13.
Mittwochnachmittag, der neunte Dezember
Erik schlendert zwischen den hell erleuchteten Vitrinen in der Schmuckabteilung des Kaufhauses NK umher. Eine schwarz gekleidete Frau unterhält sich leise mit einer Kundin. Sie öffnet eine Schublade und legt ein paar Schmuckstücke auf eine samtene Ablage. Erik bleibt vor einer Vitrine stehen und mustert eine Halskette von Georg Jensen. Schwere, sanft geschliffene Dreiecke, die wie Blütenblätter zu einem geschlossenen Kranz verbunden sind. Ein schwerer Glanz wie von Platin geht von dem polierten Silber aus. Erik stellt sich vor, wie schön die Kette sich um Simones schlanken Hals schmiegen würde, und beschließt, sie als Weihnachtsgeschenk zu kaufen.
Als die Verkäuferin das Schmuckstück in dunkelrotes, geglättetes Papier einschlägt, beginnt das Handy in Eriks Tasche zu surren und lässt die kleine Holzschachtel mit dem Eingeborenen und dem Papagei vibrieren. Er zieht das Telefon heraus und meldet sich, ohne auf die Nummer im Display zu achten.
»Erik Maria Bark.«
Es knistert, und in der Ferne hört man Weihnachtslieder.
»Hallo?«, sagt er.
Dann ertönt eine leise Stimme:
»Ist da Erik?«
»Ja, ich bin’s«, sagt er.
»Ich frage mich …«
Erik kommt es auf einmal vor, als würde im Hintergrund jemand kichern.
»Mit wem spreche ich bitte?«, fragt er schneidend.
»Warten Sie, Herr Doktor. Ich will Sie nur etwas fragen«, sagt die Stimme, die jetzt in einem eindeutig scherzhaften Ton spricht.
Erik will das Gespräch schon beenden, als die Stimme am Telefon plötzlich brüllt:
»Hypnotisier mich! Ich will …«
Erik reißt das Handy vom Ohr, drückt das Gespräch weg und versucht zu sehen, wer angerufen hat, aber es ist eine unterdrückte Nummer. Ein Klingelton sagt ihm, dass er eine SMS bekommen hat. Auch sie kommt von einer unterdrückten Nummer. Er öffnet die Nachricht und liest:
»Kannst du eine Leiche hypnotisieren?«
Verwirrt nimmt Erik das Weihnachtsgeschenk in einer kleinen gold- und rotfarbenen Tüte entgegen und verlässt die Abteilung. Im Foyer begegnet er dem Blick einer Frau in einem weiten schwarzen Mantel. Sie steht unter dem herabhängenden, drei Etagen hohen Weihnachtsbaum und sieht Erik an. Er hat sie noch nie gesehen, dennoch wirft sie ihm einen eindeutig feindseligen Blick zu.
Mit einer Hand nestelt er den Deckel der Holzschachtel auf, die er in der Manteltasche trägt, schüttelt eine Kodeinkapsel in seine Hand, steckt sie sich in den Mund und schluckt sie hinunter.
Er tritt in die kühle Luft hinaus. Vor dem Schaufenster drängeln sich Menschen. Weihnachtswichtel tanzen in einer Süßigkeitenlandschaft. Ein Bonbon mit großem Mund singt ein Weihnachtslied. Kindergartenkinder mit gelben Westen über dicken Schneeanzügen schauen schweigend zu.
Sein Handy klingelt erneut, aber diesmal kontrolliert er die Nummer, ehe er sich meldet, sieht, dass es ein Stockholmer Anschluss ist, und sagt reserviert:
»Erik Maria Bark.«
»Hallo, ich heiße Britt Sundström und arbeite für Amnesty International.«
»Hallo«, sagt er fragend.
»Ich würde gerne wissen, ob Ihr Patient die Möglichkeit hatte, die Hypnose abzulehnen.«
»Was haben Sie gesagt?«, fragt Erik und sieht im Schaufenster eine große Schnecke, die einen Schlitten mit Weihnachtsgeschenken zieht.
Sein Herz schlägt schneller, und in seinen Eingeweiden rumort es.
»KUBARK, das Folterhandbuch der CIA, nennt Hypnose als eine der …«
»Die verantwortliche Ärztin kam zu der Einschätzung …«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie selbst keine Verantwortung tragen?«
»Ich denke nicht, dass ich das kommentieren sollte«, sagt er.
»Gegen Sie läuft schon eine Anzeige«, sagt sie kurz angebunden.
»So, so«, antwortet er einsilbig und bricht anschließend das Gespräch ab.
Langsam geht er zum Sergels torg, dem leuchtenden Glasobelisk und dem Kulturhaus, sieht den Weihnachtsmarkt und hört einen Trompeter Stille Nacht spielen. Er biegt in den Sveavägen ein und geht an einer ganzen Reihe von Reisebüros vorbei. Vor einem Seven-Eleven-Laden bleibt er stehen und liest die Schlagzeilen der Boulevardblätter:
Erik spürt den Puls in den Schläfen pochen, eilt weiter und weicht allen Blicken aus. Er kommt an der Stelle vorbei, an der Olof Palme ermordet wurde. Drei rote Rosen liegen auf der schmutzigen Gedächtnisplatte. Erik hört, dass ihm jemand etwas hinterherruft und schiebt sich in ein exklusives Hi-Fi-Geschäft. Die Müdigkeit, die sich eben noch wie ein Rausch anfühlte, ist von Fiebrigkeit ersetzt worden, von einer Mischung aus Nervosität und Verzweiflung. Seine Hände zittern, als er noch eine Tablette eines starken Schmerzmittels nimmt. Es brennt in seinem Magen, als sich die Kapsel auflöst und das Pulver in die Schleimhäute eindringt.
Im Radio läuft eine Diskussion darüber, ob Hypnose als Therapieform verboten werden sollte. Ein Mann erzählt, er sei einmal dazu hypnotisiert worden zu glauben, er sei Bob Dylan.
»Natürlich wusste ich, dass es nicht stimmt«, berichtet er schleppend. »Trotzdem musste ich irgendwie sagen, was ich sagte, ich wusste, dass ich hypnotisiert war, sah meinen Kumpel da sitzen und warten und habe trotzdem geglaubt, ich wäre Dylan, ich sprach Englisch, ich konnte nicht anders, ich hätte alles Mögliche gestehen können.«
Die Justizministerin erklärt in ihrem südschwedischen Dialekt:
»Hypnose als Vernehmungsmethode zu benutzen ist zweifellos ein Rechtsbruch.«
»Dann hat Erik Maria Bark also gegen das Gesetz verstoßen?«, fragt der Journalist schneidend.
»Es ist Sache der Staatsanwaltschaft, dies zu entscheiden …«
Erik verlässt das Geschäft, biegt in eine Seitenstraße ab und geht weiter in die Luntmakargatan.
Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter, als er vor dem Eingang zur Luntmakargatan 73 steht, den Türcode eintippt und das Haus betritt. Linkisch sucht er seine Schlüssel heraus, während der Aufzug nach oben saust. In der Wohnung schließt er hinter sich ab, geht wankend ins Wohnzimmer, versucht, den Mantel auszuziehen, ist dabei aber ständig kurz davor, nach rechts zu fallen.
Er schaltet den Fernsehapparat ein und sieht den Vorsitzenden des Schwedischen Vereins für klinische Hypnose in einem Fernsehstudio sitzen. Erik kennt ihn nur zu gut, hat viele Kollegen unter seinem Hochmut und seiner Karrieregeilheit leiden sehen.
»Wir haben Bark vor zehn Jahren ausgeschlossen, und er ist uns auch heute nicht willkommen«, erklärt der Vorsitzende mit einem süffisanten Lächeln.
»Hat dieser Vorfall Auswirkungen auf das Ansehen seriöser Hypnose?«
»Alle unsere Mitglieder halten sich an strikte ethische Regeln«, antwortet der Mann in einem arroganten Tonfall. »Im Übrigen haben wir in Schweden Gesetze gegen Quacksalberei.«
Erik zieht mit plumpen Bewegungen Mantel und Schuhe aus, setzt sich auf die Couch, ruht mit geschlossenen Augen und öffnet sie wieder, als er aus dem Fernseher eine Trillerpfeife und Kinderstimmen hört. Auf einem sonnigen Schulhof steht Benjamin. Seine Augenbrauen sind gerunzelt, Nasenspitze und Ohren sind rot, er hat die Schultern hochgezogen und scheint zu frieren.
»Hat dein Vater dich schon einmal hypnotisiert?«, fragt der Reporter.
»Was? Äh … nein, ist doch klar, dass er mich nicht …«
»Woher willst du das überhaupt wissen?«, unterbricht ihn der Reporter. »Wenn er dich hypnotisiert hat, ist ja nicht unbedingt gesagt, dass du dich daran erinnern kannst, oder?«
»Nein, da haben Sie natürlich Recht«, grinst Benjamin überrumpelt von der Forschheit des Reporters.
»Wie würdest du es finden, wenn sich herausstellen würde, dass er das getan hat?«
»Ich weiß nicht.«
Benjamins Wangen sind rot angelaufen.
Erik tritt zum Fernseher, schaltet ihn aus, geht ins Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett, zieht seine Hose aus und legt die Holzschachtel mit dem Papagei in die Nachttischschublade.
Er will nicht an die Sehnsucht denken, die in ihm geweckt wurde, als er Josef Ek hypnotisierte und in das tiefe blaue Meer begleitete.
Erik legt sich hin, streckt die Hand nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch aus, schläft aber ein, noch ehe er zum Trinken kommt.
Er wacht ruckartig auf, denkt im Halbschlaf an seinen Vater, wenn dieser in seinem präparierten Frack auf Kindergeburtstagen auftrat, während ihm der Schweiß die Wangen hinunterlief. Er machte Ballonfiguren und zog bunte Federblumen aus einem hohlen Spazierstock. Als er alt war und im Altersheim lebte, hatte er von Eriks Arbeit als Hypnosetherapeut gehört und wollte, dass sie gemeinsam eine neue Nummer auf die Beine stellten. Er selbst als Gentlemandieb und Erik als Varietéhypnotiseur, der die Leute dazu bringen würde, wie Elvis oder Zarah Leander zu singen.
Plötzlich ist Erik hellwach und sieht Benjamin vor sich, der auf dem Schulhof vor Klassenkameraden und Lehrern friert, die Fernsehkamera und den lächelnden Reporter.
Erik setzt sich auf, spürt das Sodbrennen, greift nach dem Telefon auf seinem Nachttisch und ruft Simone an.
»Galerie Simone Bark«, meldet sie sich.
»Hallo, ich bin’s«, sagt Erik.
»Warte mal eine Sekunde.«
Er hört sie über den Parkettboden gehen und die Tür zum Büro hinter sich zuziehen.
»Was geht hier vor?«, fragt sie. »Benjamin hat mich angerufen und …«
»Die Medienmeute stürzt sich auf die Sache und …«
»Was ich meine, ist Folgendes«, unterbricht sie ihn. »Was hast du getan?«
»Die behandelnde Ärztin hat mich gebeten, ihn zu hypnotisieren.«
»Aber ein Verbrechen unter Hypnose zu gestehen ist …«
»Hör zu«, unterbrach er sie. »Könntest du mir bitte zuhören?«
»Ja.«
»Es war kein Verhör«, begann Erik.
»Es spielt keine Rolle, wie man es nennt …«
Sie verstummt. Er hört ihre Atemzüge.
»Entschuldige«, sagt sie leise.
»Es war kein Verhör, die Polizei brauchte dringend eine Personenbeschreibung, irgendetwas, weil sie gedacht haben, das Leben einer jungen Frau könnte davon abhängen, und die Ärztin, die zu dem Zeitpunkt für den Patienten verantwortlich war, fand, dass die Risiken für seine Gesundheit überschaubar waren.«
»Aber …«
»Wir dachten, er wäre ein Opfer, und haben nur versucht, seine Schwester zu retten.«
Er schweigt und hört Simone atmen.
»Was hast du da nur angestellt?«, sagt sie dann mit Zärtlichkeit in der Stimme.
»Das wird schon wieder.«
»Wirklich?«
Erik geht in die Küche und nimmt eine Tablette gegen das Sodbrennen.