17.
Freitagmorgen, der elfte Dezember
Erik läuft die Treppen hinunter und aus dem Haus. Auf dem Sveavägen bleibt er stehen. Er spürt, dass sich der Schweiß auf seinem Rücken abkühlt. Vor lauter Angst ist ihm schlecht, und er begreift nicht, wie er so dumm sein kann, Simone von sich zu stoßen, nur weil er verletzt ist. Langsam geht er Richtung Odenplan und setzt sich vor der Stadtbücherei auf eine Bank. Die Luft ist kalt, ein Mann schläft ein Stück entfernt unter dicken Deckenstapeln.
Erik steht auf und macht sich wieder auf den Heimweg, kauft Brot in einer Steinofenbäckerei und für Simone einen Latte macchiato. Er hastet zurück und eilt mit großen Sätzen die Treppen hinauf. Er schließt auf und erkennt augenblicklich, dass die Wohnung verwaist ist. Ich werde Simone beweisen, dass sie mir vertrauen kann, denkt Erik. Es ist egal, wie lange es dauert, ich werde sie überzeugen. Er steht am Küchentisch und trinkt den Kaffee, ihm ist übel, und er sucht nach einer Kapsel Losec.
Es ist erst neun Uhr. Seine Schicht im Krankenhaus beginnt in ein paar Stunden. Er nimmt sich ein Buch und legt sich ins Bett. Doch statt zu lesen, wandern seine Gedanken zu Josef Ek. Er fragt sich, ob Joona Linna ihn zum Sprechen bringen wird.
Die Wohnung ist still, verlassen.
Das Medikament verströmt eine sanfte Ruhe in seinem Magen.
Nichts, was unter Hypnose gesagt wird, kann als Beweis verwendet werden, aber Erik weiß, dass Josef die Wahrheit gesagt und tatsächlich seine Familie getötet hat, auch wenn noch unklar ist, welches Motiv er hatte und aus welchem Grund er glaubt, von seiner Schwester gesteuert zu werden.
Erik schließt die Augen und versucht, sich das Reihenhaus und die Familie vorzustellen. Evelyn muss früh gespürt haben, dass ihr Bruder gefährlich ist, denkt er. Im Laufe der Jahre hat sie gelernt, mit seiner mangelnden Impulskontrolle zu leben, ihren eigenen Willen stets gegen die Gefahr eines Wutanfalls abzuwägen. Josef war ein Junge, der sich prügelte und deshalb ausgeschimpft wurde, sich aber trotzdem weiter prügelte. Als ältere Schwester hatte sie keinen wirklichen Schutz. Die Familie hat sich Tag für Tag an Josefs Gewaltbereitschaft abgearbeitet und versucht, mit ihr zu leben, dabei allerdings nicht erkannt, wie ernst die Lage war. Die Eltern dachten vielleicht, sein aggressives Verhalten rühre daher, dass er ein Junge war. Es ist gut möglich, dass sie sich selbst die Schuld gaben, weil sie es zuließen, dass er brutale Computerspiele spielte, oder weil sie ihn Horrorfilme gucken ließen.
Evelyn verließ ihr Elternhaus, so schnell es eben ging, besorgte sich einen Job und eine eigene Wohnung, aber irgendetwas ließ sie ahnen, dass die Situation sich zuspitzen würde. Plötzlich hatte sie solche Angst, dass sie sich im Sommerhaus ihrer Tante versteckte und mit einem Gewehr herumlief, um sich zu schützen.
Hat Josef sie bedroht?
Erik versucht, sich Evelyns Angst während der Nächte im Sommerhaus vorzustellen, in der Dunkelheit, das geladene Gewehr neben dem Bett.
Er denkt an das Telefonat mit Joona Linna nach Evelyns Vernehmung. Was passierte, als Josef mit einer Torte bei ihr auftauchte? Was sagte er zu ihr? Was fühlte sie? Bekam sie erst da Angst und besorgte sich das Gewehr? Fürchtete sie nach seinem Besuch, dass Josef sie umbringen würde?
Erik denkt an Evelyn. Er sieht sie so vor sich, wie sie draußen vor dem Sommerhaus war. Eine junge Frau in einer silberfarbenen Daunenjacke, einem grauen Strickpullover, einer verwaschenen Jeans und Turnschuhen. Sie geht langsam, mit wippendem Pferdeschwanz zwischen den Bäumen. Ihr Gesicht ist wehrlos, kindlich. Sie hält die Schrotflinte in einer teilnahmslosen Hand. Die Waffe schleift über die Erde, holpert sanft über Blaubeersträucher und Moos. Zwischen den Zweigen der Kiefern sickert Sonnenlicht hindurch.
Schlagartig wird Erik etwas Entscheidendes klar: Wenn Evelyn sich gefürchtet hätte, wenn sie ein Gewehr getragen hätte, um sich gegen Josef zu verteidigen, hätte sie es anders getragen und ganz sicher nicht hinter sich hergeschleift, als sie sich dem Haus näherte.
Erik erinnert sich, dass sie nasse Knie hatte, auf ihrer Jeans dunkle, erdige Flecken waren.
Sie ist mit dem Gewehr in den Wald gegangen, um sich das Leben zu nehmen, denkt er.
Sie hat im Moos gekniet und sich den Lauf in den Mund gesteckt, es sich dann aber anders überlegt, nicht den Mut gehabt.
Als er sie mit dem Gewehr, das durch die Blaubeersträucher schleifte, am Waldrand sah, war sie auf dem Rückweg zum Haus, zurück zu der Alternative, vor der sie hatte fliehen wollen.
Erik greift nach dem Telefon und wählt die Nummer von Joona Linnas Handy.
»Joona Linna.«
»Hallo, hier spricht Erik Maria Bark.«
»Erik? Ich wollte Sie auch längst angerufen haben, aber ich hatte so verdammt viel um die …«
»Das macht nichts«, sagt Erik, »ich habe …«
»Wissen Sie«, unterbricht Joona ihn, »diese Medienhetze tut mir wirklich verdammt leid, ich verspreche Ihnen, dass ich das Leck finden werde, wenn sich die Lage ein wenig beruhigt hat.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Ich fühle mich schuldig, weil ich Sie dazu überredet habe, den Jungen …«
»Es war meine eigene Entscheidung, ich mache niemandem einen Vorwurf.«
»Man darf es im Moment ja nicht laut sagen, aber ich persönlich finde nach wie vor, dass es richtig war, Josef zu hypnotisieren. Wir wissen zwar noch nicht viel, aber es könnte Evelyn sehr wohl das Leben gerettet haben.«
»Deshalb rufe ich an«, sagt Erik.
»Weshalb?«
»Mir ist da etwas eingefallen. Haben Sie einen Moment Zeit?«
Erik hört Joona etwas verrücken, es klingt, als würde er einen Stuhl herausziehen und sich setzen.
»Ja«, sagt er. »Ich habe Zeit.«
»Als wir draußen auf Värmdö waren, beim Sommerhaus der Tante«, setzt Erik an. »Ich saß ja im Wagen und sah eine Frau zwischen den Bäumen. Sie hielt eine Schrotflinte in der Hand. Irgendwie war mir klar, dass es Evelyn sein musste, und ich dachte mir, dass eine gefährliche Situation entstehen könnte, wenn sie von der Polizei überrascht wird.«
»Stimmt, sie hätte durchs Fenster schießen können«, bestätigt Joona. »Zum Beispiel, wenn sie mich für Josef gehalten hätte.«
»Ich habe hier zu Hause gesessen und noch einmal über Evelyn nachgedacht«, fährt Erik fort. »Ich habe sie wie gesagt zwischen den Bäumen gesehen. Sie ging langsam auf das Haus zu, hielt die Flinte in einer Hand und ließ den Lauf über die Erde schleifen.«
»Und?«
»Trägt man so ein Gewehr, wenn man Angst hat, ermordet zu werden?«
»Nein«, antwortet Joona.
»Ich glaube, dass sie in den Wald gegangen ist, um sich umzubringen«, sagt Erik. »Die Knie ihrer Jeans waren nass. Wahrscheinlich hat sie im feuchten Moos gekniet, das Gewehr auf Stirn oder Brust gerichtet, es sich dann aber anders überlegt, sich nicht getraut. Jedenfalls glaube ich, dass es so war.«
Erik verstummt. Er hört Joona schwer in den Hörer atmen. Auf der Straße hupt eine Autoalarmanlage.
»Danke«, sagt Joona. »Ich werde zu ihr fahren und mit ihr reden.«