Neunundzwanzigstes Kapitel
Ich sitze jetzt seit einer Stunde hier und warte«, sagte Boyd. »Wenn sie anruft, muss ich sofort los und sie abholen.«
Raylan sagte: »Wo ist Nichols?«
Sie waren in seinem Büro im Amtsgericht.
»In einem Meeting. Meinte, ich könne hier auf dich warten, solange ich nichts anfasse. Ihr wisst ganz genau, wie man es anstellt, dass man sich als Besucher gleich wie zu Hause fühlt.«
»Ich sollte wahrscheinlich auch bei diesem Meeting sein«, sagte Raylan. Er nahm den Hörer vom Telefon auf dem Schreibtisch.
Boyd sagte: »Ich wollte dir eigentlich etwas erzählen, damit dir klar wird, was mit Otis wirklich passiert ist. Ich habe ihn nämlich nicht erschossen.«
Raylan legte den Telefonhörer wieder auf die Gabel zurück, setzte sich gegenüber von Boyd an den Schreibtisch und starrte ihn an. »Willst du mir erzählen, Carol hat Otis erschossen?«
»Sie ist der einzige weibliche Gangster in einem Kohlekonzern, der mir je untergekommen ist«, sagte Boyd. »Ich kann nicht mehr für sie arbeiten.«
»Plötzlich ist sie also ein Gangster?«
»Ich sage nur, für eine Frau ist sie brutal«, sagte Boyd, »so, wie sie sich verhält und wie knallhart sie die Unternehmenslinie fährt.«
»Boyd, wenn du mir sagen willst, dass Carol Otis erschossen hat, dann sag’s.«
»Raylan, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden verpfiffen. Lieber würde ich mir die Zunge rausschneiden. Ich sage nur, ich habe Otis nicht erschossen, mehr nicht.«
»Aber wenn ihr beiden, du und Carol, als einzige vor Ort wart«, Raylan unterbrach sich und fragte, »hat Otis mit seinem Gewehr auf dich geschossen?«
Boyd zögerte.
»Oder hast du dir, nachdem er tot war, die Flinte genommen und die Patronen in der Luft verballert?«
»Ich sage nichts zum Thema Carol.«
»Aber du warst es doch«, meinte Raylan, »der es nach Notwehr aussehen hat lassen.«
»Raylan, ich schwöre auf die heilige Bibel, dass ich den Mann nicht erschossen habe.«
»Aber außer dir und Carol war niemand da, richtig?«
»Du darfst gerne deine Schlussfolgerungen ziehen, ich sage nur, ich habe ihn nicht erschossen.«
»Aber ich kann sie schlecht wegen Otis verhaften«, sagte Raylan, »ohne ihr irgendetwas nachweisen zu können.«
»Ich arbeite nicht mehr für sie«, sagte Boyd, »mehr kann ich dir nicht sagen. Ich muss jetzt losfahren, sie abholen.«
Raylan ließ ihn gehen. Weit würde er nicht kommen.
Carol kam mit zwei braunen Briefumschlägen unter dem Arm aus der Firmenzentrale und stieg diesmal vorne bei Boyd ein.
»Und, was hast du gemacht, warst du in der Kneipe?«
Ohne groß drum herumzureden, antwortete Boyd: »Um ehrlich zu sein, habe ich noch mal bei meinem alten Kumpel vorbeigeschaut.«
Während er den Blick auf den Seitenspiegel richtete und darauf wartete, überholt zu werden, spürte er, wie sie ihn anstarrte.
Sie sagte: »Sag mir, warum.«
»Ich wollte ihm gegenüber etwas klarstellen.«
Sie fasste nach dem Schlüssel und würgte den Motor ab.
»Du weißt, ich bin Anwältin.«
»Ja, und ...?«, sagte Boyd und spürte, dass er den Vorteil auf seiner Seite hatte.
»Wie oft habe ich dir gesagt«, sagte Carol, »dass du unmöglich verurteilt werden kannst. Gegen dich wird nicht mal ein Verfahren eröffnet, selbst dann nicht, wenn ich zugebe, dass du ihn ermordet hast. Ich bin an der Tat beteiligt, es war schließlich meine Waffe – beziehungsweise die der Firma. Ich könnte sogar sagen, dass ich versucht habe, dich aufzuhalten – es würde nichts ändern.«
Fast hätte Boyd ihr, so laut er konnte, ins Gesicht geschrien: ›Ich habe ihn nicht erschossen, das waren Sie!‹
Stattdessen räusperte er sich und sagte mit normaler Stimme: »Raylan weiß, dass ich den Mann nicht erschossen habe. Er kennt mich noch von damals, als wir zwei Kohlekumpel waren, die gemeinsam streikten und hofften, eine höhere Macht auf unserer Seite zu haben, und nicht auf der des Konzerns.«
Carol sagte: »Du hast ihm gesagt, dass du Otis nicht erschossen hast?«
»Das ist korrekt, denn ich war’s ja nicht.«
Sie sagte: »Boyd ...«
»Sie sagen meinen Namen nur, wenn Sie kurz davor sind, mich anzuschreien.«
Sie sagte: »Bin ich dir gegenüber jemals laut geworden?«
»Ich vermute mal, Sie feuern mich jetzt sowieso.«
»Hast du ihm denn auch gesagt«, fragte Carol, »dass ich Otis erschossen habe?«
»Ich habe ihm nur gesagt, dass ich’s nicht war.«
»Und du denkst, er glaubt dir.«
»Ja.«
»Mir scheint«, sagte Carol, »als ob alles beim Alten ist. Selbst wenn du ihm gesagt hättest, dass ich Otis erschossen habe. Er müsste immer noch beweisen, dass es keine Notwehr war.«
Boyd sagte: »Sagen Sie mir, wer’s war, ja? Nur, damit ich Bescheid weiß.«
»Es macht doch sowieso keinen Unterschied. Du warst da, und du bist nicht eingeschritten. Ich habe gesagt, schieß das Gewehr leer, und du hast willentlich Beihilfe geleistet. Aber ob du dein großes Maul hältst oder nicht«, sagte Carol, »nachdem du jetzt plötzlich zu Gott gefunden hast, willst du wahrscheinlich so oder so, dass ich mich stelle, damit du nicht zum Verräter werden musst. Habe ich recht?«
»Wie man so schön sagt: Que sera sera«, sagte Boyd.
»Mein Gott«, sagte Carol. »Du bist viel zu dumm, um eine Bedrohung für mich zu sein.«
Er drehte den Zündschlüssel und wollte gerade mit aufeinandergebissenen Zähnen losfahren, als sie ihm ins Steuer griff.
»Steig aus, ich rutsch rüber. Nimm dir ein Taxi zum Pflegeheim St. Elizabeth, die Adresse steht auf den Couverts.« Sie drückte ihm die Umschläge in die Hand. »Marion soll überall da unterschreiben, wo ein Kreuzchen ist, und sag ihr, dass ich morgen vorbeikomme.«
»Weswegen?«
»Um mich dafür zu bedanken, dass sie so entgegenkommend ist. Gott, das Telefonat mit ihr hat extreme Willensanstrengung gekostet. Sag der alten Dame, sie kriegt jeden Monat ihre fünf Scheinchen und fertig.« Ihr Tonfall war fast weich, als sie noch hinzufügte: »Und Boyd, überlass mir das Denken, okay?«
Der Taxifahrer sagte: »Gehen Sie hier besuchen Ihre Papa oder Ihre Mama?«
Boyd, mit den Umschlägen im Schoß – der mit den Fahrzeugpapieren für den Trailer war bei Weitem nicht so dick wie der mit der Einverständniserklärung, die die alte Dame an drei verschiedenen Stellen unterschreiben sollte –, sagte: »Meine alte Mutter.«
»Schön, Sie besuchen sie«, sagte der Fahrer. »Sie bringen Süßigkeit für sie?«
»Wenn sie Süßigkeiten isst, kriegt sie Pickel.«
»Ja? Wie alt sie ist?«
»Ich glaube, sie wird bald achtzig.«
»Sie haben noch Zähne?«
»Ich habe ihren Mund nicht untersucht, aber ich glaube, schon lange nicht mehr.«
»Kaufen Sie Süßigkeit, das sie kann lutschen.«
Boyd konnte nicht sagen, woher der Mann kam, auf jeden Fall nicht aus einem Land in der Nähe Amerikas. »Das Leben als Ehefrau eines Bergmanns hat sie alt gemacht.«
»Er sterben?«
»Ja. Ist erschossen worden.«
»Oh, Sie wissen, wer ihn hat erschossen?«
»Ja, aber das sage ich Ihnen nicht.«
»Sie sagen okay? Sie nicht erschießen ihn?«
Boyd sagte: »Woher kommen Sie?«
»Ich kommen hierher aus Albanien«, sagte der Fahrer, »aber nicht Moslem. Wenn ich müssen erschießen eine Mann, ich erschieße.«
Er bog in die Zufahrt zum Pflegeheim St. Elizabeth. Boyd stieg aus, bezahlte, sagte zu dem Fahrer, »Sie sollten versuchen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu behalten, Partner«, und betrat das Gebäude. Zwei Stockwerke roter Backstein, dekorativ mit weißen Elementen abgesetzt, ein hübscher Ort, um seine letzten Tage zu verbringen. Innen allerdings war es alles andere als hübsch. Es roch nach alten, sich den ganzen Tag lang einnässenden Menschen. Eine Frau führte ihn einen Korridor hinunter, um eine Ecke und einen weiteren Korridor entlang bis zum Zimmer von Marion Culpepper.
***
Sie saß in einem Schaukelstuhl, über ihren Beinen hing eine Steppdecke, die bis zum Boden reichte. Mit ihrem strähnigen, am Kopf klebenden Haar und den eingesunkenen Augen wirkte sie, als sei sie dem Tod bereits recht nah. In ihren Nasenlöchern steckten Sauerstoffschläuche, die unter der Decke ebenfalls zum Boden führten. Als Repräsentant des Kohlekonzerns sagte Boyd: »Sie haben es aber schön hier, Ms. Culpepper.« Das Zimmer war möbliert mit dem Schaukelstuhl, einem Holzstuhl, einer Kommode und einem Bett, das sich auf Knopfdruck verstellen ließ. An der Wand hing ein Bild von Jesus bei der Offenbarung seines heiligen Herzens.
Es war ein Zimmer zum Sterben.
Boyd sagte: »Hey, wie schön, Sie haben ja sogar ein eigenes Bad.«
Ms. Culpepper sagte: »Sollten Sie mir nicht was zu trinken mitbringen?«
Boyd legte die Stirn in Falten. »Ich habe nur diese Unterlagen hier bekommen.«
»Ich habe der Schwester gesagt, dass sie das jedem ausrichten soll, der zu Besuch kommt.«
»Mir hat sie nichts gesagt«, sagte Boyd.
»Miz Conlan hat auch noch nie was mitgebracht.«
»Wie gesagt, ich habe nur die Papiere dabei, die Sie unterschreiben sollen, eine Besitzurkunde für den Wohnwagen und Ihre Einverständniserklärung. Hier steht, dass Sie sich mit fünfhundert Dollar im Monat abfinden lassen, oder Sie streichen das durch und schreiben hin, dass Sie erst unterschreiben, wenn Sie soundsoviel bekommen. Das können Sie dann mit Ms. Conlan besprechen, sie hat diesen Vertrag hier aufgesetzt. Oder aber«, sagte Boyd, »Sie unterschreiben, und ich bringe Ms. Conlan dazu, alle von Ihnen gewünschten Änderungen nachträglich einzufügen.« Er dachte kurz nach und sagte dann: »Wissen Sie was, wir machen’s so: Während Sie die Unterlagen unterschreiben, laufe ich schnell raus und besorge Ihnen eine Flasche Schnaps.«
»Otis fehlt mir«, sagte Marion.
»Kann ich mir vorstellen, aber Sie sind doch ganz bald wieder bei ihm, oder nicht?«
»Der Arzt sagt, ich habe noch ganze Jahre in den Knochen. Ich bin ja auch erst neunundsechzig. Er hat gesagt, ich habe nur eine ganz leichte Staublunge. Dass meine Lungen geröstet sind, kommt davon, dass ich mein ganzes Leben billigen Tabak geraucht habe.«
Boyd sagte: »Versuchen Sie doch, der Schwester ein paar Oxys abzuluchsen.«
»Sie hat gesagt, ich soll die Schmerzen aushalten. Aber von dieser Konzernfrau lasse ich mir keine Dreistigkeiten mehr bieten. Sie ist immer geizig. Erst brüllt sie mich an, dass ich entweder nehmen muss, was sie mir anbietet, oder gar nichts kriege. Ich habe gesagt: ›Was glauben Sie, welches Jahr wir haben? 1940?‹ Alles hat angefangen mit Otis’ gottverdammtem Fischteich. Wenn ich damit gedroht habe, die Fische zu braten, ist er hoch auf den Old Black und hat uns ein paar Eichhörnchen geschossen. Einmal hat er sogar einen Elch mitgebracht.«
Boyd sagte: »Ms. Conlan kommt morgen noch mal bei Ihnen vorbei. Sagen Sie doch einfach frei heraus, was Sie wollen.«
»Sechshundert, sonst rede ich überhaupt nicht mehr mit ihr. Bisher haben wir von fünfhundert gesprochen, bisschen wenig. Hey, Sie arbeiten für sie, oder nicht?«
Boyd sagte: »Ich bin dafür verantwortlich«, fast sagte er ›Problemfälle zu lösen‹, bremste sich aber gerade noch, »sie herumzufahren.«
Sie sagte: »Sie waren auch dabei, oder? An dem Abend, als Otis zu Ihnen raufgekommen ist?«
Boyd straffte sich und sagte der Witwe: »Ma’am, ich habe Ihren Mann nicht erschossen.«
»Das weiß ich«, sagte Ms. Culpepper. »Ich habe gehört, wie sie redet, und jetzt habe ich Sie reden hören, und Sie haben angeboten, mir eine Flasche zu besorgen. Bringen Sie doch gleich zwei mit, bitte. Ich schätze mal, allzu viel Geduld haben Sie auch nicht, aber sie hat überhaupt keine. Sie will, dass immer alles sofort erledigt wird. Wissen Sie, was ich mache, wenn sie kommt, damit ich ihr diese Papiere unterschreibe?«
Boyd schüttelte den Kopf.
Sie warf die über ihren Beinen liegende Decke zur Seite und richtete eine Schrotflinte auf ihn.
Boyd sagte: »Jessas Maria.«
Ms. Culpepper sagte: »Mein Heiland und Erlöser, Mutter Gottes.«
»Sie haben mich ganz schön überrascht.«
»Ich will ihr einen ordentlichen Schrecken einjagen. Sie soll denken, dass ich sie erschießen will. Aber das Gewehr ist nicht geladen. Es hat mal Otis gehört, ein Polizist hat’s mir gegeben. Ich habe ihn gefragt: ›Was, wenn ich mir draußen einen Truthahn zum Abendessen schießen will?‹ Er hat gesagt, nein, Munition kann er mir nicht dazugeben, weil ich in diesem Heim wohne. Er glaubte, das ist verboten hier.«
»Und wozu brauchen Sie die Munition wirklich?«
»Um die Frau vom Konzern zu erschießen, wenn sie morgen herkommt.«
»Holla«, sagte Boyd. »Können Sie denn mit dem Gewehr umgehen?«
»Fast so gut wie Otis.«
Boyd dachte erst nach, bevor er fragte: »Was glauben Sie, wie viele Ladungen würden Sie brauchen?«
»Eine«, sagte Ms. Culpepper, »reicht. Vielleicht noch eine zweite, zur Sicherheit.«