I
»Die Acht in die Ecke
da«, verkündete Roy und bereitete umständlich den Stoß vor.
Langsam wird er eingebildet, dachte
Cassie. Nur ein Profi-Billardspieler konnte diesen Stoß schaffen,
und die anderen Gäste in der Kneipe lachten, als Roy seine
Ankündigung machte.
Schade, dass ich ihm nicht sagen kann, warum er wirklich
gewinnt.
Klack!
Unsichtbar schubste
Via die Kugel in das Loch. Die Menge um den Billardtisch
jubelte.
Langsam normalisierte
sich wieder alles. Cassie hatte nicht lange gebraucht, um sich von
ihrem Ausflug in die Hölle zu erholen. Es ging ihr wieder gut, sie
war erholt, geheilt und überraschend normal. Ihr Vater hatte sich
ernsthaft in Mrs Conner verknallt, was eindeutig auf
Gegenseitigkeit beruhte. Schon bald würden sie offiziell ein Paar
sein, was für Cassie vollkommen in Ordnung war. Aus unerfindlichen
Gründen kam Jervis nicht mehr ins Haus; er arbeitete nur noch
draußen, konnte also auch nicht mehr spannen.
Und Roy war immer
noch nicht aufgefallen, dass er immer, wenn sie in der Kneipe war,
zufällig beim Billard gewann. Wenn sie nicht da war, versagte er
völlig. Doch sie würde es ihm nie erzählen.
Das Leben ging wieder
seinen geregelten Gang, zumindest so geregelt wie
möglich.
»Sieh mal«, sagte
Via. »Da kommt wieder der Arsch.«
Von ihrem Barhocker
aus blinzelte Cassie zur Tür. Chester kam mit einem blauen Auge und
einer pflasterbeklebten Nase herein.
»Soll ich ein
bisschen mit ihm spielen?«, fragte Via. »Vielleicht ein kleiner
Tritt in die Magengrube?«
Der winzige Schnitt
in Cassies Handrücken würde ihnen den Spaß ermöglichen. »Warten wir
erst mal ab, wie er sich benimmt«, sagte sie zu Via.
»Was hast du
gesagt?«, fragte der baumlange Barkeeper. »Ich hab dich nicht
verstanden, Cassie.«
»Hab nur mit mir
selbst gesprochen.«
Chester schämte sich
ganz offensichtlich; er ging direkt zu Roy und gab ihm etwas Geld.
»Hier ist dein Geld von neulich, Roy«, sagte er verlegen. »Tut mir
echt Leid, was da passiert ist. Manche Dinge ändern sich einfach
nie, weißt du? Bier plus Chester ist gleich
Arschloch.«
»Kein Problem,
Chester«, sagte Roy. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.
»Kleines Spielchen?«, fragte Roy dann und deutete auf den
Billardtisch.
»Himmel, nein!«, gab
Chester zurück, und alle lachten.
Kann man das fassen?, dachte Cassie. Ich bin eine Goth in einer Redneck-Kneipe – und ich passe
hierher!
Es war wirklich
komisch, aber Cassie fing langsam an, die Bar zu
mögen.
»Da ist ja mein
Talisman«, sagte Roy und kam wieder zur Theke. »Kaum zu glauben,
dass ich so oft gewinne.«
»Du bist eben ein
cooler Typ, Roy.«
Er nickte über seinem
Bier. »Ja, sieht so aus.«
Zwischen ihnen beiden
würde sich bestimmt keine Romanze entwickeln, aber Cassie mochte
Roy. Er war ihr bester Freund hier.
Ihr bester lebendiger
Freund, um genau zu sein.
Via schlurfte
unsichtbar um sie herum. »Er ist scharf auf dich, weißt du
das?«
»Ja, das weiß ich«,
sagte Cassie, doch im selben Moment fiel ihr auf, Verdammt! Ich kann’s einfach nicht
lassen.
Roy sah sie
verwundert an. »Was weißt du?«
»Nichts.«
Roy nippte an seinem
Bier und schüttelte den Kopf.
»Ist
was?«
»Geht mir einfach
nicht aus dem Kopf«, fing er an. »Seit Tagen schon, wahrscheinlich
sollte ich dir gar nichts davon erzählen.«
»Was denn,
Roy?«
»Ach, du denkst
bestimmt, ich hab sie nicht mehr alle.«
»Quatsch. Versuch’s
doch einfach mal.«
Er lachte in sich
hinein. »Ich hatte letztens einen seltsamen Traum, den blödesten
Traum, den ich in meinem ganzen Leben gehabt habe.«
»Nämlich?«
»Ich hab geträumt,
dass … also, ich habe dir geholfen, ein Grab aufzubuddeln
…«
Via lachte laut
auf.
»Komischer Traum,
findest du nicht?«
»Und willst du auch
wissen, wessen Grab?«
»Hmmm, lass mich
raten. Das von Fenton Blackwell?«
Roy richtete sich
kerzengerade auf. »Genau!«
Cassie blieb noch ein
wenig länger in der Kneipe, trank Cola und sah Roy zu, der mit Vias
Hilfe beim Billard gewann. Doch schließlich ging ihr die
Countrymusik auf die Nerven; irgendwann reichte es ihr einfach.
Nine Inch Nails wären jetzt gut, oder vielleicht sogar ein bisschen
Aldinoch.
»Ich muss los, Roy.
Bis dann.«
»Alles klar, bis
dann.«
»Der arme Kerl wird
jetzt wahrscheinlich das ganze Geld wieder verlieren«, sagte Via,
als sie aus der Bar gingen.
»Er wird es schon
noch lernen.«
»Wirst du es ihm
sagen?«
»Nö.«
Es war eine heiße
Sommernacht, der Mond schien und die Grillen zirpten. Sie gingen
den Hügel hinauf in Richtung Blackwell Hall. Beide trödelten, und
Cassie grübelte vor sich hin.
Sie wusste, sie
musste einiges bedenken, trotzdem hatte sie sich eigentlich schon
entschieden.
»Du hast sicher schon
darüber nachgedacht – na, du weißt schon.«
»Ja«, sagte
Cassie.
»Hast du dich
entschieden?
»Ob ich zurück in die
Mephistopolis gehe? Tod oder ewigen Kerker riskiere? Ob ich als
Luzifers schlimmster Feind in die Hölle zurückkehre und dem
Gefallenen Engel, der aussieht wie Brad Pitt, helfe, Krieg gegen
Satan zu führen? Ob ich mich von allen Schergen, Golems, Rekruten
und sonstigen ekelhaften, mörderischen Ausgeburten der Hölle jagen
lassen will? Ja, ich habe mich entschieden.« Cassie schluckte. »Ich
gehe zurück.«
»Cool!«, jubelte Via
und umarmte sie.
Was sollte sie sonst tun?
»Lissa ist immer noch
irgendwo da unten, und verdammt noch mal, ich werde sie
finden.«
»Super, und wir
werden einen Höllenspaß haben!«
Da war sich Cassie
nicht so sicher. Aber sie war ein Ätherkind. Sie war die Erste
Heilige der Hölle.
Sie konnte genauso
gut weiter mitmachen. Immer noch besser, als
den ganzen Tag rumsitzen und MTV und White-Zombie-Videos
schauen.
»Nutz deine Macht«,
sagte Via. »Sie gehört dir. Du kannst Geschichte
schreiben.«
Schon
möglich.
Sie schraken
zusammen, als sie plötzlich Schritte auf dem dunklen Weg hörten,
doch dann sagte Via: »Da ist sie ja.«
Es war Hush, die da
auf sie zukam, klein und unheimlich mit ihrem bleichen Gesicht und
dem fließenden schwarzen Kleid.
»Hallo Hush«, sagte
Cassie.
»Stell dir mal vor«,
berichtete Via aufgeregt. »Cassie hat beschlossen, dass sie zurück
in die Stadt will!«
Hush lächelte sie an.
Ezoriels hauseigene Transfiguristen hatten ihren Kopf und die Hand
wieder angenäht, und sie hatten ihr sogar einen neuen Kehlkopf
implantiert.
Sie zeigte auf den
anderen Pfad, den Spalt, der aus dem Totenpass führte.
»Was stehen wir dann
noch hier rum?«, sagte Hush. »Der nächste Zug fährt in zehn
Minuten. Ab in die Hölle, Dämonenärsche versohlen!«