34.
Die Nacht zum fünfzehnten Dezember
In Eriks Übernachtungszimmer ist es kalt und dunkel. Erik streift seine Schuhe ab, und als er seinen Mantel aufhängt, steigt ihm aus dem Stoff der Geruch feuchter Pflanzen in die Nase. Fröstelnd setzt er auf seiner Kochplatte Wasser auf, macht sich eine Tasse Tee, nimmt zwei starke Beruhigungstabletten und setzt sich an den Schreibtisch. Außer der Arbeitslampe auf dem Tisch brennt kein Licht. Er blickt in die kompakte Dunkelheit des Fensters, in der er sich als vagen Schatten neben dem Spiegelbild des Lichtkegels sieht. Wer hasst mich, denkt er. Wer beneidet mich, wer will mich bestrafen, mir alles wegnehmen, mein Leben zerstören, wer will mich vernichten?
Erik steht vom Schreibtisch auf, macht das große Licht an, geht auf und ab, bleibt stehen, streckt sich nach dem Telefon und kippt dabei einen Plastikbecher mit Wasser auf dem Tisch um. Ohne seine Gedanken sammeln zu können, wählt er Simones Handynummer, hinterlässt eine kurze Nachricht auf ihrer Mailbox, dass er sich gerne noch einmal an Benjamins Computer setzen würde, und verstummt, ist unfähig, noch etwas anderes zu sagen.
»Entschuldige«, murmelt er und wirft das Handy auf den Tisch.
Der Aufzug rumort im Flur, er hört die Türen klingeln und aufgleiten, gefolgt vom Geräusch eines Menschen, der ein quietschendes Krankenhausbett an seiner Tür vorbeischiebt.
Die Tabletten wirken, und er spürt die Ruhe in sich aufsteigen wie heiße Milch, eine Erinnerung, eine Bewegung in seinem Inneren, ein Sog im Magen, der den ganzen Körper erfasst. Als fiele man aus großer Höhe, zunächst durch kühle und klare Luft und dann in warmes und sauerstoffreiches Wasser.
»Jetzt komm schon«, sagt er zu sich selbst.
Jemand hat Benjamin entführt und mir das angetan, irgendwo in meinem Gedächtnis muss sich dazu ein Fenster öffnen lassen, denkt er.
»Ich werde dich finden«, flüstert er.
Erik betrachtet die aufgeweichten Seiten der Ärztezeitung. Auf einem Foto lehnt sich die neue Chefin des Karolinska-Instituts über einen Schreibtisch. Ihr Gesicht ist vom Wasser ausgefranst und dunkel. Als Erik die Zeitung weglegen will, merkt er, dass sie am Tisch festklebt. Der Anzeigenteil auf der Rückseite bleibt haften, halb abgerissene Buchstaben über eine Global Health Conference. Er setzt sich und beginnt, die Papierreste mit dem Daumennagel abzukratzen, hält jedoch plötzlich inne und mustert die Buchstabenkombination: e v A.
Aus seiner Erinnerung rollt langsam eine Welle voller Lichtreflexe und Spiegelungen heran und danach das gestochen scharfe Bild einer Frau, die sich weigert, etwas zurückzugeben, was sie gestohlen hat. Er weiß, dass sie Eva heißt. Ihr Mund ist angespannt, und auf den schmalen Lippen sieht man Geifer. Sie schreit ihn mit gekränkter Wut an: Du bist es doch, der hier nimmt! Du nimmst und nimmst und nimmst! Was zum Teufel würdest du sagen, wenn ich dir Dinge wegnehmen würde? Was meinst du, wie du dich dann fühlst? Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen, sagt, dass sie ihn hasst, und wiederholt diese Worte immer wieder, vielleicht hundert Mal, ehe sie sich beruhigt. Ihre Wangen sind weiß, ihre Augen gerötet, sie sieht ihn verständnislos und erschöpft an. Er erinnert sich an sie, ihm wird klar, dass er sich sehr gut an sie erinnert.
Eva Blau, denkt er. Er wusste, dass er einen Fehler machte, als er sie damals als Patientin akzeptierte, er wusste es von Anfang an.
Das ist jetzt viele Jahre her. Damals war die Hypnose noch ein wichtiger und wirksamer Bestandteil seiner therapeutischen Arbeit. Eva Blau. Der Name stammt aus einem anderen Leben. Bevor er aufhörte zu hypnotisieren. Bevor er schwor, nie wieder jemanden zu hypnotisieren.
Damals hatte er so sehr an die Hypnose geglaubt. Er hatte doch gesehen, dass sich die Patienten weniger verkrampften, wenn sie in einer Gruppe hypnotisiert wurden. Es war dann schwieriger, Dinge zu leugnen, und leichter, Wunden zu heilen. Die Schuld wurde geteilt, Täter- und Opferidentität lösten sich auf. Befand man sich in einem Raum, in dem alle das Gleiche erlebt hatten, verzichtete man darauf, den anderen Vorwürfe zu machen.
Warum war Eva Blau seine Patientin geworden? Er weiß nicht mehr, worum es bei ihrem Schmerz ging. Er wurde damals mit so vielen furchtbaren Schicksalen konfrontiert. Menschen mit verheerender Vergangenheit kamen zu ihm — oft waren sie aggressiv, und immer hatten sie Angst. Sie verhielten sich zwanghaft und paranoid und blickten nicht selten auf Verstümmelungen und Selbstmordversuche zurück. Viele, die zu ihm kamen, waren nur durch eine hauchdünne Wand von einem psychotischen, schizophrenen Zustand getrennt. Sie waren systematisch misshandelt oder gefoltert oder Opfer von Scheinhinrichtungen geworden, sie hatten ihre Kinder verloren, waren Opfer von Inzest und Vergewaltigungen gewesen, hatten grausame Dinge gesehen oder waren gezwungen worden, sich an ihnen zu beteiligen.
Was hat sie gestohlen?, fragt Erik sich. Ich habe ihr einen Diebstahl vorgeworfen, aber was hat sie gestohlen?
Er bekommt die Erinnerung nicht zu fassen, steht auf, geht ein paar Schritte, bleibt stehen und schließt die Augen. Da war noch mehr passiert, aber was? Hatte es mit Benjamin zu tun? Einmal hatte er Eva Blau gesagt, er könne eine andere Therapiegruppe für sie finden. Warum erinnert er sich nicht, was damals passiert ist. Hat sie ihm gedroht?
Das Einzige, was er aus seinem Gedächtnis kramen kann, ist eine relativ frühe Begegnung in diesem Büro: Eva Blau hatte ihren Kopf kahl rasiert und sich nur um die Augen geschminkt. Nun saß sie auf der Couch, knöpfte ihre Bluse auf und zeigte ihm auf sachliche Art ihre weißen Brüste.
»Du bist bei mir zu Hause gewesen«, sagte Erik.
»Du bist bei mir zu Hause gewesen«, erwiderte sie.
»Eva, du hast mir von deinem Zuhause erzählt«, fuhr er fort. »Das ist etwas völlig anderes als bei jemandem einzubrechen.«
»Ich bin nicht eingebrochen.«
»Du hast eine Fensterscheibe eingeschlagen.«
»Der Stein hat das Fenster eingeschlagen«, sagte sie.
Der Schlüssel steckt im Schloss des Aktenschranks, und die Holzlamellen verschieben sich geschmeidig, als Erik die Rolltür nach unten lässt und seine Suche beginnt. Hier muss es irgendwo etwas geben, denkt er. Ich weiß genau, dass ich hier etwas über Eva Blau habe.
Wenn seine Patienten aus irgendeinem Grund anders agieren als erwartet, wenn sie aus dem Rahmen ihres Zustands heraustreten, verwahrt er das Material über sie in diesem Schrank, bis er gelernt hat, die Abweichungen in ihrem Verhalten zu verstehen.
Dabei kann es sich um eine Notiz handeln, eine Beobachtung oder einen vergessenen Gegenstand. Er räumt Papiere, Collegeblöcke, Zettel und Quittungen mit Notizen fort, stößt auf vergilbte Fotos in einer Plastikmappe, eine externe Festplatte und einige Tagebücher aus einer Zeit, in der er an völlige Offenheit zwischen Arzt und Patient glaubte, und ein Bild, das ein traumatisiertes Kind eines Nachts gezeichnet hatte. Mehrere Musik- und Videokassetten von den Vorlesungen im Institut. Ein Buch von Hermann Broch mit zahlreichen Unterstreichungen. Eriks Hände halten inne. Es kribbelt in den Fingerspitzen. Um eine VHS-Kassette ist mit einem braunen Gummring ein Blatt Papier geschlungen. Auf dem Rücken des Bands steht bloß: Erik Maria Bark, Aufnahme 14. Er zieht das Blatt heraus, winkelt die Lampe an und erkennt seine Handschrift: Verwunschenes Schloss.
Ein eiskalter Schauer läuft ihm den Rücken und die Arme hinunter. Die Nackenhaare sträuben sich, und er hört plötzlich seine Armbanduhr ticken. Sein Herz rast, er muss sich setzen. Mit zittrigen Händen greift er nach dem Telefon, ruft den Hausmeister an und bittet darum, einen Videorekorder aufs Zimmer gebracht zu bekommen. Mit bleischweren Füßen geht er zum Fenster, hebt die Lamellen der Jalousie an und betrachtet die feuchte Schneedecke im Innenhof. Schwere Flocken schweben schräg und langsam durch die Luft, landen auf seiner Fensterscheibe, verlieren ihre Farbe und schmelzen. Er sagt sich, dass es wahrscheinlich nur Zufälle, seltsame Übereinstimmungen sind, begreift jedoch gleichzeitig, dass einige Puzzleteile vermutlich zusammenpassen werden.
Verwunschenes Schloss, diese beiden Wörter auf einem Blatt Papier haben genügend Kraft, um ihn in die Vergangenheit zu katapultieren. In die Zeit, in der er noch hypnotisierte. Er weiß, dass er widerwillig zu einem dunklen Fenster gehen muss, um zu sehen, was sich hinter den Spiegelungen und Reflexen verbirgt, die seither von der Zeit geschaffen worden sind.
Der Hausmeister klopft leise an. Erik öffnet ihm, bestätigt die Bestellung und rollt anschließend den Wagen mit dem Fernseher und dem seltsam altmodisch aussehenden Videorekorder herein.
Er legt die Kassette ein, löscht das Licht und setzt sich.
»Das hier hätte ich fast vergessen«, sagt er zu sich selbst und richtet die Fernbedienung auf den Apparat.
Das Bild flimmert, und es rauscht und knistert eine Weile, aber dann hört er seine Stimme. Er klingt erkältet, als er ohne einen Hauch von Enthusiasmus Ort, Datum und Uhrzeit herunterleiert und abschließend bemerkt:
»Wir haben eine kurze Pause gemacht, befinden uns aber noch in einem posthypnotischen Zustand.«
Mehr als zehn Jahre sind seither vergangen, denkt er und sieht, wie das Stativ der Kamera höher gestellt wird. Das Bild wackelt und kommt dann zur Ruhe. Das Objektiv ist auf einen Halbkreis von Stühlen gerichtet. Dann taucht er vor der Kamera auf und rückt die Stühle gerade. Es gibt eine Leichtigkeit in den Bewegungen seines zehn Jahre jüngeren Körpers, eine Beschwingtheit in den Schritten, die er nicht mehr besitzt, das weiß er. Auf dem Band sind seine Haare nicht grau, und von den tiefen Furchen in seiner Stirn und auf seinen Wangen ist auch nichts zu sehen.
Die Patienten kommen ins Bild, bewegen sich träge, setzen sich auf ihre Stühle. Einige unterhalten sich gedämpft. Jemand lacht. Ihre Gesichter sind schwer zu erkennen, die Bildqualität ist schlecht, sie sind körnig und unscharf.
Erik schluckt schwer und hört sich mit hallender Stimme erklären, dass es Zeit wird, mit der Sitzung fortzufahren. Einige plaudern, andere sitzen nur schweigend da. Ein Stuhl knarrt. Er sieht sich an der Wand stehen und etwas in einem Schreibblock notieren. Plötzlich klopft es an der Tür, und Eva Blau tritt ein. Sie ist gestresst. Erik macht rote Flecken auf Hals und Wangen aus, als er beobachtet, wie er ihr den Mantel abnimmt, ihn aufhängt, sie zur Gruppe führt, kurz vorstellt und willkommen heißt. Die anderen nicken gemessen, murmeln Hallo, zwei Gruppenmitglieder schenken ihr überhaupt keine Beachtung und blicken stattdessen zu Boden.
Erik erinnert sich an die Atmosphäre im Raum: Die Gruppe stand noch unter dem Einfluss der ersten Hypnose vor der Pause und fühlte sich durch das neue Mitglied gestört. Sie hatten einander bereits kennengelernt und identifizierten sich mit den Geschichten der anderen.
Seine Gruppe bestand aus bis zu acht Mitgliedern. Ziel der Therapie war es, unter Hypnose die Vergangenheit jedes Einzelnen von ihnen zu untersuchen und sich dem Schmerzpunkt zu nähern. Die Hypnose wurde stets im Beisein der Gruppe und zusammen mit der Gruppe durchgeführt. Mit dieser Methode sollte jeder von ihnen mehr werden als ein bloßer Zeuge der Erlebnisse anderer, man sollte mit Hilfe der hypnotischen Offenheit den Schmerz miteinander teilen und wie bei kollektiven Katastrophen gemeinsam trauern können.
Eva Blau setzt sich auf den leeren Stuhl und sieht für einen kurzen Moment direkt in die Kamera, woraufhin ein scharfer und feindseliger Zug in ihr Gesicht tritt.
Das ist die Frau, die vor zehn Jahren in unser Haus eingebrochen ist, denkt er. Aber was hat sie gestohlen, und was hat sie sonst noch getan?
Erik sieht, dass er den zweiten Teil der Sitzung einleitet, indem er auf den ersten zurückzukommt und mit freien, spielerischen Assoziationen auf ihn eingeht. Dies war für alle ein Weg, sich besser zu fühlen und zu spüren, dass trotz der düsteren Untertöne in allem, was sie sagten und taten, ein gewisses Maß an Leichtigkeit möglich war. Er stellt sich vor die Gruppe.
»Wir beginnen mit Gedanken und Assoziationen zum ersten Teil unserer Sitzung«, sagt er. »Möchte jemand etwas sagen?«
»Verwirrend«, meint eine junge, untersetzte und stark geschminkte Frau.
Sibel, denkt Erik. Sie hieß Sibel.
»Frustrierend«, meldet sich Jussi in seinem nordschwedischen Dialekt zu Wort. »Also, ich bin nur dazu gekommen, die Augen aufzumachen und mich am Kopf zu kratzen, bevor es auch schon wieder vorbei war.«
»Was hast du gefühlt?«, fragt Erik ihn.
»Haare«, antwortet er lächelnd.
»Haare?«, fragt Sibel und kichert.
»Als ich mich am Kopf gekratzt habe«, erklärt Jussi.
Einige lachen über seinen Scherz. In Jussis düsterem Gesicht lässt sich blasse Freude erahnen.
»Gebt mir Assoziationen zu Haaren«, fährt Erik fort. »Charlotte?«
»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Haare? Vielleicht Bart … nein.«
»Ein Hippie, ein Hippie auf einem Chopper«, wirft Pierre lächelnd ein. »Er sitzt so, kaut Juicyfruit und rutscht …«
Eva Blau steht unvermittelt und mit ihrem Stuhl klappernd auf, sie protestiert gegen die Übung.
»Das sind doch bloß Kindereien«, sagt sie.
»Und warum?«, fragt Erik.
Eva antwortet nicht, setzt sich aber wieder.
»Mach bitte weiter, Pierre«, bittet Erik.
Pierre schüttelt den Kopf, kreuzt seine Zeigefinger in Evas Richtung und tut so, als müsste er sich vor ihr schützen.
Pierre flüstert verschwörerisch. Jussi hebt die Hand gegen Eva und sagt etwas in seinem nordschwedischen Dialekt.
Erik glaubt zu hören, was er sagt, tastet blind nach der Fernbedienung und stößt sie auf den Fußboden, sodass die Batterien herausfallen.
»Das gibt’s doch nicht«, flüstert er vor sich hin und geht auf die Knie.
Mit zitternden Händen spult er zurück und stellt lauter, als das Band wieder läuft.
»Das sind doch bloß Kindereien«, sagt Eva Blau.
»Und warum?«, fragt Erik, und als sie nicht antwortet, bittet er Pierre fortzufahren.
Der schüttelt den Kopf und kreuzt seine Finger.
»Dennis Hopper wurde erschossen, weil er ein Hippie war«, flüstert er.
Sibel kichert und schielt zu Erik hinüber. Jussi räuspert sich und hebt die Hand gegen Eva.
»Im verwunschenen Schloss bleiben dir unsere Kindereien erspart«, sagt er in seinem bedächtigen, nordschwedischen Dialekt.
Alle verstummen. Eva wendet sich dem Mann zu und scheint aggressiv reagieren zu wollen, aber irgendetwas hält sie zurück, vielleicht der ernste Ton in seiner Stimme und sein ruhiger Blick.
Das verwunschene Schloss, hallt es in Eriks Kopf nach. Gleichzeitig hört er sich die Prinzipien des eigentlichen Hypnoseprozesses erläutern: dass sie stets mit gemeinsamen Entspannungsübungen beginnen, ehe er dazu übergeht, ein oder zwei von ihnen zu hypnotisieren.
»Und manchmal«, fährt Erik an Eva gewandt fort, »wenn ich merke, dass es gut läuft, versuche ich, die ganze Gruppe zu hypnotisieren.«
Erik denkt daran, wie vertraut und dennoch schrecklich fern ihm diese Situation ist, sie stammt aus einem anderen Leben, in dem er sich noch nicht von der Hypnose distanziert hat. Er sieht sich einen Stuhl näher heranziehen, sich vor den Halbkreis setzen, zu ihnen sprechen und sie dazu bringen, die Augen zu schließen und sich zurückzulehnen. Nach einer Weile ermahnt er alle, auf ihren Stühlen gerade zu sitzen, die Augen aber weiter geschlossen zu halten. Er steht auf, spricht mit ihnen über die Entspannung, tritt hinter ihre Rücken, beobachtet bei jedem Einzelnen den Grad der Entspannung. Ihre Gesichter werden weicher und schlaffer, sie sind sich selbst immer weniger bewusst, Verstellung und Koketterie werden ihnen immer fremder.
Erik sieht sich hinter Eva Blau stehen bleiben und eine Hand schwer auf ihre Schulter legen. Es kribbelt im Bauch, als er sich dabei beobachtet, wie er mit der Hypnose beginnt, sanft in eine Induktion mit verborgenen Kommandos überleitet und sich dabei seiner Geschicklichkeit, seiner speziellen Gabe vollkommen bewusst ist.
»Du bist zehn, Eva«, sagt er. »Du bist zehn. Es ist ein schöner Tag. Du bist gut gelaunt. Warum bist du so gut gelaunt?«
»Weil der Mann in den Wasserpfützen tanzt und plantscht«, sagt sie mit fast unmerklichen Gesichtsbewegungen.
»Wer tanzt?«
»Wer?«, wiederholt sie. »Gene Kelly, sagt Mama.«
»Ich verstehe, du guckst Singin’ in the rain?«
»Mama guckt den Film.«
»Du nicht?«
»Doch, schon.«
»Und du bist gut gelaunt?«
Sie nickt langsam.
»Was passiert dann?«
Eva schließt den Mund, und ihr Kopf sinkt herab.
»Eva?«
»Mein Bauch ist dick«, sagt sie fast tonlos.
»Dein Bauch?«
»Ich sehe, dass er ganz dick ist«, sagt sie, und Tränen laufen ihre Wangen herab.
»Das verwunschene Schloss«, flüstert Jussi, »das verwunschene Schloss.«
»Eva, hör mir zu«, fährt Erik fort. »Du kannst zwar alle im Raum hören, lauschst aber nur meiner Stimme. Es ist dir egal, was die anderen sagen, nur meine Stimme ist für dich wichtig.«
»Okay.«
»Weißt du, warum dein Bauch dick ist?«, fragt Erik.
Ihr Gesicht ist verschlossen, in einen Gedanken, eine Erinnerung vertieft.
»Ich weiß es nicht.«
»Doch, ich denke schon, dass du es weißt«, erwidert Erik leise. »Aber wir richten uns hier ganz nach dir, Eva. Du brauchst jetzt nicht mehr daran zu denken. Möchtest du wieder fernsehen? Ich begleite dich, alle, die hier sind, gehen mit dir, den ganzen Weg, ganz gleich, was passiert, das versprechen wir dir. Wir haben es versprochen, und du kannst dich darauf verlassen.«
»Ich will in das verwunschene Schloss«, flüstert sie.
Erik sitzt auf seiner Übernachtungspritsche und spürt, dass er kurz vor seinen eigenen Räumen steht, dem Vergessenen und Verdrängten näher rückt.
Er reibt sich die Augen, betrachtet den flimmernden Bildschirm und murmelt:
»Öffne die Tür.«
Er hört sich Zahlen aussprechen, die Eva Blau noch tiefer in die Hypnose führen, er erklärt, dass sie schon bald tun wird, was er sagt, ohne vorher darüber nachzudenken, sie wird akzeptieren, dass seine Stimme ihr den richtigen Weg weist. Sie schüttelt schwach den Kopf, und er zählt weiter herunter, lässt die Ziffern schwer und einschläfernd fallen.
Die Bildqualität verschlechtert sich rapide: Eva blickt mit körnigen Augen auf, befeuchtet ihre Lippen und flüstert:
»Ich sehe sie einen Menschen mitnehmen, sie gehen hin und nehmen einen Menschen mit.«
»Wer nimmt einen Menschen mit?«, fragt er.
Sie atmet stoßweise.
»Ein Mann mit einem Pferdeschwanz«, jammert sie. »Er hängt den kleinen …«
Das Band knistert, und das Bild verschwindet.
Erik spult vor, aber das Bild taucht nicht wieder auf, das halbe Band ist defekt, die Aufnahme gelöscht.
Dann sitzt er vor dem schwarzen Bildschirm. Er sieht sich aus der dunklen Spiegelung herausschauen. Mustert gleichzeitig sein zehn Jahre älteres Gesicht und das Gesicht des Menschen, der er damals war. Er betrachtet die Videokassette, Band 14, und den Gummiring und das Blatt mit der Beschriftung: Das verwunschene Schloss.