II
Cassie war
erschüttert, als sie, Via und Hush von dem Schlachtfeld des Parks
wegtrotteten, eine blutige Fußspur hinter sich herziehend. Als sie
weggerannt waren, kamen ihnen Einheiten der Constabler entgegen,
gefolgt von Altstoffsammeltrupps mit ihren Trichtern auf Rädern, um
die Leichen aufzusammeln und sie in die Wertstoffanlagen zu
bringen. Trotz des grausigen Vorfalls ging der restliche Bezirk
scheinbar unmittelbar danach wieder zur Tagesordnung über, als
wären solche Ausbrüche der Grausamkeit so normal wie ein
Blechschaden an einem Auto in jeder anderen Großstadt.
Offensichtlich war
das auch so.
»Hier sind wir
einigermaßen in Sicherheit«, meinte Via. »Die Constabler kümmern
sich in der Regel nicht besonders um Boniface Square. Luzifer liebt
das Geld, das über die Clubs, Restaurants und Geschäfte an ihn
fließt.«
»Ist das eine Art
Einkaufsviertel?«
»Mehr ein
Vergnügungsviertel. Die besser gestellten Einwohner der Hölle gehen
hier aus. Es ist wie der Hollywood Boulevard der
Hölle.«
»Aber ihr seid doch
Exilbürger – XBs«, merkte Cassie an, »ich dachte, das macht euch zu
Flüchtlingen? Heißt das nicht, dass die Constabler überall nach
euch suchen?«
»Theoretisch ja, aber
hier liegen keine Haftbefehle gegen uns vor. Die Ghettoblocks und
die Industriezone sind was anderes, da haben wir einige Verbrechen
begangen. Vor allem Diebstahl und
Ordnungswidrigkeiten.«
»Ordnungs…«, wollte
Cassie nachfragen.
»Widerstand gegen die
Staatsgewalt, Töten von Schergen und anderen Polizisten,
Betrügereien – dergleichen«, erklärte Via leichthin. »Einmal hat
Hush Satan Sucks auf die Eingangstür
der Antichrist-Kirche von Westminster gepinselt, also haben die
Constabler eine Fahndung eingeleitet. Ein anderes Mal haben sie uns
ein ganzes Regiment auf den Hals gehetzt, weil Xeke eine
Polizeiwache in der Nähe des Baalzephon Einkaufszentrums in die
Luft gejagt hat.«
»Also seid ihr eine
Art Stadt-Guerilla?«, folgerte Cassie. »Wie die Terroristen, von
denen Xeke vorhin gesprochen hat?«
»Wir leisten unseren
Beitrag, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein im
Vergleich zu den echten Revolutionären. Wie Xeke schon sagte, es
gibt eine echte Widerstandsbewegung – die Rebellen von Satan Park
-, aber die operieren vor allem im Stadtzentrum. Wir haben nicht
den Mut, uns ihnen anzuschließen.«
Das klang
faszinierend für Cassie. »Warum nicht? Ich denke, wenn sich genug
Leute zusammenschließen würden …«
»Wer sollte Luzifer
besiegen?« Via lachte über so viel Idealismus. »Das wird niemals
passieren, Cassie. Die Aufständischen werden von Ezoriel angeführt,
einem Gefallenen Engel, doch selbst mit einer halben Million
Freiwilligen kann er Luzifers Sicherheitskräfte nicht schlagen. Sie
versuchen seit eintausend Jahren, den Mephisto-Turm einzunehmen,
aber selbst mit der Macht eines Gefallenen Engels schaffen sie es
kaum, das Fleischlabyrinth zu überwinden. Das klingt vielleicht
feige, aber wenn wir uns ihnen anschließen würden, würden wir nur
in den Folterfabriken landen. Wir müssen hier die Ewigkeit
verbringen – und die Ewigkeit ist eine verdammt lange Zeit. Warum
sollten wir für uns alles noch schlimmer machen?«
Dagegen konnte Cassie
kaum etwas einwenden. Immerhin war sie selbst noch ein Mitglied der
Welt der Lebenden und bisher noch nicht verdammt. Sie hoffte nur,
sie würde es auch dabei belassen können.
»Na, wenigstens ist
das eine gewisse Erleichterung«,
bemerkte sie. »Dass
wir in diesem Bezirk vor den Constablern sicher sind.«
Mit besorgter Miene
zupfte Hush an Vias Lederjacke, ihr Mund formte lautlos das Wort
Nicky.
»Ach ja«, erinnerte
sich Via. »Es gibt da einen Typen, auf den wir aufpassen müssen.
Nicky der Koch. Er ist kein Bulle; er gehört zur Mafia. Vor einiger
Zeit haben wir einen seiner Geldeintreiber um fünftausend Mäuse
erleichtert.«
»So eine Art
Kredithai, meinst du?«
»Ja, könnte man
sagen. Nicky ist auf der Suche nach uns, deshalb müssen wir
vorsichtig sein. Er macht eine Menge Geschäfte mit den Stripclubs
und Bars hier am Boniface Square.«
Cassie wollte
eigentlich nicht fragen, aber sie tat es trotzdem. »Und warum nennt
man ihn den Koch?«
»Wenn du ihn
bescheißt, kocht er dich.«
»Er kocht
dich?«
»Ja, ihm gehört eine
Schwefelgrube im östlichen Äußeren Sektor«, erklärte Via geduldig.
»Sie stecken dich in eine große Metalltonne, machen den Deckel zu
und werfen die Tonne in die Grube. Da sitzt du dann in deiner Tonne
und kochst. Für immer.«
Du lieber Himmel, dachte Cassie.
»Es ist wirklich
komisch, dass viele von den Mafia-Kerlen aus der Welt der Lebenden,
wenn sie abtreten, in die Hölle kommen und hier weiter für die
Mafia arbeiten. Tot oder lebendig, man ist wohl, wie man ist.
Luzifer liebt das organisierte Verbrechen und die ganze Korruption,
die damit einhergeht.«
Das konnte Cassie
sich gut vorstellen, und deshalb war Nicky der Koch jemand, dem sie
auf gar keinen Fall begegnen wollte.
Schon bald kamen sie
in ein Gewirr von Einkaufszentren und Bürogebäuden, die mit einer
Vielzahl von Unterhaltungsmöglichkeiten prahlten. »Der Boniface
Square ist riesig«, sagte Via. »Wo wir gerade herkommen – das
Restaurant und der Hotelbezirk -, das ist der noblere Teil des
Platzes. Von hier ab wird es etwas zwielichtiger. Bars,
Stripschuppen, Pornosalons, Bordelle und so weiter. Dort kaufen die
reicheren Einwohner ihre Drogen und holen sich ihren Kick. Die
Musikclubs sind auch alle hier.«
Musikclubs, ermahnte Cassie sich. Wie der Laden, in dem Lissa arbeitet. Der Wunsch,
ihre Schwester zu finden, trieb sie immer noch an, doch da war auch
noch die Sache mit Xeke. Cassie machte sich schreckliche Sorgen um
ihn, doch Via schien nicht sehr beunruhigt.
»Machst du dir denn
überhaupt keine Sorgen um Xeke?«, fragte sie.
»Schon ein bisschen.
Immerhin sind wir in der Hölle. Da gibt es viele Gründe, sich
Sorgen zu machen. Aber ich habe schon oft erlebt, wie Xeke mit
Mutilationstrupps und Constablern fertig geworden ist. Das Klügste,
was wir machen können, ist, seinen Anweisungen zu folgen. Er weiß,
wovon er spricht. Er hat gesagt, wir treffen uns im S&N Club,
also werden wir genau das tun.«
»Aber was, wenn er es
nicht zum Club schafft?« Cassie konnte nicht anders, sie musste Via
widersprechen.
»Er wird es
schaffen.«
Noch mehr Fragen
drängten sich ihr auf, die Macht der Gewohnheit. »Ich bin ein
bisschen verwirrt, was dich und Xeke betrifft – eure
…«
»Beziehung?« Nun
wirkte Via ein wenig verärgert. »Ich liebe ihn. Was sagst du
dazu?«
Das war keine
Überraschung. »Aber …«
»Ob er mich auch
liebt? Scheiße, nein. In seinen Augen sind wir nur Freunde, wir
sind ›Kumpels‹. Wir haben nicht miteinander geschlafen, wir haben
uns noch nicht mal geküsst, was mich wirklich ankotzt, weil ich ihm
jede Möglichkeit dazu gegeben habe.« Ihre Stimme klang jetzt
gequält. »Scheiß Männer – in beiden Welten sind sie einfach nur
Idioten.«
»Warum machst du
nicht …«
»Den ersten Schritt?«
Via hatte sich angewöhnt, Cassies Sätze zu beenden. »Dann würde er
mich für ein Flittchen halten. Und nein, ich hab ihm noch nie
gesagt, dass ich ihn liebe. Das würde ihn nur verjagen. So ist es
doch immer, oder?« Sie sprach jetzt mehr zu sich selbst.
»Eigentlich hat er sogar Recht. Er will keine Beziehung mit mir
haben, weil er weiß, was jeder hier weiß: Beziehungen funktionieren
in der Hölle nie. Ich wünschte, ich könnte so stark und klug sein
wie er.«
Cassie tat sie Leid.
Es war nicht schwer zu erkennen, dass sich hinter Vias herbem
Auftreten aufrichtige weibliche Gefühle verbargen. Und noch etwas
war unschwer zu erkennen: Trotz Xekes Gewandtheit, seiner
Intelligenz und seiner Fähigkeiten im Kampf machte sich Via
ernstlich Sorgen um ihn.
Ein langer, mit
Natodraht verstärkter Zaun begrenzte die eine Seite des
Häuserblocks. Dämonenwachen standen entlang der inneren Abgrenzung
auf ihren Posten. Jenseits des Zauns konnte Cassie lange Reihen
dunkler Betongebäude erkennen.
»Das sieht ja beinahe
aus wie ein Militärgelände. Was macht das mitten in einem
Vergnügungsviertel?«
»Jeder Bezirk
beherbergt mindestens eine Regierungseinrichtung«, antwortete Via
im Weitergehen. »Das hier ist ein Metaphysisches
Dienstleistungszentrum. Wenn Luzifer sich schon nicht in der Welt
der Lebenden aufhalten kann, will er sie wenigstens bei jeder
möglichen Gelegenheit stören.«
Cassie blinzelte, um
die mit Schablone beschrifteten Schilder auf den einzelnen Gebäuden
besser lesen zu können:
AUTOMATISCHES SCHREIBEN SEANCE-PROJEKTION CHANNELING-STATION
»Seancen,
Channeling?«, fragte Cassie. »Hat das nicht alles mit
Kontaktaufnahme zu den Toten zu tun?«
»O ja. Und es ist
alles getürkt.«
»Wie
bitte?«
»Alles nur Quatsch
für leichtgläubige Menschen in der Welt der Lebenden«, sagte Via.
»Alles nur von Luzifers Hexentechnologien gespeist. Ouija-Boards,
Telefonanrufe von den toten Verwandten, Trance-Channeler, die
glauben, Nachrichten von Kurt Cobain aufzuschreiben, so Zeug. Alles
gefälscht. Das wird alles hier hergestellt. Wenn Leute mit einem
Ouija-Board rumspielen und überzeugt sind, mit ihrem toten Onkel
Harry zu kommunizieren, dann sitzt in Wirklichkeit ein Nekromant am
anderen Ende und manipuliert das Board, damit es echt wirkt.
Erinnerst du dich noch an diesen Kerl, der behauptet hat, Mozart
habe ihn kontaktiert, um seine letzte Symphonie zu vollenden?
Damals hat man sogar die Handschrift mit Briefen und Notenblättern
von Mozart verglichen, und alles passte zusammen. Aber in Wahrheit
war es ein Techniker aus der Abteilung für Automatisches Schreiben,
der alles gefälscht und diesem Debilen gechannelt
hat.«
Cassie war verblüfft
über diese Information. »Das ist ja faszinierend.« Sie kamen an
einem weiteren Schild vorbei:
NTE-GENERATOREN
»NTE steht für
Nahtoderfahrung«, fuhr Via fort. »Du hast sicher schon von dem
Blödsinn gelesen. Das sind diese Leute, die durch Notfallmedizin
ins Leben zurückgeholt werden, oder ertrinken und wiederbelebt
werden – und alle erzählen hinterher von dem großen weißen Licht
und all ihren Verwandten, die im paradiesischen Leben nach dem Tod
auf sie warten.«
Cassie kannte diese
Geschichten gut.
»Alles erfunden.
Bildzauber werden auf die wiederbelebten Leute projiziert, und da
die Metaphorik bei allen gleich ist, klingen ihre Geschichten
glaubwürdig. Egal, ob die Menschen gut oder schlecht sind, Christen
oder Juden oder Muslime oder Atheisten. Die Erfahrung ist dieselbe,
deshalb liegt es nahe, dass uns alle ein wunderschöner,
nicht-biblischer Ort vollkommenen Friedens erwartet, wenn wir
sterben. Aber in Wirklichkeit ist alles nur ein Trick. Das Gleiche
gilt für Entführung durch Außerirdische – totaler Quatsch.
Bildzauber werden wahllos auf Leute in der Welt der Lebenden
projiziert, die Bilder lassen sie glauben, sie seien von Aliens
entführt worden. Wenn man die Menschen dazu bringt, an
Außerirdische zu glauben …«
»Dann glauben sie
nicht mehr an Gott.« Jetzt hatte Cassie kapiert. »Und wenn die
Leute glauben, die Aliens sind real, dass Gott ein Mythos ist, dann
lehnen sie die Vorstellung von der Erlösung ab.«
»Und sie landen
postwendend hier, wenn sie sterben.«
Sie waren jetzt an
dem unheimlichen Gelände vorbei. Cassie war absolut fasziniert;
Luzifers Ideen waren ausgeklügelt, geradezu brillant. Sie fragte
sich, wie viele Millionen schon von ihm getäuscht
wurden.
Plötzlich zog Hush
Cassie energisch mit sich; sie zappelte geradezu vor
Aufregung.
»Hush liebt
Schaufensterbummel«, erklärte Via.
Merkwürdige
Ladenlokale reihten sich hier an der von Schwefel beleuchteten
Straße auf. JEZEBELS SECRET stand in einem Fenster. Hinter der
Scheibe dienten höllische Skelette als Schaufensterpuppen und
führten die neueste Spitzenmode vor. HÖLLENKONKUBINE?
PROSTITUIERTE? ODER EINFACH NUR REICHES MÄDCHEN? AUCH SIE KÖNNEN
SEXY SEIN IN UNSEREN NEUEN DESSOUS AUS FEINSTER
SARGWURM-SEIDE.
Auf dem nächsten
Laden stand BUCHHANDLUNG DORNENKRONE, und im Schaufenster lagen
verschiedenste Werke. Die Glyphen von Sheol,
Les Cultes Des Ghoules, das
Nekronomicon, das
Judas-Evangelium. Daneben die Aufforderung: VERPASSEN SIE
NICHT UNSERE NÄCHSTE SIGNIERSTUNDE: CAPOTE UND LOVECRAFT SIGNIEREN
IHRE NEUESTEN WERKE PORTRAIT DES KÜNSTLERS IN
DER HÖLLE UND SCHATTEN ÜBER PROSPECT
STREET.
Zwischen den beiden
nächsten Geschäften hockte ein Gremlin vor einem Dämon im Smoking;
nur putzte er ihm nicht die Schuhe, sondern er schärfte ihm die
Hörner. Ein weiterer Gremlin verkaufte an einem fahrbaren Stand
etwas Geröstetes. Cassie bezweifelte, dass es Kastanien
waren.
Fernseher mit großen
Leinwänden waren im nächsten Fenster ausgestellt, alle mit
komischen ovalen Bildschirmen. Nicht gerade
Sony, dachte Cassie. Die körnigen Bilder flackerten in
verwaschenen Farben. Auf einem Fernseher lief offenbar ein
Bikini-Wettbewerb mit dämonischen Wettbewerberinnen, auf dem
nächsten eine Spielshow.
»Und was verbirgt
sich hinter Tür Nummero drei?«, verkündete ein gut aussehender
Mensch mit Haken statt Händen. Das Tor hob sich und enthüllte eine
Folterkammer, komplett mit zappelnden, auf mit Stacheln bewehrte
Folterbänke angeketteten und zitternden Körpern. Der nächste
Fernseher zeigte ein Stadion mit voll besetzter Tribüne; in der
Arena rissen riesige vogelartige Dämonen das Fleisch in Streifen
von nackten Menschen herunter. Die Menge tobte.
Fußball hat hier vermutlich keine
Chance.
Nun strahlte Hush
beim Anblick eines Geschäfts, auf dessen Schild stand:
TRANSPLANTATIONSSALON (AUTORISIERTE, KOMMERZIELLE NEBENSTELLE DES
AMTS FÜR TRANSFIGURATION). Es erinnerte Cassie an ein
Grundstücksmaklerbüro, in dem sich automatisch per Bewegungsmelder
ein Tonband einschaltete, wenn Passanten vorbeikamen: »Vertrauen
Sie Ihre körperlichen Veränderungen keinem nicht zugelassenen
Chirurgen an. Bei uns finden Sie für all Ihre
Transplantationsbedürfnisse einen staatlich geprüften
Transfiguristen. Vergessen Sie Ihre unzulänglichen menschlichen
Arme – lassen Sie unsere Ärzte ein paar mächtige Troll-Arme für Sie
anpassen! Sie werden sich nach einer dämonischen Bluttransfusion
wie neu geboren fühlen. Oder sollten Sie sich für ein echtes
Wolfs-Gebiss entschieden haben: Bei uns bekommen Sie es! Und denken
Sie daran: Wir schneidern Ihnen Ihren persönlichen
Ratenzahlungsplan auf den Leib.«
»Kapitalismus in
Reinkultur«, sagte Via. »Eigentlich ist hier alles gar nicht so
anders. Wenn man Geld hat, hat man Privilegien. Die Hierarchen
schwelgen in ewigem Luxus, zu Lasten der Armen. Genau wie in der
Welt der Lebenden. Verstehst du? Selbst die Regierung hat ihre
Finger im Spiel.«
»Hush scheint sich
sehr für diesen Laden zu interessieren.« Cassie hatte den
sehnsüchtigen Blick ihrer Freundin bemerkt.
Via erklärte es ihr.
»Hush kann nicht sprechen, weil die Constabler sie erwischt haben,
als sie einem Straßenverkäufer einen Ghul-Hot-Dog stehlen wollte.
Als Strafe hat man ihr den Kehlkopf
herausgeschnitten.«
Die Antwort schien
Cassie völlig selbstverständlich. »Aber wir könnten ihr doch hier
einen neuen kaufen.«
»Geht nicht. Das ist
eine staatliche Zweigstelle. Um hier behandelt zu werden, muss man
registriert sein. Xeke, Hush und ich sind Flüchtlinge. Für eine
staatliche Dienstleistung muss man die Bürgerschaft
nachweisen.«
Verdammt. Wie ungerecht das war; Hush würde sich in
alle Ewigkeit etwas wünschen, was sie nie haben
konnte.
»Hier ist noch eine
Nebenstelle.« Als sie die nächste Straße überquerten, zeigte Via
auf eine verschnörkelte Neonreklame. SUKKUBISCHES SERVICECENTER!
VERMIETUNG, LEASING. AUTORISIERTE NIEDERLASSUNG DES
LILITHSUBKARNATIONS-KONSERVATORIUMS.
»Das Konservatorium
ist ein weiteres Regierungsprojekt, aber diese Zweigstelle
vermietet Sukkuben und Inkuben an die Striplokale und an
Begleitservices. Lilith persönlich ist die Geschäftsführerin des
Konservatoriums – Luzifer steht schon seit Ewigkeiten auf sie; Adam
hat mit ihr Kinder gezeugt, nachdem Eva ihn verlassen hatte. Die
Kinder waren halb sexuelle Dämonen. Im Konservatorium setzt sie
Verwandlungszauber ein, um Menschen zu Sukkuben zu machen und sie
in die Welt der Lebenden zu subkarnieren, wo sie dann in den
Träumen der Männer herumspuken. Genau wie in der alten
Legende.«
Cassie hatte
inzwischen gelernt, dass viele Mythen, Legenden und okkulte
Überlieferungen tatsächlich wahr waren. Hinter der Scheibe
stolzierten mehrere nackte »Kostproben« in einem plüschigen Salon
auf und ab. Sie hatten makellose Körper, alles, was man sich bei
einer Frau wünschte, war bis zu übernatürlicher Perfektion
hervorgehoben. Allerdings hatten sie Glatzen und keinerlei
Körperbehaarung, und die porenlose Haut glänzte wie lackiert, und
das nicht fleischfarben, sondern in einem satten, exotischen
Violett.
»Und du sagst, sie
vermieten sie?«, fragte Cassie
nach.
»An Oben-ohne-Bars,
Sexshows, Massagesalons und Hurenhäuser.« Via kicherte boshaft.
»Klingt ein bisschen wie L.A.«
Unterdessen waren sie
weiter dem Gewirr dunkler Straßen gefolgt. Via hatte nicht
übertrieben, als sie vorhin sagte, es würde etwas zwielichtiger
hier. Bleiche Prostituierte lockten durch Schaufensterscheiben
Kundschaft an; manche waren Menschen, andere Sukkuben, wieder
andere Dämonenhybride. Peepshows mit Leuchtreklamen wie in Las
Vegas versprachen Live-Shows, Einzelkabinen und die neuesten
Pornos. Unter einem grell gelben Schild mit der Aufschrift JACK
RUBY’S BUMSSCHUPPEN stand ein übereifriger Imp und bellte sie an:
»Nur hereinspaziert, die Damen. Tänzerinnen gesucht! Jack nimmt
ihre Bewerbung persönlich entgegen!«
»Nein, danke.« Via
grinste süffisant.
LAPDANCE MIT TOTEN
PORNOSTARS prahlte eine weitere Reklame, und die nächste versprach:
CRIPPENDALES!
NUR FÜR DAMEN!
PRIVATE VORFÜHRUNG (UND NOCH VIEL MEHR!) VON JOHNNY DEM C-MAN
HÖCHSTPERSÖNLICH!
Schließlich kamen sie
zum blinkenden Zelt des Onan-Theaters: HÖLLEN-ROUTE 666 – MIT KATHERINA DER
GROSSEN IN DER
HAUPTROLLE! AUSSERDEM: LUCREZIA BORGIA IN DIE
SCHAMLOSE GARGOYLE-ORGIE!
Cassie ging diese
perverse Parade langsam auf die Nerven. Alles drehte sich um Sex,
genau wie in ihrer Welt. Hush schien ihre Ungeduld zu spüren und
deutete auf den nächsten Häuserblock.
»Da drüben ist der
S&N Club. In der Herodesgasse.«
Doch als sie die
Straße überquerten, verlangsamte Via ihre Schritte. Ein Golem
tapste unbeholfen die Straße hinunter, an jeder Straßenlaterne und
jedem Pfosten blieb er kurz stehen. Es sah aus, als würde das
Lehmmonstrum Zettel aufhängen.
»Was macht der da?«,
fragte Cassie.
Statt einer Antwort
schlich Via zum nächsten Straßenschild. »Mist, ich hätte es wissen
müssen«, murmelte sie.
Cassie las den
Zettel, den der Golem eben erst hier hingeklebt hatte. Ein Steckbrief.
AUF BEFEHL DES
CONSTABLERBÜROS(BONFACE DISTRICT)
GESUCHTWEGEN MORDES AN
16 MUTILATIONSBEAMTEN
BELOHNUNG1000 HÖLLENDOLLARS FÜR JEDEN
SACHDIENLICHEN HINWEIS, DER ZUR ERGREIFUNGDIESES STRAFTÄTERS FÜHRT
Und darunter ein Bild
von Xeke.
Via lachte leise.
»Wie gefällt dir das? Er hat sechzehn von den Jungs umgebracht und
ist ihnen dennoch entwischt.«
»Schon«, bemerkte
Cassie, »aber jetzt fahnden sie nach ihm.«
»Wenigstens ist er
noch am Leben. Wir können nur hoffen, dass er es in den Club
schafft.«
Das sah Cassie ein.
Wenn die Constabler ihn suchten, musste er noch irgendwo da draußen
rumlaufen.
»Also weiter«,
drängte Via und ging voraus.
Als sie in der
Herodesgasse ankamen, fiel Cassies Blick auf eine endlose Reihe
aneinander gequetschter, heruntergekommener Häuser. Das erinnerte
sie an das Gothic-Viertel in D.C.: schwarz gestrichene
Backsteinfassaden und Türsteher, die mit verschränkten Armen vor
ramponierten, offen stehenden Türen warteten; nur dass diese
Türsteher hier entweder deformiert oder Dämonen waren. Tiefe
Basstöne und eine vertraute Stimme drangen aus einer Tür: »Since my
spirit left me, I’ve found a new place to dwell. I drugged out and
croaked on a toilet seat and – went straight to Hell.«
Cassie blieb stehen.
Nein, das war doch wohl nicht möglich!
Oder etwa
doch?
Vor einem anderen
Club sprach sie ein abgetrennter Kopf auf einem Stab an. »Hey,
Mädels! Keine Coverband: Heute Jamsession mit Robert Johnson und
Grieg persönlich!«
Ein paar Meter weiter
rüttelte sie ein Schild auf. NEVER MIND THE BOLLOCKS! HIER IST DER
S&N CLUB! Endlich, dachte
Cassie.
»Scheiße!« Via schlug
sich vor die Stirn. »Wir kommen da gar nicht rein! Mir fällt gerade
ein, dass Xeke das ganze Geld hat.«
»Und hier ist keine
Spur von ihm.« Cassie sah sich vor dem Eingang um. »Wenn er hier
wäre, würde er doch draußen auf uns warten, oder?«
»Ja. Verdammt!« Via
schabte mit dem Stiefel über den schmutzigen Asphalt. Cassie konnte
sich ungefähr vorstellen, was sie überlegte: Ob Xeke vielleicht
nicht käme, weil er genau in diesem Moment von den
Mutilationstrupps festgenommen wurde.
»Er kommt bestimmt.«
Cassie bemühte sich, hoffnungsvoll zu klingen. »Wahrscheinlich
versteckt er sich ein bisschen, bis die Constabler weg
sind.«
Via nickte nur. Dann
stellte sie plötzlich eine völlig absurde Frage: »Wie lang sind
deine Fingernägel?«
»Hä?«
»Sonst fällt mir
nichts ein, womit wir da reinkommen könnten. Unsere Zugfahrkarten
können wir nicht eintauschen, falls …« Via musste schlucken. »Falls
Xeke nicht wieder auftauchen sollte.«
Cassie betrachtete
ihre langen, schwarz lackierten Fingernägel, dann zeigte sie
zögernd Via ihre Hand.
»Die sind wunderbar.
Beiß einen ab.«
Bei dem bloßen
Gedanken zuckte Cassie zusammen, doch als Hush die universale Geste
machte – Daumen und Zeigefinger aneinander Reiben – verstand
Cassie, dass der Fingernagel eines Ätherkinds als Eintrittsgeld
akzeptiert werden würde. Nicht gerade fein säuberlich biss sie den
Nagel ihres kleinen Fingers ab und gab ihn Via.
Sobald das Stück
Nagel nicht mehr Teil ihres Körpers war, leuchtete er in grellem
Grün.
»Eintritt ist ein
De-Sade-Dollar pro Nase«, krächzte der Türsteher. Er trug kein
Hemd, sein Oberkörper war von der Taille an aufwärts von
Verbrennungen dritten Grades bedeckt. Er sah sie aus lidlosen Augen
an.
»Dreimal, Romeo«,
sagte Via, als sie ihm den leuchtenden Fingernagel
reichte.
Der Türsteher
untersuchte das Stück, offenbar beeindruckt. »Wo hast du das denn
her?«
»Ich bin eine
Konkubine des Dämonenfürsten Charles I. Wie wär’s, wenn du außerdem
noch ein paar Getränkegutscheine springen lässt?«
Ohne mit der Wimper
zu zucken, zauberte der Türsteher die Bons hervor und ließ sie
durch.
Drinnen fühlte sich
Cassie zunächst an all die wunderschönen Goth-Clubs erinnert, in
denen sie in D.C. gewesen war. Unrenovierte Räume, gedämpftes
Geplauder, eine Tanzfläche voller Gesichter und Düsternis. Trübes
Licht flackerte in den Ecken und um eine lange, überfüllte Theke
weiter hinten. Alle Wände waren aus schwarz gestrichenem
Backstein.
Cassie bemerkte
unbeholfene Graffitis: SEE U SOON, JOHNNY! JIM WAS HERE, AND I NEED
AN L.A. WOMAN, I FUCKED UP – JANIS
Musik, die sie noch
nie zuvor gehört hatte, dröhnte aus geheimnisvollen Boxen, die von
der höllischen Version von Elektrizität gespeist wurden. Der DJ
stand an einem hohen Pult und sah aus wie eine Art Troll. Unter
wabernden Phosphorlampen erstreckte sich die Bühne, noch leer, doch
die Gitarren und das Schlagzeug waren schon aufgebaut.
Überwiegend besser
gestellte Menschen bevölkerten die Tanzfläche, manche bewegten sich
zur Musik, andere plauderten mit Bekannten, in der Hand Gläser mit
schrill gefärbtem Inhalt. Ein Pärchen fummelte ungeniert beim
Tanzen. Ein männlicher Dämon mit einer dünnen Kette zwischen den
Hörnern präsentierte reichlich grüne Haut, die sich straff über
seinem Twelvepack und seiner Mark-Wahlberg-Brust
spannte.
»Hier. Damit du
wenigstens so aussiehst«, sagte Via, als sie ihr eine warme Dose
reichte. Cassie schnüffelte daran; es roch wie vergammelter Hopfen,
auf dem Etikett stand HELL CITY BRAUEREI. Igitt, dachte sie. Sie wagte nicht, den Inhalt zu
probieren.
Da wurde ihr Blick
von etwas angezogen. Eine Koboldfrau hüpfte vorbei, doch wo
eigentlich ihr Mund sein sollte, befand sich ein Nabel. Cassie
konnte nicht widerstehen, sie sah sich die Bauchgegend an: Wo ihr
Nabel sein sollte, hatte sie einen Mund, komplett mit
Lippenpiercing. »Hi!«, sagte der Mund zu Cassie.
Du lieber Himmel …
»Es wird vermutlich
ein Weilchen dauern, bis wir Lissa gefunden haben«, schätzte Via.
»Sie fängt bestimmt erst an, wenn die Band spielt.«
»Hat der Barkeeper im
– wie hieß das noch mal?«
»The Ghoul’s Head.«
»Hat er nicht gesagt,
Lissa sei hier angestellt?«
»Ja, ich glaube
schon. Er sagte, sie tanzt hier, aber wie du siehst …«
Cassies Blick folgte
Vias nach oben. Über der Bühne hingen vier Tanzkäfige, alle
leer.
»Hush«, ordnete Via
an, »du bleibst in der Nähe des Eingangs und hältst Ausschau nach
Xeke. Cassie und ich sehen uns mal bisschen um.«
Cassie versuchte, in
dem höllischen Club ganz normal zu wirken, sie suchte die Menge und
das Thekenpersonal nach Lissa ab, konnte aber nichts entdecken.
Sie arbeitet hier, überlegte sie.
Eine Angestellte. Eine Tänzerin. Wo sind
Tänzer vor ihrem Auftritt?
Hinter der
Bühne.
»Wo willst du hin?«,
wollte Via wissen.
»Hinter die Bühne«,
gab Cassie zurück und riss sich los.
»Sei bloß
vorsichtig!«
Vias Einwände wurden
von wachsendem Gebrüll übertönt. Die Menge vor der Bühne warf die
Fäuste in die Luft und rief laut und fordernd: »Sid! Sid! Sid!«,
während sich Cassie an absurd gestylten Leuten vorbeidrängelte. Sie
war dankbar für die Ablenkung. Endlich tauchte ein rachitisch
dürrer Mann auf der Bühne auf, in engen Jeans und beschlagenen
Stiefeln, das Haar zu einem schwarzen Igel frisiert. Seine blanke
Brust zeigte kreuz und quer Spuren von
Rasierklingenschnitten.
»I’m fucked up!«,
plärrte er ins Mikro. »Can barely walk or talk –
yeah.«
Die Menge war außer
Rand und Band.
»Hat hier jemand’n
Fix? Scheiß drauf! Hier kommt die heißeste Band der Hölle:
Aldinoch!«
Die Band von Vias
Kassette.
Ein Mensch, der
offenbar unbedingt wie Trent Reznor aussehen wollte, grinste
schüchtern und drückte seinen Unterleib an ihre Seite. Cassie
verzog den Mund.
»Hey, Süße. Hab mich
gerade beim Transfiguristen’n bisschen aufpäppeln lassen.« Dreist
schob er ihr seine Hüften entgegen; der Schritt seiner schwarzen
Hose sah aus, als hätte er sich eine Katze hineingesteckt. »Willst
du’s mal ausprobieren?«
»Lieber komm ich in
die Hölle«, antwortete sie.
»Hey, der war gut!«
Sie grinste
süffisant. Schleppende Gitarrenriffs schwebten durch die Luft; der
Beat setzte ein, die Band – vier Gestalten in schwarzen Mänteln –
spielte ihre erste Nummer. Cassie entdeckte eine schwarze Tür
weiter hinten, öffnete sie einen Spalt und spähte
hinein.
WACK! WACK!
WACK!
Ein fetter Troll mit
Hosenträgern schlug mit einem Knüppel auf einen kleinen Imp ein,
der offenbar durch das Schlüsselloch einer anderen Tür gelinst
hatte.
»Du widerlicher
Perverser! Schwing deinen Arsch wieder in den Müllwagen, wenn du
nicht gefeuert werden willst!«
Noch ein paar Schläge
mit dem Knüppel, dann quiekte der Imp und humpelte davon, aus
seinen spitzen Ohren lief Blut. Als der Imp weg war, klemmte sich
der Troll, eindeutig ein leitender Angestellter des Clubs, selbst
an das Schlüsselloch und kicherte.
Dann war auch er
verschwunden.
Cassie schlüpfte
durch die Tür und sah durch das Schlüsselloch. Wie sie gehofft
hatte, befand sich dahinter eine Garderobe. Mehrere Tänzerinnen in
abstrusen Kostümen verließen im Gänsemarsch den Raum. Cassie sah
einen violetten Sukkubus, eine vierbrüstige Dämonin mit schmalen
Fledermausflügeln und einem dunkelroten Korsett und zwei
menschliche Frauen in schwarzen Bikinis, die beide erste Anzeichen
gelber Tumore im Gesicht trugen.
Aber keine
Lissa.
Alle Mädchen waren
jetzt durch die hintere Tür verschwunden.
Verdammt, verdammt, verdammt!
War Lissa schon vor
den anderen hinausgegangen?
Sie schlich sich
wieder hinaus. Die Band hatte inzwischen mit ihrem dröhnenden Mix
aus Goth und Death Metal die Tanzfläche zum Kochen
gebracht.
»The house of God in
flames, protect me Father Satan, in Hell I’ll be your slave!«,
krächzte der Leadsänger.
Cassie versuchte gar
nicht erst, über die infernalen Texte nachzudenken. Doch nun waren
die Käfige über der Bühne besetzt – von den Mädchen, die sie zuvor
in der Garderobe gesehen hatte.
Ein Mädchen mit einem
Pagenkopf kam direkt auf Cassie zu und umarmte sie. »Komm tanzen«,
sagte sie.
»Nein, danke«, doch
als Cassie sich von ihr lösen wollte, spürte sie Hände, die
unbeholfen ihre Brüste kneteten.
Was zur Hölle …?
Da sah sie, was los
war. Die Frau kicherte und trat einen Schritt zurück, dann hob sie
ihre Bluse hoch. An Stelle von Brüsten wuchsen aus dem Oberkörper
menschliche Hände, die sich öffneten und schlossen.
Diese Stadt ist wirklich die Hölle!
Gerade als Cassie
sich eingestehen wollte, dass Lissa wahrscheinlich heute nicht
arbeitete, spürte sie ein Zupfen am Rock. Es war Hush, die
aufgeregt hinter Cassie nach oben zeigte.
Über der Theke hingen
noch zwei weitere Tanzkäfige, die Cassie bisher nicht bemerkt
hatte. Eine attraktive Rothaarige mit einem von Elephantiasis
angeschwollenen Gesicht tanzte temperamentvoll in dem
einen.
Und in dem anderen
tanzte Lissa.
Das lange, glänzend
schwarze Haar mit der weißen Strähne hing ihr vor dem Gesicht. Sie
bewegte sich zu den trostlosen Wellen der Musik, immer noch in den
Kleidern, die sie in ihrer letzten Nacht in der Welt der Lebenden
getragen hatte: die Handschuhe aus schwarzem Samt, der kurze
schwarze Krinolinenrock und die schwarze Spitzenbluse.
Sie ist es. Sie ist wirklich hier.
»Hast du sie
gesehen?«, rief Via von der anderen Seite der Theke
herüber.
Cassie
nickte.
Und was jetzt? Wie
komme ich zu ihr? Eine schmale Luke in der Wand führte in den
Käfig, und Cassie konnte nur raten, wo das Ende des Ganges lag.
Irgendwo hinter der Bühne, wo der Knüppel schwingende Troll war.
Sollte sie es riskieren?
Sekunden später hatte
sie allerdings schon keine Wahl mehr.
Lissa hatte aufgehört
zu tanzen und starrte durch die Käfigstangen auf Cassie
hinunter.
»Lissa, lauf nicht
weg! Ich will doch nur mit dir REDEN.« Cassie versuchte
verzweifelt, die Musik zu übertönen.
Zu spät. Lissa war
schon aus dem Käfig gerannt und kroch zurück in die
Luke.
Ich muss ihr den Weg abschneiden. Sie drängelte
sich durch die Menge, riss die Hintertür und danach die Tür zur
Garderobe auf. Weiter hinten gab es eine offene Tür neben einer an
die Wand gelehnten Leiter, und direkt daneben eine vierte Tür mit
der Aufschrift: Ausgang.
Lissa kletterte die
Leiter herunter, das Gesicht vor Angst verzerrt, als sie Cassie
sah.
»Lissa, bitte! Es tut
mir Leid.«
Cassie wollte gerade
zu ihr laufen, als eine schwere Schuppenhand sie von hinten an den
Haaren packte. Ihr stockte der Atem, als sie herumwirbelte und in
das zerfurchte Gesicht des Trolls blickte.
Die unmenschliche
Stimme gurgelte: »Mhmmm, das wird ein Fest. Was haben wir denn da –
eine kleine Menschenschlampe, die uns beklauen will!«
»Ich wollte gar
nichts klauen!«, flehte Cassie. »Ich will nur mit meiner …«, da
erstarb ihre Stimme, als die riesige Klaue sich um ihren Hals
schloss und zudrückte.
Blassgrüne Augen
funkelten sie mordlüstern an.
Die andere Hand hob
den Knüppel hoch.
»Lass uns doch mal
sehen, wie schnell ich dich zu Pudding klopfen kann.«
Ihre Furcht fühlte
sich an wie ein Stromschlag; sie konnte nicht mehr atmen. Als aber
der Knüppel noch höher stieg in Vorbereitung auf den ersten Hieb
auf ihren Kopf, da stieg eine andere Empfindung aus ihrem Herzen
auf.
Wut.
Plötzlich war der
Raum wie in gleißendes Licht getaucht. Entgeistert ließ der Troll
sie los und ging rückwärts, sein Knüppel polterte zu Boden. Cassies
Gesicht glühte, und als sie schrie, »LASS MICH IN RUHE!«
-
Patz!
- explodierte der
Kopf des Trolls.
Cassie taumelte
rückwärts; die seltsamen Funken verblassten. Mit weit aufgerissenen
Augen betrachtete sie den sich windenden Körper auf dem Boden und
die Gehirnmasse, die zäh die Wand herunterfloss.
Was zum Teufel war das denn jetzt
wieder?
Aber sie hatte jetzt
wirklich keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste Lissa
finden!
Doch als sie sich
wieder umdrehte, war die Tür mit der Aufschrift Ausgang gerade ins Schloss gefallen.