Epilog: Das letzte Geheimnis
Tokyo, 14. Oktober 1872
»Heute muss alles vollkommen sein«, sagte Taki,
zog die Schubladen des Kosmetikkästchen auf und breitete Pinsel,
Pinzetten, Kämme und Schminktöpfchen auf einem Seidenstück am Boden
aus. Der Kasten war eines der wenigen Dinge, die Sachi aus dem
Palast hatte mitnehmen können. Selbst der Griff des schmalsten
Pinsels war feinste Lackarbeit, gekennzeichnet mit einem winzigen
Tokugawa-Wappen in Gold.
Mit raschelnden Kimonoröcken schlüpfte Taki aus
dem Raum und kehrte mit einem kleinen Eisenkessel zurück, in dem
sich die Flüssigkeit zum Zähnefärben befand. Der bittere Geruch von
Eisen, Sake und Sumachblattgalle zog durch den Raum. Sie kniete
sich vor Sachi.
Sachi betrachtete Takis dünnes bleiches Gesicht,
ihre großen, leicht erschreckt blickenden Augen und das spitze
Kinn. Taki war nach wie vor so knochig und reizbar wie immer, eine
Samurai durch und durch. Manchmal, wenn sie dachte, Sachi sei nicht
in der Nähe, verschwand der gleichmütige Ausdruck, um den sie sich
so sehr bemühte. Sachi vermutete, dass Taki dann an Toranosuké
dachte.
Weder er noch Tatsuemon waren je zurückgekehrt.
In diesem
Jahr war eine Amnestie erlassen worden, und man hatte all die
unbeugsamen Krieger des Nordens begnadigt. Selbst Admiral Enomoto,
der mit der Tokugawa-Flotte nach Norden geflohen war, hatte
inzwischen einen wichtigen Posten bei der Regierung inne. Falls
Toranosuké und Tatsuemon wieder auftauchen würden, dann sicherlich
jetzt. Aber niemand wusste, was mit ihnen geschehen war. Vielleicht
waren sie in Ezo geblieben, vielleicht nach Kano zurückgekehrt oder
möglicherweise umgekommen. Sachi wusste, dass viele Männer nie aus
dem Krieg zurückkehrten und niemand je erfuhr, was aus ihnen
geworden war.
Sie wusste auch, dass Shinzaemon entschlossen
war, es herauszufinden. Er würde nicht für immer als Bürokrat in
Tokyo bleiben. Bald würde er wieder auf der Suche nach Abenteuern
losziehen. Sie würde nie versuchen, seinen feurigen Geist zu
ersticken.
Denn trotz allem waren sie immer noch zusammen.
Manchmal blickte Sachi über die Jahre zurück und dachte, wie sehr
das Glück sie begünstigt hatte.
Nach Harus Tod waren sie direkt nach Tokyo
zurückgekehrt. Die Residenzen der besiegten Daimyo waren alle in
Regierungsministerien oder Unterkünfte für führende Politiker
umgewandelt worden, und kurz nach ihrer Rückkehr wurde Daisuké das
Anwesen der Mizuno zugesprochen. Sie begruben Haru neben Sachis
Mutter, unter dem großen Pflaumenbaum.
Dem alten Mann, der sie auf den Berg geführt
hatte, überließen sie es, Herrn Mizuno zu bestatten und die
Grabungen auf dem Moor fortzuführen; er schien davon überzeugt,
dort Gold finden zu können. Edwards schien ebenfalls fasziniert zu
sein vom Tokugawa-Gold und blieb noch ein paar Tage länger auf dem
Berg, nachdem sich Sachi, Daisuké und die anderen auf den Rückweg
gemacht hatten. Doch es war nicht das Gold,
das ihn interessierte; offensichtlich hatte er endlich begriffen,
dass Shinzaemon für Sachi viel mehr war als nur ein Freund oder
Bruder, und dass Edwards keine Chance auf eine Liaison mit ihr
hatte, ganz zu schweigen von einer Heirat. Sachi war froh. Sie
wusste sehr genau, für wen ihr Herz schlug, für wen es immer
geschlagen hatte seit dem Tag, als sie aus dem Palast geflohen und
Shinzaemon zum ersten Mal begegnet war.
Aber sie wusste ebenfalls, dass sie als Frau kein
Mitspracherecht bei dem hatte, was in ihrem Leben geschah, ganz
gleich, wie ihre persönlichen Gefühle aussahen. Eine neue Regierung
hatte sich konstituiert, und neue Gesetze waren erlassen worden,
doch das brachte keine Veränderung für etwas so Fundamentales wie
dies. Es war offensichtlich, dass Daisuké einen Erben brauchte,
einen Sohn adoptieren musste. Sachi hatte befürchtet, dass er,
sobald sie sich niedergelassen hatten, die Dienste eines
Vermittlers in Anspruch nehmen würde, um auf die übliche Weise
Treffen mit möglichen Kandidaten für sie in die Wege zu leiten. Es
gab viele ehrgeizige junge Männer, die auf der Seite des Südens
gekämpft hatten und begierig darauf sein würden, als ihr Ehemann
und Nachfolger ihres Vaters aufgenommen zu werden.
Eines Tages, nicht lange nach Harus Beerdigung,
saß Sachi mit ihrem Vater in der großen Halle. Daisuké rauchte in
aller Ruhe seine Pfeife. Er schaute sie unter seinen buschigen
Augenbrauen heraus an und sagte plötzlich: »Meine liebe Tochter,
ich habe mich nicht auf die Suche nach dir begeben, um dich
unglücklich zu machen.« Es war, als hätte er ihre Gedanken
gelesen.
»Deine Mutter hat mich gewählt, und ich habe sie
gewählt«, fuhr er fort. »Ich habe nicht vor, dich zu zwingen,
jemanden zu heiraten, für den du nichts empfindest. Für mich ist es
offensichtlich, dass du etwas für Shinzaemon empfindest,
und er für dich. Der Krieg ist vorbei, er ist ein brillanter
junger Mann, und ich verdanke ihm mein Leben. Wenn ich Recht damit
habe, würde es mich glücklich machen, ihn als adoptierten Sohn
anzunehmen.«
Kurz darauf heirateten sie. Sachi lächelte, als
sie sich an den Tag ihrer Hochzeit erinnerte. Man hatte sie in
wunderschöne Gewänder gekleidet und in einem Hochzeitspalankin
durch die Straßen getragen, umgeben von Brautjungfern, denen
Vasallen mit Laternen, Kästen und einem Speer vorausgingen; dann
hatten die eine Woche dauernden Feierlichkeiten begonnen. Daisuké
hatte darauf bestanden, Palankine für Jiroemon, Otama, Yuki und die
Kinder aus dem Dorf im Kiso-Tal zu schicken, und Shinzaemons
Verwandte aus Kano waren ebenfalls zu dem Fest gekommen. Sein
strenger Vater und die Mutter mit dem lieben Gesicht schienen
begeistert von der Verbindung zu Daisuké zu sein, einem
einflussreichen Mitglied der neuen Regierung, und erleichtert, dass
ihr rebellischer zweiter Sohn es schließlich zu Ansehen gebracht
hatte. Shinzaemon hatte Daisukés Familiennamen angenommen, und er
und Sachi hatten sich in ihrem neuen, gemeinsamen Leben
eingerichtet.
Taki runzelte vor Konzentration die Stirn. Die
beiden Frauen genossen dieses tägliche Ritual, bei dem sie alles
andere vergessen und sich dieser kleinen, aber wichtigen Aufgabe
widmen konnten. Als Erstes zupfte sie Sachis Augenbrauen. Danach
schwärzte sie ihr die Zähne, trug die Schminke auf, bemalte ihr
Gesicht weiß und tupfte die wie Mottenflügel wirkenden schwarzen
Flecken hoch auf die Stirn. Dann kämmte sie ihr immer und immer
wieder das schwarze Haar, bis es glänzte. Es fiel Sachi in einer
üppigen Mähne über den Rücken. Taki strich es zurück, nicht in dem
üblichen gesetzten
Marumaga-Stil, sondern zu einem langen Schweif, hier und dort
locker mit Bändern gebunden, wie sie es früher im Palast getragen
hatte. Schließlich schminkte sie ihr die Lippen rot.
An der Tür war ein Scharren zu hören, und der
kleine Daisuké tappte herein. Er kletterte auf Sachis Schoß und
schlang ihr die Arme um den Hals.
»Ich auch! Ich komme auch mit!«, schrie er.
»Heute nicht, Daisuké«, lachte Sachi und drückte
ihn an sich. Er stöberte zwischen den Pinseln und Kämmen und
Schminktiegeln herum. Dass er einmal so gut aussehen würde wie sein
Großvater, war bereits zu erkennen. Das gleiche breite, offene
Gesicht, die gleichen großen schwarzen Augen. Er besaß die gleiche
Neugier, die gleiche Tatkraft und Entschlossenheit.
Taki hatte einige der formellen Gewänder
bereitgelegt, die Sachi als Teil der Gefolgschaft der Prinzessin
getragen hatte. Das war Jahre her. Taki half ihr in eines der
schweren Gewänder nach dem anderen und ordnete die
verschiedenfarbigen Lagen so, dass sie an Hals und Ärmelaufschlägen
perfekt ausgerichtet waren. Dann reichte sie ihr den zeremoniellen
Fächer.
Sachi betrachtete sich im Spiegel. Ein Schauder
lief ihr über den Rücken. Sie sah eine Frau, gekleidet in die
archaischen Gewänder der Konkubine eines Shogun - eine Frau mit
einem bleichen, ovalen Gesicht, weit auseinanderstehenden Augen,
leicht schräg an den Ecken, einem kleinen Mund mit vollen Lippen
und einer aristokratisch gebogenen Nase. Es war lange her, seit sie
in den Spiegel geschaut und nicht sich, sondern ihre Mutter gesehen
hatte. Sie war jetzt ebenfalls zwanzig, fiel ihr ein, im selben
Alter wie Okoto gewesen war, als sie Sachis Vater
kennenlernte.
Ihr Spiegelbild schimmerte zurück. Sie war sich
nicht sicher,
wen sie da vor sich sah, ob es die im Ruhestand lebende Dame
Shoko-in war, die verwitwete Konkubine Seiner verstorbenen
Majestät, des vierzehnten Shogun, oder die Dame Okoto, Konkubine
des zwölften Shogun, Herrn Ieyoshi. Sie hatte geglaubt, die
Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben, aber sie erwachte nur
allzu leicht wieder zum Leben. Sachi musste nur diese Gewänder
anziehen.
»Shinzaemon wird mich nicht erkennen«, murmelte
sie besorgt. Sie hatte ihm nie von ihrem Leben im Frauenpalast
erzählt. Alle Frauen hatten bei Todesstrafe schwören müssen, nie
etwas über ihr Leben dort preiszugeben. Das war Teil jener alten
Welt der Schatten und Finsternis, in der jeder jeden verdächtigte
und alle ihre Geheimnisse hatten. Shinzaemon kannte diese Welt auch
und respektierte sie und hatte Sachi nie zu ihrer Vergangenheit
befragt. Aber heute würde er der Prinzessin begegnen. Heute würde
sich die Tür einen Spalt breit öffnen. Sachi überlegte, was er
empfinden und ob es seine Gefühle für sie ändern würde.
Shinzaemon wartete mit Daisuké am Eingang.
Shinzaemons breites Gesicht mit den wohlgeformten Wangenknochen und
den schrägen Katzenaugen war so dramatisch wie immer, aber der
Blick ungezähmter, kriegerischer Wildheit war einer intelligenten
Entschlossenheit gewichen. Es beruhigte Sachi, ihn zu sehen. Er
lebte nicht in einer Geisterwelt, lebte nicht in der Vergangenheit.
Er hatte sich die Gegenwart rückhaltlos zu eigen gemacht.
Er war formell gekleidet in gestärkte
Hakama-Hosen und einer Haori-Jacke, kombiniert mit europäischen
Stiefeln, einer Melone und einem Schirm westlicher Art. Mit seinem
kurzen Haarschnitt im Jangiri-Stil war er das Abbild eines modernen
jungen Mannes. Es gab ein Liedchen, das die Leute summten: »Klopf
an einen Kopf mit einem Haarknoten, und du hörst das
Geräusch der Vergangenheit; klopf an einen Jangiri-Kopf, und die
Worte ›Zivilisation und Aufklärung‹ purzeln heraus.« Dieser Tage
redeten alle von »Zivilisation und Aufklärung«. Sachi war sich
nicht ganz sicher, was diese Redewendung bedeutete. Aber was auch
immer sie bedeuten mochte, Shinzaemon war jedenfalls deren
vollkommene Verkörperung.
Daisuké war ebenfalls modern gekleidet. Er war
ein wenig in den Hintergrund getreten, hatte Shinzaemon gestattet,
einige seiner Regierungsverpflichtungen zu übernehmen. Er war ein
bisschen grauer um die Schläfen geworden, doch er war immer noch
der stattliche, gut aussehende Mann, für den die Dame Okoto alles
aufs Spiel gesetzt hatte.
Sachi merkte, dass die beiden sie und Taki
musterten, als sie in ihren formellen Hofgewändern auf sie zukamen,
mit sehr langsamen Bewegungen, in ihren weit geschnittenen,
raschelnden Hosen, um die sich die gesteppten Kimonosäume
bauschten. Sie wusste, das Shinzaemon sie nie zuvor in ihren
Prachtgewändern gesehen hatte; sie hatte sie niemals außerhalb des
Palastes getragen. Er sagte nichts, nickte nur.
Daisuké war bleich geworden. Er betrachtete sie
mit diesem gehetzten Blick, den sie nicht mehr gesehen hatte, seit
sie vom Berg zurückgekehrt waren. Sie erkannte, dass sie genauso
gekleidet war, wie es ihre Mutter gewesen sein musste, als sie sich
zu ihrem Stelldichein im Tempel trafen. Es war, als wäre die Dame
Okoto aus dem Grab gestiegen. Bevor sie sich aufmachten, gingen sie
über das Grundstück zu den Gräbern ihrer Mutter und Harus. Sachi
steckte frische Blumen in die Vasen und murmelte ein Sutra. Sie
gedachte ihrer mit Tränen in den Augen. Es war gut, auf dem
Mizuno-Anwesen zu leben, wo ihre Mutter vor dem Eintritt in den
Palastdienst gewohnt hatte. Daisuké hatte eine gute Entscheidung
getroffen, als er um das Haus gebeten hatte; hier fühlten sie sich
alle wohl.
Shinzaemon und Daisuké bestiegen eine Kutsche,
gefolgt von Sachi und Taki in einer weiteren. Der alte Wächter
stand am Tor und verbeugte sich, als sie hindurchfuhren. Der
Anblick seines freundlichen, wettergegerbten Gesichtes, sein
breites Grinsen und die O-Beine brachten Sachi immer zum Lächeln.
Er war wie eine Verbindung zur Vergangenheit. Er hatte sich im
Palast und in der Shimizu-Residenz um sie gekümmert. Als man die
Familie Shimizu gezwungen hatte, ihre Residenz zu räumen, hatte
Sachi den Alten mit in ihr neues Heim genommen. Jetzt kümmerte er
sich hier um sie, obwohl er so alt und gebrechlich war, dass in
Wirklichkeit sie sich um ihn kümmerten.
Überall waren Rikschas zu sehen:
Jin-riki-sha, »Menschenkraftwagen«. Sie schienen über Nacht
wie Pilze aus dem Boden geschossen zu sein. Jetzt ratterten und
klapperten sie durch die Straßen, gezogen von dürren tätowierten
Burschen, die mit fliegenden Füßen rannten und lauthals brüllten
und die Leute warnten, aus dem Weg zu gehen. Sachi fiel ein, wie
aufgeregt sie gewesen war, als sie zum ersten Mal in Edwards’
Kutsche fuhr. Heutzutage sauste sie ständig in diesem
halsbrecherischen Tempo herum. Die Straßen waren voll von
Fahrzeugen - Kutschen, von Pferden gezogenen Omnibussen,
zweirädrigen Rikschas, vierrädrigen Rikschas. Wegen des Verkehrs,
der in alle Richtungen brauste, kam man kaum mehr voran, was,
dachte Sachi, sicherlich ein Zeichen von Zivilisation und
Aufklärung war. Ein weiteres waren die Ausländer, die in Massen
aufgetaucht waren und geschäftig das Gesicht der Stadt veränderten.
Sie hatten bereits ein hohes Gebäude mit blinkendem Licht am Hafen
errichtet, »Leuchtturm« genannt, und einen Telegraphen installiert,
genau wie Edwards es vorausgesagt hatte, als er ihnen von den
»magischen Nachrichten« erzählte.
Daisuké schaute sich strahlend um. Er hatte das
alles kommen
sehen. Es begeisterte ihn, an vorderster Front der Veränderung zu
stehen, dabei mitzuhelfen, ein neues Japan zu entwerfen und
aufzubauen. Sachi war sehr stolz auf ihren Vater.
Menschenmengen waren in dieselbe Richtung
unterwegs wie Sachi, Daisuké und ihre Begleiter. Alle waren
prächtig gekleidet, genau wie vor einigen Jahren, als sie zu dem
grandiosen Einzug des Kaisers nach Tokyo zusammengeströmt waren.
Damals waren alle nervös und ablehnend gewesen, als hätten sie
keine Ahnung, was die Zukunft für sie bereithielt, und wären
verärgert darüber, dass ihnen diese neue Regierung aufgezwungen
wurde. Sie hatten nur die sich schließenden Tore gesehen,
Kennzeichen für das Ende einer Epoche. Ihnen war nie aufgegangen,
dass sich diese Tore zu einer ganz neuen Welt öffnen könnten, einer
so anderen, wie sie es sich nie hätten vorstellen können.
Jetzt war die Menge fröhlich und festlich
gestimmt. Die Frauen kleideten sich, wie sie es immer getan hatten,
doch die Männer trugen stolz europäische Stiefel oder Hüte oder
Mäntel zur Schau, wie auch ihre üblichen Gewänder, und es gab viele
Jangiri-Haarschnitte zwischen den altmodisch rasierten
Schädeldecken. Sachi überlegte, ob Fuyu wohl irgendwo unter diesen
Menschen war. Sie hatte sie nicht wiedergesehen, seit sie zusammen
dem Einzug des Kaisers in die Burg beigewohnt hatten. Die
Palastfrauen - die ganzen dreitausend - schienen einfach
verschwunden zu sein.
Alle bewegten sich auf die wundervoll glänzenden,
neuen Gebäude im westlichen Stil zu, die Daisuké so gut gefielen.
Tatsächlich waren es zwei Gebäude aus weißem Stein, ähnlich der
Zwillingswachtürme einer Burg, draußen und drinnen mit Fahnen und
bunten Laternen geschmückt wie für ein Fest. Beamte begleiteten
Daisuké, Shinzaemon, Sachi und Taki nach
drinnen. Sachi schaute sich in dem weiträumigen, luftigen Gebäude
um und fühlte sich eingeschüchtert. Am anderen Ende befand sich
eine Art Laufsteg, ähnlich den überdachten Arkaden, die im Palast
von einem Gebäude zum anderen führten, oder einer riesigen Version
der Hanamichi, der »Blumenstraße«, auf der die Schauspieler im
Kabuki-Theater durch das Publikum schritten. Der Steg führte mitten
durch eine vollkommen ebene, vollkommen glatte Bodenfläche.
Und dort, im offenen Gelände auf der glatten
Eisenstraße, auf der es fahren würde, stand ein massives
Eisenungeheuer. Als Sachi es erblickte, musste sie Tränen
wegblinzeln bei dem Gedanken, wie stolz und entzückt Haru gewesen
wäre, wenn sie es hätte sehen können. Es war riesig und schwarz,
genauso wie Haru es vor all den Jahren beschrieben hatte. Es ragte
über ihnen auf, warf einen gewaltigen Schatten, wie nichts, was sie
je zuvor gesehen hatten, stieß Dampf aus und machte eine Menge
Krach.
Sie gingen daran entlang, betrachteten die
enormen Räder und die großen Stangen, die sie verbanden, traten
dann zurück und blickten hinauf zu dem mächtigen Schornstein.
Zaghaft stiegen sie die Stufen zu einer der riesigen Kisten hinauf,
in denen die Leute reisen würden, und spähten hinein. Sachi war nie
in den Sinn gekommen, dass etwas so groß sein könnte. Das Innere
war wie eine kleine Stadt, wie eine ganze Häuserzeile. Von Zeit zu
Zeit ertönte ein lautes Kreischen, und Rauch stieg aus dem
Schornstein auf.
Die versammelten Würdenträger waren fast
ausschließlich Männer. Nur Frauen von Rang, mit besonderer
Beziehung zum Kaiser, waren eingeladen worden. Die meisten der
Würdenträger waren Ausländer.
Edwards kam herüber, um sie zu begrüßen. Seit
ihrer unglückseligen Reise auf den Berg war er ernster geworden und
nicht mehr so sorglos und jungenhaft wie früher. Sein Haar
schimmerte nicht mehr wie Gold, sein Gesicht hatte Falten bekommen,
und seine Augen waren ein wenig blasser, obgleich sie immer noch
die Farbe des Himmels an einem schönen Sommertag hatten. Sie
lächelten und verbeugten sich. Edwards erkundigte sich nach Sachis
Sohn, dem kleinen Daisuké, und Sachi fragte nach Doktor Willis.
Eine Weile schwelgten sie in Erinnerungen.
»Hat man denn jemals das Tokugawa-Gold
gefunden?«, fragte Edwards. Nach all den Jahren war es das erste
Mal, dass jemand diese quälende Erinnerung erwähnte.
»Ich glaube, wir hätten davon gehört, wenn man es
entdeckt hätte. Vermutlich gräbt der alte Mann aus Herrn Oguris
Dorf immer noch dort oben«, erwiderte Daisuké. Er lächelte
traurig.
»Anscheinend hatten Herr Oguri und Herr Mizuno
sich darüber gestritten«, sagte Edwards. »Jemand im Dorf hörte
laute Stimmen. So sind die Gerüchte über das Gold entstanden. Der
alte Mann glaubt, Herr Oguri hätte Herrn Mizuno hintergangen. Er
fand einen Vorwand, ihn wegzuschicken, und hat das Gold versteckt,
bevor Mizuno zurückkam. Der alte Mann ist davon überzeugt, dass
Herr Mizuno eine Ahnung gehabt haben muss, wo es vergraben war. Das
Problem ist nur, dass es im Frühjahr vergraben wurde und im Sommer
bereits alles wieder zugewachsen war. Es muss irgendwo da oben auf
dem Moor sein. Allerdings kann man dort keine Stelle von der
anderen unterscheiden. Das Gras erstreckt sich über die gesamte
Ebene.«
Sachi erschauderte bei der Erinnerung an die
Grube. Wehmütig dachte sie an Haru. Sie war die Bewahrerin ihrer
gemeinsamen Geschichte gewesen, bereits vor Sachis Geburt mit ihren
Schicksalen verwoben, seit sie zusammen mit Sachis
Mutter aufgewachsen war. Sie hatte ihr Geheimnis gehütet, bis sie
es nicht länger für sich behalten konnte. Und schließlich hatte es
sie von Angesicht zu Angesicht mit Herrn Mizuno zusammengeführt.
Sachi trauerte nach wie vor um Haru.
Doch sie verstand ebenfalls, dass ihr Onkel, Herr
Mizuno, hatte tun müssen, was er getan hatte. So war es in der
alten Zeit immer gewesen. Alle hatten gewusst, was sie zu tun
hatten, um jeden Preis, ohne darüber nachzudenken, ob sie es tun
wollten oder ob es überhaupt das Richtige sei. Sie hatten es
einfach getan. Sie hatten ihre Pflicht erfüllt.
Das war es, was Shinzaemon und Daisuké anders
machten, und Sachi auch. Sie dachten eigenständig.
Sachi blickte sich um. Auf der anderen Seite der
Menge, abgesondert von allen anderen, stand eine Gruppe von Frauen.
Sie waren wie Sachi und Taki gekleidet, wie Damen des Hofes.
Plötzlich nahm Sachi das metallische Kreischen der Pfeife oder das
mechanische Schnaufen und Pusten der großen Maschine nicht mehr
wahr. In der Mitte der Gruppe befand sich eine zierliche Frau, das
glänzende Haar kurz geschnitten wie das einer Witwe oder Nonne. Sie
stand so still, dass niemand sie bemerkt hätte. Sie hielt den Blick
zu Boden gesenkt, als hätte sie sich so tief in sich selbst
zurückgezogen, dass es schmerzhaft war, wieder hervorzukommen.
Unter all den vielen Menschen sah Sachi nur noch das bleiche
Gesicht mit den großen, vergeistigten Augen. In diesem Moment war
sie ganz erfüllt von dieser besonderen Zuneigung, die sie stets für
die Prinzessin empfunden hatte.
Ein freundliches Lächeln glitt über Kazus
Gesicht, als sie Sachi erblickte.
»Kind«, sagte sie. »Die im Ruhestand lebende Dame
Shoko-in. Es ist so lange her. Du bist wie eine Blume
erblüht!«
Auch Taki wurde voller Freude begrüßt.
»Ich verbringe die meiste Zeit im Gebet und der
Kontemplation«, antwortete sie, als die beiden sich erkundigten,
wie es ihr ginge. »Aber mein Neffe, der Kaiser, bat mich, ihn
dieses eine Mal zu begleiten. Seine Hoheit ist sehr freundlich zu
mir gewesen. Er hat mich viele Male gebeten, nach Kyoto
zurückzukehren, und ich habe ihn einmal dort besucht. Doch nachdem
Seine Hoheit seinen Hof nach Tokyo verlegt hat, bin ich hierher
zurückgekehrt. Mein Leben ist sehr ruhig. Die Familie Shimizu sorgt
nach wie vor für mich, und ich schreibe Gedichte und lasse meine
Gedanken schweifen. Es ist ein gutes Leben.«
Sachi war ganz von der strahlenden Anwesenheit
der Prinzessin in Bann geschlagen. Wie sie hier in ihren
Hofgewändern stand, war es, als wäre die Zeit stehengeblieben, als
befänden sie sich immer noch im Palast.
»Und Haru?«, fragte die Prinzessin plötzlich,
blickte sich um. Als Sachi ihr berichtete, dass Haru gestorben war,
schwieg die Prinzessin lange Zeit, den Kopf gebeugt und die Hand
vor den Augen.
Plötzlich merkte Sachi, dass Shinzaemon sie mit
seinen durchdringenden Augen beobachtete, und sie wurde von Furcht
ergriffen. Was würde die Prinzessin denken, wenn sie herausfand,
dass Sachi eine Verbindung mit einem anderen Mann eingegangen war,
statt den Rest ihres Lebens damit zu verbringen, sich dem Andenken
des Shogun zu widmen, wie die Prinzessin es getan hatte? Würde sie
nicht davon ausgehen, dass Sachi - wenn auch nur durch die Ehre -
an den Tokugawa-Clan gebunden war?
Zitternd stellte Sachi Shinzaemon vor. »Mein
Ehemann«, sagte sie. »Er hat bis zum Letzten treu für die Tokugawa
gekämpft.«
Die Prinzessin schien nicht zu zögern.
»Willkommen«, sagte sie. »Ich bin sehr glücklich,
Sie kennenzulernen. Die Dame Shoko-in ist mir viele Jahre lang eine
hingebungsvolle Freundin und Schwester gewesen. Das ist ein Band,
das nie zerstört werden kann - ich als die Ehefrau, sie als die
Konkubine des Shogun. Wären die Dinge anders verlaufen, dann wäre
sie eine der bedeutendsten Damen des Landes geworden. Wir sind für
immer mit den Tokugawa verbunden. Wir mögen zwar Relikte eines
vergangenen Zeitalters sein, doch wir sind auch Überlebende. Wir
haben alle einen Platz für uns in dieser neuen Welt gefunden. Ich
gebe Ihnen gern meinen Segen für diese Verbindung.« Die Prinzessin
neigte ihren Kopf formell vor Shinzaemon.
Das war das letzte Geheimnis. Nun wusste
Shinzaemon, dass Sachi nicht nur eine Hofdame, sondern die letzte
Konkubine des Shogun gewesen war. Der letzte Schleier zwischen
ihnen hatte sich gehoben. In der alten Zeit hätten er, ein Ronin
aus Kano, und sie, die Konkubine des Shogun, nie zusammenkommen
können. Ihnen war das gelungen, was Sachis Eltern versagt geblieben
war, und sie hatten es geschafft, das Leben zu ergreifen, das sie
führen wollten.
Zu Sachis Erleichterung nickte Shinzaemon nur
schweigend. Er schaute sie an und lächelte. In seinen Augen
erkannte sie Stolz, Bewunderung und Zuneigung. Nein, mehr als das.
Da war dieses Wort, dass Edwards ihr vor all den Jahren beigebracht
hatte, als er im Garten ihre Hand ergriff. Es ist nicht Zuneigung,
wie ein Mann sie für seine Eltern empfindet, hatte er gesagt, oder
Respekt, wie ihn ein Mann für seine Frau empfindet, oder auch nur
Begierde, wie ein Mann sie für eine Kurtisane empfindet, sondern
eher wie das alles zusammen. Sie erinnerte sich an die seltsamen,
fremdländischen Silben: Ri-bu - Liebe. Es war das einzige
Wort, um all das auszudrücken. In seinen Augen sah sie Liebe.
Ein junger Mann war in einer offenen Kutsche
vorgefahren, umgeben von einer gewaltigen Eskorte. Sachi war von
Ehrfurcht erfüllt. Ihr war durchaus bewusst, dass es sich um
dieselbe Person handelte, die in dem Phönix-Palankin gesessen hatte
und inmitten der prächtigen Prozession in die Burg eingezogen war.
Damals hatten sie geglaubt, sterben zu müssen, wenn sie ihn auch
nur anschauten. Furchtsam blickte Sachi kurz auf. Er trug die
scharlachroten Hosen des Hofes, weiße Gewänder, europäische Stiefel
und war sehr jung - im gleichen Alter wie Seine Majestät der Shogun
gewesen war, als Sachi ihn kennenlernte. Rasch senkte sie den
Blick.
Die Prinzessin trat vor. Die beiden wechselten
ein paar Worte, dann winkte sie Sachi zu sich. Ein
außerordentlicher Duft, wie Sachi ihn noch nie gerochen hatte,
umwehte den jungen Mann - das legendäre kaiserliche Parfüm.
»Die im Ruhestand lebende Dame Shoko-in, einzige
Konkubine Seiner verstorbenen Majestät, Herrn Iemochi«, so stellte
die Prinzessin sie vor. »Sie war mir eine hingebungsvolle Freundin
und Schwester, mein Trost für viele Jahre.«
Sachi verneigte sich tief.
»Ah, Herr Iemochi«, sagte der Kaiser. Er hatte
eine jugendliche, piepsige Stimme und sprach in einer besonderen
Sprache, die nur der Kaiser benutzte. »Ich erinnere mich gut an
ihn«, sagte er. »Ein äußerst freundlicher Mann. Wie tragisch, dass
er so jung sterben musste. Mein Vater mochte ihn sehr gern. Wir
hatten so viele Verluste, so viele Tragödien. Es ist gut, dass wir
nun gemeinsam vorangehen. Ich bin sehr froh, Sie kennengelernt zu
haben, meine Dame.«
Dann entfernte sich der Kaiser. Er hielt eine
Rede, während Dampf aus der Maschine quoll, und bestieg danach mit
einigen Würdenträgern den Zug. Sachi, Shinzaemon, Daisuké und Taki
beobachteten, wie auch die Prinzessin in das Innere
verschwand.
Die Pfeife kreischte, die gewaltigen Räder begannen sich zu drehen,
zuerst langsam, dann immer schneller. Der Zug ratterte davon und
verschwand in der Ferne.