11
Vor der Morgenröte

I
Sachi war wieder in der Shimizu-Residenz. Sie war
fest entschlossen gewesen, für immer fortzugehen, hatte aber
schließlich nicht gewusst, wohin sie sich wenden sollte. Nun wälzte
sie sich ruhelos auf dem Futon. Die Hitze war unerträglich. Wieder
und wieder rutschte ihr Kopf von der hölzernen Nackenstütze. Sie
schob sie weg und legte sich flach auf das Bettzeug.
In Gedanken stolperte sie wieder durch das Schwarze
Tor. Ihre Füße streiften das gummiartige Fleisch der Gefallenen,
und in ihrem Mund war der faulige Geschmack des Todes. Bilder von
grausam entstellten Leichen und von Hunden, denen Hände aus dem
Maul baumelten, tauchten vor ihren Augen auf.
So viele Männer, Hunderte und Aberhunderte, der
Verwesung preisgegeben. Sie war so damit beschäftigt gewesen,
Shinzaemon zu suchen, dass sie kaum an all die anderen gedacht
hatte - all diese zerfetzten Körper, und die Gesichter, in die sie
geschaut hatte und die nicht seines gewesen waren. Sie alle mussten
Frauen, Geliebte, Kinder, Eltern gehabt haben. Sie alle mussten
todesmutig Lebewohl gesagt haben, als sie mit ihren Kameraden
davonzogen, begierig auf Ruhm und Ehre.
Die Frauen mussten gebetet und gehofft haben, ihre
Männer wiederzusehen, trotz allem. Viele beteten und hofften immer
noch. Einige hatte Sachi da draußen auf dem Hügel suchen sehen.
Aber die meisten würden nie erfahren, was geschehen war. Krähen
oder wilde Hunde würden sich über die Männer hermachen, bis sie
verwesten.
Und für was? Um gegenüber ihrem Herrn, dem Shogun,
ihre Pflicht zu erfüllen und den barbarischen Clans aus dem Süden,
die das Land überrannten, Einhalt zu gebieten. Der Krieg war noch
nicht zu Ende. Es würde weitere Kämpfe geben, sagte sich Sachi,
weitere Schlachtfelder, genauso grausig oder schlimmer. Und doch …
So tapfer gekämpft zu haben und nun nicht bestattet werden zu
können. Nach diesem Anblick fiel es schwer, sich den Tod weiter als
ehrenhaft und glorreich vorzustellen. Er war nichts anderes als ein
großes Gemetzel und eine schreckliche Vergeudung.
Und Genzaburo … So jung und, trotz seines
unzähmbaren Hangs zu Übermut und Unfug, so unschuldig. Er war dem
Shogun nicht bis aufs Äußerste ergeben, und doch war er dort auf
dem Hügel gewesen. Wo immer es Gefahr oder Abenteuer zu bestehen
gab, war er dabei gewesen.
Sie erinnerte sich an den wehmütigen Blick, mit dem
er sie vor ein paar Monaten bei ihrer Wiederbegegnung im Dorf
betrachtet hatte. Er war so lebendig gewesen; nun kam es ihr vor,
als sei ihre Kindheit mit ihm gestorben. Nach all den gemeinsamen
Jahren hatte sie nichts für ihn tun können, war nicht mal in der
Lage gewesen, ihn zu bestatten. Im Geiste sagte sie
ihm Lebewohl. Es war, als sei ein Kapitel ihres Lebens
unwiederbringlich zu Ende.
Als sie endlich einschlief, sah sie nicht
Genzaburo, sondern Shinzaemon ausgestreckt zwischen den Toten.
Seine Augen waren weit geöffnet und starrten sie an. Er streckte
die Hand aus, aber sie glitt vorbei wie ein Geist. Sie hörte das
Brüllen eines starken Windes, sah die Geister der toten Krieger,
die wie eine Rauchsäule aufstiegen und über dem Hügel schwebten.
Sie hörte ihr Wehklagen, spürte ihren kalten Atem. Mit einem Ruck
wurde sie wach, zitterte vor Entsetzen, war schweißgebadet.
Aus dem nächsten Raum ertönte das Geräusch einer
Glocke. Licht schimmerte durch den Spalt zwischen den Türen. Haru
war die ganze Nacht wach geblieben. Sie skandierte Sutras, betete
zu den Buddhas für die Seelen der Toten. Dann rief sie Amida Buddha
an, Tatsu zu retten.
Sachi kniete sich hin, zündete eine Kerze an und
betete ebenfalls. Zuerst betete sie für Genzaburo, auf dass sein
Geist Frieden fände, dann auch für Shinzaemon und Toranosuké, um
deren Schutz, wo immer sie sein mochten. Dann rieb sie fest an
ihren Gebetsperlen und flüsterte: »Verehrte Götter, verehrte
Vorfahren, verehrter Amida Buddha: Lasst Tasu bei uns, schickt ihn
nicht fort, um sich den toten Kriegern anzuschließen. Er ist so
jung. Sein Leben hat gerade erst begonnen.« Sie schämte sich, so zu
denken, aber sie konnte nicht anders: Wenn er überlebte, könnte er
ihr vielleicht berichten, wo sich Shinzaemon befand, ober lebte
oder tot war.
»Sie sind nach Norden gezogen«, hatte der Priester
gesagt. »Viele sind nach Norden gezogen.« Bestimmt war Shinzaemon
unter ihnen. Er würde eines Tages zurückkehren, in der großen
Eingangshalle der Residenz stehen, sie mit seinen schrägen Augen
anschauen. Wenn sie nur an diesem Glauben
festhalten konnte, würde es vielleicht geschehen. Sie betete zu
Amida Buddha, ihn vor Gefahren zu beschützen.
Endlich kam der Morgen, sogar noch heißer und
drückender als der vorherige Tag. Sachis Gesicht war
schweißbedeckt, sie konnte nicht essen, wagte kaum zu atmen. Sie
konnte an nichts anderes denken als an die toten Männer auf dem
Hügel und an jene, die vielleicht am Leben waren: Shinzaemon,
Toranosuké - und Tatsuemon. Den jungen Tatsuemon.
Taki und Haru schoben die Papiertüren zwischen den
stillen Räumen zurück. Sie hoben sie aus ihren Führungen,
verwandelten das Ganze in einen großen offenen Pavillon, damit jede
noch so kleine Brise hereinwehen konnte. Das schrille Zirpen der
Zikaden drang durch die stille Luft.
Weit in der Ferne war ein schwaches Geräusch zu
hören. Das Klappern von Pferdehufen kam den Hügel herauf.
Angenommen, es waren schlechte Nachrichten?
Angenommen, Tatsu war über Nacht gestorben? Einen Moment lang
erstarrte Sachi vor Furcht. Dann sprang sie auf, schürzte ihre
Kimonoröcke und rannte durch die düsteren Räume. Taki und Haru
hasteten über die Tatami hinter ihr her.
Sie nahm sich kaum Zeit, in die Getas zu schlüpfen,
bevor sie aus dem Schatten der Eingangshalle in eine Hitzewand
hinaustrat. Im Hof war das Licht so grell, dass Sachi für einen
Moment geblendet war. Jeder Kieselstein, jedes Blatt, jedes winzige
Moosstück trat in blendendem Relief hervor. Dann war sie wieder im
Schatten. Taki war herausgeeilt und hielt einen Sonnenschirm über
sie.
Sachi blieb stehen, blickte in die Helligkeit. Ein
Mann schritt durch den dunklen Schatten unter den schweren,
überhängenden Dachtraufen des Tores. Am vorherigen Tag hatte sie
nur bemerkt, dass er ihr nicht gänzlich fremd war. Aber jetzt fiel
ihr unwillkürlich auf, mit welch außergewöhnlichem Wesen sie es zu
tun hatte. Er war ein Riese! Als er ins Sonnenlicht trat, wirkten
seine Füße und Beine und Arme gewaltig. Sogar seine Nase,
vorspringend wie die eines Tengu, warf einen langen Schatten. Haar,
gelb wie Sonnenschein, spross auf seinen Wangen und am Kinn. Er
trug einen Hut, den seltsamsten, den sie je gesehen hatte, schwarz
und rund wie eine Handtrommel.
Doch trotz all seiner Fremdartigkeit hatte er
nichts Furchterregendes an sich. Er hatte ihr das Leben gerettet,
nicht nur ein-, sondern zweimal. Er war wie ein Bodhisattva, ein
Schutzwesen aus einer anderen Sphäre.
Sie richtete den Blick auf sein Gesicht, versuchte
darin zu lesen, und ging langsam auf ihn zu. Der Schatten über
ihrem Kopf bebte. Takis Hand, die den Sonnenschirm hielt,
zitterte.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie atemlos.
Edwards schüttelte den Kopf. Er runzelte die Stirn,
wobei seine Augenbrauen zusammenstießen. Seine Haut war gerötet,
dunkel von der Sonne.
»Das lässt sich noch nicht sagen«, erwiderte er.
»Er schläft. Er hat Fieber.«
Wenigstens lebte er noch. Sachi wurden die Knie
weich vor Erleichterung. Die Frauen drängten sich um ihn,
bestürmten ihn mit Fragen. »Wann ist er aufgewacht? Hat er etwas
gesagt? Was hat Doktor Willis gesagt?«
»Doktor Willis hat ihm eine Kugel aus dem Arm
entfernt, aber der Knochen ist mehrfach gebrochen«, sagte Edwards.
»Die Wunde könnte sich entzünden. Er ist sich nicht sicher, ober
den Arm retten kann. Möglicherweise muss er amputieren.«
Sachi schnappte nach Luft und schlug die Hand vor
den Mund.
»Es herrscht Krieg«, sagte Edwards sanft zu ihr.
»Viele Männer
verlieren Arme und Beine. Vielleicht machen Ihre Ärzte solche
Dinge nicht, aber unsere schon. Oft ist es die einzige Möglichkeit,
den Patienten zu retten.«
Sachi war sich dessen wohl bewusst. Aber sie wusste
auch, dass Menschen manchmal starben, nachdem ihnen ein Körperglied
amputiert worden war.
»Unsere Heilkunde wirkt so gut wie Ihre - in
manchen Fällen besser«, fuhr Edwards fort. »Ihr Freund ist sehr
krank und hat hohes Fieber. Doktor Willis ist ein berühmter
Chirurg. Er hat viele Menschen gerettet.«
»Wir müssen zu Tatsu«, sagte Sachi. »Bitte bringen
Sie uns zu ihm.«
»Nichts zu machen«, wehrte Edwards ab. »Doktor
Willis sagte, der Junge müsse Ruhe haben.«
»Aber angenommen, es geht ihm … schlechter? Er
kennt uns. Es wird ihm ein Trost sein, wenn wir bei ihm
sind.«
»Da sind Frauen, die sich um ihn kümmern. Ich werde
Sie mit einer Kutsche abholen, wenn Doktor Willis Besucher
erlaubt.«
»Eine Kutsche?«, staunte Taki. »Wie auf den
Holzblockdrucken?«
»Sei doch nicht so dumm.« Trotz allem musste Sachi
lächeln. »Wir werden zu Fuß gehen. In Edo gibt es keine weiten
Entfernungen.«
Unter der Krempe seines Hutes runzelte Edwards
erneut die Stirn.
»Ich wohne in der Nähe von Shinagawa, nicht weit
von einer der Hinrichtungsstätten. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass Sie je dort waren. Die Gegend ist sehr gefährlich. Ihre Miliz
war die einzige Polizei in Edo. Jetzt gibt es keine mehr; die Armee
des Südens kann die Ordnung nicht aufrechterhalten. Plünderer
verwüsten die Lagerhäuser und stehlen Reis,
und Diebe und Mörder treiben sich überall herum. In der Stadt
herrscht Chaos.«
»Wir sind Samurai«, sagte Sachi ruhig. »Wir sind im
Kämpfen geübt. Wir sind gestern zum Ueno gegangen. Wir können
überallhin gehen.«
Edwards schaute sie an. Sein Blick schien etwas
länger zu verweilen als unbedingt nötig.
»Und wie steht es … sonst?« Ihre Worte hingen in
der Stille.
»Alle warten darauf, was als Nächstes
geschieht.«
Es war nur allzu klar, dass die Südarmee die Stadt
eingenommen hatte. Aber die Bürger von Edo hielten zum Norden. Sie
hielten dem Shogun die Treue, jeder Einzelne von ihnen. Der Süden
würden lange und schwer kämpfen müssen, um sie für sich zu
gewinnen.
II
Ein paar Tage, nachdem sie vom Hügel zurückgekehrt
waren, ertönte in der Ferne ein Rumpeln und Rasseln, das Klappern
von Pferdehufen und Gebrüll von Männerstimmen. Der Lärm war so
groß, als marschierte ein Bataillon von Soldaten auf das Tor
zu.
Edwards wartete im Hof. Er nahm den Hut ab und
verbeugte sich.
»Auf geht’s«, sagte er grinsend. »Setzen Sie Ihre
Reisehüte auf und binden Sie sie gut fest.«
Sie mussten sich durch ein Gestrüpp hoher Gräser
und Unkraut und unter herabhängenden Ranken hindurchschlängeln, um
das Torhaus am Rand der Residenz zu erreichen. Kuckucke
schmetterten und pfiffen über dem ununterbrochenen Zirpen der
Zikaden. Der freundliche alte Mann, der die Frauen
durchgelassen hatte, als sie zum Hügel gegangen waren, hielt
erneut Wache, bewaffnet mit einem schweren Knüttel. Als er sich
verneigte, verzog sich sein zerknittertes Gesicht zu einem Lächeln.
Am Tor stand ein höchst eigenartiges Vehikel. Sachi blieb stehen,
staunte mit offenem Mund. Sie hatte solche Vehikel auf
Holzblockdrucken von Ausländern in Yokohama gesehen, hatte jedoch
nie damit gerechnet, jemals eines im wirklichen Leben zu
erblicken.
Abergläubische Furcht durchzuckte sie. Nur
Palankine und Pferde waren je zuvor durch diese uralten Tore
gekommen, und jetzt stand da dieses ausländische Gefährt.
Das Ding wirkte wie ein riesiger Palankin auf
Rädern oder ein Ochsenkarren, wie ihn Bauern benutzten, nur mit
Dach. Drinnen befand sich eine Truhe, über die eine Art rauer,
ausländischer Stoff geworfen war. Alles wirkte gewaltig. Selbst die
Pferde, die schnaubten und mit den Hufen stampften, wunderschöne,
kräftige Tiere mit langen Mähnen und schimmerndem Fell, waren
überlebensgroß. Vorne drauf, die Zügel in der Hand, saß ein
weiterer Ausländer mit Gesichtsbehaarung. Er zog den Hut und
verbeugte sich.
Zusätzlich gab es einen Trupp Wachen, bewaffnet mit
Schwertern und Stäben. Sie scharrten mit ihren Strohsandalen,
schauten Sachi an und dann einander, tauschten wissende Blicke.
Sachi musterte sie genauer, wünschte, sie könne ergründen, zu wem
sie gehörten, in wessen Diensten sie standen. Aber die Männer
wandten sofort den Blick ab, und ihre Wappen verrieten nichts. Sie
würde sehr vorsichtig sein müssen, worüber sie in ihrer Hörweite
sprach.
Taki und Haru standen in sicherer Entfernung,
juchzten aufgeregt.
»Dozo«, sagte Edwards. »Bitte, meine Damen,
steigen Sie ein.«
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Taki und wich
zurück - Taki, die immer so mutig war.
Sachi setzte den Fuß auf die Stufe. Sie wollte
gerade hinaufsteigen, als Edwards ihre Hand ergriff. Sachi zuckte
zusammen, spürte die Berührung seiner rauen Haut. Doch bevor sie
ihre Hand zurückziehen konnte, hatte er sie bereits in die Kutsche
gehoben. Sie blickte ihn verwundert an. Seltsam, dass ein Mann sich
wie ein Dienstbote verhielt!
Es war in der Tat sehr merkwürdig, mit baumelnden
Beinen zu sitzen, statt sie unterzuschlagen. Edwards half Taki und
Haru in die Kutsche, und sie quetschten sich neben Sachi. Die
Kutsche schaukelte ein wenig. Sie war nicht so stabil wie ein
Palankin.
Der andere Ausländer - den Sachi für eine Art
Pferdeknecht hielt - stieß einen Ruf aus und schüttelte die Zügel.
Die Kutsche setzte sich schaukelnd in Bewegung, Edwards zu Pferde
daneben und die Wachen ein Stück dahinter. Unter heftigem Schütteln
und Rattern rumpelten sie über die Brücke und schlingerten um die
Ecke auf die Straße, die am Wallgraben entlangführte. Der
festgestampfte Lehm der Straße war für Füße gedacht, nicht für
Räder.
Die Stadt flog Schwindel erregend schnell vorbei.
Taki und Haru klammerten sich quietschend aneinander. Sachi bemühte
sich nach Kräften, ruhig und würdevoll zu bleiben, wie es sich für
eine Dame vom Hof des Shogun geziemte. Nie zuvor hatte sie sich
schneller als in Schrittgeschwindigkeit bewegt. Kuriere, diese Art
Leute, mochten sich rasch bewegen, Soldaten vielleicht, aber keine
Damen, vor allem nicht die Damen des Shogun und schon gar nicht die
Konkubine des Shogun.
Aber während sie dahinholperten, musste sie
unwillkürlich vor Aufregung lachen. Jedes Mal, wenn sie die
kleinste Kurve
umrundeten, wurde sie von einer Seite zur anderen geworfen.
Schließlich klammerte sie sich an Taki und Haru fest, als ob es um
ihr Leben ginge. Von ihrer hohen Warte blickte sie auf die Welt
hinab, während ihr der Wind durch die Haare fuhr. So müssen sich
Vögel im Flug fühlen, dachte sie. An dem breiten Rücken des vorne
sitzenden Ausländers vorbei erhaschte sie Blicke auf die
Pferdeköpfe und die fliegenden Mähnen und hörte das Trappeln der
Hufe. Sie hatte einen großen, flachen Strohhut aufgesetzt, um ihr
Gesicht vor der Sonne zu schützen, und die Bänder vielfach um ihr
aufgestecktes Haar gewunden. Der Hut flatterte alarmierend, drohte
davonzufliegen. Sie griff hinauf, um ihn festzuhalten.
Dann bemerkte sie, was sie da sah, und keuchte vor
Entsetzen. Auf der anderen Seite flog die große Mauer hinter dem
Burggraben vorbei. Teile waren vollkommen zusammengebrochen,
Granitbrocken ragten aus dem Wasser, und abgerissene Gestalten, die
wie Geächtete wirkten, lauerten im Schatten. Sogar ein wackeliger
Schuppen war in einem der Tore errichtet worden. Die Straße, früher
stets perfekt geharkt und gefegt, war durchfurcht und von Unkraut
überwachsen.
Sie kamen an einer Brücke vorbei. »Taki«, rief
Sachi über das Rattern und Rumpeln hinweg. »Schau. Schau - da
hinten.«
Sie hatten gerade die Brücke der Damen des Shogun
passiert, wo sie mit Shinzaemon gestanden hatte, um sich Lebewohl
zu sagen.
Seither waren sechsundsechzig Tage vergangen,
sechsundsechzig lange, öde Tage. Ohne jede Nachricht, jedes
Zeichen, dass er an sie dachte oder auch nur, dass er am Leben war.
Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, wie es in jener Nacht
gewesen war, aber es gelang ihr nicht mehr. Da war nur noch ein
Schatten.
Sie dachte zurück an die Augenblicke der Nähe - als
sie zusammen
auf der Passhöhe gestanden, als sie sich auf der Brücke
verabschiedet hatten. Selbst wenn er zurückkehrte, konnte sie sich
nicht mehr erhoffen als weitere geheime Treffen, die Fortsetzung
einer verbotenen Leidenschaft. Sie wusste sehr wohl, dass eine
gemeinsame Zukunft außer Frage stand. Sie konnten nicht heiraten.
Menschen suchten sich ihre Ehepartner nicht selbst aus - so ging es
in der Welt nicht zu.
Tag für Tag klammerte sie sich an die Erinnerung an
Shinzaemon. Jetzt fragte sie sich, ober für sie dasselbe empfand.
Wenn sie ehrlich mit sich war, was war wirklich zwischen ihnen
geschehen? Nichts als ein paar Blicke, ein Moment, in dem sie sich
von einer törichten Leidenschaft hatten fortreißen lassen. Je mehr
sie darüber nachdachte, desto hoffnungsloser kamen ihr diese
Gefühle vor. Aber sie konnte dennoch nicht davon lassen, sich nach
ihm zu sehnen.
Mit einiger Anstrengung kehrte sie in die Gegenwart
zurück.
In Windeseile fuhren sie dieselbe Straße hinab, die
sie stets eingeschlagen hatte, wenn sie am Grabmal Seiner Majestät
beten wollte. In jenen Tagen war sie in einer langen Prozession von
Palankinen befördert worden, ihrer der prächtigste, begleitet von
Wachen, Bediensteten, Trägern und Hofdamen. Sie erinnerte sich, wie
sie hin und wieder die Bambusjalousie hochgeschoben hatte, um einen
Blick auf die Burgmauern hinter dem Wallgraben zu werfen. Nachdem
sie den Burgbereich verlassen hatten, waren sie vom Wallgraben in
einen der Daimyo-Bezirke gebogen, gesäumt von riesigen, ummauerten
Residenzen.
Jetzt ratterten sie an zerstörten Mauern und Toren
vorbei. Jedes Stückchen Blattgold, jedes Kupferwappen, jedes
Bronzeornament als Wahrzeichen der Größe und des Wohlstands der
Fürsten war entfernt worden. Nichts als die Skelette der Paläste
war übrig geblieben. Durch die gähnenden Löcher in den Mauern
erblickte sie verfallene Gebäude, überwuchert von Unkraut, aus dem
verkohlte Balken herausragten, mehr wie die Schlupfwinkel von
Füchsen und Dachsen statt Orte, an denen Menschen lebten.
Von Zeit zu Zeit kamen sie an Gruppen finster
dreinblickender Männer vorbei, die an der Straße herumlungerten
oder im Schatten eines Baumes hockten. Einmal zog Edwards seine
Pistole. Aber sie trotteten weiter, ohne dass es zu einem
Zwischenfall kam.
Schließlich sahen sie eine geschäftige
Überlandstraße vor sich. Es war eine Erleichterung, nach den
bedrohlich leeren Straßen im Daimyo-Bezirk wieder unter Menschen zu
sein.
»Der Tokaido«, rief Edwards über das Klappern der
Hufe und den Lärm der Menge hinweg. Die große Überlandstraße, die
nach Kano und Kyoto führte, viele Tagesreisen entfernt. Die Straße
war von Menschen überfüllt, die mühsam mit Bettzeug, Vorräten,
Kimonotruhen, Geschirr, Töpfen und Pfannen hoch beladene Karren
zogen.
Sie verminderten das Tempo auf
Schrittgeschwindigkeit, wichen einem Karren aus, der umgestürzt war
und dessen gesamte Ladung quer über die Straße bis in den
Abzugsgraben verstreut lag. Eine Frau, Mitleid erregend jung,
starrte Sachi mit benommenem, leerem Blick an. Sie hatte sich ein
Kind auf den Rücken gebunden, ein weiteres klammerte sich an ihren
Ärmel, und sie kroch umher, griff nach Kimonos, die aus ihrer
Umhüllung gefallen waren und zerknittert im Staub lagen. Ihre
Kleidung war fleckig und zerrissen, und ihr Mund verzog sich zu
einem Ausdruck von Furcht und Entsetzen. Aber unter all dem war ihr
Gesicht bleich und aristokratisch. Sie hätte eine Kammerfrau in
einer der Daimyo-Residenzen oder vielleicht sogar im Frauenpalast
gewesen sein können. Vielleicht war sie eine Samurai-Ehefrau,
deren Mann dort oben auf dem Hügel gekämpft hatte - und der nicht
mehr nach Hause gekommen war.
Sachi bemerkte, dass sich in der Menge kaum junge
Männer befanden. Familien, die aus Frauen, Kindern und Alten
bestanden, zogen dahin, ihre Gesichter bleich und ausdruckslos. Die
gesamte Bevölkerung schien aus der zerstörten Stadt zu
fliehen.
Die Straße war dicht gesäumt von Gasthäusern und
Läden, einige mit Brettern vernagelt, andere offen, in denen Tee
oder Unterkunft oder Proviant angeboten wurde. Dann kamen sie an
einer Lücke zwischen den Läden vorbei. Hinter den Gebäuden
glitzerte Wasser, strahlend blau, so weit Sachi blicken konnte. Sie
hatte nie etwas Breiteres als den Fluss Kiso gesehen. Sie spähte in
die Ferne, versuchte das andere Ufer zu entdecken, aber da gab es
keine von Kiefern bestandenen Berge. Es gab überhaupt kein anderes
Ufer. Das Wasser schimmerte bis zum Horizont, wo es in den Himmel
überging.
Angefüllt war es mit allen möglichen
Wasserfahrzeugen - großen Booten, kleinen Booten, Fähren und
Schiffen mit Masten und hohen Segeln, die schlaff in der Hitze
hingen. Sie alle wurden von einem riesigen schwarzen Schiff
überschattet, das sich wie ein Berg erhob. Es stieß Rauch aus hohen
Schornsteinen aus und hatte Masten, die in den Himmel ragten wie
verkohlte und geschwärzte Baumstämme nach einem Waldbrand. Menschen
liefen darauf herum, und die Schiffswand starrte vor Kanonen. Ein
zweites dümpelte ein Stück weiter vom Ufer entfernt.
Sachi wusste, um was es sich da handelte: um eines
der Schwarzen Schiffe, welche die Ausländer gebracht hatten. Sie
hatte Bilder davon als Holzblockdrucke gesehen. Aber es war ihr nie
in den Sinn gekommen, dass sie so groß sein würden. Sie waren wie
Städte, die auf dem Wasser schwammen.
Taki und Haru hatten ebenso Augen und Mund
aufgerissen wie Sachi. Sie lächelten sich unbehaglich an. Der
Anblick war höchst aufregend. Doch er war auch verstörend, genauso
wie die Kutsche. Sachi hätte sich nie träumen lassen, dass es
solche Dinge auf der Welt geben könnte.
»Wissen Sie nicht, was das ist? Das ist die Bucht
von Edo«, rief Edwards grinsend, als er sah, dass ihre Köpfe
dorthin gewandt waren. »Das ist die Fujiyama - eines der
Kriegsschiffe Ihres Landes. Das dahinter ist eines von
unseren.«
Edwards’ Haus stand auf einer Hügelkuppe mit Blick
auf die Bucht, umgeben von Kiefern. Sachi hatte erwartet, dass er
in etwas Außergewöhnlichem wohnte, aber es war bloß ein ganz
normales Haus, Teil einer Tempelanlage. Die Kutsche rumpelte auf
das Grundstück und kam ruckend zum Halten. Dankbar für Edwards
Hand, stieg Sachi mit zitternden Beinen aus. Sie war benommen von
der holpernden Fahrt und mit Staub bedeckt. Es dauerte einen
Moment, bis sie sich gefangen hatte und spürte, dass ihre Füße
wieder Kontakt zum Boden hatten.
Voller Ungeduld, Tatsuemon zu sehen, eilte sie zur
Tür und blieb dann stehen, plötzlich von Furcht erfüllt, was sie im
Inneren vorfinden könnte.
Es roch seltsam - nach Krankenzimmer und Kampfer.
Tatsuemon lag auf einem Futon, mit Kissen aufgestützt, und sah
schrecklich jung und dünn und verletzlich aus. Um seinen Kopf,
seine Arme und Beine waren große weiße Verbände gewickelt. Ein Arm
hing in einer Schlinge - aber er ist wenigstens noch dran, dachte
Sachi. Sein kleines rundes Gesicht war wächsern und seine Stirn mit
Schweiß bedeckt. Seine Augen wirkten riesig über seinen bleichen
Wangen.
Ein Dienstmädchen saß neben ihm. Sie verbeugte sich
und huschte davon.
Tatsuemon schaute Sachi im ersten Moment
verständnislos an, dann weiteten sich seine Augen im Widererkennen.
Er mühte sich ab, in eine aufrechte Stellung zu kommen, und brachte
eine Verbeugung zustande.
»Tatsu, ich bin so froh, dich zu sehen«, sagte
Sachi sanft.
»Verzeihen Sie mir, edle Dame«, krächzte er. »Waren
das … waren das Sie? Edwards-dono sagte, es wären einige Damen
gewesen. Aber mir war nicht klar …«
»Die Große Schwester hat dich gefunden«, sagte
Sachi.
Haru hatte den Platz des Dienstmädchens eingenommen
und tupfte Tatsuemons Stirn mit einem feuchten Tuch ab. Sie
strahlte ihn an.
»Wie geht es dir?«, fragte Sachi.
Sie wollte nach seiner Hand greifen, hielt aber
inne. Er war nicht mehr der scheue, hübsche Junge, den sie vor
einigen Monaten kennengelernt hatte. Er war erwachsen geworden. Als
er Sachi anblickte, war da eine Leere in seinen Augen. Er schien
fortzugleiten, als könnte er nicht aufhören, Dinge zu sehen, die er
lieber vergessen wollte.
»Gut«, sagte er in der abgehackten Sprechweise
eines Soldaten. Für einen Augenblick war er nicht in diesem kühlen
Raum, sondern auf einem dampfenden, vom Regen durchweichten
Schlachtfeld, erstattete seinem kommandierenden Offizier Bericht.
»Bin bald wieder auf den Beinen. Muss … zurück an die Front.«
Sie fragte sich, wo er gewesen war, was er getan,
was er gesehen hatte. Bei ihrer letzten Begegnung war er ein
solcher Junge gewesen, bereit, Toranosuké, seinem gut aussehenden,
idealistischen Meister, gehorsam überallhin zu folgen. Seit sie
Shinzaemon kannte, hatte er nur vom Krieg geredet, vom Ruhm des
Krieges, vom Ruhm des Todes. Auch sie war davon verführt worden,
hatte sich von seiner Inbrunst anstecken lassen.
Aber jetzt hatte sie all diese Toten gesehen. Krieg war überhaupt
nicht glorreich, ganz gleich, was die Männer sagten. Krieg war ein
Schlachthaus.
»Aber warum waren Sie dort?«, fragte Tatsuemon, als
wäre ihm gerade erst aufgegangen, wie seltsam es war, dass diese
Damen, die er zuletzt im fernen Kiso gesehen hatte, auf einem
Schlachtfeld in Edo herumgewandert waren.
»Die Kanonen«, sagte Sachi. »Man konnte sie in der
ganzen Stadt hören. Wie Donner. Ich brachte es einfach nicht über
mich, tatenlos zu bleiben. Da oben waren viele Menschen - viele
Frauen -, die nachschauten, ob noch jemand am Leben war und Hilfe
brauchte.«
Es gelang ihr kaum, ihre Fragen zurückzuhalten -
»Was ist mit Shinzaemon? Wo ist er? Was ist aus ihm geworden?« Sie
musste die Lippen zusammenpressen, damit die Worte nicht
herauskamen.
Er verfiel wieder in Schweigen.
»Edwards-dono erzählte mir«, murmelte er nach einer
Weile, »dass die Südarmee den Hügel eingenommen und den Tempel
zerstört hat.« Schmerzlich starrte er in eine ungewisse
Leere.
»Diese Kerle aus den Südprovinzen sind Feiglinge«,
sagte er plötzlich. »Sie kämpfen nicht Mann gegen Mann wie echte
Samurai. Sie verstecken sich hinter Kanonen. Den halben Tag lang
haben sie uns von der anderen Seite des Tales beschossen. Wir
konnten sie nicht mal sehen. Der Krach war fürchterlich. Und das
Geräusch der durch die Luft fliegenden Granaten, wie … ein
wimmernder, vorbeizischender Schrei, wie Geister. Man wusste nicht,
wo sie landen werden. Die Granaten schlugen ein und explodierten,
rissen gewaltige Krater auf, wirbelten Schlamm und Erde in die Luft
und Körperteile - von Männern, die das Pech hatten, dort zu stehen.
Arme, Hände,
Füße, Beine, Gedärme, Knochensplitter flogen durch die Luft. So
sollte ein Mann nicht sterben. Wie kann man gegen einen Feind
angehen, der so kämpft?
Der Rauch - ich hatte das Gefühl, daran zu
ersticken. Und der Gestank, der eklige Gestank von Blut und Hirn
und menschlichen Gedärmen. Als ich in Kyoto Männer tötete, machte
mir das nichts aus. Das war nur der Feind. Ich war stolz. Aber hier
starben unsere Männer.
Wir brachten uns zwischen den Bäumen in Sicherheit,
versuchten auszuweichen, liefen herum und bemühten uns, nicht auf
die Toten oder Sterbenden zu treten, spürten, wie wir ihre Körper
unter unseren Füßen zerquetschten. Und das Geräusch der schreienden
Männer. Man hofft immer, dass man, wenn man an der Reihe ist, wie
ein Samurai stirbt, in Stille. Aber nicht alle sind
gestorben.
Es regnete«, fuhr er fort. »Wir waren bis auf die
Haut durchnässt. Ständig rutschten wir aus. Wir rannten hierhin und
dorthin, um den Granaten auszuweichen.«
Seine Stimme verlor sich. Sachi sah, dass seine
Stirn schweißnass war.
»Gegen Nachmittag hörte das Bombardement auf. Wir
liefen hinunter zum Schwarzen Tor.«
»Du …?«, hauchte Taki. Sie alle hingen an seinen
Lippen.
»Ich, Tora und Shin. Wir schafften es alle
hindurch. Und Gen - Genzaburo - ein Freund von uns, den wir aus
Kyoto kannten. Shin hatte ihn in Kiso wiedergetroffen.«
»Ich weiß«, flüsterte Sachi.
»Die Männer am Schwarzen Tor brauchten Verstärkung.
Dort hatte die Südarmee ebenfalls Kanonen. Sie wollten uns alle
töten. Wir haben gefeuert und gefeuert, uns hingekniet, um unsere
Waffen nachzuladen, und dann im Stehen geschossen, wie man es uns
beigebracht hatte. Wenigstens konnten wir
sie sehen, in ihren schwarzen Uniformen, und die aus Tosa mit
ihren roten Perücken. Wenigstens brauchten wir nicht gegen einen
unsichtbaren Feind zu kämpfen. Ich war taub von dem Krach meines
Gewehrs und hatte nur noch den Geschmack von Schießpulver im
Mund.«
Er kniff die Augen fest zu und runzelte die Stirn.
»Haltet das Schwarze Tor: So lautete unser Befehl. Wir blieben
zusammen, wir vier. Nachdem sie durch unsere Reihen gebrochen
waren, duckten wir uns hinter Felsen und nahmen sie uns einzeln
vor.«
»Mit Schwertern?«, fragte Taki. Sie betrachtete ihn
mit strahlenden Augen, als wünschte sie, dabei gewesen zu sein,
neben ihm gekämpft zu haben.
»Wir hatten Gewehre, französische Gewehre. Wir
haben viel damit geübt - Zielschießen, wie man es lädt und schnell
schießt. Tora war brillant. Er konnte alles treffen. Wenn da ein
Mann auf ihn zustürmte, schoss er ihm direkt ins Gesicht. Shin
brüllte wie ein Verrückter und schoss und stach mit seinem Bajonett
zu. Die Hälfte der feindlichen Soldaten rannte weg, als sie ihn
sahen. Ich hab ihn selbst zehn Mann erledigen sehen. Nein, eher
zwanzig. Sie wären stolz auf ihn gewesen.«
Er blickte in die Ferne. Sachi lächelte. Kurz hatte
sie Shinzaemon vor Augen, wie er auf seine verwegene Art kämpfte,
vollkommen furchtlos.
»Gen war auch der reinste Schrecken. Knallte eine
Menge Feinde ab. Ja, wir konnten mit unseren Gewehren umgehen. Aber
wir mussten immer wieder innehalten, um nachzuladen. Der Feind
hatte Gewehre, die nie mit dem Feuern aufhörten. Es war, als würde
es Kugeln regnen. Dann preschten sie vor, in ganzen Horden. Jedes
Mal, wenn wir einen töteten, kam ein anderer. Das hörte nicht auf.
Sie drängten uns weiter und weiter
den Hügel hinauf. Irgendwo unterwegs verloren wir Gen aus den
Augen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.«
Sachi schwieg. Sie konnte es nicht über sich
bringen, ihm von Genzaburos Tod zu berichten.
»Schließlich zwangen sie uns hinaus auf die
Hügelkuppe. Ich nehme an, da hat es mich … erwischt.«
Sein Gesicht fiel in sich zusammen. »Es war ein
guter Kampf«, presste er durch zusammengebissene Zähne heraus. »Ein
glorreicher Kampf. Viele Männer sind gestorben … wie Helden. Aber
ich … ich war nutzlos. Ich habe meine Kameraden und meinen Herrn in
Stich gelassen. Ich schäme mich. Ich sollte tot sein, wie alle
anderen.«
Wie alle anderen … Einen Augenblick lang konnte
Sachi nicht atmen. Die Hitze und Enge schien sie zu ersticken. Sie
bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Du
meinst … Toranosuké und Shinzaemon …«
»Sie waren da, als … Wir waren alle zusammen«,
sagte er hilflos. »Ich weiß nicht, was mit ihnen geschehen
ist.«
Also gab es noch Hoffnung. Ihre Kehle war so
trocken, dass sie nicht sprechen konnte.
»Habt ihr sie nicht gesehen?«, fragte er. »Als ihr
mich gefunden habt - waren sie nicht auch da?«
»Sie waren nicht da«, flüsterte Sachi. Sie wusste
nicht, was sie sagen sollte - wollte nicht darüber nachdenken, dass
sie verschwunden waren und ihn zum Sterben allein auf dem
Schlachtfeld gelassen hatten. Aber sie wollte auch nicht, dass er
glaubte, sie wären tot.
»Vielleicht wollten sie Hilfe holen?«, meinte sie
matt.
»Hilfe?« Er lächelte grimmig. »Sie dachten, um mich
wäre es geschehen. Es war ein Massaker.«
»Wir haben nach ihnen gesucht«, sagte Taki. »Wir
haben das ganze Schlachtfeld abgesucht.«
»Sie müssen noch am Leben sein.« Sachis Stimme
bebte. Sie musste ihn genauso davon überzeugen wie sich selbst.
Nach kurzem Luftholen fügte sie fest hinzu: »Ich bin mir dessen
sicher.«
Er nickte. »So war es«, sagte er leise. »Das ist
passiert. Sie sind nach Norden gegangen. Wir haben immer gesagt,
wenn wir das durchstehen, gehen wir nach Norden. Ich muss dorthin.
Ich muss zu ihnen zurück.«
Sachi schloss die Augen. Sie stand wieder auf der
Brücke, spürte Shinzaemons Arme um sich, sah seinen lodernden
Blick. Jemand so voller Leben wie er konnte nicht tot sein. Und
wenn er lebte … musste sie ihm eine Nachricht schicken. Sie musste
ihm sagen, wo sie war, damit er sie bei seiner Rückkehr …
Sie schaute Tatsuemon an und beugte sich an sein
Ohr hinunter.
»Wenn du deine Kameraden findest, wirst du dann
…?«, flüsterte sie.
Ihre Blicke trafen sich. Er nickte.
Sie sah sich nach Papier und Pinsel um und bat
Taki, etwas Tusche für sie zu reiben. Dann dachte sie einen Moment
lang nach. Das Gedicht des Dichters Teika, lange vor der
Tokugawa-Ära geschrieben, über das Zusammensein, die Furcht vor dem
Beginn der Morgenröte, das Wissen, dass die Zukunft
höchstwahrscheinlich nur Trauriges bereithält - es drückte ihre
Gefühle genau aus. In so schöner und fließender Schrift wie nur
möglich pinselte sie die ersten drei Zeilen:
Hajime yori | Immer schon |
Kikinagara | Habe ich gehört, dass Begegnung |
Au wa wakare to | Nur Trennung heißen kann. |
Shinzaemon würde das Ende des Gedichts kennen:
Akatsuki shirade | Doch ich gab mich dir hin, |
Hito o koikeri | Die kommende Morgenröte vergessend. |
Sie fügte eine gekritzelte Notiz hinzu: »In der
Shimizu-Residenz … wartend.«
Sie betrachtete das Gedicht eine Weile lang, um
sich zu vergewissern, dass sie mit jedem Auf- und Abstrich des
Pinsels zufrieden war, blies darauf, wartete, dass die Tinte
trocknete. Dann rollte sie das Papier zusammen und schrieb
Shinzaemons Namen auf die Außenseite. Sie legte es in Tatsuemons
Hand und schloss die Finger darum.
»Vergiss es nicht«, flüsterte sie.
III
Edwards rief nach Tee. Er hockte unbequem am
Boden, seine langen Beine seitlich abgeknickt wie die einer Grille.
Sein Körper war so eckig, bestand nur aus Ellbogen und Knien. Er
verbeugte sich und nahm eine Tasse von dem Tablett, das ihm die
Dienstbotin hinhielt. Verstohlen betrachtete Sachi seine großen
bleichen Hände mit den breiten Fingerspitzen und den rötlichen
Härchen. Die Porzellantasse sah in seiner Hand noch winziger und
zerbrechlicher aus. Während sie trank, schaute sie sich neugierig
in diesem exotischen Ausländerhaus um. Es hatte Tatamimatten und
Schiebetüren und Fenster wie alle anderen Häuser, doch es war mit
fremdartigen Gegenständen angefüllt - truhenähnliche Kästen standen
aufrecht da, und auch ein so großer Tisch, dass nur ein Riese daran
schreiben konnte. Im Sitzen befand sich die Platte über Sachis
Kopf.
In der Nische hing statt einer Bildrolle oder einer
Kalligraphie das Porträt einer Frau, gemalt mit einer dicken,
öligen Substanz. Sie hatte füllige Wangen und große runde Augen wie
die von Edwards und etwas Schimmerndes und Metallisches auf dem
Kopf, wie ein Wappen auf einem Samurai-Helm. Sie trug ein
voluminöses Gewand, das sogar ausladender und verschwenderischer
war als der Kimono einer Kurtisane, doch ihre Arme und Schultern
waren nackt. Sachi wollte gerade fragen, ob die Frau eine Kurtisane
sei, als Edwards sagte: »Das ist die Königin meines Landes -
Königin Bikutoria.« Erleichtert darüber, nicht gefragt zu haben,
seufzte Sachi auf. Was für ein seltsames Land, das von einer
halbnackten Frau in so würdeloser Kleidung regiert wurde.
Sie fing einen Hauch von etwas Schwerem und
Würzigem auf, ganz anders als die subtilen Düfte, die sie gewöhnt
war, und einen feuchten Hintergrundgeruch. Das Haus war voll mit
mysteriösen, fremdländischen Gerüchen. Es erfüllte Sachi mit einer
Mischung aus Faszination und Abscheu. Sie bedauerte, dass Tatsuemon
an einem solchen Ort sein musste, war aber gleichzeitig neidisch.
Dann war da noch der Geruch, der an Edwards hing, seine beißenden
Körperausdünstungen, die nach dem Fleisch rochen, das er aß.
Ursprünglich hatte Sachi das abstoßend gefunden, doch jetzt kam es
ihr eher aufregend vor. Es hatte einen Hauch von etwas Ungezähmtem
an sich, wie von einem wilden Tier.
»Darf ich fragen …?« Haru rutschte auf den Knien
vor. Ihre kleinen schrägen Augen waren weit geöffnet, und ihr
rundes Gesicht war voller Neugier. Sachi betete darum, dass Haru
nichts Ungehöriges fragen wollte. Selbst in den düstersten Zeiten
verlor Haru ihren handfesten Sinn für Humor oder ihre Vorliebe für
schlüpfrige Geschichten nicht. Sachi erinnerte sich an früher - an
genau den Tag, nachdem sie bei Seiner Majestät
gelegen hatte -, als Haru ihr von dem getrockneten Eidechsenpulver
erzählt hatte, und an diese Späße, die sie immer über Pilzstängel
machte.
»In Ihrem Land …«, flüsterte Haru, legte erst die
eine, dann die andere Hand über den Mund und hielt den Blick auf
die Tatami gesenkt. »Stimmt es, dass Sie eiserne Ungeheuer haben,
die schneller vorankommen als ein Pferd? Ich habe gehört, dass sie
an einem Tag so weit reisen können, wie ein Mensch in sieben Tagen
gehen kann.«
Sachi blickte zu Tatsuemon. Er hatte sich
geschwächt zurücksinken lassen, aber sie merkte, dass er zuhörte.
Vielleicht würde so ein albernes Gerede ihn aufmuntern und von
seinen dunklen Gedanken ablenken. Sie lächelte und schüttelte den
Kopf.
»Eiserne Ungeheuer, also wirklich!«, sagte sie.
»Was du so alles von dir gibst, Große Schwester!«
»Aber die Schiffe, die wir in der Bucht gesehen
haben - das waren eiserne Ungeheuer«, widersprach Taki. »Vielleicht
gibt es eiserne Ungeheuer, die sich auch an Land bewegen.«
Die Frauen blickten Edwards erwartungsvoll an. Er
schaute zu Haru, seine bleichen Augenbrauen zu einem verdutzten
Runzeln zusammengezogen. Dann warf er den Kopf zurück und lachte
mit entblößten Zähnen.
»Das stimmt«, sagte er. »Woher wissen Sie das, Dame
Haruko?«
»Ich habe eins gesehen«, erwiderte Haru. Sie
errötete so stark, dass selbst ihre Handrücken glühten, senkte dann
die Hände in den Schoß und schaute sich um. Ein herausforderndes
Lächeln spielte um ihre Lippen.
»Du hast eins gesehen?« Sachi und Taki blickten sie
erstaunt an. Edwards’ runde Augen wurden noch runder, und sein Mund
verzog sich zu einem Grinsen.
»Ja.« Haru nickte. Sie schaute zu Tatsuemon, um zu
sehen, ob er zuhörte. Dann hielt sie eine Weile inne, spannte sie
alle regelrecht auf die Folter.
»Erzähl es uns, Große Schwester«, bat Sachi.
Ein Schatten glitt über Harus Gesicht, als
schmerzte es sie, in die Vergangenheit zurückzublicken. Sie holte
Luft.
»Ich werde es nie vergessen«, sagte sie leise. »Es
war beim ersten Mal, als die Ausländer kamen, vor vierzehn Jahren.
Sie kamen in die Burg. Das war kurz nachdem der alte Shogun, Herr
Ieyoshi, gestorben war. Herr Iesada war der neue Shogun.«
Vor vierzehn Jahren, dachte Sachi; vier Jahre nach
ihrer Geburt, nachdem ihre Mutter … verschwunden war.
»Wir waren alle ganz erpicht darauf, die Ausländer
zu sehen, wir Frauen«, fuhr Haru fort. »Natürlich war uns nicht
gestattet, den Männerpalast zu betreten, aber sie nahmen die
Ausländer mit hinaus auf den großen Innenhof in der Mitte des
Palastes. Wir saßen hinter dem Gitterwerk, um zuzuschauen. Das war
das erste Mal, dass ich Ausländer sah.«
Sie warf Edwards einen Blick zu. Grübchen bildeten
sich auf ihren runden Wangen.
»Wir fanden, dass sie Furcht erregend aussahen«,
sagte sie und lächelte reumütig. »Wir waren froh, dass sie uns
nicht sehen konnten, obwohl sie in unsere Richtung schauten. Ich
glaube, sie errieten, dass wir da waren, obschon wir uns still wie
Mäuse verhielten. Da haben wir das eiserne Ungeheuer gesehen. Sie
hatten es mitgebracht, als Geschenk für Seine Majestät. So etwas
Großes habt ihr noch nie gesehen. Es war schwarz und glänzend, wie
ein gewaltiger Baumstamm, der auf der Seite lag. Es war aus
Eisen.«
Ein Rascheln ertönte. Tatsuemon richtete sich auf
seinen Kissen auf, beugte sich mit blitzenden Augen vor. Er blickte
Haru unverwandt an, als wolle er sich kein Wort entgehen
lassen.
»Dieser Krach, den es machte! Wie eine alte,
schnarchende Dame. Das fanden wir alle. Es stieß Rauch aus, so viel
wie von tausend Feuern oder … oder wie der Schornstein eines
Töpferofens oder die Esse eines Schwertschmieds. Oder diese
Schiffe, die wir in der Bucht gesehen haben.«
»Oder eine Kanone?«, fragte Tatsuemon, mischte sich
unerwartet ein. »So viel Rauch wie die? Und mit genauso einem
Donnern?«
»Kein Rauch. Dampf«, sagte Edwards. »Wir nennen es
›Dampflokomotive‹. Ich habe davon gehört. Die erste amerikanische
Delegation hat sie als Geschenk für den Shogun mitgebracht. Nicht,
dass er dafür viel Verwendung gehabt hätte. Wir hörten, dass er wie
ein Gefangener in Ihrem Palast lebte.« Er blickte sie alle
durchdringend an. Sachi schaute weg.
»Es fuhr auf Metallschienen, immer rundherum«, nahm
Haru ihrer Erzählung wieder auf. »Einige der Älteren Räte fuhren
mit. So etwas habt ihr noch nie gesehen, diese erhabenen Beamten in
ihren Gewändern, wie sie im Kreis flogen. Sie klammerten sich fest,
als ginge es um ihr Leben, und bemühten sich nach Kräften,
würdevoll auszusehen.« Sie legte die Hände vor den Mund und
lachte.
»Das war ein Modell, wie ein Kinderspielzeug«,
sagte Edwards. »Echte Dampflokomotiven sind viel größer. Sie
sollten Sie sehen. Wir haben sie überall in unserem Land. Sie
ziehen riesige Metallkisten, viel größer als Palankine oder Truhen,
gefüllt mit Waren und Menschen, Hunderten von Menschen.«
Die Frauen staunten ihn mit großen Augen an. Es war
unmöglich, auch nur zu versuchen, sich eine Welt vorzustellen, die
sich so sehr von der ihren unterschied. Doch sie hatten die Schiffe
gesehen, die Kanonen gehört, waren in einer Kutsche
gefahren. Sie begriffen, dass es Dinge auf der Welt gab, von denen
sie keine Ahnung hatten.
»Hier wird es auch eines geben, sehr bald. Das
verspreche ich. Wahrscheinlich mehrere. Sie fahren sehr schnell -
viel schneller als eine Kutsche. Sie alle könnten darin an einem
einzigen Tag über die gesamten Innere Bergstraße fahren.«
Sachi betrachtete ihre kleinen weißen Hände, die
ordentlich aufeinander in ihrem Schoß lagen. Sie konnte sich nicht
vorstellen, in einer solchen Geschwindigkeit reisen zu wollen, ohne
bei all den berühmten Sehenswürdigkeiten haltzumachen. Der
eigentlich Zweck war doch die Reise, oder? Das war es, warum
Menschen reisten.
»Wirklich?« Sie lächelte ihn an. »Aber Sie haben
all die Berge vergessen. Ich glaube, Sie müssen ein Wahrsager
sein.« Sie konnte nicht anders, als ihn zu necken. »Sie haben keine
Wünschelruten, Sie haben keine Beschwörungen gemurmelt, Sie haben
sich nicht mal unsere Gesichter oder Hände angeschaut oder eine
Gebühr verlangt. Und trotzdem sagen Sie, dass Sie in die Zukunft
blicken können.«
Edwards grinste sie an. »Vielleicht kann ich das«,
sagte er scherzhaft. »Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten,
er kommt auf jeden Fall. Und ich will Ihnen noch etwas erzählen:
Ein Ingenieur ist bereits eingetroffen, um ein … ein … Wenn Sie
Signalfeuer auf den Bergen sehen und wissen, dass ein Feuer
ausgebrochen ist oder sich eine Armee nähert. Verstehen Sie? So
ähnlich ist das. Um Nachrichten über weite Entfernungen zu
übermitteln. Aber sehr viel genauer. Man tippt hier in Edo eine
Nachricht ein, und jemand - zum Beispiel in Osaka - empfängt sie
sofort. Auf der Stelle.«
»Klingt wie schwarze Magie«, sagte Taki
missbilligend.
Sachi spitzte die Lippen. Sie hatte Geschichten
darüber gehört, dass die Ausländer Magie praktizierten, dem aber
nie
viel Aufmerksamkeit geschenkt. Doch was Edwards da sagte, klang
tatsächlich bedrohlich. Ein eisernes Ungeheuer konnte sie sich noch
vorstellen. Das hatte etwas mit den großen Schiffen und dem
Kanonendonner gemeinsam, den sie mit eigenen Ohren gehört hatte.
Aber Nachrichten zu senden, die nicht von einer Stimme gesprochen
oder auf Papier geschrieben wurden …
»Doch wozu?«, fragte sie. »Wir haben bereits die
›fliegenden Füße‹. Wir können eine Nachricht von Edo nach Kyoto in
drei Tagen per Kurier schicken, in einem Tag per reitendem Boten.
Warum sollten wir wollen, dass sie dort noch schneller
eintrifft?«
Tatsuemon mischte sich ein. »Das ist wie mit
Gewehren und Schwertern.« Alle drehten sich zu ihm um. In seinen
Wangen war Farbe, und seine Augen blitzten wieder. »Beim
Schwertkampf gewinnt der Beste. Aber mit Gewehren - ein Mann kann
dich erschießen, und du siehst sein Gesicht nie. Du kannst einen
Mann töten und es nicht einmal wissen. Das bringt keinen Ruhm. Wenn
man die Gesichter sieht, weiß man wenigstens, dass man die Männer
getötet hat. Aber diejenigen, die mit Gewehren kämpfen, gewinnen.
Sie besiegen diejenigen, die mit Schwertern kämpfen. Daher müssen
wir Gewehre haben, um dafür zu sorgen, dass wir gewinnen. Gute
Gewehre. Englische Gewehre. Und wenn sie das haben, was
Edwards-dono da beschreibt - diese magischen Nachrichten -, müssen
wir das auch haben. Die Welt verändert sich. Ich möchte diese Dinge
sehen, über die ihr redet. Ich möchte in einem eisernen Ungeheuer
fahren. Das würde mir besser gefallen als alles andere.«
»Das wirst du«, sagte Edwards. »Die magischen
Nachrichten werden nächstes Jahr kommen. Ich brauche nicht die
Geister anzurufen, um Ihnen das zu sagen. Und danach das eiserne
Ungeheuer. Egal, wie der Krieg verläuft, Sie werden Ihr eisernes
Ungeheuer bekommen.«
IV
Jeden Tag stieg Sachi auf die Brustwehr hinauf und
blickte über die vom Feuer geschwärzte Landschaft und zu dem fernen
Hügel, doch ihr entging nicht, dass alles unverändert blieb. In der
Vergangenheit wären die Menschen nach einem Feuer sofort wieder da
gewesen, hätten die Schäden repariert und mit dem Bau neuer Häuser
begonnen. Aber eine schreckliche Lethargie hatte sich über die
Stadt gelegt. Sachi befürchtete, dass Edo bald von Wäldern und
Mooren überwuchert wurde, bis es kein Anzeichen mehr dafür gab,
dass hier je eine Stadt gestanden hatte.
Abgeschnitten von der Außenwelt in der Pracht der
Hügelresidenz, fühlte sie sich, als sei das Leben der ganzen großen
Metropole mit dem Blut ihrer Krieger versiegt. Ihr Leben schien
zusammengeschrumpft zu sein, bis es nicht mehr war als die vier
Wände, die sie umgaben. Sachi und Taki schliefen nebeneinander,
ihre Schwertlanzen in Bereitschaft. Die verbliebenen Hofdamen und
sogar die unsichtbaren Bediensteten, die sich immer irgendwo im
Hintergrund aufgehalten hatten, waren alle verschwunden. Haru
versorgte die Prinzessin und übernahm das Kochen. Gelegentlich
hörten sie Stimmen in fernen Teilen der Residenz, aber es wirkte
trotzdem, als sei sie von Geistern bewohnt.
Der alte Mann bewachte sie. Nachts hörte man das
Klacken seiner Holzklapper. Es hallte scharf und kalt über das
stille Gelände, warnte jeden Eindringling, der mit dem Gedanken
spielen mochte, unter die Gebäude zu kriechen und mit einem Schwert
durch die Bodenmatten zu stechen.
Täglich fragte sich Sachi, was der nächste Tag
bringen würde. Ihr Geld und ihre Vorräte würden nicht ewig reichen.
Wann immer sie konnten - und Edwards die Kutsche schickte -,
besuchten sie ihn. Edwards war voller Geschichten über die fremden
Länder, die er besucht hatte, und über sein eigenes Land, das von
einer Frau regiert wurde und wo Frauen aus guten Familien nicht
erwarteten, ihr ganzes Leben im Inneren des Hauses zu verbringen.
Heimlich fürchtete Sachi sich vor dem Moment, an dem sich Tatsuemon
ganz erholt und sie keinen Vorwand mehr für ihre Besuche
hatten.
Ein paar Tage später kam Haru mit einer Nachricht
durch die leeren Räume der Residenz getappt: Ihre Hoheit verlange,
dass die im Ruhestand lebende Dame Shoko-in ihr augenblicklich ihre
Aufwartung mache.
Seit sie in die Shimizu-Residenz gezogen waren,
hatte die Prinzessin ihre Gemächer nicht verlassen. Glaubte sie
wirklich, an allem Geschehenen schuld zu sein und die Katastrophe
durch ihre Kälte gegenüber Seiner Majestät ausgelöst zu
haben?
Sachi sehnte sich danach, sie zu sehen. Von den
dreitausend Frauen, die den Haushalt Seiner Majestät gebildet
hatten, waren nur noch sie vier übrig. Durch die Zurückgezogenheit
der Prinzessin lag sämtliche Verantwortung für die Führung des
Haushalts auf Sachis schmalen Schultern. Aber Sachi war auch
besorgt. Warum ließ Ihre Hoheit sie ausgerechnet jetzt zu sich
rufen?
Der Duft von Räucherwerk wehte aus den Gemächern
der Prinzessin - Sandelholz, Nelken, Zimt, Ingwer, Ambra und andere
Essenzen, welche die auf einem buddhistischen Altar verbrannten
Wohlgerüche ausmachten. Ein dunkler, heiliger, schwerer Duft,
umgeben von Geheimnis und Ehrfurcht. Er beschwor
die düsteren Schatten und die reiche Ausstattung von Tempeln, das
schimmernde Gold des Altars, den Singsang der Priester, das
Schlagen von Trommeln, die jahrhundertealte Frömmigkeit von
Millionen und Abermillionen Gläubigen und den Rauch der
Bestattungsscheiterhaufen hervor. Während Sachi ihn einatmete,
wurde ihr Geist ruhig, und ihre Gedanken wandten sich der kommenden
Welt zu. Sie hörte das Murmeln von Gebeten und wartete eine Weile,
bevor sie die Tür aufschob.
Die Prinzessin hatte ihren Raum in einen Schrein
verwandelt, der mehr an die Zelle einer Nonne erinnerte als an das
Gemach einer kaiserlichen Prinzessin. Die Gedächtnistafel Seiner
Majestät stand auf dem Altar, zusammen mit Opfergaben und Kerzen,
die mit hohen gelben Flammen brannten. Eine kleine Gestalt kniete
davor, ließ Gebetsperlen durch ihre Finger gleiten.
Sachi kniete sich daneben. Ihr Blick fiel auf die
Daguerreotypie mit dem sanften jungen Gesicht Seiner Majestät. Für
einen Moment war sie wieder im Frauenpalast, in einem Raum voll
goldener Wandschirme, beleuchtet von riesigen goldenen Kerzen, mit
zahllosen Bediensteten, die sich im Schatten herumdrückten.
Plaudernde und lachende Frauenstimmen drangen durch das Blattgold
der Wände und durch die bemalten Quergewölbe mit den kunstvoll
geschnitzten Kranichen und Schildkröten, Pfauen und Drachen. Die
gesteppten Säume der Kimonos raschelten, während sie über die
Tatami glitten. Alles glitzerte vor Gold - die Gewänder auf den
lackierten Ständern, die schmalen, in Fächer unterteilten Regale,
die Kosmetikkästchen, das Teegeschirr aus Porzellan.
Sie erinnerte sich an die Maskeraden und
Theateraufführungen und Tänze. Dann dachte sie an die Nacht, in der
sie bei dem Shogun gelegen hatte - die seidenen Laken, die Wärme
seines Körpers, seine bleiche Brust und das schelmische Lächeln.
Sachi war jetzt eine große Dame und eine Samurai, aber sie musste
immer noch schwer schlucken, um die Tränen zurückzuhalten.
Doch da war eine andere Erinnerung, die mit dieser
zusammenprallte und drohte, sie auszulöschen. Kurz befürchtete sie,
die Prinzessin könnte ihre Gedanken lesen und das Bild sehen, das
Shinzaemon dort eingebrannt hatte.
Aber die Prinzessin schien nicht mehr Teil dieser
Welt zu sein. In der kostbaren Seide ihres Sommerkimonos wirkte sie
so zerbrechlich wie ein Schilfrohr. Unter der durchscheinenden Haut
ihrer Hand konnte Sachi die blauen Adern und schmalen Knochen
sehen, und dass die Augen riesig und leuchtend waren, als blicke
sie bereits der kommenden Welt entgegen. Egal, welche Schläge ihr
das Schicksal versetzte, sie war von edlem Blut, sie war die
Schwester des verstorbenen Kaisers. Das konnte ihr niemand
nehmen.
»Das waren glückliche Tage«, murmelte die
Prinzessin. Es war lange her, dass Sachi dieses hohe, vogelartige
Wispern gehört hatte. »Oder sie scheinen wenigstens glücklich
gewesen zu sein, wenn ich an sie zurückdenke. Vielleicht waren sie
damals nicht so glücklich. Es ist gut, dich zu sehen. Du erblühst
wie eine Purpurwinde. Ich dagegen verblasse.«
Sachi blickte auf die Tatami und lauschte
respektvoll.
»Du hast bestimmt die Kanonen gehört«, fuhr die
Prinzessin fort. »Du weißt, dass die letzten Getreuen der Tokugawa
- die Miliz - vernichtet oder aus Edo vertrieben wurden. Jetzt gibt
es eine neue Regierung, die im Namen Seiner Erhabenheit, des
Kaisers regiert - meines Neffen.« Sie stieß ein schnaubendes,
bitteres Lachen aus.
»Sie haben mir ihre Absichten zur Kenntnis
gebracht«, fuhr sie fort. »Selbst dieses kärgliche Leben, das wir
hier führen, hat
zu enden. Der Tokugawa-Clan soll bestraft werden. Die Besoldung
für uns und unser Gefolge wird auf fast nichts herabgesetzt, und
wir werden aus Edo ausgewiesen. Wir müssen nach Suruga und uns dem
zurückgetretenen Shogun, Herrn Yoshinobu, in der Verbannung
anschließen.«
Sachi runzelte die Stirn, versuchte die
Ungeheuerlichkeit des Gesagten zu erfassen. Ohne ihre Besoldung
standen sie vor dem Ruin. Sie mussten eine Möglichkeit für ihren
Lebensunterhalt finden, sonst würden sie sterben. Am
besorgniserregendesten war, dass man sie nach Suruga in die
Verbannung schickte. Wo immer das sein mochte, es lag zweifellos am
Ende der Welt.
Dann ging ihr die volle Bedeutung dieses Satzes
auf. Wenn … falls … Shinzaemon kam, um nach ihr zu suchen, falls es
Tatsuemon gelungen war, ihn zu finden, würde Shinzaemon zuerst in
die Shimizu-Residenz kommen. Selbst wenn Tatsuemon ihn nicht wieder
traf, würde Shinzaemon glauben, dass sie irgendwo in Edo war. Aber
wenn sie nach Suruga ging, würde sie ihn nie wiedersehen. Und ihren
Vater auch nicht.
Plötzlich wurde ihr das Schweigen der Prinzessin
bewusst. In der Vergangenheit hatte sie schlechte Nachrichten immer
mit Jammern und Klagen verkündet, doch jetzt ging eine fast
jenseitige Ruhe von ihr aus. Vielleicht hatten ihr die Monate in
Gebet und Meditation so viel inneren Frieden verschafft, dass sie
über den Sorgen der Welt stand.
»Zwölftausend Haushalte müssen umziehen«, sagte die
Prinzessin, die Augen brennend vor Zorn. »Hunderttausend Menschen.
Die Regierung hat uns einen Monat Zeit gegeben, um unser Hab und
Gut zu packen. Wenn wir fort sind, wird die Stadt leer sein. Diese
Regierung will Edo und alles, für das es steht, zerstören.«
Widerstreitende Gedanken schossen Sachi durch den
Kopf.
Sie kannte ihre Pflicht, wusste, was sie zu sagen hatte: »Ich
stehe Euer Hoheit zur Verfügung. Wenn es Euer Wille ist, werde ich
bereit sein, Edo dann zu verlassen, wann es Euer Hoheit genehm
ist.« Aber sie verspürte plötzlich eine ungestüme Entschlossenheit.
Sie würde in Edo bleiben, ganz gleich, was geschah. Selbst wenn sie
sich verstecken musste. Sie würde sich nicht zum Gehen zwingen
lassen, um an einen fernen, unbekannten Ort geschickt zu
werden.
Ein langes Schweigen entstand. Die Prinzessin
schaute sie an, als wollte sie sich ihr Gesicht fest einprägen.
Sachi fragte sich erneut, ob sie ihre Gedanken lesen konnte, ob in
ihrem Gesicht ein Anschein von Rebellion zu erkennen war.
»Du bist wie eine Schwester für mich«, hauchte die
Prinzessin. »Meine kleine Schwester. Nie werde ich den Augenblick
vergessen, als ich dich zum ersten Mal in deinem Bergdorf sah. Für
gewöhnlich nahm ich die Menschen auf dem Land nicht wahr. Aber du -
du schautest mich mit deinen großen Augen an, so leuchtend und
neugierig und lebendig, und ich erkannte, dass du überhaupt keine
Angst hattest. Und dieses Gesicht - genau wie meines. Wie das eines
jüngeren, glücklicheren Ichs.«
Die Prinzessin richtete sich auf. Um ihren kleinen
Mund spielte ein Lächeln.
»Als ich in die Tokugawa-Familie einheiratete, habe
ich geschworen, ihr Schicksal zu teilen«, fuhr sie ruhig fort. »Die
Welt hat sich weiterbewegt, aber ich bin kein Teil mehr davon. Das
kann ich niemals sein. Doch du - du bist anders. Du hast uns allen
Sonnenschein gebracht. Selbst Seiner Majestät in seinem kurzen
Leben: Du hast ihm Freude gebracht. Du hast immer deine Pflicht
erfüllt. Jetzt gebe ich dich frei, ich löse alle Verpflichtungen,
die du jemals mir gegenüber hattest. Du bist frei, das zu tun, was
du möchtest. Wenn du das Edikt nicht
befolgen willst, liegt es bei dir, das zu entscheiden. Bestimmt
kannst du eine Möglichkeit finden, hier in Edo zu bleiben. Ich
wiederum gehe bereitwillig in die Verbannung.«
Sachi lag auf den Knien, die Hände auf die Tatami
gepresst. Sie schaute zu der Prinzessin auf, und Tränen liefen ihr
über die Wangen. Ihrer beider Schicksal war so lange miteinander
verbunden gewesen.
»Wir werden uns vermutlich nie wiedersehen«, sagte
Prinzessin Kazu. »Obwohl ich gezwungen wurde, Kyoto und meine
Familie zu verlassen, hatte ich dich zur Schwester. Ich werde dich
niemals vergessen.«