Sechzehntes Kapitel
In Arts SUV fuhren sie raus zur Baustelle von M-T Mining, dorthin, »wo Boyd Crowder auf Otis Culpepper geschossen und ihn damit getötet hat«, wie Art sagte. »Laut Polizeibericht hat er mit seinem Einschreiten dieser Konzernfrau vielleicht das Leben gerettet.«
»Vielleicht hat er aber Otis auch einfach nur erschossen«, sagte Raylan, »weil ihm gerade danach war.«
Sie fuhren durch Lynch.
»Früher«, sagte Raylan, »haben hier mal zehntausend Menschen gelebt. Heute hat der Ort noch achthundert Einwohner, Bergbau unter Tage wird kaum noch betrieben. Städte ändern sich, wenn der Kohleabbau sich ändert. M-T sprengt den ganzen Bergzug weg, Schicht für Schicht tragen sie die Flanken ab, alles, was übrig bleibt, kippen sie seitlich runter, und unten duckt sich der Wald. Ich erinnere mich noch gut, wie Freunde von mir die Highschool verlassen haben, um ihre Jugendliebe zu heiraten und in die Minen runterzufahren. Die Jungs konnten’s gar nicht abwarten, ihr Mädchen jede Nacht bei sich im Bett zu haben, das so lange hübsch ist, bis ihm die Zähne ausfallen. Dann verschleißt sie sich bei der Erziehung der Kinder, und er geht, wenn er nicht gerade unten in der Mine ist, raus, einen trinken. Dann fällt ihm ein Stein auf den Kopf, er muss sich auskurieren, kann nicht arbeiten und wird gefeuert«, sagte Raylan. »Erinnerst du dich noch an Tennessee Ernie Ford, wie er in dem Song Sixteen Tons schuftet, um Kentucky-Kohle zu fördern, und dabei immer älter wird und einen immer größeren Schuldenberg anhäuft?«
»Am Ende schuldet er dem Lebensmittelladen seine Seele«, sagte Art. »Das war damals wirklich so im Kohlebergbau: Die Arbeiter wurden in Gutscheinen bezahlt, die sie nur im Lebensmittelladen einlösen konnten, der ebenfalls dem Konzern gehörte.«
Raylan sagte: »Hast du die Jungs gesehen, die gerade ins Restaurant gekommen sind?«
»Kohlekumpel«, sagte Art.
»Aber das sieht man ihnen nicht an, oder? Ihre Overalls werden vielleicht ein kleines bisschen staubig, wenn sie da oben auf ihren Schaufelradbaggern sitzen, aber Kohleschmutz ist das nicht.«
Art sagte: »Irgendwann sind auch diese Jungs mal in der Gewerkschaft der Kohlearbeiter gewesen, wie alle.«
»Aber Gewerkschafter bekommen bei M-T keinen Job.«
»Jetzt lass sie doch in Frieden. Müssen schließlich ihre Familien ernähren.«
Sie näherten sich Looney Ridge, dem Tagebau von M-T Mining. Art sagte: »Sie kippen Geröll und Abfälle einfach über die Kante und nennen das dann ›Talverfüllung‹.«
Er wurde langsamer und fuhr im Schneckentempo an einem Warnschild vorbei, das an einen Baum genagelt war. Darauf stand:
BETRETEN VERBOTEN
JAGEN VERBOTEN
ANGELN VERBOTEN
BESUCHER VERBOTEN
ALLES VERBOTEN
Raylan las vor: »›Jede Zuwiderhandlung wird strafrechtlich verfolgt.‹ Über Ermittlungen in einem Mordfall steht nichts da, wir haben also noch mal Glück gehabt.«
Sie fuhren jetzt bergan durch den Wald Richtung Abbaustelle.
»Morgen findet in Cumberland diese Versammlung statt, die M-T anberaumt hat«, sagte Art. »Jeder ist eingeladen, seinen Frust dem Konzern gegenüber abzulassen.«
»Keine Jobs«, sagte Raylan, »und der Kohlenstaub setzt sich überall fest.«
»Sie wollen sich zu den Beschwerden äußern«, sagte Art, »und Auskunft darüber geben, was sie wegen der kahlen Bergrücken unternehmen wollen.«
»Ich habe gehört«, sagte Raylan, »dass sie einen Golfplatz anlegen werden. Die ganzen entlassenen Bergleute können dann eine Runde Golf spielen gehen, damit ihnen nicht langweilig wird. Das wird also so ablaufen: Arbeitslose Kumpel schreien die Kumpel mit Job an, und schon ist die Versammlung wieder vorbei.«
»Teilweise wird es sicher tatsächlich so kommen«, sagte Art, »aber in dieser Versammlung wird es auch um den Black Mountain gehen – keine Ahnung, ob das schon jemand weiß. M-T behält das lieber möglichst lange für sich.«
»Den Big Black kriegen sie nicht«, sagte Raylan.
»Bis jetzt nicht, aber sie sind geduldig.«
»Wie hoch ist der, tausendirgendwas?«
»Tausendzweihundertdreiundsechzig Meter über Normalnull.«
»Und wie hoch vom Fuß bis zum Gipfel?«
»Ungefähr siebenhundertfünfzig Meter.«
Raylan sagte: »Diesen Berg auch noch zu skalpieren, das wird man M-T nicht durchgehen lassen. Der ist doch voller Natur, Tiere, Hirsche, Wege für Geländewagen ... Dass in diesem Fall die Ökos den Aufstand proben würden, ist doch garantiert.«
»Du sprichst da von Leuten, die sich von ihren Gefühlen leiten lassen«, sagte Art. »Warten wir mal ab, wie die sich gegen die Anwältin eines Bergbaukonzerns schlagen.«
»Diese Frau, die der Konzern schickt?«
»Ja, Carol Conlan«, sagte Art.
»Fünf Dollar, dass sie eine Männer hassende Emanze ist.«
»Ihr Vater war Kumpel in West Virginia. So viel ich weiß, ist sie in Bergarbeitersiedlungen aufgewachsen und dann an die Columbia University gegangen, um Jura zu studieren.«
Raylan kam das merkwürdig vor.
»Wenn ihr Vater Bergmann war, wie kann sie dann für den Konzern arbeiten?«
»Frag sie selbst«, sagte Art. »Du bist für Ms. Conlans Sicherheit zuständig, solange sie hier ist. Du wirst mit ihr in der Limo sitzen, vielleicht fährst du sie sogar. Aber solange sie dich nicht anspricht, sagst du kein Wort. Verschweig bloß deine Sympathien für die Kohlekumpel.«
»Du verdonnerst mich zu diesem Job«, sagte Raylan, »nur weil ich mir die Krankenschwester auf eigene Faust vorgenommen habe. Dabei hatte ich schlichtweg keine Zeit, Verstärkung zu holen.«
Art schüttelte den Kopf.
»Carol Conlan hat dich persönlich angefordert und einen Richter dazu gebracht, beim Chief Deputy anzufragen, ob er ihr diesen Gefallen tun könne. Diese Dame kann so viel Personenschutz haben, wie sie nur will, Polizei und so weiter, aber sie will dich, Raylan. Sag du mir lieber, warum.«
»Sie ist die zweite Vorsitzende eines Bergbaukonzerns, schätze, sie kriegt immer alles, was sie will.«
»Aber warum dich?«
»Keine Ahnung.«
Sie folgten einer weit geschwungenen Kurve, die quer über die Bergflanke zum Gipfel des Looney Ridge anstieg. Art zeigte auf einen Bulldozer.
»Das ist der, den Boyd benutzt hat, um den Felsbrocken auf Otis zu kippen. Boyd hat gesagt, der Brocken muss falsch aufgekommen sein und beim Abprallen ungewollt das Haus getroffen haben.«
»Höhere Gewalt«, sagte Raylan.
»So hat Boyd es tatsächlich genannt, ja, er hat von höherer Gewalt gesprochen, der Mensch könne schließlich nie wissen, was der Herrgott für ihn vorgesehen habe. Er sagte auch, das Unternehmen habe zugesichert, die Frau für ihren Verlust zu entschädigen.«
»Den Verlust von Haus oder Ehemann?«, fragte Raylan.
***
Der Bürowohnwagen kam in Sicht, von den kaputten Fenstern war bislang keines ersetzt worden.
Art sagte: »Sieh mal, wer da rauskommt, mit einem Besen in der Hand.«
Es war Boyd Crowder in weißem Hemd und bordeauxroter Krawatte – die Farben von M-T, wie sie auch auf allen Schildern zu sehen waren –, dazu eine fabrikneue Chinohose.
Raylan stieg aus dem Wagen.
»Lassen die dich etwa putzen, Boyd?«
»Auch wenn ich es am wenigsten erwarte«, sagte Boyd, »finde ich mich doch immer im Kreis der Gewinner wieder. Ich gehöre zu Carol Conlans engsten Mitarbeitern und unterstütze sie, während sie sich für die Anhörung fertig macht.«
»Fährst du deswegen die Limo?«
»Es ist nicht unter meiner Würde, mich hinters Steuer zu setzen«, sagte Boyd, »solange sie hinten bei sich auf dem Rücksitz irgendein armes Würstchen sitzen hat, das sie fertigmacht, ohne jemals die Stimme zu erheben. Wer recht hat, hat es nicht nötig, laut zu werden, Raylan.«
»Du kommst also mit ihr klar?«
»Wir diskutieren sämtliche Positionen und Kritikpunkte, die man zum Thema Bergbau über Tage vertreten kann ... und die in Form von Beschwerden die Firma erreichen. Sie will über alle neuen Konfliktherde informiert sein.«
»Frag sie doch mal«, sagte Raylan, »warum sie dir befohlen hat, Otis Culpepper zu erschießen.«
Boyd schüttelte müde den Kopf. »Musst du mich eigentlich immer so drangsalieren? Der Alte hat mit seiner Schrotflinte geschossen, bevor ich den ersten Schuss abgegeben habe.«
Auf Raylans Gesicht zeigte sich ein mattes Grinsen.
»Du hast Carol also das Leben gerettet?«
»Sagt sie zumindest.«
»Wo war sie, als Otis auf sie geschossen hat?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, vor dem Trailer, sie war gerade durch die Tür nach draußen getreten.«
»Er hat also auf den Wohnwagen geschossen?«
Boyd sagte: »Hey, bitte. Alles, was ich weiß, ist, dass er Ms. Conlan nicht getroffen hat. Und das alles nur wegen des Fischteichs, von dem Otis behauptet hat, er sei gekippt, weil der ganze Dreck, der beim Abbau entstanden ist, in den Bächen entsorgt wurde. Ich habe gesagt: Otis, werden Fische nicht auch mal alt und sterben, so wie alle anderen? Aber er wollte nicht auf mich hören.«
»Ist Carol schon da?«
»Sie ist noch in dem Haus in Woodland Hills, das diesem Typen gehört, der einen Teil des Konzerns besitzt, sie darf es immer nutzen, wenn sie in der Gegend ist. Casper Mott, erinnerst du dich an den?«
»So ein kleiner Typ«, sagte Raylan, »der ganz oben auf einem Berg wohnt.«
»Den Berg hat M-T ihm abgekauft. Er hat sie lange hingehalten, hat erst behauptet, einen Reitweg anlegen und Pferde vermieten zu wollen. Aber die von M-T wollten seinen Berg so unbedingt, dass sie ihm Unternehmensaktien geschenkt haben. Und aus dem Naturburschen Casper wurde ein reicher Kohlekonzernprotz. Er mag Ms. Conlan, also wird er wohl auch bei dem Treffen dabei sein.«
Raylan fragte: »Weißt du, wann ich mit meiner Arbeit anfangen soll?«
»Morgen früh«, sagte Boyd. »Ich hole erst dich und dann Ms. Conlan ab. Sie möchte sich noch mit dir unterhalten, um sicherzugehen, dass du bist, was sie will.«
Während ihres Gesprächs war Art näher gekommen, Boyd nickte ihm zu und sagte zu Raylan: »Du hast einen Boss, der auf dich aufpasst. Gut.« Er sah wieder zu Art. »Passen Sie bloß auf, dass er Ms. Conlan nicht erschießt, jetzt, wo er Gefallen daran gefunden hat, Frauen zu erschießen.«
»Soweit ich mich erinnere«, sagte Art, »hat Raylan auch auf Sie schon mal geschossen, weil Sie ihn beleidigt haben. Und das, obwohl Ihre Waffe direkt vor Ihnen auf dem Tisch lag.«
»Ava hatte damals gerade das Abendessen für mich zubereitet«, sagte Boyd. »Ja, Raylan hat mich voll erwischt, aber der Herrgott hat es so eingerichtet, dass er mein Herz um Haaresbreite verfehlt hat und ich überlebt habe.«
Art sagte: »Ich wette, der Herrgott kann seine Meinung auch noch mal ändern.«
»Hey, lassen Sie’s gut sein«, sagte Boyd, »Raylan und ich sind doch jetzt Kollegen, schließlich arbeiten wir beide für den Kohlekonzern.«
Als sie wieder im SUV saßen und den nackten Berg hinunterkurvten, sagte Art: »Ich bewundere, wie sehr du dich im Griff hattest. Als er diese Bemerkung zu deinem Schuss auf die Krankenschwester abgelassen hat, hast du ihm nicht gleich eine reingehauen.«
»Ich übe mich schon mal in Selbstbeherrschung«, sagte Raylan, »für den Job bei Ms. Conlan. Boyd hat recht, ich habe auf eine Frau geschossen. Aber geschlagen habe ich noch nie eine.«