertasse abzustellen.

Eingesperrt in der Dunkelheit eines Kofferraums muss Benjamin sich schrecklich gefürchtet haben, denkt Erik. Er wollte meine Stimme hören, wusste nichts, nicht, wer ihn entführt hat oder wohin er unterwegs war.

Wie lange mag Kennet brauchen, um das Gespräch orten zu lassen? Erik ärgert sich darüber, dass er diese Aufgabe abgegeben hat, sagt sich aber, wenn sein Schwiegervater Benjamin finden kann, ist alles andere bedeutungslos.

Erik legt die Hand auf den Hörer. Er muss die Polizei anrufen und sie antreiben. Er muss hören, ob sie vorankommen, ob sie das Gespräch schon orten konnten, ob sie einen Verdächtigen haben. Als er anruft und sein Anliegen erläutert, wird er zunächst falsch verbunden und muss noch einmal anrufen. Er hofft, mit Joona Linna sprechen zu können, wird jedoch mit einem Polizeimeister namens Fredrik Stensund verbunden. Der Beamte bestätigt, dass er die Ermittlungen zu Benjamin Barks Verschwinden leitet. Der Polizeimeister ist sehr verständnisvoll und erklärt, er habe selbst Kinder im Teenageralter:

»Wenn sie ausgehen, macht man sich die ganze Zeit Sorgen, obwohl man weiß, dass man sie ziehen lassen muss, aber …«

»Benjamin ist nicht in der Disco«, sagt Erik mit Nachdruck.

»Nein, es liegen in der Tat gewisse Informationen vor, die dagegen sprechen, dass …«

»Er ist gekidnappt worden«, unterbricht Erik ihn.

»Ich verstehe, wie Sie sich fühlen müssen, aber …«

»Für Sie hat die Suche nach Benjamin nicht oberste Priorität«, ergänzt Erik.

Es wird still, und der Polizeimeister atmet mehrmals tief durch, ehe er erneut das Wort ergreift:

»Ich nehme ernst, was Sie sagen, und kann Ihnen versichern, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht.«

»Dann orten Sie das Telefonat«, sagt Erik.

»Wir sind dabei«, erwidert Stensund in einem förmlicheren Ton.

»Bitte«, sagt Erik abschließend ganz schwach.

Er bleibt mit dem Hörer in der Hand sitzen. Sie müssen das Gespräch zurückverfolgen, denkt er. Wir müssen einen Ort bekommen, einen Kreis auf einer Landkarte, eine Richtung, es ist der einzige Hinweis, den wir haben. Ansonsten hat Benjamin nur erzählt, dass er eine Stimme gehört hat.

Wie unter einer Decke, denkt Erik, ist sich aber nicht sicher, ob er sich richtig erinnert. Hat Benjamin wirklich gesagt, dass er eine Stimme gehört hat, eine dumpfe Stimme? Vielleicht war es auch nur ein Murmeln, ein Laut, der an eine Stimme erinnerte, keine Worte, keine Bedeutungen. Erik streicht sich über den Mund, betrachtet die Fotografie und fragt sich, ob in dem hohen Gras etwas liegt, kann aber nichts sehen. Als er sich zurücklehnt und die Augen schließt, bleibt das Bild auf seiner Netzhaut zurück: Die Hecke und der braune Zaun blitzen rosa auf, und der gelbgrüne Hügel ist dunkelblau und driftet langsam ab. Wie ein Stück Stoff vor einem Nachthimmel, denkt Erik und erinnert sich im selben Moment, dass Benjamin etwas über ein Haus, ein verwunschenes Schloss gesagt hat.

Er öffnet die Augen und steht auf. Die gedämpfte Stimme hat etwas über ein verwunschenes Schloss gesagt. Damit könnte vielleicht auch eine dieser halb verfallenen Holzvillen gemeint sein. Er erinnert sich an eine, die er einmal nördlich von Stockholm, in der Nähe von Rosersberg gesehen hat. Er denkt blitzschnell: Eds kyrka, Runby, durch die Allee, über die Anhöhe, an der alternativen Kommune vorbei, zum Mälarsee hinunter. Bevor man zu der Schiffssetzung bei Runsa borg kommt, liegt das Gebäude auf der linken Seite, Richtung Wasser. Eine Art komprimiertes Gutshaus aus Holz, mit Türmchen, Terrassen und einer Menge verschnörkelter Holzschnitzereien. Erik verlässt sein Zimmer, eilt im Laufschritt den Flur hinunter, versucht, sich den Ausflug zu vergegenwärtigen, und erinnert sich, dass Benjamin mit ihm im Auto saß. Sie hatten sich die Schiffssetzung angesehen, eines der größten Wikingergräber Schwedens, hatten mitten in der Ellipse aus großen Findlingen im Gras gestanden. Es war Spätsommer und sehr warm gewesen. Erik entsinnt sich der stehenden Luft und der Schmetterlinge über dem Kies auf dem Parkplatz, als sie sich in das heiße Auto setzten und mit herabgekurbelten Fenstern zurückfuhren. Im Aufzug fällt Erik ein, dass er nach ein paar Kilometern am Straßenrand gehalten, auf die Holzvilla gezeigt und Benjamin scherzhaft gefragt hatte, ob er sich vorstellen könnte, dort zu wohnen.

»Wo meinst du?«

»Na, in dem verwunschenen Schloss dort«, hatte er gesagt, weiß aber nicht mehr, wie Benjamins Antwort lautete.

Jetzt sinkt die Sonne immer tiefer, ihre schrägen Strahlen funkeln im Eis der Wasserpfützen auf dem Parkplatz der Neurologie. Als er Richtung Haupteingang abbiegt, knirscht unter den Autoreifen der Splitt auf dem Asphalt.

Erik ist natürlich klar, wie unwahrscheinlich es ist, dass Benjamin ausgerechnet dieses verwunschene Schloss gemeint hat, aber völlig ausschließen lässt es sich nicht. Er fährt auf der E 4 nach Norden, während das vergehende Licht die Welt eintrübt. Er kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Erst als die Blautöne auftauchen, begreift sein Gehirn, dass es tatsächlich dämmert.

Eine halbe Stunde später nähert er sich dem verwunschenen Schloss. Vier Mal hat er versucht, Kennet zu erreichen, um zu erfahren, ob es ihm gelungen ist, Benjamins Telefonat zu orten, aber er hat sich nicht gemeldet, und Erik hat auch keine Nachricht hinterlassen.

Der Himmel über dem großen See behält einen schwachen Lichtschein, wogegen der Wald vollkommen schwarz ist. Langsam fährt er auf der schmalen Straße in das kleine Dorf hinein, das im Laufe der Jahre am Wasser entstanden ist. Die Scheinwerfer des Wagens schwenken über neu gebaute Häuser, Holzvillen der Jahrhundertwende und kleine Sommerhäuser, blitzen in ein paar Fenstern auf und schweifen über eine Auffahrt mit einem Dreirad. Er bremst und sieht das verwunschene Schloss, das sich hinter einer hohen Hecke vom Himmel abhebt. Er steigt aus dem Wagen und geht zurück, öffnet eine Gartenpforte zu einem Grundstück mit einem großen, freistehenden Haus aus dunklen Backsteinen, tritt auf den Rasen und geht um das Haus herum. Eine Fahnenstange wird von ihrer Leine gepeitscht. Erik steigt über den Zaun zum nächsten Grundstück und kommt an einem Schwimmbecken vorbei, das von einer knarrenden Plastikplane bedeckt ist. Die große Fensterpartie des flachen Hauses am See ist schwarz. Die Steinplatten sind von dunklen Blättern bedeckt. Erik geht schneller, erkennt die Villa schemenhaft auf der anderen Seite einer Fichtenhecke und zwängt sich durch diese hindurch.

Dieses Grundstück ist besser vor fremden Blicken geschützt als die anderen, denkt er.

Auf der Straße fährt ein Auto vorbei, und während das Scheinwerferlicht ein paar Bäume in Licht taucht, denkt Erik an Aidas seltsames Foto. Das gelbe Gras und die Sträucher. Er nähert sich dem großen Holzhaus, und es sieht aus, als würde in einem der Zimmer blaues Feuer brennen.

Das verwunschene Schloss hat hohe Sprossenfenster mit reliefartigen Fensterrahmen, die wie gehäkelte Spitze aussehen. Die Aussicht auf den See muss großartig sein, überlegt Erik. Ein höherer, sechseckiger Turmanbau an einem der Gebäudeflügel und zwei verglaste Erker mit Turmdächern lassen das Haus aussehen wie ein hölzernes Miniaturschloss. Die Wandlatten liegen eigentlich waagerecht, aber die Linie wird von vorgetäuschten Paneelen durchbrochen, wodurch das Ganze mehrdimensional wirkt. Die Tür ist von Holzschnitzereien umrahmt: hölzerne Säulen und ein hübsches, spitz zulaufendes Dach.

Als Erik das Fenster erreicht, sieht er, dass das blaue Licht von einem Fernsehapparat stammt. Jemand schaut Eiskunstlauf. Die Kameras verfolgen seitliche Bewegungen, kreiselnde Sprünge und schnelle Schlittschuhschritte. Blaues Licht huscht über die Zimmerwände. Auf der Couch sitzt ein dicker Mann in einer grauen Trainingshose. Er schiebt seine Brille hoch und lehnt sich zurück. Er scheint allein zu sein. Es steht nur eine Tasse auf dem Tisch. Erik versucht, in das angrenzende Zimmer zu sehen, wo hinter dem Glas leise etwas raschelt. Erik geht zum nächsten Fenster und blickt in ein Schlafzimmer mit einem ungemachten Bett und einer geschlossenen Tür. Neben einem Wasserglas auf einem Nachttisch liegen zerknüllte Taschentücher. An der Wand hängt eine Karte von Australien. Es tropft aufs Fensterblech. Erik folgt der Hauswand zum nächsten Fenster. Die Vorhänge sind zugezogen. Man kann zwischen ihnen nicht hindurchsehen, aber wieder hört er das eigentümliche Rascheln, in das sich eine Art Klackern mischt.

Er geht weiter, umrundet den sechseckigen Turmanbau und blickt als Nächstes in ein Esszimmer. Dunkle Möbel stehen auf einem glänzenden Holzfußboden. Irgendetwas sagt Erik, dass sie nur selten benutzt werden. Vor einer Vitrine liegt ein schwarzer Gegenstand auf dem Fußboden. Ein Gitarrenkoffer, denkt er und hört ein Rascheln. Erik lehnt sich zum Glas vor, schirmt die Spiegelung des grauen Himmels mit seinen Händen ab und sieht einen großen Hund auf sich zulaufen. Er kracht gegen das Fenster, richtet sich an der Scheibe auf und bellt. Erik schreckt zurück, stolpert über einen Blumentopf, eilt um das Haus herum und wartet mit pochendem Herzen.

Der Hund verstummt nach einer Weile, und die Außenbeleuchtung wird eingeschaltet und dann wieder gelöscht.

Erik fragt sich, was er hier eigentlich zu suchen hat, er fühlt sich schrecklich allein, weiß nicht, was er tun soll, erkennt, dass er ebenso gut wieder zu seinem Zimmer im Karolinska-Krankenhaus zurückfahren kann, und macht sich auf den Weg zur Vorderseite des verwunschenen Schlosses.

Als er um das Haus herumkommt, sieht er im Licht einer Lampe über dem Hauseingang einen Menschen. Auf der Treppe steht der dicke Mann in einer Daunenjacke. Als er Erik erblickt, wird sein Gesicht ängstlich. Wahrscheinlich hat er mit einem Reh oder mit Kindern gerechnet, die ihm einen Streich spielen wollten.

»Hallo«, sagt Erik.

»Das ist ein Privatgrundstück«, ruft der Mann mit gellender Stimme.

Hinter der geschlossenen Haustür bellt der Hund. Erik nähert sich und entdeckt, dass in der Auffahrt ein gelber Sportwagen steht. Er hat nur zwei Sitzplätze, und sein Kofferraum ist ganz offensichtlich viel zu klein, um einen Menschen aufnehmen zu können.

»Ist das Ihr Porsche?«, fragt Erik.

»Ja, allerdings.«

»Haben Sie noch mehr Autos?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Mein Sohn ist verschwunden«, antwortet Erik ernst.

»Ich habe keine anderen Autos«, sagt der Mann. »Okay?«

Erik notiert sich das Kennzeichen.

»Könnten Sie jetzt bitte gehen?«

»Ja«, antwortet Erik und geht zu den Toren.

Auf der Straße bleibt er eine Weile im Dunkeln stehen und betrachtet die Villa, ehe er zu seinem Auto zurückkehrt. Er holt die kleine Holzschachtel mit dem Papagei und dem Eingeborenen heraus, kippt ein paar kleine Pillen in seinen Handteller, zählt sie mit dem Daumen ab und wirft sie sich in den Mund.

Nach kurzem Zögern wählt er Simones Nummer und hört die Klingeltöne. Er überlegt, dass sie sicher bei Kennet ist und Brote mit Salami und Gewürzgurken isst. Die Töne schlagen langgezogene Löcher in die Dunkelheit. Erik stellt sich die dunkle Wohnung in der Luntmakargatan vor, den Flur mit Mänteln und Jacken, den Kerzenleuchter an der Wand, die Küche mit dem schmalen langen Eichentisch, die Stühle. Die Post liegt auf der Türmatte, ein Stapel aus Zeitungen, Rechnungen und Reklame. Als der Anrufbeantworter anspringt, hinterlässt er keine Nachricht, unterbricht die Verbindung, dreht den Schlüssel im Zündschloss, wendet und fährt nach Stockholm zurück.

Es gibt niemanden, zu dem ich fahren kann, denkt er und erkennt die Ironie, die darin liegt. Er, der viele Jahre mit Forschungen zu Gruppendynamik und kollektiver Psychotherapie verbracht hat, ist plötzlich isoliert und einsam. Es gibt niemanden, an den er sich wenden kann, mit dem er in diesem Moment gerne sprechen würde. Dabei ist es die Kraft des Kollektiven gewesen, die ihn in seinem Beruf angetrieben hat. Er hat versucht zu verstehen, warum es Menschen, die Kriege überlebt haben, wesentlich leichter fällt, ihre Traumata zu verarbeiten, als Menschen, die alleine Opfer eines Übergriffs geworden sind. Er wollte wissen, woran es lag, dass die Wunden der Einzelnen in einer Gruppe von Leuten, die gefoltert worden sind, leichter verheilen als bei Menschen, die allein sind. Was in der Gemeinschaft lindert unseren Schmerz, hatte er sich gefragt. Geht es darum, sich im anderen zu spiegeln oder Gefühle zu kanalisieren, um eine Normalisierung oder Solidarität?

Im gelben Licht der Autobahn wählt er Joonas Nummer. Nach fünf Klingelzeichen unterbricht er die Verbindung und versucht es mit der Handynummer.

»Ja, hier ist Joona«, meldet sich der Kommissar geistesabwesend.

»Hallo, hier spricht Erik. Ihr habt Josef Ek noch nicht gefunden?«

»Nein«, seufzt Joona.

»Er scheint ganz eigenen Verhaltensmustern zu folgen.«

»Ich habe es schon einmal gesagt und werde nicht müde, es zu wiederholen, Erik. Du solltest Polizeischutz akzeptieren.«

»Ich habe andere Prioritäten.«

»Ich weiß.

Es wird still.

»Benjamin hat sich nicht wieder gemeldet?«, fragt Joona mit seiner melancholischen Stimme.

»Nein.«

Erik hört eine Stimme im Hintergrund, vielleicht aus einem Fernseher.

»Kennet wollte das Gespräch orten lassen, aber er …«

»Davon habe ich gehört, aber das kann dauern«, sagt Joona. »Man muss einen Techniker zur exakten Basisstation schicken.«

»Aber dann wissen wir wenigstens, um welche Station es geht.«

»Ich glaube, das kann der Techniker schnell herausfinden«, antwortet Joona.

»Könntest du die Basisstation ermitteln lassen?«

Es wird kurz still. Dann hört er Joonas neutrale Stimme:

»Warum redest du nicht mit Kennet?«

»Ich kann ihn nicht erreichen.«

»Ich kümmere mich darum, aber erwarte dir nicht zu viel davon.«

»Wie meinst du das?«

»Wahrscheinlich handelt es sich um irgendeine Basisstation in Stockholm, und dann hilft uns das erst weiter, wenn ein Techniker die Position präziser ermittelt hat.«

Erik hört ihn irgendetwas tun, es klingt, als würde er einen Deckel von einem Glasbehälter abschrauben.

»Ich mache meiner Mutter einen grünen Tee«, sagt Joona kurz.

Ein Wasserhahn rauscht und wird abgedreht.

Erik hält für eine Sekunde die Luft an. Er weiß, dass Josef Eks Flucht für Joona das Wichtigste ist, er weiß, dass Benjamins Fall für die Polizei nichts Besonderes ist, ein Jugendlicher, der aus seinem Elternhaus verschwindet, ist meilenweit von der Arbeit enfernt, der ein Kommissar der Landskriminalpolizei üblicherweise nachgeht. Aber er muss Joona einfach fragen, kann es nicht lassen.

»Joona«, sagt Erik. »Ich möchte, dass du Benjamins Fall übernimmst, mir ist das unheimlich wichtig, ich hätte dann das Gefühl …«

Er verstummt, seine Kiefer schmerzen. Ohne es zu merken, hat er sie ganz fest aufeinandergepresst.

»Wir wissen doch beide«, fährt Erik fort, »dass hier nicht einfach ein Jugendlicher verschwunden ist. Jemand hat Simone und Benjamin ein Betäubungsmittel injiziert, das man in der Chirurgie verwendet. Ich weiß, dass die Suche nach Josef Ek für dich Priorität hat, und mir ist auch bewusst, dass Benjamin nicht mehr dein Fall ist, weil es keine Verbindung zu Josef gibt, aber vielleicht ist etwas viel Schlimmeres passiert …«

Er verstummt und ist zu aufgewühlt, um weitersprechen zu können.

»Ich habe dir doch von Benjamins Krankheit erzählt«, zwingt er sich zu sagen. »In zwei Tagen ist sein Blut nicht mehr durch das Faktorpräparat geschützt, das bei der Gerinnung hilft. Und in einer Woche werden seine Blutgefäße so strapaziert sein, dass er unter Umständen gelähmt wird. Es könnte sich ein Blutgerinnsel im Gehirn bilden oder zu einer Blutung in der Lunge kommen, wenn er hustet.«

»Wir müssen ihn finden«, sagt Joona.

»Kannst du mir helfen?«

Eriks flehentliche Bitte hängt schutzlos in der Luft, aber das spielt keine Rolle. Er fällt nur zu gerne auf die Knie und bittet Joona um seine Hilfe. Die Hand, die das Handy hält, ist vom Schweiß ganz nass und glatt.

»Ich kann nicht einfach hingehen und die Ermittlungen von der Stockholmer Polizei übernehmen«, erklärt Joona.

»Der zuständige Beamte heißt Fredrik Stensund, er macht einen sympathischen Endruck, aber er wird sein gemütliches Büro nicht verlassen.«

»Die wissen schon, was sie tun.«

»Lüg mich nicht an«, sagt Erik leise.

»Ich denke nicht, dass ich den Fall übernehmen kann«, sagt Joona mit Nachdruck. »Das lässt sich nicht ändern. Aber ich werde versuchen, dir zu helfen. Du musst dir in aller Ruhe überlegen, wer Benjamin entführt haben könnte. Es könnte jemand sein, dem du ins Auge gefallen bist, als du in den Schlagzeilen warst. Aber es könnte auch jemand sein, den du kennst. Wenn du keinen Tatverdächtigen hast, dann hast du auch keinen Fall, du stehst mit leeren Händen da. Du musst nachdenken, dein Leben durchforsten, immer und immer wieder, alle deine Bekannten, Simones und Benjamins Freundeskreis. Geh alle Nachbarn, Verwandten, Patienten, Konkurrenten, Freunde durch. Gibt es jemanden, der dir mal gedroht hat? Der Benjamin bedroht hat? Versuch dich zu erinnern. Die Tat kann spontan oder auch seit vielen Jahren geplant gewesen sein. Denk gut nach, Erik, und melde dich dann bei mir.«

Erik öffnet den Mund, um Joona noch einmal zu bitten, den Fall zu übernehmen, aber ehe er etwas sagen kann, klickt es an seinem Ohr. Er sitzt im Auto und starrt mit brennenden Augen auf das rauschende Band der Autobahn.

Der Hypnotiseur
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