7
Ein Rauchfädchen

I
An der Biegung, von der die Straße ins Dorf
hinabführte, drehte Sachi sich um und schaute zurück. Es verschlug
ihr den Atem. Die sich bis zum fernen Wald erstreckende lange
Überlandstraße, gesäumt von Kiefern, die Berge, die das Tal wie die
Mauern einer Festung umgaben - all das war schmerzlich vertraut.
Damals war es Herbst gewesen, jetzt herrschte Winter, und die Berge
waren schneebedeckt, doch sie erkannte alles wieder. Genau an
dieser Stelle hatte sie mit der kleinen Mitsu, dem schlaksigen
Genzaburo und ihrem Bruder Chobei gestanden und nach der Prozession
der Prinzessin Ausschau gehalten. Sie erinnerte sich, wie die
ersten Rufe über das Tal gehallt waren, kaum lauter als das
Flüstern des Windes - »Shita ni iyo, shita ni iyo! Auf die
Knie, auf die Knie!« -, und sie gesehen hatte, wie die Banner durch
die Bäume ragten.
Wie verzaubert stand sie da, als Taki ihren dünnen
Finger hob. Aus der Ferne waren Geräusche zu hören, ein dumpfes
Brüllen, nicht viel anders als das, was sie vor all den Jahren
vernommen hatte. Es klang wie der rauschende, von der
Schneeschmelze angeschwollene Kiso, doch Sachi wusste, dass es das
nicht war. Einen Augenblick später wurden die Geräusche
unterscheidbar - das Dröhnen großer Trommeln, Männerstimmen, die
das barbarische Siegeslied brüllten, das Trampeln und Donnern
marschierender Truppen, das Knirschen vieler Hunderter
Strohsandalen. Das schreckliche Befriedungsheer. Noch mehr
Regimenter der ungehobelten Kerle aus dem Süden, auf dem Marsch von
Kyoto und unterwegs zu Sachis Dorf.
Es war keine Zeit zu verlieren. Sie drehten um und
eilten die letzten Schritte auf das Dorf zu, rutschten und
schlitterten die vereiste Straße hinab. Dabei kamen sie an der
Holztafel vorbei, auf der alle im Dorf lebenden Familien
aufgelistet waren, jede auf ihrem eigenen Holzbrettchen. Auch daran
erinnerte sich Sachi mit einem Stich. Die Tafel markierte den
Dorfeingang. Daneben stand das Wasserfass mit den gestapelten
Holzeimern, stets gefüllt für den Fall eines Feuers. Alles war von
Schnee eingehüllt, der es frisch und weiß aussehen ließ.
In all den Jahren hatte sich Sachi die Erinnerung
an diese heimeligen Holzhäuser mit ihren grauen Schindeldächern
bewahrt - so sauber, so ordentlich, von kleinen Steinmauern
umgeben. Wenn das Leben unerträglich schien, hatte sie sich
vorgestellt, wieder hier zu sein. Und jetzt war sie es
tatsächlich.
Aber irgendetwas stimmte nicht. Das Dorf war stets
voller Reisender gewesen; Frauen hatten die Straße gefegt und
Kinder Pferdeäpfel und weggeworfene Strohsandalen aufgesammelt.
Immer waren Schritte, schwatzende Stimmen, klappernde Webstühle und
Spinnräder zu hören gewesen.
Jetzt war alles still und leer. Der vertraute
Geruch nach Holzrauch und Misosuppe hing zwar in der Luft, aber
selbst
die Hähne hatten aufgehört zu krähen. In jedem Haus waren die
Fensterläden geschlossen.
Sachi, Taki und Yuki schürzten ihre Kimonos und
rannten los, dicht gefolgt von ihren Trägern. Sachi blickte sich
um. Shinzaemon schlenderte gelassen hinterher, die beiden Schwerter
fest in seinen Gürtel gesteckt, hatte den arroganten, federnden
Schritt des Samurai, als wollte er sagen: »Rennen? Ich?« Er blieb
immer weiter zurück. Sie kamen an dem Gasthaus vorbei, das der
Familie der kleinen Mitsu gehörte, dann an Genzaburos Elternhaus.
Auf der anderen Seite war die lange Mauer des prächtigen
Gasthauses, in dem die Daimyo abzusteigen pflegten. Ihr Gasthaus,
wo sie und ihre Familie lebten.
Keuchend duckten sich die Frauen durch das Tor,
unter den Zweigen des knorrigen Kirschbaums hindurch, auf den Sachi
früher geklettert war, und um die weiß getünchte Innenmauer herum,
die das Gasthaus und die Lehnsfürsten vor den Augen des gemeinen
Volks verbarg. Vor ihnen lagen die schattige Eingangshalle und die
Holzveranda, auf der Sachi gekniet hatte, als sie die Prinzessin
zum ersten Mal sah. Das Gasthaus wirkte ein wenig heruntergekommen
und verwahrlost, aber alles war da, genauso, wie sie es in
Erinnerung hatte - das weitläufige Grundstück, der Brunnen, der
Schuppen für die Palankine, die Ställe. Doch was war mit der Rampe
geschehen, auf der die Palankinträger hinauf und hinunter gelaufen
waren? Es war ihre Aufgabe gewesen, sie immer sauber und glatt zu
harken. Jetzt ragten Gras, Unkraut und Steine aus dem Schnee.
Sachi führte sie um das Gebäude herum, zu den
Wohnräumen der Familie, und schob die schwere Holztür auf. Das
Quietschen in der Führungsschiene war herzzerreißend vertraut.
Sachi zögerte, wagte kaum weiterzugehen. Sie fürchtete sich vor
dem, was sie vorfinden würde. Dann atmete sie tief
durch und trat auf den gestampften Lehmboden der Halle. Taki und
Yuki verharrten zaghaft vor der Tür. Shinzaemon war gerade
aufgetaucht.
»Beeilt euch, beeilt euch«, drängte Sachi.
»Aber das ist … das Haus eines Bauern«, sagte Taki.
»Ich kann kein Bauernhaus betreten. Es würde … Es würde mich
beschmutzen.«
Takis Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen.
Sachi wusste, dass für Taki der Umgang mit Bauern das Gleiche
bedeutete, als wäre sie von wilden Tieren eingekreist. Sie lächelte
ihrer Freundin beruhigend zu.
»Das ist mein Haus«, sagte sie sanft. »Keine
Bauern, ländliche Samurai. Wir sind ländliche Samurai.«
Drinnen hing Rauch in der Luft. Kiefernnadeln
knisterten und zischten in der Feuerstelle, verbreiteten einen
angenehmen Harzgeruch. Der zerbeulte Deckel eines rußgeschwärzten
Eisenkessels hüpfte und klapperte.
»Jemand zu Hause?«, piepste Sachi. Ihre Stimme
klang in der hohen Halle dünn und zittrig. Sie rief noch
einmal.
Eine Frau humpelte langsam heraus, ihr Gesicht in
der Dunkelheit verschwommen.
»Wer ist da?«, fragte sie.
Sie stand vornübergebeugt wie eine alte Frau, die
Knie eingeknickt und eine Hand in die Hüfte gestemmt. Ihr Rücken
war so verkrümmt, dass ihr Gesicht fast auf der gleichen Höhe wie
ihre Knie war. Ihr Haar war mit Grau durchzogen, das Gesicht faltig
und zerknittert. Aber es war das gleiche liebe Gesicht, das Sachi
so lange in ihrem Gedächtnis bewahrt hatte.
»Mutter«, sagte sie. »Ich bin es. Sa. Ich bin
heimgekehrt.«
Otama richtete sich auf, die Hand auf dem Rücken,
wiegte sich vor und zurück, spähte aus wässrigen Augen hoch.
»Sa«, sagte sie verwundert. Unter Schmerzen sank
sie auf die Knie und senkte den Kopf auf die verblichene
Strohmatte.
»Verbeug dich nicht vor mir, Mutter«, bat Sachi.
Tränen rannen ihr über das Gesicht.
»Schau dich an, wie du gewachsen bist«, sagte
Otama. »Du meine Güte, und wie du redest! Du bist eine große Dame
geworden. Kommt rasch herein. Die Soldaten werden jeden Augenblick
hier sein.«
Ihr Kiso-Lispeln war so heimelig und vertraut, dass
Sachi trotz der Tränen lächeln musste. Die vier Reisenden schnürten
ihre Strohsandalen auf, fegten sich den Straßenstaub von den
Kleidern, wischten sich die Füße ab und traten auf die Matten. Die
Träger hievten das Gepäck hinein und stapelten es auf dem Holzboden
des Flurs, der an den Räumen entlangführte. Unterwegs war es ihnen
nur wie ein paar armselige Bündel vorgekommen. Aber hier im Haus
wirkte es gewaltig. Alles war vollgestellt.
Otama schien sich überhaupt nicht zu wundern, dass
Sachi Freunde mitgebracht hatte. Sachi hatte vergessen, wie einfach
das Leben auf dem Land verlief. Es war nicht in Regeln eingeschnürt
wie das Leben am Hof oder auch nur unter den Samurai. Unter den
Samurai wäre es für eine Frau undenkbar gewesen, im selben Raum mit
einem Mann zu sein, aber hier scherte das niemanden - das Leben war
viel freier und unbeschwerter. Männer und Frauen gingen ungezwungen
miteinander um. Reisen in gemischter Gesellschaft waren nichts
Ungewöhnliches. Sachis Eltern waren immer gut darin gewesen, das
Leben zu nehmen, wie es kam. Otama war nicht einmal über Sachis
Begleiter erstaunt: Die spindeldürre, bleiche Hofdame, das
Samurai-Kind, der Ronin mit dem buschigen Haar - alle möglichen
Leute bereisten die Straße.
Zwei Kinder tappten herein und blieben mit
gebeugtem
Kopf stehen. Das ältere blickte auf und starrte Sachi mit großen,
ernsten Augen an. Sachi erkannte das stachelige Haar und das runde,
neugierige Gesicht.
»Chobei, erinnerst du dich an die Große
Schwester?«
Er war noch ein Kleinkind gewesen, als sie ihn das
letzte Mal gesehen hatte. Jetzt war er in genau demselben Alter wie
Sachi, als sie in den Palast gekommen war. Sie hatte ihn sich oft
in seinem kratzigen braunen Kimono vorgestellt, wie er an dem
letzten Tag mit der Eidechse gespielt hatte, während sie Ausschau
nach der Prozession der Prinzessin hielten. Und den Säugling, den
sie auf dem Rücken getragen hatte - die kleine Omasa. Sie war
gestorben. Das hier musste Ofuki sein, die erst nach Sachis Weggang
geboren worden war.
Sachi kniete sich nieder und nahm die beiden Kinder
in die Arme, rieb die Nase an ihrer rauen braunen Haut, roch die
vertrauten Landgerüche nach Holzrauch und Erde in ihrem Haar.
»Wo bist du hingegangen?«, fragte Chobei.
»Weit, weit fort.«
»Bleibst du jetzt hier?«
»Ich hoffe.« Sachi lächelte ihre Mutter an.
»Bitte bleib«, sagte das kleine Mädchen.
Yuki musterte Chobei. Sie waren fast gleich alt.
Wenigstens gab es hier einen Spielkameraden für sie.
»Ich bleibe«, sagte sie entschieden. Ihre beiden
Zöpfe wippten dabei nachdrücklich. Zum ersten Mal, seit sie Kano
verlassen hatten, lächelte sie.
Otama füllte eine Teekanne aus dem Kessel und
stellte Teetassen um die Feuerstelle. Sehnsuchtsvoll betrachtete
sie Sachi, als wolle sie sie für immer festhalten. Sie öffnete den
Mund, um etwas zu sagen. Dann seufzte sie, schüttelte den Kopf und
sah weg.
Irgendwo in der Ferne waren Rufe und schnelle
Schritte zu hören. Otama zuckte zusammen und wurde bleich. Zischend
sog sie die Luft ein, blickte von einem zum anderen, die Augen
geweitet vor Angst.
»Verschwindet, Kinder«, sagte sie abrupt und wandte
sich an Shinzaemon. Er saß still da, starrte ins Feuer, hielt eine
dünne, langstielige Pfeife in seinen großen Händen. »Sie können
nicht bleiben«, zischte sie. »Die Soldaten werden jeden Augenblick
hier sein. Sie werden als Erstes nach Leuten wie Ihnen suchen. Es
ist sehr schmutzig, aber … Sie klettern besser nach oben auf den
Speicher.«
»Auf dem Speicher werde ich für euch kaum von
Nutzen sein«, protestierte Shinzaemon.
Die Rufe kamen näher.
»Sie hat Recht«, sagte Sachi. »Sie werden hinter
dir her sein. Du kannst es nicht allein mit einer ganzen Armee
aufnehmen. Uns Frauen werden sie in Ruhe lassen.«
»Die sind genau dort durchgekommen, wo wir auf
diese Ronin aus dem Süden gestoßen sind«, fügte Taki nickend hinzu.
»Sie werden ihre toten Kameraden entdeckt haben. Wenn die Sie hier
finden, lassen sie es an uns aus.«
»Sie werden das ganze Dorf massakrieren«, sagte
Sachi flehend.
»Ich lasse dich nicht allein.«
»Du kannst uns nicht beschützen, wenn du tot bist«,
widersprach Sachi.
»Die Soldaten haben alle jungen Männer verhört«,
warf Otama ängstlich ein. »Sie haben es auf alle abgesehen, die sie
für Parteigänger des Nordens halten.«
Shinzaemon seufzte. »Na gut, wenn Sie darauf
bestehen«, sagte er finster.
»Bleibt im Haus, während die Soldaten hier sind«,
drängte
Otama, blickte die Frauen stirnrunzelnd an. »Was immer ihr tut,
geht nicht hinaus.«
Sachi nahm eine Kerze und eilte durch das dunkle
Haus zu einer hinten an die Wand gelehnten Leiter. Sie gab
Shinzaemon eine Laterne und eine Zunderbüchse und stieß die Falltür
auf. Seine Augen funkelten im Dunkeln wie die einer Katze. Ein
letztes Mal ließ er seinen Blick über ihr Gesicht wandern. Dann
bückte er sich und stieg nach oben. Sachi schloss die Falltür und
schob die Leiter weg. Über sich hörte sie die Bodenbretter
knarren.
II
Während Otama davoneilte, um das Essen für die
Soldaten zuzubereiten, blieben Sachi, Taki und Yuki mit den Kindern
in den Räumen der Familie.
In Gedanken ging Sachi noch einmal die Ereignisse
des Tages durch. Shinzaemons Sinneswandel, die Tatsache, dass er
hier im Dorf war - sie hätte sich niemals vorstellen können, dass
er etwas so Überstürztes und Wunderbares tun würde. Sie wagte nicht
einmal zu überlegen, warum er es getan hatte oder was es bedeutete.
Wieder und wieder gingen ihr seine Worte durch den Kopf: »Du bist
ein Wesen aus einem anderen Gefilde.« Sie betrachtete sich in dem
matten Metallspiegel ihrer Mutter. Vor noch gar nicht so langer
Zeit hatte sie ihr Gesicht nur betrachtet, um die Schminke und ihr
Haar zu überprüfen. Aber jetzt musterte sie ihr Gesicht, als hätte
sie es noch nie zuvor gesehen. Sie fuhr mit dem Finger über ihre
glatte weiße Wange und die kleine, gerade Nase. Das war also das
Gesicht, das er sah - und mochte.
Dann runzelte sie die Stirn und schüttelte den
Kopf. Sie
brauchte Taki, um daran erinnert zu werden, dass sie mit dem Feuer
spielte, dass jede Art von Verbindung von der Familie oder, in
ihrem Fall, vom Shogunat abgesegnet werden musste. Wenn sie sich
fortreißen ließ, würden sie am Ende beide geköpft werden. Unterwegs
hatten sie die gesellschaftlichen Regeln missachten können, doch
hier im Dorf würden sie viel vorsichtiger sein müssen. Außerdem
hatte er ja nur ein paar zusätzliche Tage freigeschlagen, um mit
ihr zusammenzusein. Sobald sie das Dorf verließen, würden sie auf
dem Weg nach Edo sein, und dort würden sie Abschied nehmen,
vermutlich für immer. Es war zwecklos, sich Sorgen um die Zukunft
zu machen; sie hatten keine Zukunft. Für sie gab es nur die
Gegenwart.
»Nun ja«, sagte Taki, »wieder allein.«
Da jetzt nur noch Sachi sie sehen konnte, fiel ihr
dünnes Gesicht in sich zusammen. Ihre großen Augen blickten traurig
in die Ferne. Sachi kniete sich hinter sie und knetete Takis
knochige Schultern. Taki stöhnte dankbar, während Sachi einen
besonders hartnäckigen Knoten bearbeitete.
»In Edo sehen wir sie wieder«, sagte Sachi leise,
eingedenk dessen, dass sich Taki ihr nicht anvertraut hatte.
»Shinzaemon hat ein so impulsives Wesen«, fügte sie hinzu.
»Toranosuké ist viel gesetzter. Ich nehme an, dass auch er
geblieben wäre, sich aber verpflichtet fühlte, nach Edo
weiterzureiten.«
»Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist«, sagte
Taki reumütig. »Das sieht mir überhaupt nicht ähnlich.« Sie
seufzte. »Ich muss einfach warten, bis diese törichten Gedanken
verschwinden. Schließlich steht er weit unter meinem Rang. Worauf
könnte ich denn hoffen - seine Kurtisane zu werden? Ich hätte nie
erwartet, dass es mich so überwältigt. Ich bin eine Hofdame, ich
werde den Rest meines Lebens im Frauenpalast verbringen, so ist es
nun mal.
Hier drin ist es so verräuchert«, murmelte sie und
tupfte sich die Augen mit ihrem Ärmel ab.
Sachi wusste, dass es nicht der Rauch war, der Taki
die Tränen in die Augen trieb. Sie nahm sie in die Arme, und sie
schmiegten sich aneinander.
Sachi war fast eingenickt, als die Tür aufkrachte.
Ein Soldat stürmte herein, dann noch einer und noch einer, bis sich
zwanzig oder dreißig im Raum drängten. Einige hatten rote,
aufgedunsene Gesichter, und ihr Atem roch nach Sake. Sie schwangen
ihre blanken Schwerter, machten sich nicht mal die Mühe, ihre
Strohsandalen auszuziehen, trampelten mit den dreckigen Schuhen auf
den Tatamimatten herum. Der Gestank von Essen, Tabak und altem
Schweiß erfüllte den Raum. Sachi und Taki setzten sich rasch auf.
Sie schoben die Kinder in eine Ecke, hockten sich beschützend vor
sie und zogen sich ihre Überwürfe vor das Gesicht.
»Diese Gesetzlosen. Ihr habt sie hier irgendwo
versteckt. Übergebt sie, dann geschieht euch nichts.«
Die hässlichen südlichen Silben schmerzten in den
Ohren wie Hundegekläff. Sie sahen auch wie Hunde aus, diese
Soldaten aus dem Süden, waren von kurzem Wuchs und stämmig. Ihre
Haut war ledrig und tiefdunkel von der Sonne, ihre Augen wie
Schlitze. Statt der würdevollen Rüstung der Krieger trugen sie
fremdartige Kleidung mit engen Ärmeln und anliegenden Hosen, in
denen ihre Beine wie Stöcke wirkten. Einige hatten Bänder um ihre
stoppeligen Köpfe, mit einem viereckigen Eisenstück zum Schutz
ihrer Stirn, als seien sie auf Blutrache aus. Sie hatten
ungeschorene Schädel und das lange, zu einem Pferdeschwanz
zurückgebundene Haar der Ronin. Manche trugen Hundefelle um die
Schultern. Drohend ragten sie über den Frauen auf, starrten sie
anklagend an.
Sachi schaute mit aufgerissenen Augen zu ihnen
hoch, legte einen Ausdruck verschreckter Unschuld in ihre Miene.
Sie wagte nicht, Blicke mit Taki zu wechseln. Nur zu gut wusste
sie, dass sie sich nicht verteidigen konnten. Die Schwertlanzen
waren außer Reichweite bei ihrem Gepäck, und es waren zu viele
Soldaten, um mit Haarnadeln und Dolchen zu kämpfen. Außerdem waren
Kinder hier. Alle wussten, dass diese Männer aus dem Süden
gewalttätige Kerle waren, die keine menschlichen Gefühle kannten.
Jähzornig und ungehobelt wären sie, sagte man, aber auch mutig bis
zur Verwegenheit. Nur die Götter wussten, was sie tun würden, wenn
man sie provozierte.
»Dieser Unruhestifter ist hier herum gesehen
worden«, blaffte einer, ein stämmiger Bursche mit einem
schwarzbärtigen Gesicht und einer plattgedrückten Nase. »Bin in
Kyoto genug von dieser Sorte begegnet. Ein Kerl mit einer
Tätowierung auf der Schulter. Hässliches Scheusal.« Er musterte sie
aus zusammengekniffenen, misstrauischen Augen. »Ein paar von
unseren Männern wurden von einer Bande aus dem Norden
abgeschlachtet - mindestens zwanzig, behaupten die Überlebenden.
Der Anführer passt auf die Beschreibung.«
Unwillkürlich verspürte Sachi ein Fünkchen
Befriedigung. Mindestens zwanzig? Sie war froh, dass sie so viel
Eindruck gemacht hatten.
»Wenn ihr hier Flüchtige versteckt haltet, übergebt
sie uns, und wir werden euch nichts tun.«
Sachi wollte gerade antworten, als einer der
Soldaten sein Gewehr hob und den Kolben in eine Tür rammte. Andere
taten es ihm nach, rissen große Löcher in die Papiertüren. Dann
folgte ein splitterndes Geräusch, als einer seinen Speer in die
Decke stieß. Die Soldaten stachen mit Bajonetten und Speeren in die
Decke und brüllten: »Wir kriegen den Hundesohn.
Der ist da oben, ganz bestimmt.« Staub rieselte herab, brachte
alle zum Husten. Die Frauen duckten sich zusammen, betäubt von dem
Krach und Tumult.
Sachis Herz schlug so laut, dass sie befürchtete,
die Soldaten könnten es hören. Verstohlen blickte sie nach oben,
wagte kaum zu atmen, befürchtete, Blut an der Klinge eines Speers
glänzen oder, schlimmer noch, ein Körperteil herausbaumeln zu
sehen. Verzweifelt betete sie zu allen Göttern, dass Shinzaemon
blieb, wo er war, hinten am Ende des Hauses, und die
Geistesgegenwart besaß, sich auf einen der dicken, schweren Balken
zu legen.
Der geflochtene Bambus an der Decke hing jetzt an
vielen Stellen in Fetzen herab. Sachi wickelte sich das Tuch um das
Gesicht, dankbar dafür, dass der Raum zu dunkel war, um sie
deutlicher zu erkennen. Sie holte tief Luft, stand auf und wandte
sich den Soldaten zu. Ihr Mund war trocken. Sie redete sich ein,
wieder in der Übungshalle im Frauenpalast zu sein, eine Gegnerin
vor sich. Sie bemühte sich, ihre Atmung zu beruhigen, damit ihre
Stimme nicht zitterte.
»Was fällt euch eigentlich ein, so in unser Haus
einzudringen?«, fragte sie scharf. Ihre Stimme war so klar und
fest, als sei sie wieder im Frauenpalast und kommandierte die
Dienstboten herum. Sie hatte befürchtet, ihren Kiso-Dialekt
vergessen zu haben, doch die Worte waren völlig richtig
akzentuiert. »Hier ist niemand«, fuhr sie im Ton ruhiger Autorität
fort, wurde mit jedem Wort selbstsicherer. »Ihr solltet euch
schämen. Dies ist das Haus von Jiroemon, dem Vorsteher dieses
Dorfes. Wir sind keine Bauern, die man herumschubsen kann. Wie
könnt ihr es wagen, unser Haus derart zu verwüsten?«
Im Raum wurde es still. Die Soldaten starrten sie
mit offenem Mund an.
»Hier ist niemand, nur wir Frauen«, sagte sie
nachdrücklich.
Inzwischen war sie vollkommen ruhig und beherrscht. »Wir haben
nichts zu verbergen. Ihr glaubt mir nicht? Ich zeige es euch.
Kommt.«
Sie führte sie von einem Zimmer ins andere, schob
die Türen auf, öffnete die Truhen, in denen das Bettzeug verwahrt
wurde. Dabei achtete sie darauf, sie möglichst weit von der dunklen
Ecke fortzulenken, wo die Leiter für den Speicher stand.
»Seht ihr?«, rief sie, riss die letzten Türen auf.
»Niemand ist hier. Nur wir.«
»Die Frau hat Mumm«, murmelte einer der Soldaten
widerwillig.
»Allerdings«, nickten die anderen. »Mag zwar ein
Bauerntrampel sein, hat aber das Herz eines Samurai. Wir sollten
diese Frauen in Ruhe lassen.«
Ein Soldat nach dem anderen steckte sein Schwert in
die Scheide zurück. Einige sahen etwas beschämt drein. Sie drängten
sich zu Tür, als sich der Bärtige umdrehte.
»Nur noch ein letzter Blick«, knurrte er, kniff die
Augen misstrauisch zusammen und beäugte Sachi eindringlich. Sie war
froh, dass sie das Tuch um das Gesicht geschlungen hatte. Er
stapfte davon, gefolgt von zwei weiteren, die mit ihren Laternen in
jede dunkle Ecke leuchteten. Sachi lauschte entsetzt, wie ihre
Strohsandalen über die Tatami knirschten. Jeden Augenblick mussten
sie die Leiter finden oder nach oben schauen und die Falltür
entdecken. Sie meinte, ein schwaches Knarren von oben zu hören, und
hoffte, dass niemand sonst es bemerkt hatte.
Irgendetwas musste geschehen. Sie ließ das Tuch vom
Gesicht fallen, tat so, als tastete sie ungeschickt danach, bevor
sie es wieder zurechtzog.
»Na, schau dir das an!«, brüllte ein Soldat, griff
nach dem Tuch und riss es ihr vom Gesicht. »Was für eine
Schönheit!«
Im nächsten Augenblick packte er sie an den
Schultern und schob sie gegen eine Wand. Sachi stockte der Atem.
Sie hatte nicht geglaubt, dass Männer so brutal sein könnten,
selbst die aus dem Süden nicht. Sein Gesicht war pockennarbig, sein
Kinn stoppelig, seine Augen klein wie die eines Schweins.
Angewidert wich sie vor seinem üblen Mundgeruch zurück.
Die anderen drängten sich lüstern heran. Denn
schließlich, wurde ihr klar, war sie für diese Männer nichts als
ein Bauernmädchen. Sie konnten ihr straflos alles antun, was sie
wollten.
»Die gehört mir«, gluckste der Pockennarbige,
besprühte sie mit Spucke. »Kriegsbeute! Komm mit uns, Mädchen. Wir
sind die Eroberer!«
Erbittert versuchte Sachi, den Soldaten
wegzustoßen, und tastete nach ihrer Haarnadel. Einen Augenblick
lang vergaß sie alles bis auf seinen abstoßenden, verschwitzten
Körper, der sie gegen die Wand drückte. Sie würde ihm die Augen
ausstechen, auch wenn die Soldaten sie dann alle umbrachten.
Dann hielt sie erschrocken inne: Da draußen war
eine ganze Armee. Sie konnte sich nicht verteidigen, oder sie würde
Tod und Zerstörung über das ganze Dorf bringen. Ging man von diesen
Männern mit ihrem barbarischen Gestank und der sonnenverbrannten
Haut aus, konnte es keinen Zweifel geben, dass sie alle Bewohner
massakrieren würden.
Der Mann zerrte an ihrer Kleidung, als Taki sich
erhob. Sie richtete sich auf und funkelte die Soldaten an. Ihr
großen Augen blitzten. Sie verbarg nicht mal ihren vornehmen
Kyoto-Akzent. Mit ihrer Piepsstimme kreischte sie in einem Ton
voller Verachtung: »Was seid ihr - Tiere oder Menschen?« Ihre
Stimme übertönte den Lärm. »Ihr solltet euch schämen. Wir sind hier
treue Untertanen des Kaisers. Aber wir sind nicht bereit, uns von
wilden Tieren regieren zu lassen. So seid ihr Männer aus dem Süden
also! Ihr platzt hier herein, versetzt
die Kinder in Angst und Schrecken. Ich weiß nicht, nach wem oder
was ihr sucht, aber hier ist niemand. Könnt ihr das nicht sehen?
Ihr habt genug Schaden angerichtet. Ihr Männer aus dem Süden - ihr
seid nicht besser als Tiere!«
Die Soldaten verstummten. Einige scharrten mit den
Füßen und blickten zu Boden. Der Bärtige war zurückgekommen, um zu
sehen, was da los war. Er drängte sich durch die Soldaten, packte
den Pockennarbigen an den Schultern und stieß ihn weg. Der Mann
stolperte und fiel.
»Wollt ihr, dass euch der Kopf abgeschlagen wird?«,
blaffte der Bärtige. »Ihr habt gehört, was der Kommandant gesagt
hat. Lasst diese Frauen in Ruhe. Wir sollen die Bevölkerung für uns
gewinnen, statt ihnen Angst einzujagen. Hier ist niemand. Raus
hier.«
»Ich komme wieder«, sagte der Pockennarbige mit
lüsternem Blick auf Sachi. Unter misstrauischem Umschauen und
leisen Gegrummel zogen die Soldaten ab.
Die Tür schloss sich, und der Raum war wieder
still. Sachi und Taki schauten sich an. Sie rangen nach Luft und
zitterten nach dem überstandenen Schrecken. Von der Decke hing der
Bambus in Fetzen, und die Türen waren zerrissen. Sachi dachte
daran, dass sie gerade erst zurückgekommen war und ihre Familie
bereits in große Gefahr gebracht hatte.
»Wir sollten dafür sorgen, dass Shin da oben
bleibt«, sagte Taki. »Die kommen bestimmt wieder. Ich dachte, du
hättest gesagt, hier sei es sicher. Es ist alles andere als
das.«
Viel später kehrte Otama zurück. »Diese
Offiziere«, seufzte sie. »Sie rufen nach Sake, dann nach mehr Sake,
dann nach Essen, dann nach mehr Essen. Und bezahlen sie dafür?
Nein. Aber was sollen wir machen? Jedenfalls schnarchen sie
jetzt.«
Sie schaute sich fragend um. Sachi und Taki hatten
sich
nach Kräften bemüht, alles aufzuräumen, doch gegen die Löcher in
den Türen und der Decke hatten sie nichts ausrichten können. Otama
schüttelte müde den Kopf und kniff die Lippen zusammen.
»Und euer Freund?«
Sachi blickte zur Decke.
Otama ging in die Küche, hob die Falltür im Boden
an und holte eine Schale mit Buchweizen heraus. »Das ist alles, was
ich noch habe«, sagte sie.
Sie legte ein paar Holzscheite unter den großen
Kessel, kochte den Buchweizen auf und machte eine braune Grütze
daraus. Etwas davon schöpfte sie in zwei Schalen, schnitt einen
eingelegten Rettich auf, verteilte einige Scheiben davon auf die
zwei Schalen und stellte sie mit zwei Paar Stäbchen auf ein
Tablett. Langsam richtete sie sich auf, die eine Hand in den Rücken
gestützt.
Sachi schaute sie fragend an. Die zwei Schalen
verstand sie - Shinzaemon würde sicher hungrig sein. Aber zwei Paar
Stäbchen …? Otama schenkte ihr ein freundliches Lächeln, schwieg
aber.
»Gib es mir«, bat Sachi.
Sie nahm das Tablett, griff nach einer Laterne und
tappte durch das dunkle Haus. Nachdem sie die Leiter angelegt
hatte, klopfte sie leise an die Falltür und schob sie vorsichtig
ein Stückchen auf.
»Shin!«, rief sie.
Sie schob die Falltür ganz zurück. Mit der Lampe
über dem Kopf stieg sie ein paar Sprossen weiter hinauf und spähte
auf den Speicher.
In dem großen, vollgestellten Raum mit den schrägen
Wänden konnte sie die Unterseite der sich überlappenden
Dachschindel erkennen. Als Kind hatte sie hier oben Verstecken
gespielt. Zerbrochene Gerätschaften, aufgerollte Seile und uralte
Kästen ragten im Lampenschein auf, warfen riesige Schatten. Es war
eiskalt. Sie hob die Laterne höher.
Shinzaemon hockte in der Mitte, im Schneidersitz
auf dem staubigen Boden, eingewickelt in eine Steppdecke. Neben ihm
lag ein blankes Schwert. Sie blinzelte Tränen weg, als sie sah,
dass er sie anblickte. Sein Gesicht war schwarz vor Staub und
Schmutz.
»Dir ist nichts passiert«, sagte sie heiser. »Ich
hatte solche Angst.«
»Ich hörte diese Grobiane aus dem Süden da unten
herumpoltern«, sagte er. »Das hast du gut gemacht. Wenn du
geschrien hättest, wäre ich durch die Decke gebrochen und hätte
ihnen die Köpfe abgeschlagen, der ganzen Bande.«
»Gut, dass du das nicht getan hast. Wenn sie
gewusst hätten, dass du hier bist, hätten sie uns alle umgebracht.
Ich wusste nicht, dass du so berühmt bist, du und deine
Tätowierung.«
Ein Geräusch ertönte - ein Scharren. Zähne blitzten
in der Dunkelheit auf. Hier war noch jemand. Ein langgliedriger,
schlaksiger Junge hockte neben Shinzaemon. Sachi schaute ihn an und
sperrte vor Erstaunen den Mund auf. Er war größer und muskulöser,
als sie ihn in Erinnerung hatte. Schwarzes Haar spross auf seiner
Oberlippe. Aber das koboldhafte Grinsen und das borstige Haar, das
in widerspenstigen Büscheln abstand, war nicht zu verkennen. Sie
konnte ihn beinahe auf den wackeligsten Ästen furchtlos
entlangkriechen und wie ein Fisch durch den Fluss schießen
sehen.
»Genzaburo!«, rief sie. »Gen! Was machst du denn
hier?«
»Diese weiße Haut würde ich überall erkennen«,
sagte Genzaburo. Seine Stimme war immer noch etwas hoch, wie die
eines Jungen. Er grinste sie an wie ein spitzbübischer
Wasserkobold.
»Na, ich bin nicht überrascht«, sagte sie und
schüttelte den Kopf in benommener Freude. »Überhaupt nicht. Was um
alles in der Welt hast du gemacht?«
»Dafür gesorgt, am Leben zu bleiben«, erwiderte
Genzaburo. »Wir sind hier ganz schön herumgekrochen. Überall
stießen die Speere durch. Kamen uns vor wie bei einem
Bajonettangriff, nur auf der falschen Seite. Sind herumgetanzt, bis
wir zwei Balken gefunden hatten, auf die wir uns hocken konnten.
Shin wollte nach unten und sie alle erledigen. Ich musste ihn
zurückhalten.«
Shinzaemon schaute Sachi an.
»Hast du von mir erwartet, dass ich hier oben
bleibe und es dir überlasse, mit diesen Untieren allein
fertigzuwerden?«, knurrte er. Im Licht der Laterne hätten die
beiden fast Brüder sein können. Sie sahen viel zu jung und
unverfroren aus, als dass ein ganzes Regiment aus dem Süden
erforderlich gewesen wäre, sie aufzuscheuchen.
Später, als sie den Schaden so gut wie möglich
behoben und ihre Futons ausgebreitet hatten, flüsterte Otama Sachi
zu: »Ich hörte, wie diese Männer aus dem Süden über einen
Verbrecher oder so geredet haben. Ist das dein Freund?«
»Das ist alles Übertreibung. Er ist mit uns
gekommen, um uns zu beschützen.«
»Du brauchst mir nichts zu erklären. Du bist unsere
Sa. Mehr müssen wir nicht wissen. Und dieser Genzaburo«, fügte sie
lächelnd hinzu. »Tobt hier im Dorf herum, führt einen
Ein-Mann-Krieg gegen die Soldaten aus dem Süden. Ich weiß nicht,
wie viele er erledigt hat. Aber irgendwie müssen wir uns ja
verteidigen.«
Sachi betrachtete sie. Otamas Haar wurde schütter,
ihre Handknöchel waren geschwollen, ihr Gesicht voller Falten,
doch sie strahlte Ruhe und Freundlichkeit und Kraft aus. Es machte
Sachi wütend, dass Otama nach all den Jahren harter Arbeit jetzt
unter diesen gewalttätigen, barbarischen Kerlen aus dem Süden
leiden musste, die herumstolzierten und alles zerstörten, was ihre
Mutter unter solchen Mühen aufgebaut hatte.
»Die Offiziere der Südarmee steigen also in unserem
Gasthaus ab?«
»Uns blieb keine andere Wahl. Deinem Vater wurde
mitgeteilt, dass sie auf dem Vormarsch wären. Uns wurde befohlen,
für Übernachtung und Verpflegung zu sorgen. Das Gasthaus verfiel.
Wir haben es nicht mehr benutzt, seit die Prozessionen ausblieben.
Wann war das? Vor vier Jahren? Fünf? Niemand kam mehr zum
Übernachten her. Gewöhnliche Reisende konnten es sich nicht
leisten. Keine Gäste, und zwanzig Räume, die in Ordnung gehalten
werden müssen. Ich habe gewischt und poliert und geputzt, aber es
ist alles sehr heruntergekommen.
Erinnerst du dich, wie wir zusammen die Tatami
geschrubbt und Blumen für die Nische gesteckt haben, wenn die
Lehnsfürsten sich zum Übernachten angekündigt hatten? Du warst so
geschickt mit den Blumen, Sa. Hast das gerne gemacht. Und Vater,
der sich mit den hohen Herrschaften unterhielt? Sie waren so edel,
so würdevoll, diese Lehnsfürsten. Sie kamen immer am selben Tag
durch das Dorf, jedes Jahr. Wir wussten genau, wie viele Männer sie
bei sich haben würden, wie viel Verpflegung, wie viel Bettzeug
gebraucht wurde. Alles war festgelegt. Alles war organisiert und
geplant. Und wir wurden dafür bezahlt, erhielten genug, um
durchzukommen …«
Ein langes Schweigen entstand. Schließlich sagte
sie: »Es hat eine Hungersnot gegeben, Sa. Die Ernte war seit deinem
Fortgehen jedes Jahr schlecht.«
Wieder trat Schweigen ein. Sachi hatte das Gefühl,
dass Otama ihr etwas verschwieg.
Später am Abend glitt die Tür auf, und eine große
Gestalt erschien. Sie warf sich neben allen anderen auf die Tatami.
Sachi wusste, dass es ihr Vater war, aber es war zu spät zum Reden.
Als sie am Morgen erwachte, war er bereits fort, zusammen mit
Shinzaemon und Genzaburo.
Bei Tageslicht sah Sachi, dass die Soldaten ein
Bild der Verwüstung hinterlassen hatten. Die Straßen waren mit
ausgebrannten Fackeln übersät. Die Ränder der Abflussgräben waren
unter dem Durchzug so vieler Männer und Pferde zusammengebrochen.
Der Boden war ein Morast aus zertrampeltem Schnee, aufgewühlt und
zerfurcht von den Rädern der Lafetten. Kinder rannten herum, fegten
Pferdeäpfel, Strohsandalen und die Strohumwicklungen der Pferdehufe
auf.
Sachi half ihrer Mutter beim Saubermachen und blieb
dabei stets wachsam. Sie hatte den Pockennarbigen nicht vergessen.
Als sie in der Morgensonne dastand, konnte sie nicht umhin, zu
bemerken, wie heruntergekommen und schäbig das Dorf geworden war.
Es war ärmlicher und kleiner, als sie es in Erinnerung hatte. Das
ganze Dorf hätte auf das Anwesen der Sato in Kano gepasst, wie die
ganze Stadt Kano leicht hinter den Festungswällen der Burg Edo
Platz gehabt hätte.
Die Burg Edo. Sehnsucht durchzuckte Sachi. Ihr
wurde plötzlich klar, dass sie nicht mehr in das Dorf gehörte. Sie
war nicht mehr das kleine Mädchen, das hier so fröhlich gespielt
hatte, die kleine Sa, für die das Dorf die ganze Welt gewesen war.
Diese verlorene Unschuld konnte sie nie wiedererlangen. Mit einem
Seufzer zwang sie sich, in die Gegenwart zurückzukehren und den
Dörflern beim Reparieren der Straße zu helfen.
Alle redeten aufgeregt durcheinander. Anscheinend
war die
Tochter des örtlichen Wachmanns vergewaltigt worden, während sie
am Bach Wäsche gewaschen hatte. Einer der Soldaten hatte ihrem
hübschen Gesicht nicht widerstehen können. Man hatte ihn
aufgestöbert und getötet, Männer aus der Gegend hatten den Kopf in
einem Eimer hergebracht. Er sollte auf eine Bambusstange gespießt
und drei Tage lang am Eingang des Dorfes aufgestellt werden,
zusammen mit einem Schild, auf dem sein Vergehen und seine Strafe
beschrieben wurden. Für etwas, was normalerweise nicht mal als
Verbrechen angesehen wurde, war die Strafe außergewöhnlich
drastisch. Schließlich war das Opfer ja nur eine Frau und dazu auch
noch ein Bauernmädchen. Zweifellos wollte man damit den
Dorfbewohnern zeigen, dass das neue Regime sie beschützen
würde.
Sachi verspürte eine gewisse grimmige Befriedigung.
Vielleicht war es der Pockennarbige.
Ihre Rückkehr hatte sich bereits herumgesprochen.
Dorfbewohner kamen herüber, um sie zu begrüßen und einen Blick auf
das Kind zu werfen, das vor sieben Jahren verschwunden und als
große Dame zurückgekehrt war.
»Sa, wie geht es dir? Erinnerst du dich an mich?«
Die Fragestellerin war eine Frau mit einem Mund, der für ihr
Gesicht zu groß wirkte, voll mit schiefen Zähnen. Sie trug einen
Säugling auf dem Rücken, und zwei Kleinkinder klammerten sich an
ihre abgetragenen, geflickten Arbeitskleider. »Ich bin’s,
Shigé!«
Shigé - die Frau von Genzaburos Bruder und die
junge Braut aus dem Gasthaus auf der anderen Straßenseite. Sachi
erinnerte sich, wie viel Ehrfrucht sie vor ihr gehabt hatte. Sie
war die Königin des Dorfes gewesen, so hübsch und voller
Fröhlichkeit. Inzwischen war ihr Gesicht dick und fleischig
geworden, ihre Wangen waren von der Sonne aufgesprungen und dunkel
gebrannt, ihre Stirn war voller Runzeln, und ihr
Rücken begann sich von der Taille an bereits zu verkrümmen. Wie
war sie so schnell so alt geworden?
Kumé, die verkrüppelte Braut des
Holzschuhmachersohns, kam angehumpelt. Auch sie hatte sich in eine
alte Frau verwandelt. Nur Oman aus dem Gasthaus nebenan hatte sich
ein wenig von ihrer jugendlichen Schönheit bewahrt. Ihr Gesicht
hatte immer noch etwas von seiner weichen Rundheit, doch sie wirkte
ebenfalls müde und ausgelaugt. Ihre Hände waren geschwollen und
rissig, und ihre Wangen waren mit roten Äderchen überzogen.
Sachi betrachtete sie alle, wie sie lächelnd und
lachend um sie herumstanden. Sie brauchten ihr gar nichts zu
erzählen. Sie wusste genau, wie das Leben dieser Frauen in den
letzten sieben Jahren verlaufen war. Jedes Jahr ein Kind. Manche
Kinder waren gestorben, die restlichen hatten sie großgezogen. Sie
hatten sich um die Gäste in ihren Gasthäusern gekümmert, hatten
gekocht, geputzt, Wasser vom Brunnen geschleppt, Wäsche im Fluss
gewaschen, ihre Gemüsebeete umgegraben. Und Sachis Leben? Das
konnten sie sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen.
»Schau dich an«, rief Shigé aus. »So jung, wie eine
Prinzessin aus einem Märchen!«
»Wenn Leute hier durchkommen, fragen wir immer, wie
es in Edo steht. Wir wollen sicher sein, dass es dir gut geht«,
sagte Oman. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, nachdem wir von
den Unruhen dort gehört hatten. Aber wir haben hier auch eine Menge
Scherereien gehabt.«
Sie erkundigten sich nicht weiter danach, was sie
getan hatte oder wo sie gewesen war. Vielleicht fürchteten sie sich
davor, zu weit in die Kluft hinabzuschauen, die sie trennte. Sachi
dachte an Urashima, den hübschen jungen Fischer in dem Märchen, der
von der Tochter des Drachenkönigs umworben
worden war. Drei Jahre hatte er in ihrem Palast unter dem Meer
vergeudet, hatte getanzt und gefeiert und geliebt. Als er in sein
Dorf zurückgekehrt war, hatte sich alles verändert. Schließlich
begegnete er einer uralten Frau, die sich daran erinnerte, als
kleines Kind von dem Mann gehört zu haben, der im Meer verschwunden
war. Nicht drei, sondern dreihundert Jahre waren vergangen.
Sachi war zu lange fort gewesen. Zu viel war im
Leben aller geschehen. Sie hatten sich zu weit voneinander
entfernt, um die Lücke noch schließen zu können. Sachi hatte sich
so sehr nach der Rückkehr gesehnt, doch es war zu spät. Das Dorf
war für sie wie ein Anker gewesen, der Ort, den sie für ihr Zuhause
gehalten hatte. Aber es war nicht der Ort, an den sie sich
erinnerte. Sie war wirklich wie Urashima.
Das Märchen hatte ein böses Ende. Die Tochter des
Drachenkönigs hatte Urashima ein Kästchen gegeben und ihm gesagt,
er dürfe es niemals öffnen, unter keinen Umständen. Als er
untröstlich am Strand gesessen hatte, war ihm aufgegangen, dass ihr
Geschenk das Einzige war, was er noch besaß. Er beschloss, das
Kästchen zu öffnen. Ein Rauchfädchen wehte heraus. Das waren die
dreihundert Jahre. Während er dort saß, wurde sein Haar grau, und
sein Körper zerfiel. Nichts blieb von ihm übrig als ein Häufchen
Staub.
III
Sachis Vater Jiroemon saß im Schneidersitz an der
Feuerstelle, als sie zurückkam. Shinzaemon und Genzaburo waren bei
ihm. Rauch kräuselte sich aus drei kleinen langstieligen Pfeifen.
Ihre Mienen waren sehr ernst, als sie sich über die Holzkohlen
hinweg anschauten.
»Zum Verräter erklärt worden, was?«, sagte
Jiroemon. »Als Nächstes verlangen sie seinen Kopf.«
»Haben sie bereits«, knurrte Shinzaemon. Sachi
verharrte an der Tür. Sie reden also über den zurückgetretenen
Shogun, Herrn Yoshinobu, dachte sie und blieb reglos stehen,
lauschte auf Shinzaemons Worte. Sie liebte den Klang seiner tiefen
Stimme, wenn er meinte, es wären keine Frauen zugegen, die raue
Männersprache, die er benutzte, die Art, in der er die Silben
knurrte. »Auf allen drei Überlandstraßen marschieren Armeen auf Edo
zu«, berichtete Shinzaemon weiter. »Verleiben sich unterwegs alle
Lehen ein. Die Lehnsfürsten schlagen sich alle auf die Seite des
Südens. Sie haben Angst, als Verräter gebrandmarkt zu werden, wenn
sie es nicht tun.«
Die Männer verstummten, als sie Sachi sahen.
»Ich bin zurück«, sagte sie nur.
Taki hatte schweigend in einer Ecke des Zimmers
gesessen. Otama hatte ihr etwas zu nähen gegeben; sie fühle sich
nur wohl, wenn sie eine Nadel in den Fingern hätte, hatte Taki
gesagt.
Am Morgen, nachdem die letzten Soldaten abgezogen
waren, hatte sich Taki für eine Weile in das Gasthaus gesetzt. In
den großen Räumen mit den goldgeränderten Tatami, so alt und
fadenscheinig sie auch wären, fühle sie sich mehr zu Hause, hatte
sie behauptet. Sie hatte sich auch an dem Anblick des Ziergartens
erfreut. Aber sie wollte nicht hinausgehen und sich unter die Leute
mischen. Natürlich nicht. Sachi hatte das auch nicht erwartet. Taki
war eine Hofdame und gewöhnt daran, verborgen in dämmrigen
Innenräumen zu leben.
Jetzt rutschte Taki vor und schloss sich ihnen
leise an. Sie hatte eine Kanne Tee gemacht und schenkte allen eine
Tasse ein, bevor sie sich setzte.
Jiroemon verbeugte sich, als sei er ein wenig
verwirrt, dass
eine Hofdame ihm Tee einschenkte. Dann wandte er sich an
Sachi.
»Wie schön, dich zu sehen, mein Mädchen«, sagte er.
»Meine kleine Prinzessin. Du bringst uns Sonnenschein.«
Er stocherte in den Holzkohlen und stopfte etwas
Tabak in den kleinen Kopf seiner Pfeife. Wenigstens hatte er sich
nicht verändert. Er wirkte zwar älter, steifer, langsamer. Sein
Haarschopf, zu einem borstigen Pferdeschwanz gebunden, war mit Grau
durchzogen. Aber er war nach wie vor der stattliche, verlässliche
Vater, an den sie sich erinnerte. Seine Stimme war so tief und
beruhigend wie immer. Sie blickte auf seine große Hand, die Nägel
schwarz und rissig, und dachte daran, wie sicher sie sich als Kind
gefühlt hatte, wenn sie ihre Hand in seine legte.
»Wir leben in düsteren Zeiten«, sagte er langsam.
»Sehr düsteren. Ich wusste, dass sich die Dinge änderten, aber ich
hätte nie gedacht, dass sie sich so sehr ändern würden. Es gab
Hungersnöte. Wir haben alle gehungert, in manchen Jahren mehr als
in anderen. Der Preis für Reis ist in die Höhe geschnellt. Und
unsere Steuern auch. Die Hälfte unserer jungen Männer ist in den
Kampf gezogen. Die meisten sind nicht zurückgekehrt. Ich bemühe
mich nach Kräften, die Ordnung aufrechtzuerhalten, aber es ist
schwer.«
Er blickte zu Shinzaemon und Genzaburo. »Einige von
unseren jungen Männern kommen zurück und bereiten dann noch mehr
Ärger«, fügte er mit leisem Lachen hinzu. »Und andere junge Männer
haben den Ärger im Schlepptau. Unser Genzaburo ist gerade erst
zurückgekehrt. War eine ganze Weile fort, der Junge. Die Götter
mögen wissen, was er in der Zwischenzeit angestellt hat.«
»Ich bin weggelaufen«, sagte Genzaburo mit seinem
koboldhaften Grinsen. »Hab mich der Miliz angeschlossen.
Hatte keine Lust, für den Rest meines Lebens Gastwirt zu sein oder
Bäume zu fällen, nur um dann meinen ganzen Verdienst diesem oder
jenem Fürsten als Steuern zu überlassen. Es gab Zeiten, da musste
man Samurai sein, damit sie einen nahmen. Aber heutzutage nehmen
sie jeden, selbst einen Bauern. Inzwischen kann ich besser kämpfen
als ein Samurai.«
»Ach ja?«, knurrte Shinzaemon und warf ihm einen
Seitenblick zu. »Das werden wir noch sehen.«
»Ich kann reiten. Ich habe in Kyoto gekämpft. Ich
bin ziemlich herumgekommen.«
»Und Shin«, sagte Jiroemon. »Eine wahre Legende
hier in der Gegend. Wir hätten nie gedacht, dich persönlich
kennenzulernen.«
»Wir kennen uns aus Kyoto«, sagte Shinzaemon, »Gen
und ich. Haben ein paarmal Seite an Seite gekämpft. War eine große
Überraschung, ihn hier auf dem Speicher zu finden. Aber ich
fürchte, wir waren gestern Abend nicht von großem Nutzen.«
»Und du, Sa?«, fragte Genzaburo. »Das Dorf war leer
ohne dich. Schau dich an - so schön. Wer hätte das gedacht? Unsere
kleine Sa. Du bist wie ein Märchenwesen.«
Sachi sah zu Boden, war sich bewusst, dass
Shinzaemons Blick auf ihr ruhte. In Genzaburos Stimme lag etwas
Wehmütiges, als ahnte er, dass Sachi nicht mehr die Person war, die
er gekannt hatte.
»Ich bin auch nach Hause gekommen.«
Jiroemon sah sie ernst an.
»Wir haben dir hier nicht viel zu bieten, mein
Mädchen«, murmelte er, wandte sich ab und starrte ins Feuer, als
wolle er ihrem Blick ausweichen. »Du bist jetzt eine vornehme Dame.
Du gehörst hier nicht mehr her. Wir sind einfache Leute. Wir können
dir die Dinge, an die du gewöhnt bist, nicht bieten.
Bleib, so lange du möchtest. Aber wenn der Krieg vorbei ist, musst
du zu deinem Vater gehen.«
Die letzten Worte kamen wie ein Seufzer
heraus.
Sachi war dabei gewesen, die Teetassen
nachzufüllen. Sie hielt inne und senkte langsam den Arm. Ich muss
mich verhört haben, dachte sie und schaute Jiroemon verständnislos
an.
»Mein Vater?«, wiederholte sie gedehnt.
»Hat Mutter es dir nicht erzählt?« Jiroemon hatte
die Tasse halb an die Lippen gehoben. Er stellte sie auf den Rand
der Feuerstelle, ohne getrunken zu haben.
Otama war gerade hereingekommen. Unter Schmerzen
ließ sie sich nieder und kniete sich neben sie. Beim Anblick ihres
verkrümmten Rückens stiegen Sachi Tränen in die Augen. Otama beugte
sich vor, bis ihr Kopf ganz nahe bei Sachis war.
»Dein Vater war hier«, flüsterte sie. »Erst vor ein
paar Tagen. Ich hätte es dir erzählen sollen. Aber ich konnte es
nicht ertragen, wo wir dich doch gerade erst wiederbekommen
hatten.«
Die Worte trafen Sachi wie ein Schlag in den Magen.
Der Raum schien sich um sie herum zu verschieben. Shinzaemon saß
reglos da, nahm alles in sich auf. Genzaburo malte mit seinem
dünnen braunen Finger Kreise auf die Tatami. Sachi bemerkte
plötzlich, wie kalt es war.
Rauch hing in der Luft, stieg zu den geschwärzten
Dachbalken auf. Tabakrauch vermischte sich mit dem würzigen Geruch
der Kiefernzapfen, die in der Feuerstelle brannten. Das alte Haus
knarrte.
»Mein Vater? Aber … aber du bist doch mein Vater«,
stammelte sie.
»Dein leiblicher Vater«, sagte Jiroemon mit
schwerer Stimme.
Sachi starrte in die Kohlen, hatte das Gefühl,
unter Wasser zu sein. Während all der Jahre im Palast hatte sie,
inmitten all des Chaos und der Verzweiflung, des drohenden Krieges,
des Entsetzens über den Tod Seiner Majestät immer an das Dorf
denken, die Erinnerung an ihre glückliche Kindheit heraufbeschwören
können. Vielleicht waren ihre Erinnerungen idyllischer gewesen als
die Wirklichkeit, aber trotzdem hatte sie sich daran geklammert wie
an einen Glücksbringer, etwas Solides und Wirkliches in all den
Wirren.
Taki legte ihre Näharbeit beiseite. Sie neigte ihr
dünnes Gesicht zur Seite, als sähe sie etwas in Sachi, das diese
nicht erkennen konnte.
»Wovon sprecht ihr?«, fragte Sachi ärgerlich,
drängte die Tränen zurück. »Du bist mein Vater.« Sie funkelte
Jiroemon an. »Ich brauche keinen Vater außer dir!« Sie hörte, wie
schrill ihre Stimme in der Stille klang.
Sie hatte zwar immer gewusst, dass sie adoptiert
war; das ging dem halben Dorf so. Aber alle anderen wussten, wer
ihre leiblichen Eltern waren. Sie schuldeten ihnen denselben
Gehorsam wie ihren Adoptiveltern. Nur Sachi hatte ihre leiblichen
Eltern nie gekannt, und das hatte sie Jiroemon und Otama noch näher
gebracht. Sie waren die einzigen Eltern, die sie je gehabt
hatte.
Sie hielt sich die Ohren zu, wollte nichts mehr
hören.
Aber in ihrem Inneren konnte sie diese nagenden
Gedanken nicht unterdrücken, die ihr schon so lange zu schaffen
machten. Ihr Aussehen - diese weiße Haut, um welche die Leute so
viel Aufhebens machten. Der Brokat, den sie aus dem brennenden
Palast zuerst nach Kano und dann hierher zurückgebracht hatte.
Vielleicht bestand da ein Zusammenhang. Das Bündel, in das er
verpackt war, lag achtlos zwischen dem restlichen Gepäck im Flur.
Sachi hatte nicht mal gewagt, es auszupacken.
»Der Brokat«, hauchte sie. »Das Gewand, das du mir
mitgegeben hast, als ich in den Palast ging.«
»Es gehört dir«, sagte Otama. »Du warst darin
eingewickelt. Stimmt das nicht, Vater?«
Jiroemon zog an seiner Pfeife und klopfte sie am
Rand der Feuerstelle aus. Funken flogen durch den Raum.
»Daisuké sei sein Name, sagte er.« Jiroemon sprach
schleppend. »Ein entfernter Verwandter. Aus einer Seitenlinie der
Familie, die vor zwei Generationen nach Edo gezogen war. Seither
hatten wir von ihnen nie mehr etwas gehört.«
»Du warst das winzigste, vollkommenste kleine
Ding.« Otama lächelte wehmütig. »Wie ein Feenkind, das in unsere
Obhut gegeben worden war. Und diese Haut, so weiß und weich, wie
Seide. Er war durch die Berge gewandert, hatte dich in den Brokat
eingewickelt getragen. Kannst du dir das vorstellen! Ein Mann, der
mit einem Neugeborenen durch die Berge wandert. Er habe unterwegs
Ammen gefunden, sagte er.«
Sie hielt inne, stocherte in den glühenden Kohlen,
wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Aber … meine Mutter?«, fragte Sachi. »Meine
leibliche Mutter. Wo war sie?« Ihre Stimme war atemlos, schrill,
fast wie die eines verlorenen Kindes.
»Er sagte: ›Diese Kleine, ich weiß, sie ist nur ein
wertloses Mädchen und ohne Bedeutung. Das Letzte, was ihr braucht,
ist ein weiterer Esser, und dazu noch ein nutzloses Mädchen. Ich
hätte es töten sollen, das weiß ich. Aber ich konnte es nicht. Sie
ist sehr kostbar für mich. Sie ist alles, was ich habe.‹ Das waren
seine Worte, ich erinnere mich genau daran. ›Sie ist alles, was ich
habe. Bitte tut mir diesen Gefallen. Dieses Kind. Bitte nehmt es
für mich in eure Obhut.‹«
»Er war ziemlich in Eile, nicht wahr, Mutter?«,
meinte Jiroemon.
»Er war ein Städter, ein flotter Bursche. Seine
Kleidung, so vornehm. Und so gut aussehend, so ein feiner Herr - so
etwas hatten wir noch nie in diesem Dorf gesehen. Und was den
Brokat betrifft …«
»Er sagte, er wäre unterwegs nach Osaka, um Arbeit
zu suchen. Er würde dich holen, sobald er etwas gefunden hätte.
Aber die Wochen vergingen, dann Monate, dann Jahre, und er kam nie
zurück.«
»Wir dachten, er sei tot«, murmelte Otama. »Es ist
zwar schrecklich, das zu sagen, aber - wir hofften, er würde nicht
zurückkommen. Du warst unsere kleine Prinzessin. Wir wollten dich
behalten. Das wollen wir immer noch.«
Sachi drückte den Ärmel an ihre Augen. Zu hören,
wie sehr ihre Eltern an ihr hingen, ging ihr zu Herzen. Doch da war
nach wie vor eine Frage, die an ihr nagte.
»Und meine Mutter …«, flüsterte sie. »Ihr wisst
also nicht … Niemand weiß also …«
Otama und Jiroemon sahen sich an. »Der Kamm, den du
hast, den du so gern magst«, sagte Otama leise. »Den hat er uns
auch gegeben. Er gehörte deiner Mutter. Er sagte, wenn du eines
Tages herausfinden wolltest, wer sie ist, könntest du den Leuten
das Wappen zeigen. Jemand würde es erkennen.«
Sachi griff in ihren Ärmel und tastete nach dem
Kamm, ließ ihren Finger über die Zinken gleiten. Sie konnte das
rätselhafte, eingeprägte Wappen spüren. Der Kamm war die einzige
Verbindung zu ihrer Mutter.
Otama holte tief Luft. »Und dann tauchte er vor ein
paar Tagen plötzlich wieder hier auf.«
Eine Träne rann über ihr welkes Gesicht. Sie
blickte ins Feuer, als wüsste sie, dass sie Sachi verlieren würde,
wenn sie es ihr erzählte. »Nach all diesen Jahren. Stimmt das
nicht, Vater?«
»Er hat in unserem Gasthaus übernachtet.« Jiroemon
seufzte schwer und nickte. »Stell dir das vor. Früher sind hier
Fürsten abgestiegen. Und jetzt unser Verwandter Daisuké, dein
Vater.«
»Du hättest ihn sehen sollen.« Otama schüttelte
verwundert den Kopf. »Die Kleidung, die er trug! Solche Sachen, wie
sie diese Ausländer tragen, nach allem, was man gehört hat. Und
sein Haar. Kein Haarstil, den ich je gesehen habe. Kurz
geschnitten. Sieht immer noch gut aus. Bisschen älter, ein wenig
rundlicher geworden, aber immer noch ein ganzer Mann.«
»Er hat nach dir gesucht«, sagte Jiroemon. »Ich
erzählte ihm, dass die Prinzessin dich mitgenommen hat und wir dich
seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Er wollte nach Edo gehen, um
dort nach dir zu suchen.«
Mit einem Rascheln setzte sich Shinzaemon auf die
Fersen zurück. Er runzelte die Stirn, hatte den Blick auf die
Tatami gesenkt. Sachi sah ihn fragend an. Irgendetwas hatte er
bemerkt, das sie noch nicht begriff.
»Ich dachte, ihr sagtet, er sei ein Städter«, rief
sie. »Wie kann er dann in unserem Gasthaus übernachtet haben?« Nur
Daimyo stiegen jemals in diesem Gasthaus ab. Anderen war das nicht
erlaubt - zumindest zu der Zeit, als sie noch hier gelebt
hatte.
»Na ja, du weißt, wie es heutzutage ist«, sagte
Jiroemon, wich ihrem Blick aus. »Alles steht auf dem Kopf. Dein
Vater ist jetzt ein wichtiger Mann.«
Ein langes Schweigen trat ein.
»Er war mit den Soldaten aus dem Süden hier«,
murmelte Jiroemon schließlich, ohne aufzuschauen. »Mit einem der
Generäle. Er ist inzwischen ein einflussreicher Mann.«
Das war es also, was Shinzaemon bereits geahnt
hatte. Ein Verbündeter des Südens … Wenn er sich als Verbrecher
herausgestellt hätte, dieser neue Vater, wenn er ein Bandit oder
ein Glücksspieler wäre - damit hätte sie leben können. Aber mit den
Eroberern aus dem Süden auf Edo zuzumarschieren …?
»Ihr müsst euch unterwegs begegnet sein«, flüsterte
Otama.
»Wenn er zum Süden hält, ist er nicht mein Vater.«
Die Worte brachen aus ihr heraus, ehe sie sich zurückhalten
konnte.
»Sprich nicht so!«, mahnte Otama streng. »Er ist
dein leiblicher Vater. Wenn er dich zurückhaben will, müssen wir
uns fügen. Er gehört zur Familie. Er hat kein weiteres Kind, keinen
Erben außer dir. Es ist deine Pflicht, zu ihm zu gehen. Das hat
nichts damit zu tun, ob du es willst oder nicht.«
»Die Südtruppen tragen das Brokatbanner. Sie nennen
sich jetzt die Kaiserliche Armee«, sagte Jiroemon bedrückt. »Der
Süden ist in ihrer Hand. Das müsste selbst ein Mädchen wie du
wissen. Und sie werden vermutlich Edo einnehmen. Sie behaupten, der
Shogun habe sich aus dem Staub gemacht. Seine Gefolgsleute kämpfen
immer noch, aber ohne Anführer können sie nicht viel ausrichten. Ob
es uns gefällt oder nicht, der Krieg ist fast vorüber. So sieht es
wenigstens für uns Dörfler aus. Für dich könnte es sich durchaus
als vorteilhaft erweisen, dass dein Vater auf der Seite des Südens
steht. Du wirst schon sehen.«
»Gebt nicht alles verloren«, murmelte Shinzaemon.
»Der Krieg ist noch nicht vorbei. Nicht, solange es Männer wie uns
gibt.« Genzaburo stieß ihn mit dem Ellbogen an.
»Leute wie wir können es sich nicht leisten, sich
über Politik Gedanken zu machen«, sagte Otama nachdrücklich zu
Sachi. »Er wird einen guten Ehemann für dich finden. Für dich ist
es das Beste, wenn du zu ihm gehst.«
Sachi nickte schweigend. Im Gegensatz zu den
anderen wusste sie, dass sie andere Bindungen hatte, die viel
stärker
waren als irgendwelche Verpflichtungen gegenüber diesem
unbekannten Vater, der sie vor so vielen Jahren ausgesetzt hatte.
Sie war an Seine Majestät, den verstorbenen Shogun, gebunden,
gehörte für immer zu seiner Familie. Deren Schicksal war auch das
ihre.
IV
Noch lange, nachdem alle gegangen waren, schaute
Sachi nachdenklich ins Feuer. Genzaburo und Shinzaemon hatten die
Runde gemacht, um nachzusehen, ob weitere Truppen aus dem Süden auf
dem Vormarsch waren. Genzaburo wollte seinem Waffenbruder das Dorf
zeigen, hatte er gesagt, und schauen, ob dabei nicht auch ein paar
Schwertübungen heraussprangen. Nur Taki war noch da, hockte auf den
Knien in einer Ecke und nähte schweigend.
Sachi hatte versucht, alles in sich aufzunehmen,
was sie gehört hatte. Sie hatte geglaubt, nach Hause zu kommen.
Stattdessen hatte sie jetzt ihre Eltern verloren, und was das Dorf
anging - es schien zu Staub zerfallen zu sein, wie Urashima nach
seiner Rückkehr. Und was hatte sie dafür gewonnen? Einen
großspurigen Vater, der zu den Feinden hielt, und eine Mutter, von
der sie nicht das Geringste wusste.
Der Brokat, der noch in Kano so überirdisch zu
leuchten schien, lag jetzt unbeachtet unter den anderen Sachen im
Flur. Sachi zog das Bündel heraus, brachte es ins Zimmer und
fummelte an dem Knoten herum. Blind vor Tränen, konnte sie kaum
etwas sehen. Vielleicht würde sich das Gewand auch in Rauch
auflösen und sie mit sich nehmen. Sie erhoffte es fast.
Aber je mehr sie sich mit dem Knoten abmühte, desto
stärker
zog er sich zu. Dann gaben die Fäden der abgenutzten Seidenkordel
plötzlich nach, und der Brokat fiel heraus.
Er breitete sich aus, erfüllte den Raum mit dem
mysteriösen seidigen Duft. Das Gewand war so schön wie immer, blau
wie der Himmel, bestickt mit Pflaume, Bambus und Kiefer, den
Symbolen des neuen Jahres, weich und seidig wie ein Blütenblatt.
Ungeduldig schüttelte sie den Stoff aus. Sie drehte ihn hin und
her, warf kaum einen Blick auf die Landschaft, die sich am Saum
entlangzog. In ihrer Verwirrung konnte sie unten und oben beinahe
nicht unterscheiden. Schließlich fand sie das, wonach sie suchte -
das am Nacken und den beiden Schultern eingestickte Wappen.
Sie griff in ihrem Ärmel und zog ihren schönen, mit
Gold geprägten Schildpattkamm heraus. Er funkelte in ihrer Hand.
Sie betrachtete das in Gold eingefasste Wappen: Es stimmte mit dem
auf dem Brokat überein. Also hatte der Brokat, genau wie der Kamm,
ihrer Mutter gehört. Unentwegt schaute sie auf das Wappen, als
würde es sein Geheimnis preisgeben, wenn sie es nur lange genug
anstarrte. Am meisten entmutigte sie, dass es ihr so bekannt
vorkam.
Taki kam herüber, setzte sich zu ihr und legte ihre
dünnen Arme um sie.
»Ich weiß Bescheid«, sagte sie. »Ich habe gehört,
was deine Eltern dir erzählt haben. Es überrascht mich nicht. Ich
wusste, dass du nicht hierhergehörst. Das sind gute Menschen, aber
sie sind nicht deinesgleichen. Zwischen euch besteht nur eine
entfernte Blutsverwandtschaft.«
»Dieses Wappen … Es ist das meiner Mutter. Wenn ich
doch nur wüsste, zu wem es gehört, würde es mir vielleicht
gelingen, ihre Familie zu finden. Und sie auch.«
Taki hob den Stoff an und strich nachdenklich mit
dem Finger darüber. Sie drehte den Kamm um und schüttelte den Kopf.
»Ich habe es schon einmal gesehen, aber ich kann
mich nicht erinnern, wo das war«, sagte sie.
Schweigend saßen sie da, betrachteten den Brokat
und den Kamm.
»Nun ja«, meinte Taki schließlich, »eines kann ich
dir sagen. Das ist das Gewand einer Konkubine. Diesen Stil dürfen
nur die Konkubinen vom Haushalt des Shogun tragen. Ich würde sagen,
dass es vom Hof des zwölften Shogun, Herrn Ieyoshi, stammt. Das
würde einen Sinn ergeben, nicht wahr? Bist du nicht um die Zeit
herum geboren?«
»Ich weiß nicht, wann ich geboren bin. Im Jahr des
Hundes, das ist alles, was ich weiß.«
»Du bist in deinem achtzehnten Jahr, nicht wahr,
genau wie ich? Jenes Jahr des Hundes war von dem Element Metall
bestimmt. Zu der Zeit hatte Seine Majestät noch den Thron
inne.«
»Es ist also ein Konkubinengewand aus der Zeit, als
ich geboren wurde …«, sagte Sachi.
»Das muss so sein. Deshalb wurdest du darin
eingewickelt.«
»Aber verstehst du denn nicht, Taki? Verstehst du
nicht, was das bedeutet? Wenn das Gewand meiner Mutter gehörte,
muss sie … eine Konkubine sein. Oder zumindest eine gewesen sein,
als ich geboren wurde. Sie muss eine von Herrn Ieyoshis Konkubinen
gewesen sein!«
»Das ist unmöglich«, rief Taki scharf. »Haben deine
Eltern nicht gesagt, dein leiblicher Vater sei ein Städter?«
Sie schauten sich an. Die Konkubine eines Shogun
hätte niemals eine Affäre haben können, mit niemandem, schon gar
nicht mit einem niederrangigen Städter. Das war undenkbar. Wenn es
stimmte, wäre das eine schreckliche Pflichtverletzung gewesen - ein
schockierendes Verbrechen.
»Vielleicht war der Mann, der dich hergebracht hat,
nicht
dein Vater«, sagte Taki. »Vielleicht war er angewiesen worden, das
zu behaupten. Vielleicht war er ein Kurier, ein Diener …«
»Oder meine Mutter war gar keine Konkubine.
Vielleicht hat ihr jemand den Brokat geschenkt …«, flüsterte
Sachi.
Sie hob das Gewand hoch und verbarg ihr Gesicht
darin. Es roch nach einer Frau. Was verriet ihr der Duft? Moschus
war darin, Aloe, Wermut, Weihrauch, vermischt mit Holzrauch von den
vielen Nächten, die ihr Vater unterwegs verbracht hatte.
Sie breitete den Brokat über ihren Knien aus. Der
Stoff war außerordentlich weich und fein. Die eingestickten Gold-
und Silberfäden waren steif vor Alter und knisterten, als Sachi mit
dem Finger darüberstrich. Nur eine wunderschöne Frau hätte ein
solches Gewand tragen können.
Angenommen, es stimmt, dachte Sachi. Angenommen,
ihre Mutter wäre tatsächlich eine Konkubine und ihr Vater ein
Städter gewesen? Das würde erklären, warum ihre Mutter sie nicht
hatte behalten können, warum Sachi in das Dorf gebracht worden war.
Vielleicht hatte man sie aufs Land schmuggeln müssen, damit niemand
das Verbrechen ihrer Mutter entdeckte. Aber welche Art von Frau
hätte so etwas gewagt? Nur eine, die zugelassen hatte, von einer so
verzehrenden Leidenschaft erfasst zu werden, dass sie sich nicht
mehr um ihre Pflichten scherte. Und was für ein Geheimnis hatte sie
bewahren müssen!
Sachi schnappte nach Luft und setzte sich mit einem
Ruck auf. Sie spürte, wie ihr bei dem Gedanken an Shinzaemon das
Blut ins Gesicht schoss. Sie war kurz davor gewesen, genau dasselbe
Verbrechen zu begehen. Sie hatte ihren Körper zwar keinem anderen
Mann geschenkt, hatte aber zugelassen, dass er ihr Herz rührte.
Habe ich die tollkühne Natur meiner Mutter geerbt?, fragte sie
sich. Fließt dasselbe ungezügelte Blut in meinen Adern?
Einen Augenblick lang erfüllte sie der Gedanke mit
Entsetzen. Vielleicht hatte der Brokat sein Geheimnis als Warnung
für sie enthüllt. Wenn sie doch nur ihre verlorene Mutter finden
könnte, würde sie vielleicht die ungezähmten Impulse verstehen, die
auch sie antrieben.
Sie schaute zu Taki, die sie mit großen Augen ansah
und die Stirn runzelte. Sachi erkannte, dass ihrer Freundin die
gleichen Gedanken durch den Kopf gingen.
»Meine Mutter könnte nach wie vor im Frauenpalast
sein«, flüsterte Sachi. »Das könnte der Grund sein, warum niemand
hier etwas über sie weiß.«
»Nach dem Tod Seiner Majestät wäre sie in den
Ninomaru gezogen, die Zweite Zitadelle, wo die Witwen leben«, sagte
Taki nachdenklich. »Wie die alte Witwe Honju-in.«
Sachi erinnerte sich an die alte Dame, so trocken
und verdorrt wie ein Herbstblatt. Sie war diejenige, die ihr gesagt
hatte: »Dein Bauch ist nur geliehen.« Natürlich hatten Sachi und
Taki die anderen Konkubinen von Herrn Ieyoshi nie kennengelernt.
Nur der Dame Honju-in war die Ehre zuteilgeworden, einen Sohn zu
gebären. Nur sie hatte Macht im Palast gehabt. Die anderen blieben
ihren Gebeten überlassen.
»Taki, ich muss meine Mutter finden«, sagte
Sachi.
»In dem Fall müssen wir augenblicklich nach Edo
zurückkehren«, erwiderte Taki. »Die feindlichen Truppen marschieren
auf die Stadt zu und sind entschlossen, die Burg einzunehmen. Die
Frauen könnten bereits geflohen sein, und dann besteht keine
Möglichkeit mehr, deine Mutter zu finden.«
»Aber ich muss es versuchen.«
Doch sobald ich nach Edo zurückkehre, ist auch der
Moment gekommen, mich von Shinzaemon zu verabschieden, dachte sie.
Je länger sie im Dorf blieben, desto länger könnten sie zusammen
sein. Auch wenn ihre Gefühle füreinander geheim
bleiben mussten, genoss sie das Wissen, dass er da war, spürte
seine Anwesenheit, konnte ihn hin und wieder betrachten - seine
großen Hände, seine breite Nase, die Art, wie sein buschiges Haar
nach allen Seiten abstand. Manchmal fand sie Gelegenheit, ein wenig
näher an ihm vorbeizugehen, als es der Anstand gebot, die Wärme
seines Körpers zu spüren, seinen salzigen Geruch zu riechen.
Gelegentlich streiften sich ihre Hände, oder sie spürte seinen
Blick auf sich. Aber sobald sie nach Edo kamen, würde all das ein
Ende nehmen. Er würde sich der Miliz anschließen und
höchstwahrscheinlich getötet werden. Das war das, was er selbst
erwartete.
Doch sie wusste, dass sie ihn nicht mehr lange
zurückhalten konnte. Er war ein viel zu ungestümer Geist, um in
einem abgelegenen Dorf zu bleiben oder sein Leben für längere Zeit
um eine Frau kreisen zu lassen - wenngleich sie den Verdacht hatte,
dass auch er, in dem Wissen, dass er in den Tod ging, so viel
Erfreuliches wie möglich aus diesen letzten Momenten pressen
wollte.
Sie hatte gerade den Brokat verstaut, als die
Außentür knarrend geöffnet wurde. Eisige Luft strömte herein und
mit ihr Shinzaemon und Genzaburo. Sie schoben die Tür zu und
blieben im Eingangsflur stehen, ihre Wangen gerötet, als hätten sie
gerade mit den Schwerten geübt.
»Tja, das Glück war heute auf seiner Seite.«
Genzaburo hob ironisch die Augenbrauen, während er aus seinen
Sandalen schlüpfte und sich die Füße abwischte, bevor er auf die
Tatami trat.
»Aber du hast sicherlich gut gekämpft«, meinte
Sachi und lächelte ihn an. Er war wie ein Bruder, dieser Junge aus
ihrer Kindheit, so frisch und unbeschwert. Während Sorgen sie
bedrückten, war er immer fröhlich, ganz gleich, was passierte. Er
nickte. »Mach dir keine Sorgen um diesen Vater-Blödsinn«,
sagte er abrupt. »Ich bin drei Mal adoptiert worden. Ich habe vier
Väter, und meine leibliche Mutter ist vermutlich die
pflaumengesichtige alte Vettel, die das Haus der Orchideen führt.
Wie die Würfel eben fallen. Deine Eltern haben dich gern. Du wirst
hier immer ein Zuhause haben.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber ich gehöre nicht mehr
hierher. Ich war zu lange fort.«
Ihr Blick ruhte auf Shinzaemon, der sein
Langschwert auf den Schwertständer legte. Ihm war anzusehen, dass
er etwas sagen wollte.
»Es gibt Neuigkeiten«, berichtete er gedämpft.
»Eine weitere Abteilung ist auf dem Vormarsch aus Kyoto. Für mich
wird es Zeit, weiterzuziehen, bevor sie hier eintrifft. Im Moment
sollten die Straßen ruhig sein. Es könnte für eine ganze Weile die
letzte Gelegenheit sein.«
Also war der Moment gekommen, vor dem sich Sachi
gefürchtet hatte. Aber jetzt wusste sie, dass sie ebenfalls zum
Aufbruch bereit war. Sie musste zurück nach Edo, in den Palast, zu
der Prinzessin - und vielleicht zu ihrer Mutter.
»Ich habe genug davon, meine Schwerter zu
schärfen«, fuhr Shinzaemon fort, den Blick zu Boden gewandt, auf
seine scharrenden Füße. Sie erkannte die trotzige Haltung seines
Kinns. »Ich muss zurück auf die Straße - muss bei der Verteidigung
helfen. Wenn du noch bleiben willst, kannst du mit Gen gehen. Er
wird sich in ein paar Tagen ebenfalls auf den Weg machen. Aber ich
glaube, du solltest mit mir kommen.«
Er klang beiläufig, als sei es ihm egal, ob sie mit
Genzaburo reiste oder mit ihm, aber sie wusste, dass von ihr
verlangt wurde, eine Entscheidung zu treffen.
»Du … gehst also nach Edo«, stellte sie fest.
Direkt in das Hornissennest. Er nickte.
Takis große Augen funkelten. Ihr ganzes Gesicht
wurde lebendig. Es war offensichtlich, wohin sie wollte.
»Was meinst du, Taki?«, fragte Sachi leise.
»Vielleicht wird es Zeit, nach Edo zurückzukehren. Wir nehmen
unsere Schwertlanzen mit. Yuki bleibt hier im Dorf. Ein Kind wäre
eine Belastung. Wir müssen rasch vorankommen.«
»Das ist die richtige Entscheidung.« Taki strahlte.
»Aber wir müssen uns in Acht nehmen. Die Straße wird voll von
feindlichen Soldaten sein - Kerlen wie diesem ekligen
Pockennarbigen.«
Sachi blickte zu Shinzaemon auf und lächelte.
»Taki und ich kommen mit dir.«