I
Die hohe Standuhr im
Foyer schlug Mitternacht. Melodisch klangen die zwölf raschen
Schläge durch die Tiefen von Blackwell Hall.
Doch so dezent das
Geräusch auch gewesen sein mochte, es erschreckte Jervis Conner –
so sehr, dass er beinahe aufschrie. Er biss sich auf die Lippe und
fluchte leise. Schon das winzigste Geräusch von ihm hätte das Aus
für sein heimliches Vorhaben bedeutet, und wahrscheinlich hätte er
sogar noch mal für ein oder zwei Monate im Knast antreten
können.
Diese kleine Schlampe
hier war natürlich nicht mehr minderjährig, nicht wie die
Schätzchen, die er heimlich beobachtet hatte, als er noch als
Hausmeister in der Luntville Middle School gearbeitet hatte. Ein
Wahnsinnsjob für einen Pädophilen. Jervis hatte einfach ein Loch in
den Luftschacht auf der anderen Seite der Duschwände geschnitten.
Hatte seinen Kopf drangehalten und sich genüsslich die ganzen
kleinen weißen Nackedeis angesehen, die da nach dem Sport in den
Duschen herumtollten. Jervis war einfallsreich: Er hatte ein Stück
Walzblech mit Magneten präpariert, um das Loch abzudecken, wenn er
fertig war. Perfekt getarnt. Zu dumm, dass ihn der Direktor
buchstäblich mit den Hosen auf den Füßen erwischt
hatte.
Diese kleine Schlampe
Cassie war zwar schon zwanzig oder einundzwanzig, aber Jervis
bezweifelte, dass dieser Umstand einen Richter zur Milde verleiten
würde. Er wusste, von jetzt ab musste er sehr vorsichtig
sein.
Die ersten paar
Wochen hatte er ein paar tolle Gelegenheiten zum Spannen gehabt.
Wenn man am Ende des Flurs stand und sich hinter der Ecke
versteckte, dann konnte man direkt in den hinteren Teil ihres
Zimmers sehen, wenn sie die Tür offen gelassen hatte (und sie ließ
fast immer die Tür offen). Noch besser war, dass er aus diesem
Winkel schnurgerade ins Badezimmer sehen konnte (und diese Tür ließ
sie ebenfalls meistens offen). Er hatte sie inzwischen bestimmt
zehnmal splitternackt in der Dusche gesehen. Blöd daran war nur,
dass Jervis für seinen Geschmack etwas zu weit weg war, und wenn
jemand die Treppe hochkam, während er da stand, würde man ihn
schnappen.
Außerdem gab es da
noch ein drittes Problem, obwohl das vermutlich bloß
Verfolgungswahn war. Die Ecke, hinter der er sich immer versteckte,
lag direkt neben der Treppe, die zu diesem komischen Raum mit dem
runden Fenster führte. Jervis hatte dieses Zimmer einige Male
genutzt, um sich nach der Spannerei zu befriedigen, aber er hatte
immer das ungute Gefühl gehabt, dabei beobachtet zu werden. Das
Haus jagte ihm tagsüber schon genug Schauer über den Rücken. Aber
jetzt in der Nacht – um Mitternacht –
war es noch zehnmal schlimmer.
Nicht, dass Jervis
zart besaitet war, keineswegs.
Er konnte nur das
Gefühl nicht loswerden, dass da jemand war, da im Schatten lauerte
und ihn ansah.
Vergiss den Scheiß, befahl er sich selbst. Es würde
ihm nur das Spannen verleiden, und Spanner hatten es ohnehin nicht
leicht.
Er hatte übrigens
keinerlei schlechtes Gewissen, wenn er heimlich Bräute beobachtete.
Er war der Meinung, er verdiene das, war der Meinung, das Leben
schulde ihm den ein oder anderen kleinen Spaß für den Umstand, in
dieser Kloake von einer Kleinstadt aufzuwachsen, sich den Arsch
aufzureißen in einem ätzenden, mies bezahlten Job nach dem anderen,
sein ganzes Leben lang. Es war ja nicht so, dass er Banken
ausraubte oder Neunjährigen Crack verkaufte, wie die in der Stadt.
Es war ja nicht so, dass er Leute umbrachte. Er riskierte nur den
ein oder anderen Blick und hatte seinen Spaß dabei. So wie er das
sah, hatte Gott doch höchstpersönlich die Mädels so hübsch gemacht.
Also was konnte schon so schlimm daran sein, sich das anzusehen und
an den schönen Sachen zu freuen, die der liebe Gott geschaffen
hatte? Was für ein Scheiß, dass es ein Verbrechen sein sollte, sich Gottes Schöpfung
anzuschauen, dass Jervis’ Arsch dafür gleich zurück in den Bau
wandern konnte, zu den Pennern und Gangstern und Dieben, zu den
richtigen Verbrechern. Das war einfach
nicht gerecht, kein bisschen, verflucht noch mal.
Zur Hölle mit dem Gesetz, entschied er.
Ich lass es drauf
ankommen.
Heute hatte Cassie
die Tür zugehabt, als sie in ihrem Zimmer war, und das hatte Jervis
wirklich angekotzt, denn nachdem er sie morgens gesehen hatte – in
dem praktisch durchsichtigen kleinen Hemdchen – war er fast
durchgedreht.
Aber er hatte schon
etwas vorbereitet.
Die meisten Wände im
Haus waren nicht aus Rigips, sondern aus Holzleisten, verputzt und
tapeziert; Cassies Wände waren mit Holz getäfelt. In dem kleinen
Raum neben Cassies Zimmer stand ein großer Wandschrank, an dem eine
Ecke herausgebrochen war. Seit Tagen schon war Jervis immer wieder
durch die Öffnung geschlüpft und hatte sich darin mit seinem
Handbohrer und einem winzigen 3er-Bohrer zu schaffen gemacht.
Behutsam hatte er eine Fuge zwischen zwei Holzleisten ausfindig
gemacht, die auf der anderen Seite der Wand genau auf eine Fuge von
Cassies Holztäfelung traf. Nur ein paar kleine Löcher jeden Tag,
und am Ende hatte er eine etwa drei Zentimeter lange Linie gezogen,
die für das menschliche Auge nicht erkennbar war.
Aber für einen
Spanner wie Jervis war der Spalt ein Hauptgewinn.
Wenn er vor dem Loch
kniete, konnte er direkt über ihr großes Himmelbett ins Badezimmer
sehen.
Nachdem er seine
Mutter nach der Arbeit am Wohnwagen abgesetzt hatte, war er zurück
ins Haus geschlichen, und so wartete er wieder einmal
zusammengekauert in der Dunkelheit. Niemand wusste, dass er hier
war, und dieses Geheimnis erregte ihn; es war, als könne er eine
sonderbare, verborgene Macht über andere ausüben: Er konnte sie
nach Belieben beobachten, und sie hatten keine Ahnung davon.
Normalerweise ging Cassie so gegen zehn Uhr ins Bett, und Jervis
wollte bereit sein, wenn sie sich auszog und in eins ihrer eng
anliegenden, scharfen Nachthemdchen schlüpfte. Oder vielleicht
würde sie ihm mal wirklich einen Gefallen tun und nackt schlafen.
Bei dieser Hitze. Komm schon, Baby! Zieh dich
aus!
Der Job war super.
Gutes Geld für nicht besonders viel Arbeit plus den Leckerbissen
fürs Auge nebenbei. Die Kleine und ihr alter Herr passten überhaupt
nicht hierher – reiche Städter, mit ihren seltsamen
Stadtgewohnheiten -, aber was ging das Jervis an? Wenn die unbedingt in diesem riesigen unheimlichen Kasten
wohnen wollten, bitte schön. Die meisten alten Möbel waren
noch da; die Gespenstergeschichten hatten die Diebe fern gehalten.
Jervis glaubte nicht an Geister, aber er liebte die Geschichten.
(Andererseits hatte er selbst auch nie den Mumm gehabt, herzukommen
und selbst etwas zu stehlen.) Der alte Herr war cool, fand Jervis;
vielleicht manchmal ein bisschen steif, aber normalerweise zahlte
er ihm das Doppelte von dem, was die Arbeit wert war. Und die
Kleine?
Ein absolutes Sahnetörtchen.
Eine Haut wie
flüssige weiße Schokolade und große Kirschbonbons als Brustwarzen.
Und ihre ganzen knappen, freakigen, schwarzen Anarchoklamotten
waren genau das Richtige für einen Spanner. Jervis machte sich
nichts aus diesem durchgeknallten Grufti-Scheiß, den sie hörte; er
war ein paarmal heimlich in ihr Zimmer geschlichen und hatte sich
die CD-Cover angesehen. Die meisten waren Kerle, die sich als
Weiber verkleideten und Make-up drauf hatten und so was. Dann doch
lieber Charlie Daniels. War ihm aber auch egal, was für Musik sie
hörte, Jervis wollte ihre Titten sehen und die Muschi und diesen
flachen weißen Bauch und den kleinen Nabel, bei dessen Anblick er
am liebsten den Kopf in den Nacken gelegt und ein Kriegsgeheul
ausgestoßen hätte – mit der Hand in der Hose, versteht
sich.
Das Leben eines
Voyeurs war kompliziert und grotesk.
Doch nach fast drei
Stunden hier oben, auf Knien in einem muffigen Wandschrank, das
Auge am Guckloch, war Jervis immer noch nicht auf seine Kosten
gekommen.
Sie saß in einem
Jeansrock und einem schwarzen Bikinioberteil auf dem Bett herum
oder am Schreibtisch, hörte ihre Hippie-Grufti-Musik oder las
Bücher. Jervis hätte an sich gegen einen kurzen Jeansrock nichts
einzuwenden gehabt – aber er war schwarz. Schwarze Jeans?, dachte er. Der größte Quatsch, wo ich je gesehen hab. Diese
Grufti-Freaks, immer nur in beschissenem SCHWARZ! Genauso
wenig gefiel ihm der winzige Regenbogen über ihrem süßen kleinen
Bauchnabel. Es kam ihm vor wie Vandalismus, wie Graffitis auf einer
wundervollen Leinwand. Warum mussten die Mädels heutzutage
unbedingt ihre eigenen Körper mit diesen bescheuerten Tattoos so
verschandeln?
Die Zeit verstrich.
Würde sie sich jetzt endlich ausziehen und ins Bett
legen?
Mann, jetzt komm schon! Wann geht’s endlich
los?
Um zehn Uhr machte
sie noch immer keine Anstalten, sich hinzulegen. Jervis hörte, wie
sie ihrem Vater im Flur Gute Nacht sagte, hörte den Alten ins Bett
gehen, doch danach kam sie zurück ins Zimmer und hörte wieder ihre
schwachsinnige Musik. Wenigstens hatte sie jetzt Kopfhörer auf,
sodass Jervis nicht das ganze Gestöhne und Gebrülle über den
Antichrist-Superstar oder solchen Scheiß mit anhören musste, und
über Kids, die sich umbringen wollen. Trotzdem saß Jervis in seinem
finsteren Wandschrank ziemlich in der Falle, denn er konnte erst
aufstehen und nach Hause fahren, wenn sie eingeschlafen
war.
Wonach es momentan
überhaupt nicht aussah.
Jetzt mach schon, du gelbhaarige kleine Stadtschlampe! Ich
hab nicht die ganze Nacht Zeit! Runter mit den Klamotten, damit
Jervis was zu wichsen hat!
Plötzlich schien es,
als würde sein Wunsch sich erfüllen. Sie nahm den Kopfhörer ab und
sah auf die Uhr; dann stand sie auf.
RUNTER mit dem
Scheiß! Ich will den albernen schwarzen Rock AUF DEM BODEN sehen!
WEG mit dem BH und dem Höschen!
In diesem Moment
schlug die Uhr im Erdgeschoss Mitternacht.
Es schien beinahe ein
Signal zu sein; als die Uhr schlug, machte Cassie das Licht aus und
verließ das Zimmer.
Verdammter
SCHEISSDRECK!
Jervis verharrte
regungslos in der Dunkelheit, seine Knie schmerzten – und alles war
für die Katz.
Er konnte sie den
Flur hinuntergehen hören, das Schlappen der Flipflops. Dann hörte
das Schlappen auf, als sie an der Treppe ankam, wie er
vermutete.
Er hörte sie nicht
hinuntergehen.
Vorsichtig, sehr
vorsichtig stand er auf und hoffte, dass seine Knie nicht knacken
würden. Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür und kniete sich wieder
hin, diesmal vor dem guten alten Schlüsselloch. Er spähte
hinaus.
Da stand sie, genau
an der Treppe, die nach oben zu dem Oculus-Zimmer
führte.
Er wusste, dass er
sich das nur einbildete – musste an der Dunkelheit und der späten
Stunde liegen -, aber einen Moment lang glaubte er, Schritte die
Treppe herunterkommen zu hören.
Das ist doch albern. Da oben ist
keiner.
Wie konnte da oben
jemand sein?
Dennoch blieb Cassie
dort stehen und sah hinauf, als ob sie darauf wartete, dass jemand
zu ihr kam.
Er hörte sie
flüstern: »Mein Vater schläft. Wir können jetzt los.«
Aber außer ihr war
niemand da.
Mit wem zum TEUFEL redet sie da?
Cassie drehte sich um
und ging die Stufen in den ersten Stock hinunter.
Sie war
allein.
Dennoch fuhr sie fort
zu flüstern. Das Letzte, was Jervis zu hören glaubte,
war:
»Keine Sorge, ich hab
sie. Ich hab die Knochen.«