II

»Wessen Knochen?«, fragte Cassie entsetzt.
»Blackwells«, entgegnete Via. Sie hatten es sich in einem Zugabteil bequem gemacht. »Du weißt schon, Fenton Blackwell, der Typ, der …«
»Ja, ja, du musst mir die Geschichte nicht noch mal erzählen.« Cassie erinnerte sich noch gut an die grausige Erzählung. »Er hat all diese …«, doch sie wollte nicht einmal mehr darüber nachdenken.
»Er hat Luzifer neugeborene Kinder direkt nach ihrer Geburt geopfert – Dutzende. Oben in dem Oculus-Zimmer, immer um Mitternacht. Treue Dienste werden belohnt – Menschenopfer bedeuten die größte Ehrerbietung, die man dem Teufel erweisen kann. Blackwell wurde noch in der Sekunde seines Abstiegs in die Hölle zu einem Dämonenfürsten ernannt.«
Das klang logisch, doch gleichzeitig verwirrte es Cassie. »Aber ich dachte, er wäre ein Gespenst, in meinem Haus.«
»Ein Gespenst ist nur eine Projektion, wie wir es dir vorhin erklärt haben.« Via wirkte müde und gelangweilt. »Es ist nur ein übrig gebliebenes Bild – Teil des Totenpasses. Blackwells Gespenst ist seelenlos, es ist wie ein Film, der immer zu bestimmten Zeiten abläuft.«
»Und Blackwells verdammte Seele ist jetzt in der Hölle?«
»Ganz genau, die macht sicher gerade irgendwo schwer einen drauf. Ich hab gehört, er wohnt irgendwo am Templerkap; da wohnen viele Dämonenfürsten. Sozusagen das Oberklasseviertel der Mephistopolis. Penthouse-Wohnungen in luxuriösen Wolkenkratzern, mit allem Schnickschnack. Diese hässlichen Arschlöcher leben wie die Könige – und das in alle Ewigkeit.«
Cassie sah den Zusammenhang nicht. Was hat das jetzt mit …
»Und genau deshalb brauchen wir seine Knochen. In der Hölle sind Knochen aus der Welt der Lebenden von großem Wert«, wiederholte Via. »Doch die Knochen eines wahrhaft bösen Menschen wie Blackwell kann man als Reliquie der Macht verwenden.«
Die Ruhmeshand machte sie immer noch unsichtbar, und sie mussten auch nicht befürchten, belauscht zu werden, da sie allein im Abteil waren. Der brackige Styx lag bereits hinter ihnen, Cassie blickte aus dem Fenster in das purpurne Zwielicht und zu der schmalen schwarzen Mondsichel über dem Ödland.
»Eine Reliquie der Macht«, murmelte sie.
»Nicht einfach nur Knochen, sondern extrem mächtige Knochen«, sagte Via. »Damit können wir Lissa befreien.«
Ja!, jubelte Cassie innerlich. »Und Xeke.«
Via zog die Augenbrauen zusammen. »Ich hab dir doch gesagt, die Szene mit Xeke im Fernsehen war gestellt. Er ist ein Verräter.«
Cassie war zu konfus, um sich zu streiten, aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es nicht wahr sein konnte.
»Endstation«, verkündete Via, als ein Signal ertönte. Der Zug drosselte seine Geschwindigkeit, und der Schaffner rasselte: »Letzte Haltestelle Tiberius Depot, Äußerer Sektor Süd. Vielen Dank, dass Sie mit dem Sheol-Express gefahren sind.«
»Denk daran«, mahnte Via. »Niemand kann uns sehen, aber man kann uns immer noch hören.« Sie stand auf und hielt die abgetrennte Hand vor sich. »Kein Wort mehr, bis wir auf dem Pfad sind.«
Cassie und Hush folgten ihr. Vor ihnen verließen zwei gehörnte Soldatendämonen in Lederharnisch den Zug, die zwei grotesk fettleibige nackte Menschen zwischen sich führten, einen Mann und eine Frau. Die Menschen waren mit Eisenketten an den Füßen gefesselt, das Elend stand ihnen in die aufgedunsenen Gesichter geschrieben. Hush zeigte erschrocken weiter nach vorn. Da stiegen zwei Gestalten in langen weißen Umhängen mit Kapuze aus dem Zug.
Wahrsager, dachte Cassie.
Hush legte sich den Finger an die Lippen, und sie gingen los.
Doch schon bald winkte Via sie in eine stille Ecke des Bahnsteigs, und als sie außer Hörweite waren, flüsterte sie: »Die könnten Ärger machen. Die beiden Typen in den weißen Umhängen sind Extipizisten aus der Unheiligen Universität für Anthropomantie – Luzifers Privat-Wahrsager.«
»Was machen die denn hier«, flüsterte Cassie zurück.
»Luzifer muss Extipizisten an jeden Ausgang des Äußeren Sektors geschickt haben. Er versucht es mit allen Mitteln.«
»Soll heißen?«
Hush kritzelte umständlich auf ihren Notizblock:
Sie suchen uns
Sie glauben, wir könnten hier sein, an dieser Station
Cassies Magen zog sich zusammen. »Warten wir, bis sie alle vom Bahnsteig verschwunden sind«, flüsterte Via.
Mehrere Trolle mit Koffern gingen ächzend an ihnen vorbei und stiegen in den Zug. Weiter in der Ferne verließen die Extipizisten und ihre Leute den Bahnhof.
»Scheiße«, wisperte Via. »Das sieht gar nicht gut aus.«
»Was ist denn nun schon wieder los?«, fragte Cassie verständnislos.
»Es funktioniert. Sie erstellen eine Prophezeiung und dann wissen sie, wo wir sind.«
»Sollen wir wieder in den Zug steigen?«
»Ich weiß auch nicht. Verflucht!«
Cassie spähte um eine der von Flechten bewachsenen Säulen. Die Wahrsager liefen genau den Pfad hinauf, den sie zum Haus nehmen mussten.
Um die Verwirrung perfekt zu machen, hörte man plötzlich ein Pfeifen. Hush zeigte nach oben: Ein ovaler Fernseher, der oben an einer Säule befestigt war, zeigte gerade einen Werbespot für Brandeisen, doch dann lief die Schrift über den Bildschirm, die sie schon einmal gesehen hatten:
ACHTUNG, ACHTUNG!
ES FOLGT EINE
DRINGENDE BEKANNTMACHUNG DES KANALS
LUZIFER 1

Dann erschien wieder dieselbe schildkrötengesichtige Nachrichtensprecherin im Bild. »Die Militärbehörde berichtet soeben von einem Angriff Aufständischer in den Außenbezirken des Mephistobezirks. Illegale Nektoports werden in eben diesem Augenblick aktiviert.«
Cassie hörte staunend zu. Ein eingeblendeter Film zeigte Horden von Gestalten in schwarzen Metallrüstungen, die Schwerter und Äxte gegen eine Armee von Schergen schwangen. Im Hintergrund sah man brennende Gebäude.
»Wahrsage-Quellen vermuten, dass die jüngsten Nachrichten über ein echtes Ätherkind in der Hölle den Ausbruch auslösten, indem sie die berüchtigte, von dem nationalen Verräter Ezoriel angeführten Aufständischen von Satan Park auf den Plan riefen. Die Vereinigung der Dämonen ist allerdings zuversichtlich, dass der schlecht geplante Angriff den Sicherheitskräften nicht viel entgegenzusetzen hat. Mutilationstrupps wurden bereits an den Schauplatz nektoportiert und drängen die Rebellenarmee kraftvoll zurück.«
Eine weitere Einspielung zeigte einen größeren Ausschnitt aus dem Kampfgetümmel; unzählige Rebellenkämpfer mähten Schergen und Golems nieder wie Unkraut. Auf Cassie machte das alles überhaupt nicht den Eindruck, als ob die Mutilationstrupps irgendjemanden zurückdrängen würden.
»Alles nur beschissene Propaganda«, kicherte Via. »Die Mutilationstrupps kriegen den Arsch versohlt. Das ist super!«
Die Nachrichtensprecherin schluckte, als ob sie Vias Worte gehört hätte. »Äh, und, äh, zwischenzeitlich wird die Suche nach der Tochter des Äthers Cassie Heydon fortgesetzt.« Kurz wurde Cassies Phantombild eingeblendet. »Sie weigert sich noch immer, mit der Polizei zu kooperieren. Inzwischen ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der großmütige Folterkommissar keine andere Wahl hat, als die Zwillingsschwester des Ätherkinds zu ewiger Tortur zu verurteilen.«
Cassies Herz verkrampfte sich bei den folgenden Bildern: Lissa, an den Handgelenken über dem Fass mit Klingenegeln hängend.
»Zu allem Übel«, fuhr die Sprecherin fort, »konnte sich der menschliche XB – ein Langzeit-Flüchtling – dem Gewahrsam entziehen, nachdem er fünf Gefängnisbeamte brutal ermordete.«
Xekes Phantombild erschien auf dem Fernseher.
»Die Belohnung für diesen Verbrecher wurde verdoppelt. Er ist ein mutmaßlicher Komplize des Ätherkinds und ihrer Anhänger.«
»Totaler Blödsinn«, flüsterte Via.
»Für die neu zugeschalteten Zuschauer: Ein Krieg ist in der Hölle ausgebrochen. Bleiben Sie dran, in Kürze weitere Informationen.«
»Jetzt geht’s richtig rund«, stellte Via zufrieden fest. Sie legte den Arm um Cassies und grinste. »Wie fühlt man sich, wenn man so berühmt ist?«
Zum Abschluss wurden noch mehr Bilder von schwarzen Rittern gezeigt, die Horden von Schergen in den brennenden Straßen abschlachteten. Ein Ritter, dessen Rüstung über und über mit Dämonenblut bespritzt war, trat direkt vor die Kamera und hielt ein Schild hoch:
TOCHTER DES ÄTHERS! SCHLIESS DICH UNS AN – GEMEINSAM WERDEN WIR SIEGEN!
Inferno
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