Achtes Kapitel

Ohne Kohle kein Licht.‹

Raylan las die Plakate, mit denen der Kohlekonzern die Landschaft regelrecht zugepflastert hatte. Sie wollen Ihr Haus mit Kohle heizen? Dann müssen Sie auch den Tagebau in den Bergen und den Dreck hinnehmen, den er verursacht, den Kohlenstaubfilm auf Ihrem Auto. Raylan folgte den Plakaten an Scheunen und Reklametafeln, las irgendwann noch, dass Jesus ihn retten wolle, bis er schließlich Ed McCreadys Grundstück erreichte.

Mit gesäuberter und verödeter Schusswunde lag McCready im Bett, den Kopf auf einem Kissen, sodass er Raylan bequem sehen konnte. Er zog die Flanelldecke zur Seite und zeigte Raylan seinen rundum bandagierten Oberschenkel. »Ging erst durch mein Bein«, sagte Ed, »dann Richtung Süden, durch den Boden der Veranda.«

»Sie sind sich sicher«, sagte Raylan, »dass es Bob Valdez war?«

»Nein, es war irgendein Latino«, sagte Loretta, »der mit seinem kleinen Roller hochgefahren kam und auf meinen Dad geschossen hat. Natürlich war das Bob, wer sonst?«

»An dich erinnere ich mich«, sagte Raylan, »du hast im Laden eine RC Cola getrunken.«

Loretta sagte: »Keine Sorge, an Sie erinnere ich mich auch. Bob kommt also näher und feuert eine .44er mit einem 15mm-Lauf auf meinen Vater ab. Sobald ich die Kugel unter der Veranda gefunden und Ihnen die Falle gegeben habe, die sie ihm angelegt hatten ...« Sie sagte: »Daddy, zeig Raylan deinen Fuß.«

»Kann er doch so schon sehen.«

Er war geschwollen und blau angelaufen, kein schöner Anblick.

»Er hat auf meinen Vater geschossen«, sagte Loretta, »nur weil wir zwischen den Tomaten ein kleines Feld hatten. Bob hat gesagt: ›Wenn du noch mal was anbaust‹«, Loretta machte seinen Akzent nach, »›tauch ich dich in ein Fass voll mit heißem Teer und zünde dich an.‹ Hat damit gedroht, meinen Dad umzubringen.«

Raylan wandte sich an Ed. »Und die Falle an Ihrem Fuß, hat er die zuschnappen lassen, bevor oder nachdem er auf Sie geschossen hat?«

»Hinterher. Ich lag da in meinem Blut«, sagte Ed. »Und der andere Latino hat mir den Schuh vom Fuß gezogen. Ich saß auf der Veranda und hatte meine Hauspantoffeln an.«

»Bevor sie aufgetaucht sind«, sagte Loretta, »hat Bob noch angerufen und mir gesagt, ich solle meinem Vater ausrichten: ›Valdez kommt.‹ Haben Sie so was schon mal gehört?«

»Möglich«, sagte Raylan. »Aber du hast doch sicher preiswürdige Fotos gemacht.«

»Mit meinem Handy«, sagte Loretta und zog es aus ihrer Jeans, um es Raylan zu zeigen. »Ich habe noch mehr Fotos von Bob, er ist manchmal mit seinem Roller vorbeigekommen. Hat den Ausschnitt von meinem T-Shirt runtergezogen und reingekuckt. Ich werde Ihnen nicht erzählen, was er gesagt hat.«

»Hat er dich jemals irgendwie, du weißt schon«, fragte Raylan, »intim berührt?«

»Der Maisfresser hat meinen Dad angeschossen«, sagte Loretta, »und Sie wollen wissen, ob er mich begrabscht hat?«

Raylan sagte: »Ich gebe dir jetzt mal einen Rat, okay?«

»Ich soll niemanden Maisfresser nennen?«

»Ich meinte eher, falls du irgendwann mal was mit Jungs anfängst.«

»Machen Sie Witze? Hab ich doch längst.«

»Ich hoffe nur«, sagte Raylan, »dass du versuchst, ein bisschen Geduld mit ihnen zu haben.«

Von einer Erhebung aus beobachtete er das Lager, die Bäume gestatteten ihm einen Blick auf einen Streifen festgetretenen Lehmbodens auf dem Hof und ein Stück Scheune, in der die mexikanischen Pflücker in Hängematten schliefen. Einige von ihnen saßen gerade an einem der beiden Campingtische vor der Scheune und aßen zu Abend, Bob Valdez befand sich an dem Tischende, das am weitesten vom Campingkocher entfernt war. Raylan betrachtete Bob durch sein Fernglas: den Strohhut tief in die Stirn gezogen, die Hand auf dem Hintern des Mädchens, das ihm Bohnen und Reis servierte. Raylan richtete das Fernglas auf die weiß gestrichenen Nebengebäude, ausgebaute ehemalige Kuhställe, die etwas weiter entfernt auf der Wiese standen.

Darin, da, wo die Sperrholzwände mattweiß gestrichen waren, befanden sich Pervis’ Hydrokulturgärten, die genauestens überwacht wurden, um die immer gleiche Lufttemperatur zu gewährleisten, den richtigen Nährstoffzusatz zum Wasser und das Funktionieren der Belüftung sowie des 400-Watt-Beleuchtungssystems, das während der Keimphase rund um die Uhr lief und in der Wachstumsperiode im 12-Stunden-Rhythmus aus- und angeschaltet wurde. Nach der Ernte brachte jede von Pervis’ ungefähr hundert Pflanzen dreißig Gramm erstklassiges Marihuana auf die Waage. Was Pervis alle drei bis vier Monate einen Ertrag von etwa fünfzigtausend Dollar bescherte.

Raylan fragte sich, ob man, wenn man es rauchte, über idiotische Dinge lachte, die man nur in diesem Moment witzig fand.

Vielleicht hatte Bob Loretta belästigt, vielleicht auch nicht. Aber auf McCready in seinen Hauspantoffeln hatte er definitiv geschossen, und zwar vor den Augen seiner Tochter, die mit ihrem Handy Fotos gemacht hatte, die Raylan Bob, falls nötig, zeigen konnte. Nicht dort unten, zwischen den ganzen zu Abend essenden Feldarbeitern, sondern hinten, bei den Kuhställen. Er hatte gehört, dass Pervis Schilder aufgestellt hatte, auf denen stand: ›Genehmigt durch das Gesetz des Landes. Betreten verboten!‹ Um ganz sicherzugehen, dass er weder bestohlen noch verhaftet wurde, stand darunter noch: ›Eindringlinge werden strafrechtlich verfolgt oder erschossen.‹

Er würde jetzt im Audi runter auf den Hof fahren. Aber wollte er Bob wirklich am Tisch konfrontieren? Ihm die Gelegenheit bieten, eine Show abzuziehen, während alle Arbeiter zusahen? Raylan konnte Bob schon hören: ›Wovon reden Sie da? Ich soll auf einen alten Mann geschossen haben, der mir Angst gemacht hat?‹ Bob würde sich vor dem Publikum ordentlich aufspielen.

Raylan beschloss, es anders zu versuchen. Er folgte den Serpentinen, bis er unten auf der offenen Wiese herauskam, hielt schräg querfeldein auf Scheune und Campingtische zu – alle Pflücker sahen zu ihm hin –, hob vor Bob Valdez grüßend die Hand und fuhr weiter, um die Scheune herum und hinaus auf die Weide, wo die sauberen weißen Kuhställe in der Sonne leuchteten.

Sie kamen ihm in einem Pick-up hinterhergefahren, Bob saß am Steuer, und hielten direkt neben dem Audi.

Raylan stand ein paar Meter abseits seines Wagens, im Rücken die Wiese, knapp zwanzig Meter entfernt von den zwei Personen, die nun aus dem Pick-up stiegen und auf ihn zukamen, Bob Valdez mit seiner tief um die Hüfte gehängten .44er und ein anderer, ebenfalls ein Mexikaner mit Strohhut, der dicht hinter Bob herging und so entspannt wirkte, als wollte er hier draußen Vögel schießen. Unter dem Arm trug er eine Schrotflinte. Er sah müde aus. Vielleicht war er auch nur bekifft.

Gut zehn Meter vor ihm blieb Bob stehen und grinste Raylan an. »Was auch immer Sie denken. Ich war’s nicht.«

Raylan sagte: »Ich habe Aufnahmen von Ihnen, wie Sie auf Ed McCready schießen.« Raylans durchdringender Blick richtete sich auf den anderen. »Und von Ihnen, wie Sie die Waschbärfalle um Eds Fuß zuschnappen lassen, Loretta hat mit ihrem Handy Fotos davon gemacht. Wer macht denn so was? Ich habe genug, um Sie beide in Handschellen zu legen und einzubuchten.«

Bob sagte: »Ja ...? Wovon sprechen Sie eigentlich?«

»Ich hab’s eilig. Hab auch noch anderes zu tun.«

»Oh«, sagte Bob, »wichtiger als ich, ja?«

»Alles, was ich will«, sagte Raylan, »ist, dass Sie Eds Feld neu bepflanzen und ihm für den Schuss ins Bein und den verletzten Fuß einen Fünfhunderter geben, damit er Loretta nicht an weiße Sklavenhalter verkaufen muss. Außerdem will ich, dass Sie die Hände von ihr lassen. Wenn Sie das machen, sind wir quitt. Wenn nicht, krieg ich Sie für den Schuss auf ihn dran.«

»Wollen Sie mich verarschen?«, sagte Bob. Er klang milde überrascht. »Wir sind zu zweit und Sie alleine. Haben Sie überhaupt eine Waffe dabei?«

»Wissen Sie«, sagte Raylan, »wenn ich die raushole, schieße ich Ihnen durchs Herz, bevor Sie Ihre auch nur entsichert haben. Bei Ihrem Partner warte ich, bis er aufgewacht ist. Wozu haben Sie den überhaupt mitgenommen?« Er sah, wie Bob einen Blick auf den anderen warf. »Der ist bekifft«, sagte Raylan. »Versprechen Sie mir, dass Sie Ed das Geld geben, damit ich zurück an die Arbeit komme. Ich bin hinter einer Frau her, die Nieren klaut und verkauft.«

Bob sagte: »Ach ja? Davon habe ich schon gehört, Organhandel und so. Was bringt eine Niere?«

»Der handelsübliche Preis«, sagte Raylan, »liegt bei ungefähr zehntausend.«

»Könnte ich nicht«, sagte Bob, schüttelte den Kopf und setzte sich den Strohhut wieder auf. »Mann, wer schneidet denn einem anderen den Körper auf?«

»Ich könnt’s auch nicht«, sagte Raylan. »Was für ein Mensch macht so was bloß?«

Er sah, wie Bob die Schultern hob, vielleicht dachte er darüber nach, ob er so was nicht doch machen könnte.

Raylan sagte: »Bob, Sie können nicht einfach so auf einen Menschen schießen und sein Feld verwüsten. Auch dieser Mann muss doch von irgendwas leben.«