PROLOG
Es ist ein endloser Kreislauf menschlichen Lebens, 5000 Jahre alt:
Städte erheben sich, dann versinken sie.
Doch was ist mit dieser Stadt?

Der Mann schleppt sich mühsam die Straße hinunter. Auf dem Straßenschild steht: ISCARIOT AVENUE.
Er trägt einen abgetrennten Kopf auf einem Stab. »Haben Sie vielleicht etwas Kleingeld für mich?«, fragt der Kopf die Passanten. Der Mann selbst kann nicht sprechen; sein Körper ist halb verwest. Eine Augenhöhle ist leer, kleine, mit Fangzähnen bewehrte Milben tummeln sich in seinem Haar. Seine Haut ist voller Pusteln, dank der neuesten städtischen Infektion, und die Zunge wurde schon vor langer Zeit von Ungeziefer in seinem Mund verzehrt.
Auf hochhackigen Schuhen stöckelt eine gut gekleidete Frau vorbei, die einen eleganten Hut trägt. Ihr mit Pelz gefütterter Trenchcoat ist aus gemusterter Menschenhaut, aus der glatten, schmalen Stirn sprießen winzige Hörner. Eine Dämonin aus einem der Villenviertel.
»Haben Sie vielleicht ein bisschen Kleingeld für mich, Ma’am?«, fragt der Kopf.
Im Vorbeigehen legt die Dämonin dem Mann mit dem Kopf auf dem Stab ein glänzendes 25-Cent-Stück in die ausgemergelte Hand. Das Geldstück ist nicht mit dem Gesicht George Washingtons geprägt, sondern mit dem des Serienmörders Richard Speck.
»Vielen Dank auch«, ruft der abgetrennte Kopf der Dämonin hinterher.

Hier wird recycelt.
Trolle eines städtischen Altstoffsammeltrupps verfrachten jede Art von Leichnam von den Straßen in die riesigen Abfallcontainer einiger mit Dampf betriebener Fleischkipper. Irgendwann tuckern die Kipper dann durch das Eingangstor der Industriezone und entleeren ihre Fuhre in die Sammelbehälter einer typischen städtischen Wertstoffanlage. Das Blut wird zur Destillierung herausgefiltert, Fleisch als Nahrungsmittel filetiert, die Knochen getrocknet und zur Zementherstellung gemahlen. Verschwendet wird hier wahrlich nichts.
Lastkähne, gesteuert von Golems, treiben auf der braunen, zähen Oberfläche eines Flusses namens Styx und pumpen ungeklärte Abwässer in die häuslichen Wassertanks der Stadt hinein. Gewaltige Hochöfen verbrennen Schwefel ausschließlich zu dem Zweck, die Luft zu verpesten. Abzugsschächte in den Silos der Hochöfen leiten die dabei entstehende glühende Hitze um und halten damit die örtlichen Gefängnisse unerträglich heiß. Mit dem Haar der Toten werden Kissen und Matratzen für die dämonische Elite gestopft.
Selbst Seelen werden wieder verwendet. Wenn ein Körper hinlänglich zerstört ist, wird die Seele in eine niedrigere Spezies übertragen. Endloses Leben im ewigen Tod.
Die meisten Städte beziehen ihre Energie aus Elektrizität, aber diese Stadt bezieht sie aus dem Grauen. Das Leiden dient als wandelbare Energie; der Schrecken ist die wertvollste natürliche Ressource der Stadt und wird hier als Treibstoff erschlossen. Industriealchemisten und städtische Magier machen sich mithilfe fortschrittlicher Hexenkunst die synaptische Aktivität zunutze, die ununterbrochen zwischen den Neuronen zündet und deren Produktion überwiegend von Schmerz herrührt. In den summenden Kraftwerken werden die bedauernswertesten Bewohner der Stadt gefangen gehalten, kopfüber vor Steintafeln hängend und systematisch gefoltert. Die Folter endet nie – da die Bedauernswerten niemals wirklich sterben. Sie hängen einfach da, oft jahrhundertelang, und winden sich in unablässigem Schmerz, dessen Energie aus ihren freigelegten Gehirnen in die riesigen Generatoren geleitet wird.
Eine einzige menschliche Seele kann genug Energie erzeugen, um einen ganzen Häuserblock mit Licht zu versorgen – für immer.

Enthaupten, Ausweiden und Verstümmeln gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten im öffentlichen Dienst, und darin sind die Schergen wahre Meister. Ihre Klauen sind so verheerend wie frisch gewetzte Sensen, der Kiefer mit dem hundeähnlichen Gebiss kann durch ein Eisenrohr – oder einen menschlichen Hals – beißen, als sei es eine Papprolle.
Schergen sind eine von mehreren dämonischen Spezies, die speziell zum Einsatz bei städtischen Unruhen und Problemen mit öffentlichem Ungehorsam gezüchtet wurden. Im engeren Sinne Polizeibeamte.
Hier ist die Polizei allerdings kein Freund und Helfer; sie ist dazu da, den Terror durch unvorstellbare Grausamkeit aufrechtzuerhalten. Häufig werden ganze Bataillone von Schergen geschickt, um wahllos Bürger hinzurichten.
Sie halten das Volk auf Trab.
Aus der wie ein Amboss geformten Stirn krümmen sich spitze Hörner, statt Ohren haben sie Löcher und statt Augen schmale Schlitze. Die Haut ähnelt der einer Schnecke, sie weist dunkle Punkte auf und sondert einen zähen Schleim ab.
Sie sind extrem gefräßig, und ihr Blut ist schwarz.
Gumdrop ist eine ganz gewöhnliche Mischlingsfrau, halb Mensch, halb Dämon – ein Produkt höllischer Prostitution. Sie lebt in einem der riesigen öffentlichen Wohnkomplexe in den Ghettoblocks. Ihre Gesichtszüge sind zwar anziehend menschlich, doch die fleckig grüne Haut ist übersät von weißen Beulen. Immerhin sind ihre Brüste fest und haben viele Brustwarzen.
Wie die Mutter, so die Tochter: Gumdrop arbeitet ebenfalls als Prostituierte. Ihr Zuhälter ist ein fettleibiger Troll namens Fat-Bag, der sie durch jede nur vorstellbare Art der Erniedrigung und physische Gewalt diszipliniert. Außerdem sorgt er dafür, dass sie hoffnungslos drogensüchtig bleibt. In dieser Gegend heißt die Droge Zap, ein organisches Destillat, das über eine lange Nadel durch die Nase direkt in die Gehirnmasse injiziert wird. Fat-Bag hat Gumdrop fest im Griff.
Sie ist eine Straßennutte. Endlose Stunden läuft sie die heruntergekommenen Alleen von Pogrom Park auf und ab und bietet sich jedem erdenklichen Kunden an. Wenn sie Glück hat, nimmt ein Dämonenfürst sie mit. Dämonenfürsten zahlen gut.
Wenn sie nicht so viel Glück hat, wird sie von einer Gang halbwüchsigen Höllengezüchts beklaut und vergewaltigt.
Ein ganz normaler Tag im Leben einer Prostituierten in der Hölle.
Doch heute hat sie sogar noch weniger Glück: Als sie aufwacht, voll auf Turkey, und von der fleckigen Matratze auf dem Boden aufstehen will, fällt sie sofort wieder hin. Sie blickt an sich herunter und schreit vor Schreck laut auf: Eine Polterratte huscht weg, im Halbdunkel kaum zu erkennen. Während Gumdrop schlief, hat das Tier ihr das gesamte Fleisch von den Füßen gefressen und nur die Knochen übrig gelassen.
Wie soll sie denn nun die Straßen auf und ab laufen, ohne Füße?
Tja, dumm gelaufen, meine Liebe.
Fat-Bag wird ihren Körper missbrauchen, auf abartige Weise vollends zu Grunde richten und ihn dann an eine Wertstoffanlage verscherbeln.

Der Himmel leuchtet purpurrot; der Mond ist schwarz. Seit Jahrtausenden ist hier Mitternacht, und so wird es immer bleiben. Die Silhouette der Stadt dehnt sich schier ins Unendliche aus, Feuersbrünste toben grollend unter dem Gewirr der Straßen, Rauch und Dampf steigen aus unzählbaren Häusern und Wolkenkratzern auf.
Genauso endlos sind die Schreie, sie fliegen fort in die ewige Nacht, nur um unmittelbar von neuen Schreien abgelöst zu werden.

Es ist ein endloser Kreislauf menschlichen Lebens, 5000 Jahre alt:
Städte erheben sich, dann versinken sie.
Doch nicht diese Stadt.
Nicht die Mephistopolis.
Inferno
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