15.
Freitagmorgen, der elfte Dezember
Es ist erst halb sechs, als es irgendwo in der Wohnung klopft. Simone hört das Geräusch als Teil eines frustrierenden Traums, in dem sie verschiedene Schneckenhäuser und Porzellandeckel anheben muss. Sie versteht die Regeln, macht es aber trotzdem falsch. Ein Junge klopft auf den Tisch und zeigt ihr, dass sie sich falsch entschieden hat. Simone wälzt sich im Schlaf herum und brummt, öffnet die Augen und ist schlagartig hellwach.
Irgendwer oder irgendetwas klopft in ihrer Wohnung. Sie versucht das Geräusch in der Dunkelheit zu orten, liegt ganz still und lauscht, aber das Klopfen hat aufgehört.
Sie hört Erik neben sich leise schnarchen. Es knackt in den Wasserrohren. Der Wind wirft sich gegen die Fensterscheiben.
Simone denkt noch, dass ihr das Geräusch im Schlaf lauter vorgekommen ist, als es plötzlich wieder klopft. Es ist jemand in der Wohnung. Erik hat Tabletten genommen und schläft tief und fest. Die Geräusche eines Autos auf der Straße dringen dumpf durchs Fenster. Als sie ihre Hand auf Eriks Arm legt, wird sein Schnarchen leiser. Ausatmend dreht er sich im Schlaf um. Sie schleicht sich möglichst leise aus dem Bett und schiebt sich durch die halboffene Schlafzimmertür.
In der Küche brennt Licht. Als sie sich durch den Flur bewegt, sieht sie einen Lichtschein wie eine blaue Gaswolke in der Luft hängen. Es ist die Kühlschranklampe. Kühlschrank und Gefrierschrank stehen offen. Es tropft aus den Gefrierfächern, Wasser ist auf den Fußboden gelaufen. Tropfen fallen von den aufgetauten Lebensmitteln und landen mit kurzen, klopfenden Lauten auf der Plastikleiste.
Simone spürt, wie kalt es in der Küche ist. Es riecht nach Zigarettenrauch.
Sie wirft einen Blick in den Eingangsflur und entdeckt, dass die Wohnungstür sperrangelweit offen steht.
Sie eilt zu Benjamins Zimmer, aber er liegt im Bett und schläft ruhig und fest. Sie bleibt für einen Moment stehen und lauscht seinen regelmäßigen Atemzügen.
Als sie zur Tür geht, um sie zu schließen, bleibt ihr fast das Herz stehen. In der Türöffnung steht jemand, der ihr zunickt und einen Gegenstand hinhält. Sie braucht ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass es der Zeitungsbote ist. Er will ihr die Tageszeitung geben. Sie bedankt sich und nimmt sie an, und als sie endlich die Tür zuzieht und abschließt, zittert sie am ganzen Leib.
Sie macht überall Licht und durchsucht die Wohnung. Es scheint nichts zu fehlen.
Als Simone sich auf den Boden kniet und das Wasser vom Boden aufwischt, kommt Erik herein. Er holt ein Handtuch, wirft es auf den Boden und beginnt, mit dem Fuß trocken zu wischen.
»Ich bin bestimmt schlafgewandelt«, sagt er.
»Nein«, entgegnet sie müde.
»Der Kühlschrank ist nun wirklich das Paradebeispiel — ich hatte sicher Hunger.«
»Das ist nicht lustig, ich habe so einen leichten Schlaf, ich … jedes Mal, wenn du dich im Bett umdrehst oder aufhörst zu schnarchen, wache ich auf, wenn Benjamin auf Toilette geht, wache ich auf, ich höre, wenn …«
»Dann bist du eben die Schlafwandlerin gewesen.«
»Dann erklär mir mal, warum die Wohnungstür offen stand, erklär mir, warum …«
Sie verstummt, weil sie unsicher ist, ob sie es erzählen soll oder nicht.
»Ich habe hier ganz deutlich Zigarettenrauch gerochen«, sagt sie schließlich.
Erik lacht auf, und Simones Wangen laufen vor Wut rot an.
»Warum glaubst du mir nicht, dass jemand hier gewesen ist?«, fragt sie gereizt. »Nach all dem Mist, der über dich in den Zeitungen gestanden hat? Da ist es doch verdammt nochmal kein Wunder, dass irgendein Verrückter einbricht und …«
»Jetzt hör aber auf«, unterbricht er sie. »Das entbehrt doch jeder Logik, Sixan. Wer in aller Welt würde denn in unsere Wohnung einbrechen, Kühl- und Gefrierschrank aufmachen, eine Zigarette rauchen und anschließend einfach wieder gehen?«
Simone wirft das Handtuch auf den Fußboden.
»Ich weiß es nicht, Erik! Ich weiß es nicht, aber irgendjemand hat es getan!«
»Beruhige dich«, sagt Erik gereizt.
»Du findest, ich soll mich beruhigen?«
»Darf ich dir sagen, was ich glaube? Ich denke, dass ein bisschen Zigarettenrauch nicht weiter seltsam ist. Wahrscheinlich hat einer der Nachbarn an der Dunstabzugshaube geraucht. Das ganze Haus hängt an den gleichen Lüftungsschächten. Oder irgendein Bösewicht hat eine Zigarette im Treppenhaus geraucht, ohne darüber nachzudenken, dass …«
»Deine herablassende Art kannst du dir sparen«, sagt Simone kurz angebunden.
»Mein Gott, Sixan, jetzt mach doch nicht gleich aus jeder Mücke einen Elefanten, ich glaube wirklich, dass die Sache völlig harmlos ist und wir jeden Moment eine einleuchtende Erklärung bekommen werden.«
»Als ich wach wurde, habe ich gespürt, dass jemand in der Wohnung ist«, sagt sie gedämpft.
Er seufzt und verlässt die Küche. Simone betrachtet das graue und schmutzige Handtuch, mit dem sie den Fußboden vor dem Kühlschrank trocken gewischt hat.
Benjamin kommt herein und setzt sich auf seinen Platz.
»Morgen«, sagt sie.
Er seufzt und lümmelt sich mit dem Kopf in den Händen an den Tisch.
»Warum lügt ihr beide so oft?«
»Das tun wir doch gar nicht«, antwortet sie.
»Dann eben nicht.«
»Du findest, dass wir oft lügen?«
Er antwortet nicht.
»Denkst du an das, was ich im Taxi gesagt …«
»Ich denke an eine Menge Dinge«, unterbricht er sie laut.
»Schrei mich nicht an.«
»Vergiss, was ich gesagt habe«, seufzt er.
»Ich weiß nicht, wie es mit mir und Papa weitergehen wird. Das ist alles nicht so einfach«, sagt sie. »Du hast sicher Recht, wenn du meinst, dass wir uns selbst etwas vormachen, aber das ist nicht das Gleiche wie lügen.«
»Jetzt hast du es selber gesagt«, erwidert er leise.
»Gibt es noch etwas, woran du denkst?«
»Es gibt von mir keine Bilder als kleines Kind.«
»Aber sicher«, widerspricht sie lächelnd.
»Von mir als Säugling«, beharrt er.
»Du weißt doch, dass ich mehrere Fehlgeburten hatte, bevor du … also, es war so, als du geboren wurdest, haben wir uns so gefreut, dass wir völlig vergessen haben, Fotos zu machen. Ich weiß noch genau, wie du als Säugling aussahst, du hattest diese zerknitterten Ohren und …«
»Hör auf«, schreit Benjamin und geht in sein Zimmer.
Erik kommt in die Küche und lässt ein Mittel gegen Sodbrennen in ein Glas Wasser fallen.
»Was ist denn mit Benjamin los?«, fragt er.
»Ich weiß es nicht«, flüstert sie.
Erik trinkt die Flüssigkeit über die Spüle gebeugt.
»Er findet, dass wir ständig lügen«, sagt sie.
»So denken alle Teenager.«
Erik rülpst leise.
»Mir ist herausgerutscht, dass wir uns trennen wollen«, erzählt sie.
»Wie kannst du nur so bescheuert sein?«, sagt er hart.
»Ich habe nur gesagt, was ich in dem Moment empfunden habe.«
»Zum Teufel, du kannst doch nicht immer nur an dich denken.«
»Das tue ich auch nicht, ich schlafe nicht mit Praktikantinnen, ich nehme nicht …«
»Halt’s Maul«, brüllt er.
»Ich nehme nicht massenhaft Tabletten, um …«
»Du weißt gar nichts!«
»Ich weiß, dass du starke Schmerztabletten nimmst.«
»Was geht dich das an?«
»Hast du irgendwelche Schmerzen, Erik? Sag mir, ob du …«
»Ich bin Arzt, und ich denke, dass ich das hier ein bisschen besser beurteilen kann als …«
»Mich täuschst du nicht«, unterbricht sie ihn.
»Wie meinst du das?«, lacht er.
»Du bist abhängig, Erik, wir schlafen nicht mehr miteinander, weil du große Mengen starker Tabletten nimmst, die …«
»Vielleicht will ich ja nur nicht mit dir schlafen«, unterbricht er sie. »Warum sollte ich mit dir schlafen wollen, wenn du ständig so verdammt unzufrieden mit mir bist?«
»Dann trennen wir uns eben«, sagt sie.
»Gut«, erwidert er.
Sie kann ihn nicht ansehen, geht nur langsam aus der Küche, spürt, wie ihr Hals sich spannt und schmerzt und ihr Tränen in die Augen schießen.
Benjamin hat die Tür zu seinem Zimmer geschlossen und die Musik so laut aufgedreht, dass Wände und Türen wackeln. Simone schließt sich im Badezimmer ein, löscht das Licht und weint.
»Verdammte Scheiße«, hört sie Erik im Flur schreien, ehe er die Wohnungstür öffnet und hinter sich zuschlägt.