Elftes Kapitel

Raylan kam aus dem Aufzug, überquerte den Flur und betrat ein Wartezimmer voller Kunstledermobiliar und Zeitschriften, in dem Nichols saß und in People las. In diesem Moment schlug er das Magazin zu und nahm einen Aktenordner zur Hand, der neben ihm auf der Couch lag.

»Schon zu Mittag gegessen?«

»Schinken mit Limabohnen«, sagte Raylan und setzte sich zu ihm auf die Couch.

»An den betreffenden Tagen«, sagte Nichols, »hatten sich zwei Schwestern von dieser Station freigenommen, jeweils wegen eines Todesfalls in der Familie. Gladys, die seit fünfunddreißig Jahren als Transplantationsschwester arbeitet und mittlerweile zur Oberschwester aufgestiegen ist, hat hinterher die Todesanzeige ihres Vaters im Schwesternzimmer aufgehängt. Die andere heißt Layla«, Nichols zog ein schwarz-weißes Porträtfoto aus seinem Ordner und reichte es Raylan.

»Schlankes Gesicht«, meinte Raylan und wollte damit sagen, dass sie keinen fetten Eindruck machte.

»Eins siebenundsechzig, vierundfünfzig Kilo«, sagte Nichols. »Siebenunddreißig Jahre alt.«

»Sie hat tolle Augen«, sagte Raylan, »mit denen sie einen durchbohrt. Wer aus ihrer Familie ist gestorben?«

»Niemand. Layla hat zwei Wochen Urlaub genommen, um ihre alte Mutter zu pflegen, die angeblich auf der Schwelle zum Tod stand, soll sich die Lungen aus dem Leib gehustet haben, ist aber nicht gestorben und jetzt auf dem Weg der Besserung, weil sie mit dem Rauchen aufgehört hat.«

»Wo wohnt diese Mutter?«

»In New Orleans.«

»Schon überprüft?«

»Mach ich, sobald ich den Artikel über Harrison und Calista fertiggelesen habe, die heiraten nämlich, nachdem sie acht Jahre zusammengewohnt haben. Und dann muss ich mich noch schlau machen, warum Jake Pavelka sagt, dass Vienna ihn betrogen hat – wer auch immer die beiden sind.«

»Laylas Augen«, sagte Raylan, »sind wirklich auffällig. Man kann nicht anders, als hineinzusehen.« Konzentriert blickte Raylan die Frau auf dem Foto an, die sich nicht die Mühe eines Lächelns machte. Er sagte: »Ich würde gern wissen, was sie hier gerade denkt.«

Nichols drehte den Kopf und betrachtete das Foto. »Sie starrt den Fotografen an und denkt: Wenn du noch ein Bild machst, stehe ich auf und trete dir in die Eier.«

»Mir erscheint sie nicht ungeduldig«, sagte Raylan.

»Nein, sie denkt das auf eine nette Art.« Nichols sah auf die Uhr. »Die Operation sollte mittlerweile vorbei sein. Sie hat Dr. Howard Goldman bei einer Nierentransplantation assistiert. Als ob Layla das nicht selbst könnte.«

Raylan sagte: »Sie ist unsere Frau, oder?«

»Ich wüsste nicht, wer sonst«, sagte Nichols.

Beide erhoben sich von der Couch: Raylan stellte sich in den Durchgang zum Korridor und schaute in Richtung des OP-Saals, aus dem sie kommen mussten, und Nichols ging los, um Laylas Mutter anzurufen.

Raylan sah sie herauskommen, beide in weißen Kitteln, Layla hielt Dr. Goldman die Tür auf, der junge Doktor sprach auf Layla ein, sie gestikulierte, schüttelte den Kopf und wehrte sich gegen das, was er von ihr wollte. Vögeln vermutlich. Raylan hatte ihn früher am Tag schon mal zur Seite genommen und über die Schwestern befragt. Sich seinen Namen eingeprägt. Howard Goldman. Der Doktor hatte keine Zeit für ihn gehabt, mit der Hand vor seinem Gesicht herumgewedelt und war einfach weitergegangen. Jetzt öffnete er vor Layla die Hände zu einer bittenden Geste, diese Hände, die er dazu benutzt hatte, einem anderen das Leben zu retten. Er fand sich selbst so toll, dass er einen Ständer hatte.

Sie kamen in seine Richtung.

Raylan trat auf Dr. Goldman zu, würdigte Layla keines Blickes, und sagte: »Entschuldigen Sie, Doktor, aber meine Schwester muss hier irgendwo liegen, sie soll eine Nierentransplantation bekommen haben.«

Layla fragte: »Wie heißt Ihre Schwester denn?«

»Raejeanne Givens«, sagte Raylan und nannte den Namen seiner kleinen Schwester. »Ich weiß nicht, warum niemand aus meiner Familie hier ist. Ich komme gerade erst vom Flughafen.«

Layla sagte, »dann sehen wir doch mal nach Raejeanne«, legte ihre Hand auf Raylans Arm, zuckte mit den Schultern und warf dem Arzt einen Blick zu, der recht eindeutig ›Verpiss dich!‹ sagte. Dr. Goldman ging wortlos an Raylan vorbei den Flur hinunter.

»Ich bin bereits seit einer Stunde hier«, sagte Raylan, »und versuche rauszufinden, was los ist. Sie kommen gerade aus dem OP, oder?« Er hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Raylan Givens, Deputy United States Marshal. Tut mir leid, wenn ich Sie und den Doktor gestört habe. Ich mache mir nur Sorgen wegen meiner Schwester.«

Sie sagte: »Hallo, ich bin Layla. Der Doktor hat gerade eine Niere transplantiert, und Sie sagen, Raejeanne braucht eine? Merkwürdig, wir haben hier keine Raejeanne, auf keinem Terminplan, noch nicht mal auf dem für die Untersuchungen.« Mit einer Art Lächeln hob Layla die Augenbrauen.

»Macht nichts«, sagte Raylan. »Sie wirkten nicht gerade glücklich, als Sie eben mit Howard sprachen. Da dachte ich mir, ich könnte vielleicht eingreifen und Sie befreien. Ich hatte den Eindruck, Sie würden mitspielen.«

Sie sagte: »Wollen Sie mich wegen irgendetwas verhören?«

»Ich bin auf der Suche nach einem Arzt«, sagte Raylan, »der in Motelzimmern Nieren herausoperiert und auf dem Schwarzmarkt für menschliche Organe verkauft.«

Jetzt lächelte sie. »Sie sind verrückt.«

»Hat denn keiner der Ärzte hier vielleicht ein Problem mit seiner Spielsucht? Geht draußen auf der Rennbahn pleite und verschuldet sich bei einem Geldverleiher?«

»Die wetten hier nur auf Golfspiele«, sagte Layla.

»Soweit ich weiß«, sagte Raylan, »setzt man, wenn man eine Niere entnimmt, den Schnitt vorne.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe mit den Opfern gesprochen. Zwei haben gesagt, es war eine Frau, die ihnen die Nieren geraubt hat. Ich dachte, na ja, vielleicht hat der Arzt eine Frauenmaske aufgehabt. Setzt man Spenderorgane auch von vorne wieder ein?«

»Kann man machen, wie man lustig ist«, sagte Layla. »Was denn für eine Maske?«

»Eine aus Gummi, die man sich komplett über den Kopf zieht. Ich glaube, es soll Mrs. Obama gewesen sein.«

»Wirklich?«

»Ja, und die andere Maske, da bin ich mir ziemlich sicher, war der Präsident.«

Layla sagte: »Die andere Maske ...?«

»Die, die Cuba Franks aufhatte.« Raylan ließ das so stehen und wartete ab, wie Layla damit umgehen würde.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie den Kopf schüttelte und in ihrer weißen Schwesternkluft mit den Schultern zuckte. Dann sagte sie, »ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen«, und wandte sich schon ab, hielt aber noch einmal inne und fragte: »Warum kann der Arzt keine Frau gewesen sein?«

»Man hat mir gesagt, dass alle Ärzte hier Männer sind.«

»Sie könnte an einem anderen Krankenhaus arbeiten.«

»Das stimmt, aber Cuba kennt dieses Krankenhaus. Er ist mit seinem Chef ein, zwei Mal hier gewesen. Kennen Sie Cuba Franks?«

»Ich glaube nicht«, sagte Layla. »Ich würde Ihnen wirklich gerne weiterhelfen ...« Damit ließ sie ihn stehen.

Raylan wartete, bis sie sich ein paar Meter entfernt hatte, bevor er sagte: »Layla, Sie sind aber nicht diejenige, die die Nieren stiehlt, oder?«

Er hatte damit gerechnet, dass sie stehenbleiben und sich umdrehen würde. Nicht so Layla. Sie hob nur kurz lässig die Hand zum Gruß, ohne noch einmal zurückzublicken, so, wie man es häufig im Kino sieht.

Als er wieder bei den alten Zeitschriften im Wartezimmer saß, überlegte er, was er beim nächsten Mal zu ihr sagen sollte. Er kam zu keinem Schluss, bis Nichols den Raum betrat und sagte: »Es war gelogen, dass sie ihre Mutter gesund pflegen musste. Die alte Dame wohnt seit drei Jahren in einem Heim für Alzheimerpatienten.«

Cuba war zu Layla in ihre Wohnung auf der Virginia Avenue gezogen, die, vom UK-Medical-Campus und den Krankenhäusern aus gesehen, auf der anderen Straßenseite der South Limestone Street lag; er schlief auf dem Ausziehsofa. Wenn sie es gerade nicht nutzten, hatte Layla ihr Schlafzimmer für sich. Nach der Arbeit genehmigte sie sich, während sie ihre Schwesterntracht auszog, gerne einen Drink, und kuckte dann in T-Shirt und Unterhöschen die Nachrichten. Cuba machte das an, weswegen sie anschließend ins Schlafzimmer gingen, um Cuba Befriedigung zu verschaffen; ihr meistens auch. Er merkte, wenn eine Frau nur so tat als ob, es klang einfach immer übertrieben. Von Layla kam nie ein Wort, und er wartete auf dieses bestimmte Keuchen, dieses Stöhnen, das klang, als ob alle Luft aus ihr herausgesaugt würde. Danach sahen sie fern und tranken noch ein, zwei Wodka, während er das Abendessen frittierte.

Heute kam sie nach Hause und erzählte von Raylan Givens. Cuba fühlte ein Ziehen in der Magengrube und dachte, Scheiße, obwohl er nicht überrascht war. Der Mann machte seinen Job. Er fragte Layla: »Wie ist der auf uns gekommen?«

»Du hast für die Burgoynes gearbeitet.«

»Jetzt schiebst du’s mir in die Schuhe? Die haben doch eigentlich mit den toten Crowes genug zu tun.«

»Das mit den Crowes musste sein«, sagte Layla. »Aber du hast dieses Mädchen laufen lassen. Rita.«

»Ich wusste, dass du von der noch mal anfangen würdest.«

In ihrem Schwestern-Outfit trat Layla auf ihn zu, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf den Mund, erst sanft, dann immer leidenschaftlicher. Als sie sich schließlich von ihm löste, sagte sie: »Mach dir deswegen keine Gedanken. Aber ich glaube, mit Harry sollten wir noch ein bisschen warten. Der Marshal hat sich bestimmt mit ihm unterhalten. Wahrscheinlich auch seiner Frau ein paar Fragen gestellt. Du hast was mit ihr gehabt, oder?«

»Nicht besonders viel«, sagte Cuba. »Ich hatte schon daran gedacht, zu Mr. Harry zu fahren und mich für mein Verschwinden zu entschuldigen: Als armseliger, ungebildeter Neger habe man leider nicht die geringste Ahnung, wie man sich betragen müsse. Aber diese Negernummer habe mich immer deprimiert. Ich würde sagen, ich wolle ihm eine neue Nummer vorschlagen, die wir mal ausprobieren könnten.«

»Und zwar?«

»Da muss ich mir noch was ausdenken – damit die Augen dieses beschissenen Rassisten vor Lachen feucht werden. Ich könnte ihm sagen, ich hätte eine Aufnahme, die er sich mal anhören müsse. Dann bringe ich ihn her, und du kommst mit der Spritze.«

»Und wie soll er uns die, sagen wir, zweihundertfünfzigtausend geben?«

»Daran arbeite ich noch.«

Layla sagte: »Wir warten trotzdem mit Harry. Ich habe mir überlegt, dass wir ein paar Organe mehr sammeln könnten. Gregg Allman hat gerade eine neue Leber transplantiert bekommen und kann wieder trinken – yeaaah! Ab jetzt holen wir Nieren raus, Lebern, Lungen, Bauchspeicheldrüsen. Herzen sind zu schwierig. Die müssen am Pumpen gehalten werden.«

Cuba dachte: Das ist wie Autoteile verkaufen, man gibt sie weiter, man verteilt sie. Bei ihr klang alles so einfach, er musste daran denken, wie sie gesagt hatte: ›Wenn du die Crowes nicht erledigst, verpfeifen die uns.‹ Dass sie alles so lässig nahm, machte ihm Angst. Als würde sie ihn nur darum bitten, das Fenster zuzumachen, damit es nicht reinregnete.

»Das kommt dir jetzt vielleicht total irre vor«, sagte Layla, »aber ich glaube, als nächstes nehmen wir uns den Marshal vor. Wir müssten ihn nicht mal in eine Falle locken, Raylan wird mir so oder so noch Fragen stellen wollen.«

Vor seinem inneren Auge sah Cuba Coover die Waffe halten, während Raylan ihn quasi herausforderte, sie zu heben. Er fragte Layla: »Wo willst du’s machen, hier?«

»Ich hab mir gedacht, gleich in der Wanne, dann müssen wir ihn nicht durch die Gegend schleppen, das Wasser kommt hinterher drauf. Eis brauchen wir nicht, finde ich.«

»Und wie kriegen wir ihn wieder aus der Wohnung raus?«

»Wir werfen ihn einfach am frühen Morgen aus dem Fenster«, sagte Layla mit träumerischer Stimme, »dann hieven wir ihn ins Auto ... Oder wir warten, bis er wieder bei Bewusstsein ist, und gehen mit ihm zum Auto.«

»Du weißt es also noch nicht genau«, sagte Cuba.

»Ich denke noch drüber nach«, sagte Layla. »Wir haben so lange Zeit, bis ich beschließe, ans Telefon zu gehen.«