Erstes Kapitel
Raylan Givens hatte einen Haftbefehl in der Hand, der einem im Marihuanageschäft tätigen Mann, bekannt als Angel Arenas, siebenundvierzig, geboren in den USA, aber hundert Prozent Hispano, zugestellt werden sollte.
»Den kenne ich«, sagte Raylan, »von damals, als ich in Miami Dienst am Gericht hatte und er angeklagt war, weil er mit Kath gedealt hatte. Diese arabische Pflanze, auf der man rumkaut und high wird.«
»Nur mittelhigh«, sagte Rachel Brooks auf dem Beifahrersitz des SUV, Raylan saß am Steuer, hinter ihnen schob sich die Morgensonne über den Horizont. »Kath breitet sich gerade überall aus, wird in Kalifornien angebaut, große Sache bei den echten Afrikanern in San Diego.«
»Wenn man das Zeug kauft, sollte man sichergehen, dass es erst am Vormittag gepflückt wurde«, sagte Raylan. »Dann ist man einen Tag lang high, und das war’s.«
»Ein paar Freunde von mir«, sagte Rachel, »kauen es auch hin und wieder. Aber auf dumme Gedanken kommen die nicht davon, es scheint ihnen Spaß zu machen. Sieht immer so aus, als ob sie sich einfach extrem entspannen damit.«
»Ein bisschen träumen«, sagte Raylan.
»Weswegen muss Angel in den Knast?«
»Hat nach sechsunddreißig von vierzig Monaten wieder Gras verkauft. Seine Bewährungsauflagen verletzt. Den Deal soll er über den Rastafari, der diese Kirche gegründet hat, eingefädelt haben, wie heißt die noch?«
»Temple of the Cool and Beautiful J. C.«, sagte Rachel. »Israel Fendi, der mit den Dreads, dieser Äthiopier aus Jamaika. Und, war er wirklich an dem Deal beteiligt?«
»Nicht im Entferntesten. Aber irgendjemand hat Angel die Sache angehängt, so ein Kiffer, der auf ein milderes Urteil hofft. Schwört, dass Angel gestern Abend eine Lieferung entgegengenommen hat. Ich bezweifle, dass Angel noch was dahat, wenn wir kommen.«
Vom Rücksitz ließ sich Tim Gutterson vernehmen: »Diesmal kriegt er zwanzig Jahre.« Tim ging einen Aktenordner mit Bildern von Angel Arenas durch und blieb bei einem Fahndungsfoto hängen.
»Seht euch das Grinsen an. Der wirkt doch harmlos, als hätte er im Leben noch keine Waffe angerührt.«
»Soweit ich weiß«, sagte Raylan, »trägt er auch nie eine Waffe. Und mit bewaffneten Gangstern umgeben tut er sich ebenfalls nicht.«
Der SUV folgte den Funkwagen der Staatspolizei durch einen flachen Teil von East Kentucky, am Ufer eines Sees entlang, der, so wie er sich abwärts in Richtung der Grenze nach Tennessee schlängelte, eher wie ein Fluss aussah. Kurz vor sechs Uhr morgens hielten sie vor dem Cumberland Inn.
Zu viert sahen die Polizisten zu, wie Raylan und seine Mannschaft kugelsichere Westen anlegten, die Marshal-Sakkos wieder darüberzogen und ihre Pistolen überprüften. Raylan sagte zu den Beamten, er erwarte keine Gegenwehr von Angel, aber ganz sicher sein könne man nie. Er fügte hinzu: »Wenn ihr Schüsse hört, kommt ihr sofort, okay?«
Einer der Polizisten erwiderte: »Wenn Sie wollen, sprengen wir die Tür für Sie auf.«
»Das würdet ihr wohl gern«, sagte Raylan. »Ich hatte eigentlich vor, mir an der Rezeption einen Schlüssel geben zu lassen.«
Die Polizisten mochten den Marshal, der früher Bergmann in Harlan County gewesen war, aber mittlerweile klang, als sei er sein Leben lang Bulle gewesen. Ihnen gefiel seine Einstellung zum Beruf. An diesem Morgen sahen sie dabei zu, wie er das Motelzimmer eines flüchtigen Kriminellen betrat, ohne die Waffe zu ziehen.
Alles war ruhig, nur die Klimaanlage brummte. Sonnenlicht fiel durch die Fenster auf das ungemachte Kingsize-Bett, die Tagesdecke war flüchtig über Bettzeug und Kissen geworfen worden. Raylan drehte sich zu Rachel um und machte eine Kopfbewegung Richtung Bett. Er selbst ging zur Badezimmertür, die nur angelehnt war, lauschte kurz und stieß sie auf.
Angel Arenas’ Kopf lag in der Rundung der Badewanne, seine Haare trieben im Wasser, das ihm bis übers Kinn reichte, die Augen waren geschlossen, sein nackter Körper lang ausgestreckt in der bis zum Rand mit Eisstücken und sich rosa verfärbendem Wasser gefüllten Wanne.
Raylan sagte: »Angel ...?«, bekam keine Antwort und kniete sich vor die Wanne, um an Angels Hals nach dem Puls zu fühlen. »Er ist halb erfroren, atmet aber noch.«
Hinter sich hörte er Rachel sagen: »Raylan, das Bett ist voller Blut. Als ob er da drin Hühner geschlachtet hätte.« Beim Anblick von Angel zog sie scharf die Luft ein: »Oh mein Gott.«
Raylan drehte den Knopf und ließ das Wasser ab. Während es um Angel herum ablief, wurde sein Bauch zu einer Insel in der Eiswasserwanne. An zwei Stellen der Insel war Blut.
»Irgendwas ist mit ihm passiert«, sagte Raylan. »Da sind Klammern, die aussehen, als wären es Wundklammern. Oder wurde er operiert?«
»Jemand hat auf ihn geschossen«, sagte Tim.
»Glaube ich nicht«, sagte Raylan und starrte auf die beiden mit Klammern verschlossenen Schnittwunden.
Rachel sagte: »Genauso haben sie’s letztes Jahr im Krankenhaus bei meiner Mutter gemacht. Einen Schnitt haben sie unter die Rippen und einen unter den Bauchnabel gesetzt. Ich hab sie gefragt, warum da und nicht hinten am Rücken.«
Tim fragte: »Verrätst du uns vielleicht auch, was das für eine Operation war?«
»Sie haben ihr die Nieren rausgenommen«, sagte Rachel. »Beide, und sie hat noch am selben Tag zwei neue gekriegt, von einem Kind, das ertrunken war.«
Sie wickelten den zitternden Angel in eine Decke, trugen ihn ins Schlafzimmer und legten ihn aufs Bett. Sein Atem ging flach. Ohne die Augen zu öffnen, fragte er Raylan, der ihn anstarrte: »Was ist passiert?«
»Warst du hier, um einen Deal abzuwickeln?«
Angel zögerte. »Zwei Typen, die ich kenne. Bauen an. Wir haben was getrunken ...«
»Und dann bist du in der Wanne gelandet«, sagte Raylan. »Wie viel hast du bezahlt?«
»Geht Sie nichts an.«
»Haben sie das Gras dagelassen?«
»Sehen Sie doch«, sagte Angel.
»Hier ist keins.«
Angels Augen gingen auf. »Ich habe hundert Pfund gekauft, für zweiundzwanzigtausend Dollar. Hab’s selbst gesehen, hab auch was getestet.«
»Du bist abgezogen worden«, sagte Raylan. »Die haben dich außer Gefecht gesetzt und sind mit der Kohle und dem Gras verschwunden.«
Die Augen schlossen sich wieder, und während er unter der Decke seinen Bauch abtastete, sagte Angel: »Mann, tut das weh. Was haben die mit mir gemacht?«
***
Raylan fühlte wieder Angels Puls. »Er hält durch, unser kleiner, zäher, was eigentlich? Puertoricaner? Dass ihn diese Hanfzüchter abziehen, kann ich mir ja vorstellen, aber warum nehmen sie seine Nieren mit?«
»Wie in dieser alten Geschichte«, sagte Tim. »Ein Mann wacht auf, und ihm fehlt eine Niere. Hat keine Ahnung, wer sie ihm rausgenommen hat. Wird immer mal wieder erzählt, aber bisher konnte nie jemand beweisen, dass an der Story was dran ist.«
»Jetzt ist es so«, sagte Raylan.
»Ohne Nieren kann man nicht leben«, sagte Tim.
»Nur schwer«, sagte Raylan. »Es sei denn, du kriegst schnell eine Dialyse. Ich kapiere nicht, was es diesen Haschbauern bringt, den Leuten die Nieren rauszureißen. Verdienen die mit ihrem Gras nicht genug? Eine ganze Leiche, hab ich mir sagen lassen, ist, wenn man sie in Teilen verkauft, an die Hunderttausend wert. Aber wer genug Gras verkauft, verdient mehr – und macht sich beileibe nicht so schmutzig wie beim Nieren-Dealen. Ich frage mich allerdings ...« Er hielt inne, dachte nach.
Tim sagte: »Ja ...?«
»Wer hat die OP gemacht?«
Gegen Mittag kam Art Mullen, der leitende Marshal des Außendienstbüros von Harlan, im Motel vorbei. Raylan durchstöberte noch immer das Zimmer.
Art fragte: »Wonach suchst du eigentlich?«
»Die Techniker haben sich schon überall umgesehen und die Fingerabdrücke abgenommen«, sagte Raylan, »Angels Klamotten eingepackt, das blutige Verbandszeug, die Wundklammern und einen leeren Postsack. Aber keine Nieren. Wie geht’s Angel?«
»Sie haben ihn auf die Intensivstation gebracht, er hängt an den Geräten.«
»Wird er’s schaffen?«
»Obwohl halb tot, hält es ihn, denke ich, am Leben«, sagte Art, »dass er stinksauer darüber ist, von diesen Grasdealern abgezogen worden zu sein. Er behauptet, die hätten mitgenommen, was er für das Kraut bezahlt hat, und ihn dann dem Tod überlassen.«
»Und dass sie ihm die Nieren rausgeschnitten haben«, sagte Raylan, »hat er nicht erwähnt?«
»Ich hab ihn mehrfach danach gefragt«, erwiderte Art. »Ich hab zu ihm gesagt, ›verrat uns, was das für Jungs waren, und wir holen dir deine Nieren zurück.‹ Sofort fing er an zu hyperventilieren, und die Schwester hat mich rausgescheucht. Also, diese Nieren«, sagte Art, »hat jemand herausgenommen, der sein Handwerk versteht.«
Raylan sagte: »Ja, sie wurden von vorne rausgeschnitten.«
»Man nimmt sie immer vorne raus. Aber das hier ist das neueste Vorgehen. Der Schnitt ist kleiner, und man durchtrennt keinen Muskel mehr.«
»Falls du nichts dagegen hast«, sagte Raylan, »würde ich gern mal mit Angel sprechen. Ich kenne ihn ja schon seit damals, als er wegen der Khat-Dealerei angeklagt war. Als ich in Miami Dienst am Gericht hatte. Angel und ich sind ziemlich gut miteinander klargekommen«, sagte Raylan. »Ich glaube, er hält mich für seinen Lebensretter.«
»Das bist du wahrscheinlich tatsächlich.«
»Deswegen hat er sicher nichts dagegen, sich mit mir zu unterhalten.«
»Er ist in Cumberland im Krankenhaus«, sagte Art. »Vielleicht lassen sie dich zu ihm, vielleicht auch nicht. Wo sind eigentlich deine Kollegen?«
»Es gab nichts Dringendes zu tun – ich hab sie zurück nach Harlan geschickt.«
»Sie haben den SUV genommen. Womit willst du jetzt fahren?«
»Wir haben doch Angels BMW«, meinte Raylan, »oder nicht?«
Angel lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Raylan beugte sich zu ihm hinunter, strich ihm die Haare aus dem Gesicht, bekam einen Hauch Krankenhausatem in die Nase und flüsterte: »Hier ist Raylan Givens, dein alter Gerichtskumpel aus Miami.« Angels Augen öffneten sich. »Erinnerst du dich, damals, als du wegen der Khat-Sache in den Knast gewandert bist ...«
Es sah aus, als versuchte Angel zu grinsen.
»Weißt du eigentlich«, sagte Raylan, »dass ich dir heute Morgen das Leben gerettet habe? Fünf Minuten länger in dem Eiswasser und du wärst erfroren. Du kannst dem Herrgott danken, dass ich rechtzeitig da war.«
»Warum waren Sie überhaupt da? Um mich zu verhaften?«
»Du bist vielleicht ein bisschen blass, aber am Leben, Kollege, und das ist ja wohl die Hauptsache.«
Blass war untertrieben – Angel sah aus wie der leibhaftige Tod.
»Mein Arm hängt an einer Maschine«, sagte Angel, »die den Dreck aus meinem Blut holt und mich am Leben hält, solange ich auf eine Niere warte. Es sei denn, ich habe einen Verwandten, so was wie einen Bruder, der mir sofort eine spendet.«
»Und, hast du einen Bruder?«
»Jemand besseren.«
Jetzt grinste er. Sehr breit. Raylan sagte: »Du weißt, dass ich nicht weitererzähle, woher du die Niere kriegst, wenn du nicht willst.«
»Das weiß sowieso schon jeder im Krankenhaus«, sagte Angel. »Die haben mir ein Fax geschickt. Können Sie sich das vorstellen? Die Schwester kam rein und hat’s mir vorgelesen. Tanya heißt sie. Wunderschön und eine Haut wie Seide. Tanya, Mann. Hab sie gefragt, ob sie mit mir nach Lexington kommt, wenn’s mir wieder besser geht. Krankenschwestern hab ich schon immer gemocht. Denen muss man nicht so viel Honig ums Maul schmieren.«
»Das Fax«, sagte Raylan. »Wie viel sollst du zahlen, um deine Nieren zurückzukriegen?«
»Diese Arschgesichter fordern hunderttausend«, sagte Angel. »Die haben vielleicht Nerven! Bringen gestern Abend einen Chirurgen mit, um mir die scheiß Nieren rauszuschneiden, und ziehen mich gleich doppelt ab, wenn man die Kohle mitzählt, die sie mir gestohlen haben. Sie schreiben, wenn ich nur eine Niere zurückwill, kostet es trotzdem hunderttausend.«
Raylan fragte: »Wissen die vom Krankenhaus Bescheid?«
»Hab ich doch gesagt, alle wissen’s, die Ärzte, die Schwestern, Tanya. Die haben das Fax geschickt, dann hat einer von denen im Krankenhaus angerufen und die Forderung gestellt. Wer sie gebracht hat, hat niemand gesehen.«
»Das Krankenhaus weiß also, dass das deine Nieren sind?«
»Was ist daran eigentlich so schwer zu kapieren?«
»Und die machen da mit?«
»Sollen sie mich lieber sterben lassen? Die zahlen ja nicht für die Nieren.«
»Wann musst du das Geld zusammenhaben?«
»Sie sagen, sie geben mir ein bisschen Zeit, eine Woche oder so.«
»Du kennst diese Typen doch – sag mir einfach ihre Namen.«
»Dann bringen die mich um. Ganz in Ruhe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit.«
»Und holen sich dabei gleich deine Nieren wieder zurück«, sagte Raylan. »Ich glaube, von so was habe ich noch nie gehört. Du weißt, dass das Krankenhaus die Polizei gerufen hat.«
»Die haben längst mit mir gesprochen. Hab ihnen gesagt, dass ich nicht weiß, wer die Typen sind. Hab die noch nie gesehen.«
»Und du weißt auch nicht, wer ihnen die Anweisungen gibt?«, fragte Raylan.
Angel starrte ihn an. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Glaubst du etwa, deine Bekannten sind selbst draufgekommen, auf diese neue Art Geld zu machen? Die könnten sich doch einfach«, sagte Raylan, »jeden x-Beliebigen von der Straße holen, während der Arzt sich schon mal die Hände für die Operation wäscht. Warum sollten sie so wählerisch sein und den nächsten Deal mit dir abwarten?« Raylan legte eine Pause ein. Dann sagte er: »Wenn du willst, helfe ich dir aus der Klemme.«
»Aus was für einer Klemme? Haben Sie in meinem Motelzimmer vielleicht was gefunden? Ich bin Opfer eines Verbrechens geworden, und Sie wollen mich ins scheiß Gefängnis stecken, Mann?«
Endlich nahm das Gespräch die gewünschte Richtung, Angel lag bereits auf der Bahre, unterwegs zum OP, Raylan lief nebenher und sagte: »Gib mir einen Namen. Ich schwöre bei meiner Großmutter, dass du für keine von beiden zahlen musst.«
Angel schüttelte den Kopf und sagte: »Sie haben keine Ahnung, wozu diese Leute fähig sind.«
»Vielleicht habe ich ja eine Ahnung, wenn du mir verrätst, wer sie sind.«
»Um die zu finden, müssen Sie aber raus in die Berge fahren.«
»Das, mein Freund, ist mein Job.« Sie kamen zu einer Tür, die vor ihnen aufschwang. »Ich gebe Lexington telefonisch die Namen durch, und die mailen mir dann die Akten. Eventuell kenne ich die Typen sogar.«
Angel sagte: »Sie bauen Gras an, von hier bis nach West Virginia.«
Raylan sah ihn an: »Es sind die Crowes, oder?«