27.
Sonntagmorgen, der dreizehnte
Dezember,
Luciafest
Kennet Sträng bleibt stehen und lauscht, ehe er langsam zur Treppe weitergeht. Er hält die Pistole dicht am Körper mit dem Lauf nach unten. Aus der Küche fällt Tageslicht in den Flur. Simone folgt ihrem Vater und denkt, dass Familie Eks Haus sie an das Haus erinnert, in dem Erik und sie wohnten, als Benjamin klein war.
Es knarrt irgendwo — im Fußboden oder in den Wänden.
»Ist das Josef?«, flüstert Simone.
Die Taschenlampe, die Pläne und das Brecheisen führen dazu, dass ihre Hände sich ganz taub anfühlen. Das Einbruchswerkzeug ist fast schon unerträglich schwer.
Es ist vollkommen still im Haus. Das Geräusch von vorhin, das Knacken, hat aufgehört.
Kennet deutet mit einer Kopfbewegung an, dass sie in den Keller gehen sollen. Simone nickt, obwohl jeder Muskel in ihrem Körper sie davor warnt.
Den Plänen zufolge ist der beste Platz für ein Versteck zweifellos der Keller. Kennet hat auf dem Plan markiert, wie der Platz für die alte Ölheizung verlängert werden und einen kaum erkennbaren Raum schaffen könnte. Der andere Ort, den Kennet auf dem Grundriss markiert hat, ist der hinterste Teil des Dachbodens.
Neben der Kiefernholztreppe in die obere Etage gibt es eine schmale türlose Öffnung. An der Wand sitzen noch die kleinen Scharnierhaken einer Treppensicherung. Die Eisentreppe in den Keller sieht nach Eigenbau aus, die Schweißnähte sind wulstig und groß und die Treppenstufen mit dickem, grauem Filz verkleidet.
Als Kennet auf den Lichtschalter drückt, passiert nichts, er drückt noch einmal, aber die Lampe ist kaputt.
»Bleib hier«, sagt er leise.
Simone spürt einen kurzen Schub nackter Angst. Ein schwerer staubiger Geruch, der sie an große Fahrzeuge denken lässt, strömt herauf.
»Gib mir die Taschenlampe«, sagt Kennet und streckt die Hand aus.
Simone reicht sie ihm. Er lächelt kurz, nimmt ihr die Lampe ab, schaltet sie ein und steigt vorsichtig hinunter.
»Hallo?«, ruft Kennet barsch. »Josef? Ich muss mit dir reden.«
Im Keller bleibt es still. Kein Klappern, kein Atmen.
Simone packt das Brecheisen fester und wartet.
Der Lichtkegel der Taschenlampe beleuchtet fast ausschließlich die Wände und die Decke über der Treppe. Die Dunkelheit im Keller bleibt kompakt. Kennet geht weiter hinunter, und das Licht fängt einzelne Gegenstände ein: eine weiße Plastiktüte, ein Reflektorband an einem alten Kinderwagen, die Glasscheibe eines gerahmten Filmplakats.
»Ich glaube, ich kann dir helfen«, sagt Kennet leiser.
Er ist am Fuß der Treppe angekommen und leuchtet mit seiner Taschenlampe in alle Ecken, um sich zu vergewissern, dass Josef nicht in einem Versteck auf ihn lauert. Der enge Lichtkreis gleitet über Fußboden und Wände, hüpft über ganz nahe Dinge und wirft schiefe, schwingende Schatten. Anschließend beginnt Kennet noch einmal von vorn und durchsucht mit Hilfe der Taschenlampe ruhig und systematisch den Raum.
Simone geht die Treppe hinunter. Die Metallkonstruktion unter ihr hallt dumpf.
»Hier ist keiner«, sagt Kennet.
»Und was haben wir vorhin gehört? Irgendetwas muss es doch gewesen sein«, erwidert sie.
Durch ein verdrecktes Kellerfenster direkt unter der Decke sickert Tageslicht herein. Ihre Augen gewöhnen sich an das schummrige Licht. Der Keller ist vollgestopft mit Fahrrädern in unterschiedlichen Größen, einem Kinderwagen, Schlitten, Slalomskiern und einer Backmaschine, Weihnachtsschmuck, Tapetenrollen und einer Leiter voller weißer Farbspritzer. Jemand hat mit einem dicken Filzstift einen Karton beschriftet: Josefs Comics.
Es knackt in der Decke, und Simone schaut erst zur Treppe und dann zu ihrem Vater, der das Geräusch nicht gehört zu haben scheint. Er geht langsam auf eine Tür am anderen Ende des Raums zu. Simone stößt ein Schaukelpferd an. Kennet öffnet die Tür und blickt in eine Waschküche mit einer älteren Waschmaschine, einem Trockner und einer altertümlichen Mangel. Neben einer Wärmepumpe hängt vor einem großen Schrank ein schmutziger Vorhang.
»Keiner da«, sagt Kennet und dreht sich zu Simone um.
Sie schaut ihn an und sieht gleichzeitig den schmutzigen Vorhang hinter seinem Rücken. Er bewegt sich nicht, ist aber dennoch auffällig.
»Simone?«
Es gibt einen feuchten Fleck auf dem Stoff, ein kleines Oval wie von einem Mund.
»Falte mal den Plan auseinander«, sagt Kennet.
Simone glaubt zu sehen, dass sich das feuchte Oval plötzlich wie von einem Mund nach innen wölbt.
»Papa«, flüstert sie.
»Ja«, antwortet er und lehnt sich gegen den Türpfosten, steckt seine Pistole ins Schulterhalfter zurück und kratzt sich am Kopf.
Es knarrt, und sie dreht sich um und sieht, dass das Schaukelpferd immer noch wippt.
»Was ist los, Sixan?«
Kennet kommt zu ihr, nimmt ihr die Pläne aus der Hand, breitet sie auf einer zusammengerollten Matratze aus, beleuchtet sie mit der Taschenlampe und dreht sie hin und her.
Er schaut auf, wendet sich erneut dem Plan zu und geht zu einer Backsteinwand, an der die Einzelteile eines alten Etagenbetts neben einem Schrank mit orange Schwimmwesten lehnen. An einer Werkzeugwand hängen Stemmeisen, verschiedene Sägen und Schraubzwingen. Der Platz neben dem Hammer ist leer, die große Axt fehlt.
Kennet misst Wand und Decke mit den Augen, lehnt sich vor und klopft gegen die Wand hinter dem Bett.
»Was ist los?«, fragt Simone.
»Die Wand hier muss mindestens zehn Jahre alt sein.«
»Ist etwas dahinter?«
»Ja, allerdings, ein ziemlicher großer Raum«, antwortet er.
»Und wie kommt man hinein?«
Kennet beleuchtet mit der Taschenlampe die Wand und den Fußboden neben den Einzelteilen des Betts. Schatten gleiten durch den Keller.
»Leuchte mal dahin«, sagt Simone.
Sie zeigt auf den Fußboden neben dem Schrank. Etwas ist viele Male in einem Bogen über den Betonboden geschrammt.
»Hinter dem Schrank«, sagt sie.
»Du hältst die Taschenlampe«, sagt Kennet und zieht seine Pistole.
Plötzlich hört man etwas hinter dem Schrank. Es klingt, als würde sich dort jemand vorsichtig bewegen. Es sind deutliche, aber sehr langsame Bewegungen.
Simones Puls steigert sich zu einem heftigen Pochen. Da ist jemand, denkt sie. Großer Gott. Sie würde unglaublich gerne nach Benjamin rufen, traut sich aber nicht.
Kennet bedeutet ihr mit einer abwehrenden Geste, dass sie sich zurückziehen soll, und sie will etwas sagen, als die angespannte Stille plötzlich explodiert. Im Erdgeschoss ertönt ein lauter Knall: Holz bricht und zersplittert. Simone lässt die Taschenlampe fallen, und es wird dunkel. Schnelle Schritte trampeln über den Fußboden, es wummert in der Decke, blendende Lichtkegel rollen wie hohe Wellen heran, die Eisentreppe hinunter und in den Keller.
»Legen Sie sich auf den Boden«, schreit hysterisch ein Mann. »Runter auf den Boden!«
Simone ist wie gelähmt, geblendet wie ein Nachttier angesichts eines heranschießenden Autos auf der Autobahn.
»Leg dich hin«, ruft Kennet.
»Maul halten«, schreit jemand.
»Runter, runter!«
Simone begreift erst, dass die Männer sie meinen, als sie einen kräftigen Schlag in den Bauch bekommt und auf den Betonboden gepresst wird.
»Runter auf den Boden, hab ich gesagt!«
Sie versucht zu atmen, hustet und ringt nach Luft. Grelles Licht füllt den Keller. Schwarze Gestalten zerren an ihnen und schleifen sie die schmale Kellertreppe hinauf. Ihre Hände werden auf dem Rücken festgehalten. Sie kann kaum gehen, stolpert und schlägt mit der Wange gegen das scharfkantige Metallgeländer.
Sie versucht, den Kopf zu drehen, aber jemand hält sie fest, atmet erregt und drückt sie grob gegen die Wand neben der Kellertür.
Mehrere Gestalten scheinen sie mit Blicken zu fixieren. Sie blinzelt ins Tageslicht, kann kaum etwas sehen. Bruchstücke eines Gesprächs dringen an ihr Ohr, und sie erkennt die kurz angebundene und strenge Stimme ihres Vaters. Es ist eine Stimme, die ihr den frühmorgendlichen Kaffeegeruch an Schultagen in Erinnerung ruft, während im Radio die Nachrichten laufen.
Erst jetzt wird ihr klar, dass die Polizei das Haus gestürmt hat. Vielleicht hat ein Nachbar das Licht von Kennets Taschenlampe bemerkt und die Polizei gerufen.
Ein etwa fünfundzwanzigjähriger Polizeibeamter mit Fältchen und blauen Ringen unter den Augen betrachtet sie mit gestresstem Blick. Sein Kopf ist kahlrasiert, wodurch eine plumpe, knollenartige Schädelform enthüllt wird. Er streicht sich mehrmals mit der Hand um den Hals.
»Wie heißen Sie?«, fragt er kalt.
»Simone Bark«, sagt sie mit einer Stimme, die noch wankt. »Ich bin hier mit meinem Vater, er ist …«
»Ich habe gefragt, wie Sie heißen«, unterbricht sie der Mann mit erhobener Stimme.
»Immer mit der Ruhe, Ragnar«, sagt ein Kollege.
»Sie sind ein verdammter Parasit«, fährt Ragnar Simone zugewandt fort. »Aber das ist natürlich nur meine persönliche Ansicht über Leute, die es geil finden, sich Blut anzusehen.«
Er schnaubt und wendet sich ab. Sie hört weiterhin die Stimme ihres Vaters. Sie wird nicht lauter, klingt sehr müde.
Sie sieht, dass einer der Polizisten mit Kennets Portemonnaie fortgeht.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt Simone zu einer Polizistin. »Wir haben unten im Keller jemanden ge…«
»Halt’s Maul«, unterbricht sie die Frau.
»Mein Sohn ist …«
»Halt’s Maul, habe ich gesagt. Zukleben. Klebt ihr den Mund zu.«
Simone sieht, dass der Polizist, der sie als Parasit beschimpft hat, eine breite Kleberolle heraussucht, jedoch innehält, als die Haustür aufgeht und ein großer blonder Mann mit stechenden grauen Augen hereinkommt.
»Joona Linna, Landeskripo«, sagt er mit finnischem Akzent. »Was ist hier los?«
»Zwei Verdächtige«, antwortet die Polizistin.
Joona sieht Kennet und Simone an.
»Ich übernehme das«, erklärt er. »Das ist ein Missverständnis.«
Als er seine Kollegen anweist, die Verdächtigen loszulassen, tauchen plötzlich zwei Lachgrübchen auf Joonas Wangen auf. Die Polizistin geht zu Kennet und löst die Handschellen, bittet um Entschuldigung und wechselt anschließend mit roten Ohren ein paar Worte mit ihm.
Der Polizist mit dem rasierten Schädel trottet vor Simone auf der Stelle und starrt sie an.
»Lass sie los«, sagt Joona.
»Sie hat Widerstand geleistet, mein Daumen ist verletzt worden«, antwortet er.
»Du willst die beiden verhaften?«, fragt Joona.
»Ja.«
»Kennet Sträng und seine Tochter?«
»Mir ist scheißegal, wer die beiden sind«, erwidert der aggressive Polizist.
»Ragnar«, sagt die Polizistin beruhigend. »Der Mann ist ein Kollege.«
»Es ist verboten, einen Tatort zu betreten, und ich schwöre …«
»Jetzt beruhigst du dich«, unterbricht Joona ihn bestimmt.
»Aber liege ich denn falsch?«, fragt er.
Kennet ist zu ihnen getreten, sagt aber nichts. »Liege ich falsch?«, wiederholt Ragnar.
»Wir sprechen später darüber«, antwortet Joona.
»Und warum nicht jetzt?«
Joona senkt die Stimme und sagt kurz:
»Weil das so besser für dich ist.«
Die Polizistin geht erneut zu Kennet, räuspert sich und sagt:
»Die Sache tut uns leid — morgen bekommst du eine Torte.«
»Ist schon okay«, sagt Kennet und hilft Simone vom Boden auf.
»Der Keller«, haucht sie fast lautlos.
»Ich kümmere mich darum«, sagt Kennet und dreht sich zu Joona um. »Im Keller halten sich ein oder zwei Personen in einem verborgenen Raum hinter einem Schrank auf.«
»Alle mal herhören«, ruft Joona den anderen zu. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass sich der Verdächtige im Keller befindet. Ich übernehme die Einsatzleitung. Seid vorsichtig. Es könnte sich eine Geiselsituation ergeben, und in dem Fall führe ich die Verhandlungen. Der Verdächtige ist gefährlich, sollte der Gebrauch von Schusswaffen erforderlich werden, zielt auf die Beine.«
Joona leiht sich eine schusssichere Weste und streift sie sich rasch über. Dann schickt er zwei Beamte auf die Rückseite des Hauses und versammelt eine Einsatzgruppe um sich. Sie lauschen seinen kurzen Anweisungen und verschwinden gemeinsam durch die Tür zum Keller. Die Metalltreppe dröhnt unter ihrem Gewicht.
Kennet hat die Arme um Simone geschlungen. Sie hat solche Angst, dass sie am ganzen Körper zittert. Er flüstert ihr zu, dass alles gut gehen wird. Simone will bloß die Stimme ihres Sohnes aus dem Keller hören, sie bittet flehentlich darum, jetzt, jeden Moment seine Stimme hören zu dürfen.
Kurz drauf kehrt Joona mit der Schutzweste in der Hand zurück.
»Er ist uns entkommen«, sagt er zugeknöpft.
»Und Benjamin, wo ist Benjamin?«, fragt Simone.
»Nicht hier«, antwortet Joona.
»Aber der Raum …«
Simone geht zur Treppe, Kennet versucht, sie zurückzuhalten, aber sie reißt sich los, zwängt sich an Joona vorbei und eilt die Eisentreppe hinunter. Jetzt ist der Keller hell wie ein Hochsommertag. Drei Scheinwerfer auf Ständern füllen den Raum mit Licht. Die Leiter steht nun unter dem kleinen, inzwischen offenen Kellerfenster. Der Schrank mit den Schwimmwesten ist zur Seite geschoben worden, und ein Polizist bewacht die Türöffnung zu dem versteckten Raum. Langsam geht Simone auf ihn zu. Sie hört Kennet hinter ihrem Rücken etwas sagen, versteht die Worte aber nicht.
»Ich muss«, sagt sie schwach.
Der Polizist hebt abwehrend die Hand und schüttelt den Kopf.
»Ich kann Sie da leider nicht hineinlassen«, sagt er.
»Aber es geht um meinen Sohn.«
Sie spürt die Arme ihres Vaters um sich, versucht aber trotzdem, sich zu befreien.
»Er ist nicht hier, Simone.«
»Lass mich los!«
Sie tritt vor und blickt in einen Raum mit einer Matratze auf dem Fußboden, Stapeln alter Comics, leeren Chipstüten, hellblauen Schuhschützern, Konserven und Cornflakespaketen und einer großen, glänzenden Axt.