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Muscheln des Vergessens, 1865

I
Sachi spielte das Muschelspiel mit Prinzessin
Kazu. Die Hände im Schoß gefaltet, den Blick sittsam gesenkt,
kniete sie ihr gegenüber und hörte das Rascheln der Seide, als die
Prinzessin träge den langen Ärmel ihres Gewandes zurückschob und
mit der Hand in den lackierten, goldgeprägten Muschelkasten griff.
Ein leises Klappern war zu hören, während sie ihre Finger über die
kleinen Muscheln gleiten ließ. Sie nahm eine heraus und legte sie
mit der Innenseite nach oben auf die Tatami. Sachi beugte sich vor.
In der Muschel war eine Miniaturwelt mit adligen Herren und Damen
vor einem Hintergrund aus Blattgold abgebildet.
Weitere Muscheln lagen in ordentlichen Reihen
zwischen den beiden Frauen. Die Prinzessin griff nach einer und
schaute hinein.
»Warum verlässt mich das Glück immer?«, seufzte sie
und warf die Muschel gereizt beiseite. »Wenn es doch nur
Vergessensmuscheln
wären. Dann könnte ich vielleicht vergessen.« Sie murmelte ein
Gedicht:
»Wasuregai | Ich sammle keine |
Hiroi shi mo seji | Muscheln des Vergessens, |
Shiratama o | Sondern Perlen, |
Kouru o dani mo | Mementos des Juwelengleichen, |
Katami to omowan | Dem mein Herz gehörte.« |
Sachi hob kurz den Blick. Sie dachte an die
Geschichten, die sie gehört hatte - dass man die Prinzessin
gezwungen hatte, nach Edo zu kommen und den Shogun gegen ihren
Willen zu heiraten und dass sie einst mit einem kaiserlichen
Prinzen verlobt gewesen war. Aber das war alles lange her. Wenn
Ihre Hoheit nur aufhören könnte, in der Vergangenheit zu verweilen,
wenn Ihre Hoheit nur nicht immer so traurig wäre …
Die Prinzessin sah sie erwartungsvoll an. Sachi
ließ die Hand über den Muscheln schweben, die umgekehrt dalagen.
Sie nahm eine, schaute hinein und stieß einen kleinen Schrei aus,
griff dann nach der Muschel, die die Prinzessin aus dem Kasten
genommen hatte. Beide passten genau zusammen. Sie lachte laut und
fröhlich, bis ihr einfiel, wo sie war, errötete und schlug beide
Hände vor den Mund.
»Was für ein Kind«, sagte die Dame Tsuguko, die
Oberhofdame der Prinzessin, und lächelte nachsichtig. Die Dame
Tsuguko war die mächtigste Person im Gefolge der Prinzessin und die
ausschlaggebende Autorität in allen Fragen der Etikette. Sie war
eine hochgewachsene, aristokratische Frau, deren bodenlanges Haar
mit Grau durchzogen war. Viele der jüngeren Hofdamen hatten Angst
vor ihr. Aber jenen gegenüber, die von der Prinzessin bevorzugt
wurden, war sie die Freundlichkeit in Person.
Die Prinzessin lächelte matt. »Sie könnte jeden mit
diesen
grünen Augen bezaubern«, murmelte sie. »Sie hat so viel Freude am
Leben. Ich wünschte, alle Tage wären so friedvoll wie dieser …« Sie
blickte zu der Dame Tsuguko. »Uns bleibt nur so wenig Zeit«, fügte
sie mit ersterbender Stimme hinzu.
»Das menschliche Leben ist immer ungewiss, Eure
Hoheit. Aber vielleicht sind uns die Götter dieses eine Mal
gewogen.«
»Nicht, wenn die Ehemalige ihren Willen durchsetzt.
Ich weiß, sie hat das Ohr Seiner Majestät …«
Es war der fünfzehnte Tag des fünften Monats des
ersten Jahres der Ära Keio, und der Regen ließ auf sich warten.
Jeder Tag war heißer, stickiger und drückender als der vorherige.
Dunkle Wolken verbargen den Himmel. Die Papiertüren, mit denen die
Räume unterteilt wurden, und die Holztüren an den äußeren Wänden
des Gebäudes waren entfernt worden, was den ganzen riesigen Palast
in ein Labyrinth miteinander verbundener Pavillons verwandelte.
Doch nicht einmal die kleinste Brise brachte die Bambusjalousien
zum Klappern.
An diesem Morgen war Sachi für ein paar Minuten von
ihren Pflichten entbunden gewesen. Sie war auf die Veranda geeilt
und hatte hinaus auf die Palastgärten geblickt. Die Rasenflächen,
sauber beschnittenen Büsche und spitznadeligen Kiefern breiteten
sich zu einem verwirrenden grünen Flickenteppich aus. Der elegante
See mit den halbmondförmigen Brücken lag still wie auf einem
Gemälde. Bambusschösslinge ragten aus der Erde, und knorrige Äste
bogen sich unter dicken neuen Knospen und Blättern. Sachi hatte die
feuchte Luft eingeatmet, den warmen Duft von Erde, Blättern und
Gras.
Eine Zikade zirpte laut und zerbrach die Stille.
Das plötzliche Geräusch hatte Sachi mit sich fortgetragen. Für
einen Augenblick hatte sie an einem Berghang zwischen dichten
Bäumen gestanden. Unter ihr schmiegte sich eine Reihe
schindelgedeckter, mit Steinen beschwerter Dächer ins Tal. Beinahe
meinte sie, den Holzrauch und das Aroma von Misosuppe zu riechen.
Das Dorf. Die Erinnerung war so deutlich und scharf, dass sie ihr
Tränen in die Augen trieb.
Wie sie es täglich tat, dachte sie an jenen
schicksalhaften Herbstmorgen, an dem die Prinzessin durch das Dorf
gekommen war. Sachi war wieder in der Eingangshalle des großen
Gasthauses, spürte den Holzboden kalt und hart unter ihren Knien.
Frauen wimmelten um sie herum, und Stimmen zwitscherten. Ihre
Eltern verneigten sich, ihre Mutter wischte sich Tränen weg. Dann
hatte ihr Vater gesagt: »Du musst mit ihnen gehen. Du bist ein
glückliches Mädchen. Vergiss das nie. Was auch immer du tust, weine
nicht. Sorge dafür, dass wir stolz auf dich sein können.«
Kurz darauf war sie die Straße entlanggewandert,
neben einer Hofdame, die sie fest an der Hand hielt. Sachi
erinnerte sich, wie sie gegen die Tränen gekämpft und sich immer
und immer wieder umgedreht hatte, um Blicke auf das Dorf zu
erhaschen, bevor es außer Sichtweite kam. Viele Tage später hatten
sie die große Stadt Edo erreicht, und schließlich hatte Sachi die
weißen Festungswälle der Burg Edo erblickt, die den Himmel
auszufüllen schienen. Sie hatten die Burg betreten, und die Tore
hatten sich hinter ihnen geschlossen.
Wie einsam sie am Anfang gewesen war! Sie hätte
sich nie träumen lassen, dass man so traurig sein kann. So vieles
hatte sie lernen müssen - wie man geht und wie eine Dame spricht,
wie man liest und schreibt. Seit damals waren vier Winter und drei
Sommer vergangen. Aber sie dachte jeden Tag an ihre Mutter und
ihren Vater und fragte sich, wie es ihnen wohl gehen mochte.
Jetzt nahm sie ihren üblichen Platz neben der
Prinzessin ein und begann sie zu fächeln, bemüht, die Luft um sie
herum
so kühl und ruhig wie möglich zu halten. Ein duftender Rauchfaden
kräuselte sich von der Räucherpfanne in der Ecke empor. Auf der
anderen Seite der goldverzierten Wandschirme, die den privaten Teil
des Gemachs der Prinzessin umgaben, ruhten Gruppen von Hofdamen,
plauderten und lachten, ihre Gewänder wie Blätter auf einem
Seerosenteich um sie gebauscht. Nur ein paar Erwählten war der
Zutritt hinter die Wandschirme gestattet. Wenn Sachi nicht so jung
gewesen wäre, hätte sie es wohl seltsam gefunden, dass ausgerechnet
sie hier sein durfte. Aber aus irgendeinem Grunde hatte die
Prinzessin Zuneigung zu ihr gefasst. Sie fände Sachis Gesellschaft
wohltuend, sagte sie.
Sachi warf einen raschen Blick auf die Prinzessin.
Sie wusste, dass sie ihre Augen stets sittsam gesenkt halten
sollte, vor allem in Gegenwart der Prinzessin. Aber es gab so viele
Regeln, so vieles, was sie sich merken musste. Und außerdem hatte
sie manchmal das Gefühl, die Einzige zu sein, die Prinzessin Kazu
wirklich gern hatte. Für Sachi verkörperte sie Perfektion. Ihre
Handschrift war eleganter als die all ihrer Hofdamen, ihre Gedichte
waren prägnanter, und wenn sie die Koto spielte, waren die
Zuhörerinnen zu Tränen gerührt. Wenn sie die Teezeremonie
ausführte, waren ihre Bewegungen reine Poesie. Und doch hatte sie
etwas von einer wilden Kreatur an sich, gefangen in dem Netz der
Zeremonie und Ehrerbietung, das sie umgab. Manchmal meinte Sachi,
ein Aufblitzen von Panik in den schwarzen Augen der Prinzessin zu
sehen, wie bei einem verängstigten Reh. So jung und machtlos, wie
Sachi war, sehnte sie sich danach, die Prinzessin zu
beschützen.
Von weit entfernt kam das Trippeln von Schritten,
die durch den Flur auf sie zueilten. Sachi hörte die Tür zum
äußeren Gemach in ihrer Führung zurückgleiten, dann das Knarren der
Bodenbretter, als die Besucherin auf die Knie sank.
Stimmen ertönten, das Rascheln von Seide, dann tauchte eine
Hofdame auf und verneigte sich am Rand des Wandschirms. Die Dame
Tsuguko beugte sich in ihrer hochmütigen Art zu ihr, wandte sich
dann zur Prinzessin und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Sachi fing die Worte auf: »Die Zeit der
Morgenvisite nähert sich.«
Die Prinzessin erstarrte. Dann blickte sie aus
irgendeinem seltsamen Grund direkt zu Sachi. Sachi schaute rasch zu
Boden.
Die Prinzessin atmete tief durch, als fiele ihr
ein, was und wer sie war. Zu der Dame Tsuguko gewandt, sagte sie
mit eingeübter Ruhe: »Sag meinen Damen, sie sollen sich bereit
machen.«
Rasch sammelte Sachi die Muscheln ein und legte sie
zurück in ihre Kästen, verknotete sorgfältig die mit Quasten
geschmückten Bänder, mit denen diese verschlossen wurden. Bei
Sachis Ankunft im Palast war alles so neu gewesen, dass sie kaum
bemerkt hatte, wo sie war oder welcher ungeheure Luxus sie umgab.
Jetzt, vier Jahre später, ging sie voller Ehrfurcht mit den
winzigen bemalten Muscheln und den lackierten achtseitigen Kästen
um.
Nur die Hofdamen von höchstem Rang durften sich in
die Gegenwart des Shogun begeben. Das Leben im Palast drehte sich
ausschließlich um ihn. War er abwesend, dann schien es, als wäre
Finsternis eingetreten. All die Frauen, die im Frauenpalast
herumtrippelten, von der höchsten in der Hierarchie bis zur
niedersten - hochrangige Hofdamen, unbedeutendere Hofdamen, Alte,
Junge, Kammerfrauen, Kammerfrauen der Kammerfrauen, mit
Schwertlanzen bewaffnete Wächterinnen, Bademägde, Putzmägde,
Wasser- und Kohleträgerinnen, selbst die niedersten Dienstmädchen,
die von allen »ehrenwerte
Welpen« genannt wurden - waren schweigsam und verängstigt. Wenn er
zurückkehrte, war es, als wäre die Sonne aufgegangen. Aber die
meisten Frauen, die ihr Leben dem Dienst an diesem gottgleichen
Wesen widmeten, erwarteten niemals, es zu sehen.
In der Tat war es außergewöhnlich, hatte Sachi die
älteren Frauen zueinander sagen hören, dass der Shogun je fort war.
Seit der dritte Shogun, Herr Iemitsu, in der Ära Kan’ei, vor mehr
als zweihundert Jahren, nach Kyoto gereist war, hatte kein Shogun
mehr die Burg verlassen. Der vorherige Shogun, der arme Herr
Iesada, war wie alle seine Vorgänger in diesen Mauern geboren
worden, hatte hier gelebt und war hier gestorben.
Denn warum sollte jemand fortwollen? Die Burg war
eine eigene, in sich geschlossene Welt. Neben dem inneren Palast
mit seinen Amtszimmern, Wachräumen, großen Küchen, Speisesälen und
Bädern, den Unterpalästen für die vornehmen Damen und den
Labyrinthen der Räume, in denen die Frauen lebten, alle umgeben von
exquisiten Gärten mit Seen und Flüssen und Wasserfällen und Bühnen
für Theateraufführungen und Tänze, gab es noch den mittleren
Palast, die Residenz des Shogun, wenn er sich nicht im inneren
Palast und dem äußeren Palast aufhielt, wo offizielle Geschäfte
abgewickelt wurden und sich die Amtszimmer der Regierung
befanden.
Dort kamen die Frauen natürlich niemals hin und
wussten theoretisch nicht, was vorging, wenngleich in der Praxis
Neuigkeiten und Klatsch wie Luft in den inneren Palast strömte,
sodass die Frauen, auch wenn sie ihn nie verließen, genau wussten,
was in der Außenwelt geschah. All das - der innere, mittlere und
äußere Palast - bildeten die Hauptzitadelle. Aber es gab auch eine
zweite Zitadelle, in welcher der
Erbe - so es einen gab - und seine Mutter ihren Hof hatten, und
die westliche Zitadelle, in der die Witwen - die Frauen,
Gefährtinnen und Konkubinen - des verstorbenen Shogun nach Ablegen
heiliger Gelübde zu leben hatten. Jede war eine kleinere Version
der Hauptzitadelle mit einem eigenen äußeren, mittleren und inneren
Palast. Innerhalb des großen Wassergrabens und der hoch aufragenden
Mauern befanden sich ebenfalls die bewaldete Fläche der
Fukiage-Lustgärten und der Momiji-Hügel, wo sich die Frauen ergehen
und die wechselnden Jahreszeiten genießen konnten, sowie die
Residenzen der Familien Tayasu und Shimizu, Blutsverwandte der
Tokugawa-Familie.
Es war also alles vorhanden, was man sich wünschen
konnte. Sobald die Frauen die Burg betraten, wussten sie, dass sie
für den Rest ihres Lebens hierbleiben würden, außer sie waren
unglücklich oder benahmen sich ungebührlich. Natürlich konnten sie
von Zeit zu Zeit ihre Familien besuchen. Sachi wusste, dass sich
die Zeit näherte, wo auch sie für ein paar Tage zu ihrer Familie
reisen durfte, wenn ihr altes Leben ihr auch so fern schien, dass
sie sich kaum an das kleine Mädchen erinnern konnte, das sie einst
gewesen war.
Wenn die Prinzessin in der Vergangenheit ihre
tägliche Aufwartung beim Shogun gemacht hatte, war Sachi in den
Gemächern ihrer Herrin zurückgeblieben. Aber heute hatte sich etwas
geändert. Vielleicht, dachte Sachi, hat es etwas mit meinem Alter
zu tun. Sie war jetzt in ihrem fünfzehnten Jahr und damit
volljährig. Ihre monatliche Unreinheit hatte eingesetzt. Ihr Haar
war in einem erwachseneren Stil gebunden, und sie trug die Art
Kimono, die sie als jüngere Kammerfrau auswies. Sie hatte sogar
einen neuen Namen.
Statt Sachi, »Glück«, hieß sie jetzt Yuri, »Lilie«.
Sie mochte
ihren neuen Namen. Damit kam sie sich zart und fraulich und
bedeutender vor, Teil einer prächtigeren Welt als zuvor. Auch ihr
Körper veränderte sich, wuchs fast so schnell wie Bambusschösslinge
während der Regenzeit. Ihre Arme und Beine waren lang und schlank
geworden, und sie hatte kleine runde Brüste, die in ihrem Kimono
zurechtgerückt werden mussten. Selbst ihr Gesicht kam ihr bei jedem
Blick in den Spiegel anders vor.
Vielleicht war das der Grund, warum die Dame
Tsuguko ihr an diesem Morgen mitgeteilt hatte, sie solle sich
darauf vorbereiten, der Begrüßung des Shogun beizuwohnen. Aber es
stand Sachi nicht zu, Fragen zu stellen. Die älteren Frauen wiesen
sie immer wieder darauf hin, dass Sachi selbst und ihre Gefühle
vollkommen bedeutungslos waren. Ganz gleich, was geschah, ganz
gleich, was sie empfand, sie müsse stets bestrebt sein, eine
ruhige, unbewegte Oberfläche zu zeigen, wie ein Teich, der wieder
still wird, nachdem ein Stein hineingeworfen wurde. Das einzig
Wichtige war, zu wissen, was sich für sie gehörte, fügsam zu sein
und niemals Schande über sich oder andere zu bringen.
Um die Mitte des Vormittags, als sich die Stunde
des Pferdes näherte, machten sich die Frauen zum Gehen bereit. Die
Prinzessin erhob sich, hielt ihren zeremoniellen Fächer in Hüfthöhe
und glitt aus ihren Räumen. Sie bewegte sich so sachte, dass der
Rauch, der aus der Räucherpfanne aufstieg, kaum erzitterte. Ihre
weiten roten Hosen kräuselten sich, und der gesteppte Saum ihres
Brokatmantels breitete sich wie ein Fächer hinter ihr aus. Ein
zarter Duft hüllte sie ein, wehte aus ihren parfümierten Gewändern.
Ihre Hofdamen folgten ihr wie eine endlose Prozession riesiger
Blumen in ihren dünnen weißen Sommerkimonos und den wuchtigen
zinnoberroten Mänteln. Für gewöhnlich führte die Dame Tsuguko die
Reihe
an, wie es ihrem Rang als Oberhofdame geziemte. Aber heute blieb
sie hinten, mit Sachi an ihrer Seite.
Draußen war der Durchgang voll kniender Frauen. Mit
Verbeugung nach Verbeugung begrüßten die Einweiserinnen die
Prinzessin. Sachi huschte mit winzigen Schritten weiter, gab acht
auf die Stoffbahnen, die um ihre Füße wirbelten. Einmal stolperte
sie über ihre Schleppe. »Kleinere Schritte«, wies die Dame Tsuguko
sie an, hakte ihren eleganten Finger unter Sachis Ellbogen. »Die
Zehen nach innen. Hände auf die Hüften, die Finger gerade, Daumen
nach innen. Kopf beugen. Sieh auf den Boden.«
Mit den Einweiserinnen vor ihnen, glitten die
Prinzessin und ihre Damen unendlich langsam, in abgemessenen
Schritten, einen Flur nach dem anderen entlang, mit leise
rauschenden Gewändern, wie Wellen, die an ein Flussufer plätschern.
Der Palast war ein Irrgarten. Die Augen fest auf die Tatamimatten
gerichtet, trippelte Sachi mit und fragte sich, ob sie je den Weg
zurück finden würde, wenn sie allein wäre. Im Aufschauen erhaschte
sie einen Blick auf den langen Flur, der in der Ferne verschwand,
gesäumt von Reihen geschlossener Holztüren. Dahinter befanden sich,
wie sie wusste, die überfüllten Räume, in denen einige der Hunderte
von Hofdamen und ihre Kammerfrauen lebten.
Als sie erneut einen Blick wagte, kamen sie gerade
an einem riesigen Audienzsaal vorbei. Der größte Teil lag im
Dunkeln. Eine der Doppeltüren, kaum zu erkennen im Dämmerlicht, war
mit auffliegenden Kranichen und schwimmenden Schildkröten bemalt;
auf einer anderen waren Berge und Wasserfälle zu sehen, die Sachi
einen Moment lang an zu Hause erinnerten. Leoparden und Tiger
lauerten mit glitzernden Augen im Schatten. Drachen wanden sich
entlang der Türstürze und Friese, und die Decke schimmerte golden.
Selbst die Nagelköpfe
waren aus Gold und kunstvoll gehämmert. Zu einer Seite des Saales
lag ein Hof mit einem kleinen Teich und einem winzigen Stück grauen
Himmels. Weiße Blumen funkelten auf den Felssteinen. Die Hitze war
so intensiv, dass jede Bewegung schwerfiel. Die Luft war dampfig,
dicht vor Feuchtigkeit.
»Kopf runter!«, zischte die Dame Tsuguko.
Sie kamen an den überdachten Gang zum Privatflügel
des Shogun; wie ein Pavillon erhob sich dieser Flügel zwischen
Rasenflächen, Weiden, glitzernden Bächen und Beeten mit
lilafarbenen Iris. Dort wartete eine große Gruppe kniender Frauen.
Sie rutschten auf den Knien zurück, als die Prinzessin näher kam.
In vorderster Reihe waren sieben runzelige Frauen mit
Pergamentgesichtern und aufwendigen Perücken aus glänzendem
schwarzen Haar - die Ältesten, die über jede Einzelheit im
Frauenpalast bestimmten. Sie waren, wie es hieß, einst Schönheiten
gewesen, gehörten zu den hunderten Konkubinen des Herrn Ienari, des
Großvaters des jetzigen Shogun. Aber für Sachi waren sie nichts
anderes als feuerspeiende Drachen. Sie lebte in Angst vor ihren
scharfen Zungen und harten Knöcheln. Was mochten sie sagen oder
tun, wenn sie sahen, das ein so niederes Wesen wie sie es wagte,
sich so weit über seine Stellung zu erheben? Sie hob die Augen
gerade hoch genug, um in ihre Gesichter zu schauen, während die
Dame Tsuguko sie vorbeiführte. Verblüfft stellte Sachi fest, das
sie freundlich blickten. Eine lächelte sogar und nickte
ermutigend.
Ihr blieb kaum Zeit, sich über diese Merkwürdigkeit
weiter Gedanken zu machen, bevor die Prinzessin und ihr Gefolge
einen langen, düsteren Durchgang betraten. Jalousien aus
Schilfrohr, geschmückt mit großen roten Quasten, bildeten die eine
Wand. Am Ende befand sich eine schwere Holztür.
Das war der berühmte obere Glockenflur, der Eingang
in den Frauenpalast von den mittleren und äußeren Palästen, die den
Männern vorbehalten waren. Nur der Shogun benutzte ihn; er war der
einzige Mann, der jemals die Frauengemächer betrat. Es gab ein paar
Männer, die dort arbeiteten - vertrocknete Priester, zwei
glattgesichtige Ärzte, die stämmigen Wächter an den Außentoren -,
aber die zählten nicht. Niemand bemerkte sie. Für die Frauen
existierten sie nicht.
Neben der Tür hing ein Ball aus Kupferglocken, die
erklangen, wenn der Shogun eintrat; sie zu anderen Zeiten ertönen
zu lassen, galt als schreckliches Verbrechen. Zu beiden Seiten
kniete eine Hofdame, zusammen mit zwei »Priesterinnen«, knorrigen
alten Frauen mit schimmernd kahlrasiertem Schädel, die wie Männer
in Priesterroben gekleidet waren. Als Sachi sie zum ersten Mal sah,
hatte sie sie erstaunt angestarrt, doch nun erschienen sie ihr nur
noch wie ein zugehöriger Teil der Palastbewohner.
Die Prinzessin und ihr Gefolge trugen weiße
Gewänder, scharlachrote Hosen und zinnoberrote Brokatmäntel, die
zur formellen Kleidung des kaiserlichen Hofes in Kyoto gehörten.
Aber die Edelfrauen, die den Durchgang füllten, waren in üppigere
Gewänder gehüllt, als Sachi sie je gesehen hatte. Einige waren mit
Glyzinien- und Irismustern bestickt, andere mit Holzfächern und
Ochsenkarren. Auf wieder anderen wanden sich Miniaturlandschaften
in Blauschattierungen über den Rücken der Damen. Die Prinzessin und
ihre Hofdamen trugen das Haar lang und glatt bis auf den Boden
herabfallend. Doch diese gebeugten Köpfe waren mit schweren Rollen
und Locken aus geöltem Haar geschmückt, das vor Kämmen, Haarnadeln
und Bändern starrte.
Die Witwe Jitsusei-in, die leibliche Mutter des
Shogun, kniete auf einem Ehrenplatz direkt vor der geschlossenen
Tür.
Sie hatte ein verkniffenes, fahles Gesicht. Als Witwe trug sie
kurzes Haar, schlichte Gewänder und die Haube einer Nonne. Sachi
nannte sie bei sich die Alte Krähe. Jeden Tag kam sie in ihren
schwarzen Gewändern in die Gemächer der Prinzessin gerauscht und
fand ständig etwas zu mäkeln. Ganz egal, wie sehr alle versuchten,
es ihr recht zu machen, sie entdeckte stets etwas, was ihr
missfiel.
Die Prinzessin nahm ihren Platz auf dem Kissen ihr
gegenüber ein. Aber gerade, als sie ihre Hosen unter ihren Knien
ordnete, näherte sich langsam und würdevoll eine Schar von Hofdamen
in reich bestickten Gewändern dem Durchgang, angeführt von einer
hochgewachsenen, herrischen Frau. Sie trug, wie die Alte Krähe, die
Robe einer Nonne, doch ihr Gewand war aus feinster Seide, Grau, das
in Violett überging, und ihr Umhang war so geschickt drapiert, dass
ein wenig der weichen Haut ihres schneeweißen Halses zu sehen war.
Ihre Haltung machte deutlich, dass sie, ganz gleich, in welchem
Gewand, eine Prinzessin war.
Nach einem raschen Blick von ihrem Platz am Ende
der Reihe erzitterte Sachi. Es war die ehemalige Herrschergattin,
die Furcht erregende Witwe Tensho-in. Alle hatten Angst vor ihr. Es
hieß, sie habe ein hitziges Temperament und sei stark wie ein Mann.
Alle kannten die Geschichte, wie sie den verstorbenen Shogun, ihren
Ehemann, einst während eines Erdbebens auf ihren Armen aus dem
Palast getragen hatte. Außerdem, flüsterten die Frauen, sei sie
auch eine ausgezeichnete Reiterin, die mit der Schwertlanze genauso
geschickt umgehen könne wie jeder Soldat, und sie sei eine wahre
Könnerin im Gesang und Tanz des Noh-Theaters. Noch keine dreißig,
stand sie in der Blüte ihrer Schönheit. Ein wissendes Lächeln
spielte um ihre glänzend roten Lippen, und in ihren Augen brannte
eine feurige Energie.
Aber alle Köpfe drehten sich nach der jungen Frau
um, die hinter ihr herhuschte. Sie war jung, nicht älter als Sachi,
hatte die Stupsnase und die olivfarbene Haut eines Edo-Mädchens,
ganz anders als die aristokratische Blässe der Frauen aus Kyoto.
Ihr kindlich rundes Gesicht war meisterhaft im Edo-Stil geschminkt,
ihre vollen Lippen schimmerten in dem grünlichen Glanz, der als
»frisches Bambusrot« bekannt war. Sie trippelte mit winzigen, nach
innen gerichteten Schritten, ein Fuß vorsichtig vor den anderen
gesetzt, die Augen sittsam niedergeschlagen. Aber wie die Haltung
ihrer Schultern verriet, wusste sie, dass alle Blicke auf sie
gerichtet waren.
Sachi schnappte nach Luft, als sie das Mädchen
erkannte. Das war Fuyu, die anerkannte Favoritin unter den jüngeren
Hofdamen. Sachi sehnte sich danach, so selbstbewusst wie sie zu
sein. In Fuyus Gegenwart war sie sich ihrer bescheidenen Herkunft
und mangelnden Erziehung schrecklich bewusst. Fuyu wiederum hielt
sich nicht damit auf, mit Sachi zu sprechen, außer bei seltenen
Gelegenheiten, wenn es Sachi gelang, während der
Schwertlanzenübungen einen Streich mit ihrem Übungsstock
anzubringen. Dann reckte Fuyu das Kinn, schaute sie von oben herab
an und schnaubte verächtlich: »Nicht schlecht, würde ich sagen …
für einen Bauerntrampel!« Sie war die Tochter eines Hauptmanns der
Wache und, wie Sachi, dem Rang nach eine jüngere Kammerfrau. Trotz
all ihrer Allüren hatte sie genauso wenig das Anrecht, sich in die
Gegenwart des Shogun zu begeben, wie Sachi.
Aber es war ihr Übergewand, das ein bewunderndes
Murmeln durch die Reihen gehen ließ. Eingestickt darauf war eine
atemberaubende Darstellung der Stadt Edo. Um den wattierten Saum
wand sich der Fluss Sumida, gesäumt von Lagerhäusern und der
Nihonbashi-Brücke, die sich darüberspann. Die Bucht von Edo war
eine gewundene blaue Biegung an der
Hüfte. Ausgebreitet über den Rücken und die Ärmel befanden sich
Häuser, Tempel, eine Pagode, mit winzigen gestickten Figuren
bevölkerte Straßen, Laubwerk, sogar ein flüchtiger Eindruck der
Türmchen der Burg Edo, ausgeführt in Goldfäden. Es war ein
Kunstwerk, unvorstellbar kostspielig. Dazu entworfen, jeden Blick
auf sich zu lenken.
Während die Hofdamen ihre Plätze an der einen Seite
des Flures einnahmen, rauschte die Ehemalige zu der Alten Krähe und
der Prinzessin und verneigte sich tief.
»Seien Sie gegrüßt, Kaiserliche Hoheit«, sagte sie
an die Prinzessin gewandt. Sie sprach leise, aber ihre Stimme -
ungewöhnlich tief und sonor - trug bis zum Ende des Flures. »Sie
sind uns höchst willkommen. Welche Ehre es ist, Sie bei uns zu
haben. Ich hoffe, Sie achten gut auf Ihre Gesundheit bei diesem
heißen Wetter.«
Bis auf das Flattern der Fächer war es still im
Flur. Die Hitze war drückender denn je. Sachi bewegte sich
unbehaglich, spürte, wie ihr die schweren Gewänder an der Haut
klebten. Sie beugte den Kopf, horchte ängstlich auf die Antwort der
Prinzessin.
Als jemand, der »über den Wolken lebte« - sie war
schließlich die Tochter des verstorbenen Himmelssohns und die
Schwester des amtierenden Kaisers -, erwartete Prinzessin Kazu
Ehrerbietung, wie es sich für ihren überlegenen Status geziemte.
Sie vergaß nie, nicht für einen Augenblick, dass sie das
kultivierte Leben am kaiserlichen Hof von Kyoto aufgegeben hatte,
um sich auf die Ebene dieser niederen Gemeinen herabzulassen. Doch
weit davon entfernt, sich entsprechend respektvoll zu verhalten und
dem Opfer der Prinzessin Anerkennung zu zollen, nutzte die
Ehemalige jede Gelegenheit, ihre eigene Vorrangstellung geltend zu
machen. Als die Witwe des vorhergehenden Shogun und Adoptivmutter
des jetzigen
war die Ehemalige die unumstrittene Macht im Palast gewesen, bevor
die Prinzessin eintraf, und nun entschlossen, ihre Autorität zu
wahren.
In der Abgeschiedenheit der Privatgemächer der
Prinzessin hatten die aristokratischen Damen, die Prinzessin Kazu
aus der Hauptstadt begleitet hatten, nichts als Verachtung für die
Ehemalige und ihre Hofdamen übrig. Sie seien ungehobelt, um nicht
zu sagen regelrecht vulgär, flüsterten sie. Wie konnten sie es
wagen, die Prinzessin so respektlos zu behandeln? Und was ihre Art
anging, sich wie Samurai zu kleiden und zu sprechen und zu benehmen
- tja, einfach Mitleid erregend, wenn es nicht so lachhaft wäre.
Wenn die Hofdamen der Prinzessin denen der Ehemaligen auf den
Fluren begegneten, rauschten sie vorbei, ließen sich kaum zu einem
abfälligen Kopfnicken herab. Aber unter ihren Kammerfrauen gab es
ständiges Gezänk. Stimmen wurden gehoben, und es war sogar schon
dazu gekommen, dass sie sich gekratzt, gekniffen, gebissen und sich
gegenseitig an den Haaren und Kleidern gezogen hatten.
Die beiden Edelfrauen taten ihr Bestes, sich aus
dem Weg zu gehen. Trotzdem spitzten sich die Dinge manchmal zu. Die
Prinzessin war viel zu stolz und zu feinfühlig erzogen, um für sich
selbst einzutreten. Aber Sachi wusste, wie viel Schmerz ihr diese
Zusammenstöße bereiteten.
Als die Prinzessin in der Burg eingetroffen war,
hatte sie darauf bestanden, die archaische Sprache des kaiserlichen
Hofes beizubehalten. Das war die Ausdrucksweise, die Sachi als
Erstes gelernt hatte. Die Prinzessin hatte sogar erwartet, dass
alle im Frauenpalast die Sprache und Gebräuche von Kyoto übernehmen
würden, denn das war eine der Bedingungen ihrer Eheschließung
gewesen. Aber auch darin, wie in vielem anderen, war sie enttäuscht
worden.
Jetzt, statt in ihrem Kyoto-Dialekt zu erwidern:
»Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit«, wie sie es einst getan
hätte, flüsterte sie: »Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet,
ehrenwerte Ehemalige.« Prinzessin Kazu hatte eine hohe, hauchige
kleine Stimme, wie ein Vogel.
Mehrere Minuten lang tauschten sie Komplimente aus,
übertrafen sich dabei in der Blumigkeit ihrer Sprache und der
Extravaganz ihrer Schmeicheleien. Dann richtete sich die Ehemalige
auf.
»Ein weiteres Mal entbiete ich Ihnen meinen
aufrechten Dank, Eure Kaiserliche Hoheit, dass Sie so gut für Seine
Majestät, meinen adoptierten Sohn, sorgen«, sagte sie, blickte die
Prinzessin direkt an und verzog ihre Lippen zu dem süßlichsten,
giftigsten Lächeln. »Aber es beschämt mich, zu sehen, dass die
Einweiserinnen erneut ihren üblichen Fehler begangen haben. Wie
immer haben sie Ihnen versehentlich meinen Platz zugewiesen. Sie
akzeptieren ja wohl, dass ich, als Ihre Schwiegermutter und erste
Dame seines Haushalts, natürlich die Erste sein muss, die meinen
Sohn in seinem Heim willkommen heißt. Sie haben sicherlich nichts
dagegen, mir zuzustimmen, dass dieser Fehler korrigiert werden
muss.«
Schweigen trat ein. Niemand wagte zu atmen.
Prinzessin Kazu hielt den Blick gesenkt, kaute auf ihrer
Lippe.
»Im Gegenteil. Ich muss Ihnen meine Dankbarkeit
ausdrücken, ehrenwerte Dame Tensho-in«, murmelte sie mit eisiger
Höflichkeit. »Ich bin entzückt, Sie zu sehen. Aber Sie wissen sehr
gut, dass ich als Vertreterin des Himmelssohns und als bescheidene
Gefährtin Seiner Majestät die Pflicht habe, unwürdig, wie ich bin,
den Vorrang einzunehmen. Ich hoffe, Sie sind so freundlich, mir zu
erlauben, an dem mir zustehenden Platz zu verbleiben, wenigstens
dieses eine Mal.«
»Wir haben dieses Gespräch schon oftmals geführt,
Schwiegertochter«,
erwiderte die Ehemalige mit Feuer sprühenden schwarzen Augen. »Sie
sprechen von Tradition und althergebrachten Vorgehensweisen. Aber
Sie vergessen, dass wir uns auf Burg Edo befinden. Hier in Edo
haben wir unsere eigenen Traditionen und Vorgehensweisen, die vom
allerersten Shogun, Seiner Verehrten Majestät Prinz Ieyasu,
eingeführt wurden und über Jahrhunderte Bestand hatten. Sie wissen
sehr gut, dass ich die Witwe Seiner Majestät, des dreizehnten
Shogun Prinz Iesada bin. Als Ihre Schwiegermutter bin ich bestürzt,
dass Sie überhaupt daran denken können, sich meinem Willen zu
widersetzen. Sie bestehen darauf, Ihren kuriosen Titel und
provinziellen Haar- und Kleidungsstil beizubehalten. Das ist ja
alles gut und schön. Aber wenn wir gezwungen sind, uns zu begegnen,
müssen Sie sich mit dem geziemenden Respekt benehmen.«
Sachi zitterte vor Entsetzen, spürte die Demütigung
der Prinzessin, als wäre es ihre eigene. Prinzessin Kazu sagte
nichts mehr, rutschte nur zurück und kniete auf dem Boden, während
die Ehemalige Kazus Platz auf dem Kissen einnahm.
II
Die Glocken am Ende des Flurs läuteten. Der dünne,
blecherne Klang hallte noch wider, als vier Trommelschläge, einer
nach dem anderen, von der Brustwehr der Burg ertönten und die volle
Stunde verkündeten. Die Ältesten und Einweiserinnen, die Hofdamen
und ergrauten Priesterinnen warfen sich zu beiden Seiten der Tür
auf den Boden.
Sachi war ebenfalls auf den Knien, starrte auf die
Tatami. Sie hörte das Kreischen der zurückgezogenen Eisenbolzen
und das Ächzen der großen Tür beim Aufschieben. Dann entstand eine
lange Stille, gefolgt von gedämpftem Stahlklirren. Unter dem
Stimmengewirr war das ungewohnte Timbre einer männlichen Stimme
auszumachen, der ersten, die Sachi in vier Jahren hörte. Zusammen
mit dem Trippeln weiblicher Füße und dem Rascheln von Seide kam das
Geräusch weich beschuhter Füße, die sich mit flotten
Männerschritten über die Tatamimatten bewegten, dazu der Duft eines
exotischen und komplexen Parfüms. Die Zeit verging in schmerzhafter
Langsamkeit. Die Stimme und der Geruch näherten sich. Das Geplapper
von Komplimenten, Reden und Lachen wurde lauter. Dann kamen die
Männerschritte direkt vor ihr zum Halt.
»Und das ist sie?«, fragte die Stimme. Die Worte
klangen seltsam und archaisch. Sachi hatte diese formelle Sprache,
die ausschließlich der Shogun benutzen durfte, nie zuvor gehört,
und es gelang ihr nur mit Mühe, zu verstehen, was er gesagt
hatte.
»Schau auf, Kind«, zischte die Dame Tsuguko, die
Oberhofdame der Prinzessin. »Begrüße Seine Majestät!«
Sachi hob den Kopf gerade hoch genug, um ein Paar
weiße Seidenstrümpfe zu sehen. Dann blickte sie für einen
flüchtigen Moment auf. Sie merkte, dass sie direkt in ein Paar
wissbegierige braune Augen schaute. Rasch senkte sie den Kopf, so
rot vor Verwirrung, dass ihre Ohren glühten.
Ein langes Schweigen entstand.
»Wie heißt sie?«, fragte die Stimme.
Ein Murmeln, wie der durch ein Feld von Sommergras
raschelnde Wind, lief durch den Flur. Die Dame Tsuguko lachte, ein
silbrig klingelndes Lachen.
»Majestät, dieses bescheidene Kind ist Yuri, aus
dem Hause Sugi, Vasall des Daimyo von Ogaki«, sagte sie. »Sie steht
unter meiner Obhut.«
Sachi zitterte immer noch, lange nachdem die
Schritte verklungen und der Duft verweht war und sie gehört hatte,
wie die Türen zu den Privatgemächern des Shogun aufgeglitten waren
und sich wieder geschlossen hatten.
Schweigend folgte sie den Hofdamen zurück zu den
Gemächern der Prinzessin, während ihr die Gedanken wild durch den
Kopf rasten. Sie hatte die Grundregel gebrochen. Sie hatte das
Gesicht zu einem Wesen erhoben, das sogar noch höher stand als die
Ältesten oder die Dame Tsuguko oder die Ehemalige - zu Seiner
Majestät, dem Shogun, der eher ein Gott war als ein Mensch.
Prinzessin Kazu stand im Rang natürlich noch über ihm. Aber das war
etwas anderes. Sachi gehörte der Prinzessin. Die Prinzessin hatte
sie erwählt und beschlossen, sie bei sich zu behalten. Hatte sie
etwas missverstanden? Die Dame Tsuguko hatte doch sicherlich nicht
beabsichtigt, Sachi einen solchen Verstoß gegen die Etikette
begehen zu lassen?
Merkwürdiger noch, Seine Majestät war jung. Sachi
hatte stets angenommen, dass jemand so Mächtiges und Allwissendes,
der von normalen Sterblichen nie gesehen werden durfte, viel älter,
schroffer und Furcht erregender sein musste als die altgedienten
Ratgeber, die manchmal mit Botschaften auftauchten, die Sachi der
einen oder anderen Hofdame zu überbringen hatte.
Und dann war da Fuyu. Warum war sie dort gewesen,
und in solch aufdringlicher Pracht? Es war alles viel zu
verwirrend. Während Sachi mit winzigen Schritten durch einen Flur
nach dem anderen trippelte, die Schultern sittsam gerundet, wie man
es ihr beigebracht hatte, fühlte sie sich von all den Regeln und
Etikettevorschriften wie erstickt. Wenn sie doch nur all die
Stoffbahnen abwerfen und rennen, hüpfen und springen könnte wie
früher. Sie musste mit Taki reden, ihrer Freundin. Taki verstand
alles. Sie würde die Antworten wissen.
Die Dame Tsuguko schwieg ebenfalls, bis sie die
Gemächer der Prinzessin erreichten. Dort zog sie Sachi hinter die
Wandschirme und drückte sie auf die Knie, ihr gegenüber.
»Nun, mein liebes Kind«, sagte sie. »Was für ein
glückliches Mädchen du bist!« Sie strahlte regelrecht vor
Entzücken. Sachi hatte nie zuvor erlebt, dass die Dame Tsuguko ein
anderes Verhalten als würdevolle Vornehmheit und hochmütige
Herablassung an den Tag legte.
»Du hast das sehr, sehr gut gemacht. Deine Eltern
werden stolz auf dich sein.«
Zu verblüfft, um an ihre Erziehung zu denken,
starrte Sachi sie offen an.
»Es scheint, als habe Seine Majestät das Angebot
Ihrer Hoheit angenommen. Natürlich müssen die Vereinbarungen in
geziemender Weise getroffen werden. Seine Majestät hat seinen
Wunsch zur Kenntnis gebracht, wie du gehört hast, und Ihre Hoheit
hat ihr Einverständnis gegeben. Das Schreiben wird aufgesetzt
werden und unverzüglich an den Emissär Seiner Majestät gesandt
werden. Komm heute bei Sonnenuntergang zu mir, und ich werde dich
einweisen und vorbereiten.«
»Mich vorbereiten? Worauf?«
»Die Unschuld dieses Kindes«, sagte die Dame
Tsuguko mit leisem Lachen. »Du bist zu einer Kammerfrau im
mittleren Rang befördert worden. Auf Ersuchen Seiner Majestät
bietet Ihre Hoheit dich ihm als Abschiedsgeschenk dar, als seine
Konkubine.«
Als Konkubine! Sachi beugte den Kopf bis auf die
Tatami.
»Ich bin diese Ehre nicht wert«, stammelte sie.
Dann, als sie allmählich das volle Ausmaß der Worte begriff,
schnappte sie erschrocken nach Luft.
»Herrin … Verehrte Dame Tsuguko … Die Ehre ist zu
groß.
Ihre Hoheit war immer viel freundlicher zu mir, als ich es
verdiene. Ich habe keinen größeren Ehrgeiz, als Ihrer Hoheit zu
dienen.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Bitte wählt
eine andere. Nicht mich, verehrte Dame. Bitte zwingt mich nicht
dazu. Ich mache es bestimmt nicht richtig. Ich weiß nicht, wie das
geht. Ich bin nicht bereit. Ich weiß nichts, verehrte Dame. Ich
weiß überhaupt nichts.«
»Kind! Erdreiste dich nicht, unsere Entscheidung
infrage zu stellen«, sagte die Dame Tsuguko scharf. Dann wurde ihre
Stimme weicher. »Mir ist bewusst, dass du noch jung bist und nichts
von der Welt weißt. Aber selbst du musst begreifen, dass es die
größte Ehre und außergewöhnlichste Bevorzugung ist, die einem
Mädchen je zuteilwerden kann, vor allem einem Mädchen deiner
Herkunft. Alles hat sich sehr rasch entwickelt. Ich hatte keine
Zeit, dir alles beizubringen, was du wissen musst. Aber das ist
gut. Deine Unschuld macht deinen Reiz aus. Seine Majestät reist
morgen nach Osaka ab, daher werden wir die formellen Zeremonien bis
nach seiner Rückkehr verschieben. Wenn es dir nur gelingt, Seine
Majestät zu erfreuen, steht dein Fuß fest auf der Schwelle des
juwelenbesetzten Palankins. Glaub mir, du wirst nie wieder eine
Chance wie diese bekommen. Wir verlassen uns auf dich«, fügte sie
mit strenger Stimme hinzu. »Du wirst heute Nacht zu Seiner Majestät
gehen.«
Sachi kniete immer noch benommen da, als an der Tür
Unruhe entstand. Es war die Ehemalige. Bisher hatte sie sich noch
nie den Gemächern der Prinzessin genähert. Seide raschelte
aufgeregt, als die Hofdamen auf die Knie fielen. Im nächsten
Augenblick tauchte die Ehemalige hinter den Wandschirmen auf. Ihr
schönes Gesicht war erstarrt, bis auf eine Ader, die an ihrer
Schläfe pochte. Sie wandte sich an die Dame Tsuguko.
»Nun ja«, sagte sie und richtete sich herrisch auf.
»Sie müssen stolz auf sich sein. Sie haben das sehr geschickt
gemacht, Sie und Ihre Herrin, meinem Sohn diese Kreatur - dieses
Findelkind - aufzunötigen.«
Die Dame Tsuguko lag auf den Knien. Im Aufblicken
hob sie ihre Augenbrauen und runzelte die Stirn in einem Ausdruck
gespielter Demut.
»Was für eine Überraschung!«, rief sie. »Wir fühlen
uns äußerst geehrt, meine Dame, dass Sie unsere bescheidene
Unterkunft mit Ihrer hochgeschätzten Anwesenheit beehren.
Ergebensten Dank für Ihre Glückwünsche. Ich muss Sie natürlich
nicht daran erinnern, dass die Dame Yuri die adoptierte Tochter des
Hauses Sugi ist, Vasallen des Daimyo von Ogaki.«
»Sie mag zwar aufgestiegen sein, aber wir wissen
alle, woher sie stammt«, blaffte die Ehemalige, wobei ihr die Röte
in die Wangen schoss. »Sie ist ein Tier, ein ungebildeter
Bauerntrampel. Wir haben sie gesehen, als sie hergebracht wurde.
Sie konnte nicht mal wie ein menschliches Wesen sprechen.«
»Beruhigen Sie sich, meine Dame. Sie wissen sehr
gut, dass wir verzweifelt nach einer Konkubine gesucht haben, die
Seiner Majestät zu einem Sohn verhilft. Auch Sie waren deswegen
besorgt. Es wäre für uns alle das Schlimmste, wenn Herr Yoshinobu,
der Regent, in der Lage wäre, die Macht zu übernehmen. Wir haben
den Auswahlprozess mehrfach in Gang gesetzt, doch Seine Majestät
hat jede Hofdame, die wir ihm zugeführt haben, abgelehnt.
Gleichwohl«, fuhr die Dame Tsuguko geschmeidig fort, »hat dieses
bescheidene Mädchen aus irgendeinem Grund sein Gefallen gefunden.
Wir sollten den Göttern danken.«
»Sie bringen Schande über das Haus Tokugawa«,
fauchte die Ehemalige.
»Sie haben sicherlich nicht vergessen, meine Dame,
dass die
Dame Tama, die Mutter des fünften Shogun und geliebte Gefährtin
des dritten Shogun, Prinz Iemitsu, ihr Leben als Tochter eines
Lebensmittelhändlers begann, von so niederer Geburt, dass sie sich
nicht mal in die Gegenwart Seiner Majestät begeben durfte.« Die
Stimme der Dame Tsuguko war zuckersüß. »Sie war, wie Sie sich
erinnern werden, eine Magd, dazu abgestellt, Seiner Majestät beim
Bad zu helfen, als sie seinen erhabenen Gefallen fand. Der sechste
Shogun, Prinz Ienobu, war das Kind einer so niederen Gemeinen, dass
ihr nicht mal der Status einer offiziellen Konkubine erteilt werden
konnte. Seine Majestät, wenn ich mir die Freiheit erlauben darf,
Sie daran zu erinnern, musste im Verborgenen von einem Gefolgsmann
aufgezogen werden. Dann war da die Dame Raku, die Mutter des
vierten Shogun. Lassen Sie mich überlegen. War ihr Vater nicht ein
Verkäufer gebrauchter Kleidung?«
»Genug, genug!«
»Auf jeden Fall hat das alles nichts mit uns zu
tun, meine Dame. Sie waren anwesend, als Seine Majestät nicht Ihre
Kandidatin, sondern unsere wählte.«
»Er ist ein Junge«, zischte die Ehemalige. »Er weiß
nichts. Sie haben ihn verhext.«
»Sie wissen sehr gut, dass es das Vorrecht Ihrer
Hoheit ist, Seiner Majestät eine Konkubine als Geschenk anzubieten.
Sie sehen, dass Sie überhaupt keinen Grund haben, sich zu
beschweren.« Sie legte beide Hände auf die duftende Strohmatte, die
Finger geschlossen, wobei sich die Spitzen der Zeigefinger
berührten.
»Vielen Dank, dass Sie geruht haben, uns zu
besuchen«, sagte sie mit einem Anstrich von Endgültigkeit und
berührte ihre Hände mit der Stirn.
»Und Sie haben Sie in der Kunst des Schlafgemachs
unterwiesen? Ich glaube kaum. Das Wesen ist ein Bauerntrampel.
Sie wird sich nicht lange halten!« Damit rauschte die Ehemalige
aus dem Raum.
Als sich die Tür geschlossen hatte und ihre
raschelnden Schritte auf dem Flur verklungen waren, wandte sich die
Dame Tsuguko mit besorgter Miene an Sachi.
»Welche grausamen und unbedachten Worte!«, sagte
sie. Sachi hatte sie noch nie mit so viel Gefühl sprechen hören.
»Man erwartet von uns allen, der Dame Tensho-in Ehrerbietung zu
erweisen, aber sie geht in ihren Ansprüchen zu weit. Dieses Mal hat
sie die Schlacht verloren. Sei nicht traurig, liebes Kind. Vergiss
ihren gemeinen Neid. Als Ihre Hoheit dich zum ersten Mal sah,
wusste sie sofort, dass du nicht dorthin, in diese bäuerliche
Umgebung, gehörst. Sie wusste, dass dir ein anderes Schicksal
beschert war und du zu uns gehörtest. Seine Majestät ist jung und
feinfühlig erzogen. Er ist nicht daran interessiert, mit Frauen zu
spielen. Die Dame Tensho-in und die Ältesten haben ihm viele schöne
Damen von edlem Blut zugeführt, gut ausgebildet in der Kunst der
Koketterie, aber er hat sie alle abgelehnt. Ihre Hoheit kennt ihn
gut. Sie wusste, dass du, mit deinem hübschen Gesicht und dem
reinen Herzen, seinem Geschmack entsprechen würdest. Fürchte dich
nicht. Ihre Hoheit und ich haben volles Vertrauen in dich. Aber
nimm dich in Acht. Bleib bis heute Abend in den herrschaftlichen
Gemächern. Wer weiß, wozu Eifersucht eine Frau treiben kann?«
Sachi lag immer noch auf den Knien. Sie war schon
oft zur Zielscheibe bitterböser Gehässigkeiten geworden. Der
Frauenpalast, hatte sie gelernt, war ein heimtückischer Ort, wo die
Frauen lächelten und dann Worte äußerten, die verletzten, als wäre
einem ein Dolch in den Bauch gestoßen worden. Denn obschon Sachi
offiziell von einer Samurai-Familie adoptiert worden war, wussten
alle, woher sie stammte. Viele Damen
der Prinzessin und aus dem Frauenpalast waren zugegen gewesen, als
Ihre Hoheit Sachi entdeckte und Gefallen an ihr fand. Für diese
Damen war Sachi ein wildes Ding, ein Tier, das die Prinzessin
unerklärlicherweise als Schoßhündchen adoptiert hatte. Selbst
nachdem sie die Sprache, den Gang und das Benehmen der vornehmen
Damen erlernt hatte, selbst nachdem sie sich tagtäglich unter ihnen
aufhielt, würde deren Welt Sachi für immer verschlossen bleiben.
Sie waren freundlich zu ihr, wie man es zu einem Hund ist.
Sachi war nach wie vor zu benommen, um sich die
Beleidigungen zu Herzen zu nehmen. Die Worte, die ihr im Kopf
widerhallten, stammten nicht von der Ehemaligen, sondern von der
Dame Tsuguko. »Dein hübsches Gesicht und dein reines Herz …« So sah
sie sich selbst überhaupt nicht.
Wenn sie doch nur zu Ihrer Hoheit könnte! War das
der Grund, warum die Prinzessin sie aus dem Dorf mitgenommen und
auf diese Höhen erhoben hatte? Um Ihrer Hoheit diesen Dienst zu
erweisen? Sachi war sich sicher, dass es da noch ein Letztes gab,
das sie erfahren musste, damit alles klar wurde. Aber die
Prinzessin kehrte nicht zurück.
Wie dem auch sei, Sachi verstand ihre Pflicht.
Egal, was geschah, sie würde Ihrer Hoheit nach bestem Können
dienen. Sie war bereit für alles, was die Götter für sie vorgesehen
haben mochten.
III
Sachi ging in den Raum, in dem sie mit den anderen
Kammerfrauen schlief, zog ihren formellen Kimono aus und hängte ihn
vorsichtig über den Kimonoständer. Wie betäubt schlüpfte sie in ihr
Kammerfrauengewand, griff nach ihrem Nähzeug
und setzte sich in eine Ecke. Sie starrte vor sich hin, die
Näharbeit unberührt im Schoß. Dann waren draußen Schritte auf dem
Holzboden zu hören. Die Tür flog auf, und ein Mädchen stürmte
herein, das Gesicht zu einem breiten Lächeln verzogen. Taki.
»Hast du ihn gesehen?«, wollte sie wissen. Sie
hatte eine piepsige Mäuschenstimme.
Taki stammte aus Kyoto und war die Tochter eines
verarmten Samurai, der wiederum der Gefolgsmann einer der Hofdamen
der Prinzessin war, der Dame Kin. Die Dame Kin hatte Taki in Dienst
genommen, als sie zwölf war, und mit nach Edo gebracht. Taki und
Sachi hatten die Burg zur gleichen Zeit betreten.
Taki war nicht hübsch - um die Wahrheit zu sagen,
sie war eher unscheinbar. Sie hatte ein dünnes, blasses Gesicht,
von Pocken zernarbt, und vorstehende Zähne, die sie wie ein kleines
Kaninchen aussehen ließen. Als Sachi eintraf, hatten die jüngeren
Kammerfrauen, vor allem die aus Edo, die schon länger in der Burg
lebten, sie gnadenlos schikaniert, ihren Dialekt nachgeäfft und sie
verspottet, wenn sie Fehler bei der Etikette beging. Taki hatte ihr
immer zur Seite gestanden, hatte sie hitzig verteidigt und ihr
geholfen, die richtige Sprechweise und das angemessene Benehmen zu
lernen. Sie waren enge Freundinnen geworden, obwohl Taki von Geburt
einen viel höheren Rang hatte.
Taki hüpfte auf und ab, klatschte in die
Hände.
»Alle reden davon«, rief sie. »Alle sind
eifersüchtig. Du wirst die neue Konkubine sein! Aber sag mir, hast
du einen Blick erhaschen können? Wie sieht er aus? Ist er jung? Ist
er alt? Ist er stattlich? Ich habe gehört, er sei jung und sehe gut
aus.«
Sie warf sich neben Sachi auf den Boden, schloss
sie in die Arme, strahlte sie an und wartete auf eine
Antwort.
»Na ja«, murmelte Sachi befangen, »ich hab ihn kaum
gesehen. Er sah recht jung aus. Er könnte auch stattlich
sein.«
»Und du bist zur Kammerfrau im mittleren Rang
befördert worden. Du musst in deinem letzten Leben etwas sehr Gutes
getan haben, um so viel Glück zu verdienen! Du bist in den
juwelengeschmückten Palankin gesprungen! Ich weiß, dass die Götter
dir nicht umsonst so ein Gesicht wie deines gegeben haben.«
»Aber was muss eine Konkubine tun?«
»Also, soweit ich weiß, arbeiten die mittleren
Kammerfrauen in drei Schichten. Es gibt eine Morgenschicht, eine
Nachmittagsschicht und eine Abendschicht. Es müssen immer
Kammerfrauen bereitstehen, Ihrer kaiserlichen Hoheit zu jeder
Tages- und Nachtzeit zu dienen.«
»Hör auf, dich lustig zu machen. Du weißt, was ich
meine. Wie ist es mit Seiner Majestät?«
»Nun … das weiß ich nicht genau. Du wirst seine
Gemahlin Nummer zwei, die Königin seines gesamten Palastes - wenn
du ein Kind bekommst, heißt das, aber das wirst du natürlich. Deine
Familie wird reich werden. Sie muss sich nie wieder Sorgen machen.
Es ist das Herrlichste, was einem Mädchen je passieren kann. Du
wirst Kammerfrauen brauchen. Lass mich deine Kammerfrau sein.
Bitte, Sachi, bitte. Bitte frag die Dame Kin.«
»Aber … ich muss heute Nacht zu ihm.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Du musst doch
Kopfkissenbücher gesehen haben und diese seltsamen Bilder, die
einige der Damen haben, diese ›lachenden Bildchen‹. Schließ einfach
die Augen und lass es über dich ergehen. Es wird vermutlich nicht
lange dauern. Könnte sogar Spaß machen. Ich hab sagen hören, dass
es Spaß macht. Komm, versteck dich nicht hier. Lass uns zu den
anderen Damen gehen.«
Sie waren kaum in das Hauptgemach zurückgekehrt,
als Haru, Sachis Lehrerin, erschien und sich an der Tür verneigte.
Sachi war überglücklich, sie zu sehen. Sie lief zu ihr, um sie zu
begrüßen, und stolperte in ihrer Eile über ihren Kimono. Die
Hofdamen und ihre Kammerfrauen, die den Raum wie ein Schwarm bunter
Vögel füllten, wandten sich ab. Nur eine warf einen Blick in Sachis
Richtung, als sie vorbeilief - ob mitleidig oder neidisch oder
sonst etwas, konnte Sachi nicht erkennen.
Haru begrüßte sie mit einer weiteren Verbeugung,
drückte ihr Gesicht an den Boden. »Meine tief empfundenen
Glückwünsche«, sagte sie feierlich.
Sie setzte sich auf die Fersen zurück und schaute
Sachi an, legte dann aber die Hand über den Mund und lächelte
breit.
»Der ganze Palast ist in heller Aufregung«, sagte
sie mit einem entzückten Kichern. Sachi lächelte unsicher
zurück.
Haru hatte ein rundes Gesicht, das einmal schön
gewesen sein mochte, aber inzwischen längst eher pummelig geworden
war. Sie hatte rosige Pausbacken, und ihre katzenartigen Augen
verschwanden, wenn sie lächelte, was oft geschah. Sachi nannte sie
»Große Schwester«, obwohl Haru nahe ihres dreißigsten Jahres war.
Für gewöhnlich war sie voller Lachen und fröhlicher Geschichten,
aber in unbewachten Momenten verzog sich ihr Gesicht zu einer
traurigen Miene. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in den
Frauengemächern der Burg Edo verbracht, des feudalsten Palasts des
Landes, sie war an einen Luxus gewöhnt, der für die Menschen
außerhalb dieser Mauern unvorstellbar war, und trotzdem trug sie
nach wie vor den schlichten Kimono einer Kammerfrau von niederem
Rang und band ihr Haar zu einem einfachen Knoten. Während andere
Frauen im Rang aufstiegen, blieb sie eine Lehrerin.
Vielleicht wegen ihrer vielen Talente, oder weil sie aus einem
Teil des Landes stammte, der nicht weit von Sachis Heimat entfernt
lag und daher den barbarischen Dialekt verstehen konnte, den Sachi
bei ihrer Ankunft gesprochen hatte, war Haru die Aufgabe
zugefallen, Sachi in eine Dame zu verwandeln.
Sie zogen sich in ihre übliche Ecke des großen
Raumes zurück. Eine Weile bemühten sie sich, an ihren Lektionen zu
arbeiten, aber Sachis Gedanken waren weit weg. Es gab so vieles,
was sie lernen musste, und die einzige Person, die sie zu fragen
wagte, war Haru. Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen.
»Hast du je bei einem Mann gelegen?«, murmelte sie
im leisesten Flüsterton.
Haru beugte sich vor. Als sie die Worte vernahm,
legte sie die Hände über den Mund, setzte sich zurück auf die
Fersen und lachte schallend. Die Damen, die im Raum verteilt saßen,
blickten sich verblüfft um.
»Alle beneiden dich«, sagte Haru und lächelte eher
traurig. »Es ist eine Erfahrung, welche die meisten von uns wohl
nie machen werden, und ich ganz sicher nicht.«
Sogar Sachi wusste, dass nur sehr wenige der
dreitausend Palastfrauen je zu Konkubinen erwählt wurden. Doch alle
hatten ihr Leben lang unberührt zu bleiben.
»Dieses Glück ist uns verwehrt«, sagte Haru. »Wenn
ich auch einst eine Dame kannte, die es ergriffen hat.«
»Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie verschwand. Frauen ist es nicht gestattet,
eine solche Wahl selbst zu treffen, insbesondere, wenn sie dem
Shogun gehören. Sie war sehr schön. Sie sah dir sehr
ähnlich.«
Sachi konnte nur an eines denken.
»Was wird geschehen? Was muss ich tun?«
»Wie um alles in der Welt soll ich das wissen?«,
fragte Haru unter weiterem Gelächter. »Sorge dafür, dass du vor
Schmerz aufschreist, damit sie sicher sind, dass du noch nie bei
einem Mann gelegen hast. Seine Majestät reist morgen ab, aber er
wird bald zurückkehren. Dann kannst du deine Karriere als seine
Konkubine ernsthaft beginnen. Ich kann dir die Theorie dessen
beibringen, was einem Mann Vergnügen bereitet. Ich habe viele
Kopfkissenbücher studiert. Du bist sehr jung. Du hast beste
Aussichten, ihm einen gesunden Sohn zu gebären. Die Hauptsache ist,
keine Fragen zu stellen und genau das zu tun, was dir gesagt wird.
Vergiss nie, dass du jetzt eine Adlige bist. Bewahre um jeden Preis
deine Würde. Ganz gleich, was geschieht, zeige nie deine Gefühle,
nicht für einen einzigen Augenblick.«
»Du meinst, es wird wehtun?«
»Lass niemanden je hören, dass du so etwas sagst!
Das hier ist die größte Ehre, die jemandem zuteilwerden kann! Du
bist in deinem fünfzehnten Jahr, Kleine Schwester. Die meisten
Mädchen in deinem Alter sind verheiratet. Es wird Zeit, dass du
entdeckst, was es bedeutet, mit einem Mann zu schlafen.
Es gebührt mir nicht, so etwas zu sagen«, fügte
Haru mit gesenkter Stimme hinzu. »Aber du kannst dich glücklich
schätzen. Seine Majestät ist sanft und gutherzig. Seine Vorgänger
waren das nicht alle. Und er ist jung.«
Nervös ließ Sachi die Finger an den Zinken ihres
Kammes in ihrem Obi entlanggleiten.
»Was hast du da?«, fragte Haru.
»Nichts …«
Aber es schien falsch, etwas vor Haru zu verbergen,
daher holte Sachi den Kamm heraus und zeigte ihn ihr. Harus
Gesichtsausdruck veränderte sich.
»Woher hast du den?«, zischte sie.
Seit Sachi in den Palast gekommen war, hatte der
Kamm immer in einer Falte ihres Gewandes gesteckt. Er war
wunderschön, aus Schildpatt, mit einem aufgeprägten Wappen, das
aussah, als müsse es einer adligen Familie gehören, eingelegt mit
einem Goldrand. Es fing das Licht auf und erhellte die dunkle Ecke
des Raumes, in dem sie saßen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie verwirrt. »Das ist
mein Glückskamm. Ich habe ihn aus dem Dorf mitgebracht. Ich hatte
ihn schon, als ich klein war.«
»Lass mich mal sehen.« Haru nahm den Kamm in die
Hand und drehte ihn hin und her. Sachi sah sie fragend an. Haru
starrte ihr ins Gesicht, als wolle sie dort etwas finden. Ihr für
gewöhnlich so sonniges Lächeln war gänzlich verschwunden. Dann
blinzelte sie und schien mit einem Ruck in die Gegenwart
zurückzukehren. Sachi griff nach dem Kamm und steckte ihn zurück in
ihren Obi.
»Das ist ein prächtiger Kamm.« Haru schüttelte den
Kopf, als wolle sie eine aufkommende Erinnerung verdrängen. »Eine
sehr schöne Arbeit. Ich wusste nicht, dass es auf dem Land so etwas
gibt.«
IV
Lange vor dem Abend hockte Sachi wieder hinter dem
Wandschirm im privaten Bereich des Gemachs der Prinzessin und
wartete darauf, dass die Dame Tsuguko ihr Anweisungen erteilte.
Noch immer war die Prinzessin nicht zurückgekehrt. Sachi hatte noch
nie erlebt, dass sie so lange abwesend war. Sie wusste, dass sie
Prinzessin Kazu gehörte und dass Ihre Hoheit beschlossen hatte, sie
Seiner Majestät zu schenken. Wenn sich
Sachi doch nur hätte gewiss sein können, dass das, was sie nun
tat, die Traurigkeit der Prinzessin mindern würde, statt sie zu
verstärken.
»Die Zeit nähert sich.«
Sachi folgte der Dame Tsuguko in den
Hauptumkleideraum. Öllampen und hohe Kerzen erhellten die
dunkelsten Ecken, warfen flackernde Lichttümpel auf die exquisit
gemalten Vögel, Bäume und Blumen an den vergoldeten Wandschirmen.
Selbst die bescheidensten Gegenstände - die runden Spiegel auf
ihren Ständern, die Handtuchgestelle, die Schminkkästen mit
Bürsten, Kämmen, Pinzetten und Tiegeln, in ordentlichen Reihen
aufgestellt, die runden Becken und langtülligen Wasserkrüge - waren
in Gold lackiert und mit dem kaiserlichen Wappen versehen. Mit
Sommerblumen bestickte Kimonos hingen auf ihren Ständern.
Sachi kniete sich hin. Die für den Umkleideraum
zuständige Kammerfrau öffnete einen kleinen Eisenkessel mit einer
Mischung aus Sumachblattgalle, Sake und Eisen, die zum Schwärzen
der Zähne der Prinzessin benutzt wurde. Der bittere Geruch erfüllte
den Raum. Sorgfältig begann die Kammerfrau, Sachis Zähne zu
schwärzen. Sachi beobachtete im Spiegel, wie die weißen Zähne, die
sie seit ihrer Kindheit kannte - so glänzend wie die eines Wilden
oder eines Tieres - verschwanden. Wenn sie lächelte, sah sie den
höhlenartigen Mund einer erwachsenen Frau, einer, die bei einem
Mann gelegen hatte.
Die Kammerfrau rasierte Sachis Augenbrauen, zupfte
jedes noch verbliebene Haar aus. Sie massierte Wachs in Sachis
Gesicht, trug dann weiße Schminke auf und puderte zum Schluss
darüber. Dann tauchte sie ihre Daumen in Holzkohlepulver und
drückte sie vorsichtig genau eine Daumenlänge über die Stellen, wo
Sachis Augenbrauen gewesen waren. Zwei
schwarze Ovale, wie die Fühlerspitzen einer Motte, erschienen auf
ihrer Stirn. Die Kammerfrau umrandete Sachis Augen in Schwarz,
legte ihr Wangenrot auf und malte mit roter Färberdistelpaste ein
winziges Blütenblatt auf Ober- und Unterlippe, verwandelte den Mund
in eine kleine, gekräuselte Rosenknospe.
Aus dem Spiegel blickte eine makellose weiße Maske
zu Sachi zurück. Sie war eine Puppe geworden, wie Puppen, die zum
Mädchenfest aufgereiht wurden.
Andere Kammerfrauen, die um sie knieten, teilten
ihr Haar in Strähnen, zogen und lockerten es, bis es wie ein Fächer
um sie herum bis zum Boden fiel. Sie ölten und kämmten jeden Teil,
schlugen ihn dann hoch und nach hinten, fort von Sachis Gesicht. Es
ergoss sich in einem Pferdeschwanz über ihren Rücken, so schwarz
und schimmernd wie Lack, mit Bändern gebunden. Sachi blieb reglos
stehen, während die Kammerfrauen sie in einen zeremoniellen Kimono
aus weißer Seide hüllten, wie in einen Hochzeitskimono - oder ein
Leichentuch.
Der Flur draußen war voller Schatten und dunkler
Ecken. Es war das erste Mal, dass Sachi die Gemächer der Prinzessin
nach Einbruch der Nacht verließ. Die Frauen, die den Flur säumten,
blickten sie neugierig an und flüsterten, während sie vorbeiging.
Die von den Begleiterinnen getragenen dünnen Wachskerzen warfen ein
flackerndes Licht, und die brennenden Laternen in den Durchgängen
knisterten. Der Rauch kribbelte ihr in der Nase. Schatten tanzten
an den Holzwänden entlang. Die polierten Dielenbretter knarrten
unter dem leichten Tritt so vieler weich beschuhter Füße.
Als sie den Oberen Glockenflur erreichten, kniete
sich die Dame Tsuguko vor die Tür zu den Räumen des Shogun. Sie
senkte die Stirn zu Boden und verkündete: »Ich bringe die
niedere Dame des Seitengemachs. Ich erbitte Ihr Wohlwollen.«
»Gib dein Bestes, Kind«, flüsterte sie.
Sachi spürte, wie ihr unter dem Gewand Schweiß aus
den Achselhöhlen rann. Stumm betete sie, dass die steife Seidengaze
nicht befleckt oder verknittert wurde. Sie fühlte sich furchtbar
allein. Es war nur schwer zu glauben, dass das alles keine
Bestrafung für ein schreckliches Vergehen war, das sie begangen
hatte.
Sie fand sich in einem von Laternen und riesigen,
blakenden Kerzen in hohen goldenen Leuchtern erhellten Vorraum
wieder. Dort kniete die Oberste der sieben Ältesten, die Dame
Nakaoka, winzig und elegant unter ihrer schimmernden schwarzen
Perücke. Ihre Begleiterinnen gruppierten sich respektvoll um
sie.
»Komm her, Kind«, sagte sie, nicht unfreundlich. Im
schummrigen Licht verliehen ihr die gelbliche Haut und die
eingesunkenen Wangen das unheimliche Aussehen einer
Dämonenmaske.
Wie im Traum blieb Sachi stocksteif stehen, während
die Begleiterinnen sie auskleideten.
»Beine spreizen«, befahl die Dame Nakaoka brüsk und
deutete auf den vor ihr ausgebreiteten Futon. Sachi legte sich hin,
fühlte sich klein und verletzlich. Die alte Frau beugte sich vor,
zog hier und tastete da. Die Untersuchung schien endlos zu dauern.
Schließlich schob sie ihren knotigen Finger tief hinein. Sachi
blickte starr an die Decke, betrachtete den kunstvoll verwobenen
Bambus.
Harus Worte hallten in ihren Ohren wider. Irgendwie
müsse sie ihre Würde bewahren. Nie dürfe sie ihre Gefühle zeigen,
egal, wie groß der Schmerz und die Erniedrigung wären. Sachi lenkte
ihre Gedanken auf glücklichere Erinnerungen, und ihr
altes Leben überflutete sie erneut. Sie dachte an das große
Holzhaus mit den Dachschindeln, an das Zirpen der Zikaden und das
kühle Wasser des Kiso-Flusses. Sie versuchte sich das kleine
Mädchen vorzustellen, das in dem Dorf gelebt hatte, tief in den
Bergen, aber es war nur noch eine verwehte Erinnerung. Damals war
das Leben so sorglos gewesen. Jetzt war sie vollkommen verändert.
Sie konnte nie zurückkehren.
Die Dame Nakaoka nickte. »Gut«, sagte sie.
Sachi kniete sich hin, und die Frauen banden ihr
Haar auf. Die Dame Nakaoka kämmte es mit den Fingern Strähne für
Strähne durch, als suchte sie nach etwas Verborgenem.
»Gut«, sagte sie erneut.
Sachi wurde nackt in einen Ankleideraum geführt.
Kammerfrauen machten sich geschäftig an ihr zu schaffen, banden ihr
das Haar locker zurück, steckten es mit einem Kamm fest und halfen
ihr in ein loses Schlafgewand aus feinem weißem Damast. Die Dame
Nakaoka befahl ihr, sich ihr gegenüber hinzuknien.
»Da es dein erstes Mal ist, Kind, werde ich dir
deine Pflichten erklären. Pass genau auf. Die Dame Chiyo und eine
der Priesterinnen werden in der Nähe Wache halten. Ich selbst und
die Dame Tsuguko werden in einem Nebenraum sein. Wir werden die
ganze Nacht wach bleiben. Es ist unsere Pflicht, auf jedes Wort zu
lauschen, das zwischen Seiner Majestät und dir gewechselt wird. Am
Morgen wirst du mir von eurem Gespräch berichten. Merke es dir gut.
Die Dame Chiyo und die Priesterin werden ebenfalls berichten. Alle
drei Darstellungen müssen übereinstimmen. Hüte dich davor, Seine
Majestät um Gefallen zu bitten. Und vergiss nicht - achte darauf,
dass du mit dem Gesicht zu Seiner Majestät schläfst.«
V
Als die vier Trommelschläge die volle Stunde
verkündeten, ertönten die kleinen Glöckchen im Oberen Glockenflur.
Auf dem Flur waren schlendernde Schritte zu hören, begleitet von
jungenhaftem Gelächter. Die Tür wurde aufgeschoben, und ein
Moschusduft erfüllte den Raum. Die Damen warfen sich zu
Boden.
Die Zeit schien stillzustehen. Sachi drückte ihre
Stirn an den Boden. Parfümierte Kleidung streifte an ihr vorbei.
Sie hörte das leise Plätschern beim Eingießen von Sake, das
gedämpfte Klicken hölzerner Becher, den Klang von Stimmen und
Gelächter. Der süße Geruch von Tabakrauch vermischte sich mit dem
Parfümduft und dem Geräusch kleiner Pfeifen, die entzündet, an
denen gezogen und die ausgeklopft wurden.
»Kommen Sie, meine Dame.«
Die Kammerfrauen führten sie in das Schlafgemach
des Shogun. Flüchtig nahm Sachi die prächtige Möblierung, das
luxuriöse, mehrlagige Bettzeug, das Schimmern von Rot und Gold und
den Glanz weißer Seidendecken wahr. Eine Armlänge entfernt, rechts
vom Podium, auf dem das Bettzeug des Shogun ausgebreitet lag,
befand sich ein kleinerer, dünnerer Futon mit einer lackierten
Kopfstütze, Kosmetikkästchen und einem Tageskimono daneben. Dort
würde Sachi schlafen, nachdem sie ihre Pflicht getan hatte. Dann
gab es noch zwei weitere Futons, einen zu jeder Seite. Der Futon
neben dem des Shogun war für die Dame Chiyo bestimmt, der neben
Sachis für die Priesterin.
Sachi kniete, die Augen gesenkt. Die Kammerfrauen
waren mit dem Shogun beschäftigt. Sachi hörte das Klirren, als sie
seine Schwerter auf die Lackgestelle am Kopf des Bettes legten,
und das Rascheln von Seide, als sie ihn entkleideten und ihm in
ein Schlafgewand halfen.
Schließlich legte er sich hin. Sein Kopf ruhte auf
einer gepolsterten Holzstütze, bezogen mit roter, fransenbesetzter
Seide. Sachi wagte immer noch nicht, den Shogun anzusehen, zog ihr
Gewand eng um sich und nahm ihren Platz neben ihm ein. Der Futon
war so weich und flaumig, dass sie zu schweben meinte. Die
Kammerfrauen löschten die Laternen aus, nur eine ließen sie
glimmen. Sachi hörte das Rascheln der Dame Chiyo und der
Priesterin, die ihre Plätze zu beiden Seiten von ihnen
einnahmen.
Im Dämmerlicht lag sie da, die Augen fest
geschlossen, und wagte kaum zu atmen. Sie spürte die vom Körper des
Shogun ausstrahlende Wärme wie glühende Kohle neben sich. Sein
Schweißgeruch, vermischt mit dem Parfüm, war so stark, dass sie zu
ersticken meinte. Dann griff eine Hand herüber und zog ihr
Schlafgewand auf.
»Wunderschön«, murmelte eine jungenhafte Stimme.
Eine Weile lang wurde es still. Sie spürte, wie seine Blicke über
sie wanderten. Dann streifte eine Hand, so weich wie die einer
Frau, ihren Bauch. Sie erschauderte unter der Berührung. Leicht wie
eine Feder streichelte die Hand ihren Brustkorb und umrundete ihre
Brust, legte sich für einen Augenblick darüber.
»Wunderschön«, flüsterte die Stimme erneut.
Sanft streifte er ihre Brustwarze, ließ die Finger
dann zu ihrem Nabel hinabgleiten, ganz langsam, als wolle er Sachi
erforschen. Dann drückte er ihre Beine auseinander. Sachi spürte
die Wärme seiner Hand, während er an der Innenseite des einen
Oberschenkels entlangstrich, dann an der anderen. Ihr Körper
kribbelte von einem merkwürdigen Gefühl. Aber sie wagte nicht,
diesem Gefühl allzu viel Aufmerksamkeit
zu schenken - aus Angst davor, was als Nächstes geschehen mochte.
Was auch immer er tat, sie wusste, dass sie es ertragen
musste.
Dann kam ein sanfter, aber entschiedener Schubs.
Pflichtbewusst ließ sie sich auf den Bauch drehen. Furcht überkam
sie, löschte alle anderen Gedanken aus. Die Hand schob ihre Beine
weiter auseinander. Der Augenblick war gekommen. Im nächsten Moment
lag ein schwerer Körper auf ihr. Zusammengedrückt unter ihm,
glitschig vor Schweiß, hatte sie das Gefühl, auseinandergerissen zu
werden.
Vor Schreck und Schmerz stieß sie einen Schrei aus.
Das Keuchen und Schnaufen schien ewig zu dauern. Mit dem Gesicht an
das Kissen gedrückt, fragte sie sich, wie lange sie es noch
aushalten konnte. Aber dann geschah etwas Seltsames. Ein
unbekanntes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Zuerst
kitzelte es in ihrem Bauch, dann kroch es an ihrem Rückgrat hinauf.
Ihre Glieder schienen sich in Wasser verwandelt zu haben. Das
Gefühl erreichte ihre Kehle. Es war überhaupt nicht unangenehm. Ja,
es war sogar ganz köstlich.
Dann verschwand alles. Sie vergaß die Furcht und
den Schmerz. Ertrinkend in dem Gefühl, verloren in seinem Duft,
entschlüpfte ihren Lippen ein Stöhnen. Auch der Shogun stöhnte und
lag schwer auf ihr.
Eine Weile lagen sie schweigend da. Als sie wieder
zu sich kam, spürte Sachi ein große Woge der Erleichterung. Es war
vorbei, sie hatte überlebt. Aber sie hatte nichts getan, hatte
nicht gewusst, was sie tun sollte. Angenommen, er war angewidert
von ihr, angenommen, er wollte sie nicht mehr als Konkubine
haben?
Er streckte die Hand aus. Eine Glocke
klingelte.
»Oi!«, rief er. Eine Kammerfrau rutschte auf den
Knien herbei.
Sie entzündete eine langstielige Pfeife, reichte sie ihm und
schlüpfte wieder hinaus.
Sachi drehte sich um und warf einen verstohlenen
Blick auf ihn. Im flackernden Lampenlicht schien sein glatter
Brustkorb mit der Blässe eines Mannes zu schimmern, der nie auf den
Feldern gearbeitet hatte oder nicht mal in die Sonne gegangen war,
jemand, der sein ganzes Leben geschützt vor den Elementen verbracht
hatte.
Als sie den Blick weiter hochwandern ließ, nahm sie
ein eher schwaches Kinn wahr, dann einen zarten Mund, geformt wie
ein Bogen, angehoben an den Enden. Dann kam eine Nase, leicht nach
oben gerichtet, in einem ovalen Gesicht, dann zwei schmale braune
Augen unter feinen Brauen. Die Blässe seiner Haut setzte sich bis
zum Schädel fort, der im Samurai-Stil rasiert war. Sein gepflegter
Haarknoten war zerzaust, und Strähnen seines geölten Haars hingen
um sein Gesicht.
Er glich keinem Mann, den sie je gesehen hatte. In
der Tat war er ja auch kein Mann, sondern praktisch ein Gott. Er
war der Shogun, der Herrscher des ganzen großen Reiches der
aufgehenden Sonne. Er war auch der erste Mann, den sie seit
Betreten des Frauenpalastes zu Gesicht bekommen hatte. In ihren
Augen schien er jede edle Eigenschaft zu verkörpern, die sie sich
überhaupt vorstellen konnte. Und hier war er, lag direkt neben ihr,
sein seidenes Gewand lässig zurückgeschlagen.
Er betrachtete sie mit ernstem Blick, schien jede
Ecke und jeden Winkel ihres Gesichts zu studieren. Er strich mit
den Fingern über ihre Wange und ihr Kinn und um ihren Nacken.
»O-yuri-no-kata …«, sagte er, als probiere er die
Silben aus. Er hatte eine klare, etwas hohe Stimme. »Dame Yuri?« Er
zog
an seiner Pfeife. Dann klopfte er sie aus, stopfte etwas Tabak
hinein, griff nach der Zange, hob ein Stück Holzkohle hoch und zog
erneut an der Pfeife.
»Sollen wir Freunde sein?«, fragte er, beinahe
wehmütig.
Sachi schnappte nach Luft, schockiert und
verängstigt, dass diese bedeutende Persönlichkeit direkt mit ihr
sprach, und in einer so alltäglichen Sprache. Sie spürte die
wachsamen Ohren neben sich, die jedes Wort auffingen. Konnte sie es
wagen, ihm zu antworten? Sie holte tief Luft.
»Eure Majestät?«, flüsterte sie.
»Nenn mich Kiku«, sagte er. »So nennen mich all
meine Frauen. Kikuchiyo war der Name, den ich hatte, als ich klein
war.«
Sie wusste, dass sie gehorchen musste, auch wenn
das, was er ihr befahl, gegen alle Regeln der Etikette
verstieß.
»Eure Majestät … ich meine, Kiku-sama«, flüsterte
sie nervös, stolperte über die intimen Silben. Aus dem Schatten kam
ein schwaches Rascheln. »Sie müssen wissen … die Damen …«
Hilflos deutete sie in Richtung des Bettzeugs zu
beiden Seiten.
»Mach dir um die keine Sorgen.« Er grinste sie an.
»Beobachter und Lauscher gibt es hier überall. Ich werde nichts
sagen, was dir schadet. Als ich dich zum ersten Mal sah, warst du
in den Gärten«, fügte er schelmisch hinzu. »Das wusstest du nicht,
stimmt’s? Du bist herumgelaufen, hast Kirschblüten mit den Füßen
hochgewirbelt, und dein Haar flog. Du hast so süß ausgesehen, wie
ein kleines Mädchen.«
Sachi spürte, wie ihr Gesicht brannte. Sie wagte
nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Er schaute sie an und lachte,
kein höfliches, künstliches Lachen wie das der Hofdamen, wenn sie
verlegen waren, sondern ein offenes, fröhliches Lachen.
»Ich hatte noch nie jemanden wie dich gesehen«,
fuhr er
fort und wurde ernst. »Du warst wie ein Reh, so frei und anmutig.
Dein Gesicht ist perfekt. Deine Haut ist so weiß, so glatt, so
flaumig. Wie eine Lotosblüte. Deine Lippen.« Er strich mit dem
Finger darüber. »Und deine Augen. Wenn du dich nur sehen könntest.
Sie sind grün, dunkelgrün. Wie ein Kiefernwald in den Bergen. Meine
Frauen werden alle wegen ihrer Schönheit ausgewählt, aber keine von
ihnen ist wie du - außer natürlich Prinzessin Kazu, deine Herrin.
Ihr seid wie ein Muschelpaar. Sie hat mir von dir erzählt. Und
nachdem ich dich einmal gesehen hatte, fielst du mir immer wieder
auf. Ich bin überzeugt, dass unsere Schicksale miteinander
verbunden sind.«
Sachi lag schweigend da. Sie versuchte ihn nicht
anzuschauen, wie es sich in der Gegenwart einer so bedeutenden
Persönlichkeit gehörte, konnte aber hin und wieder nicht umhin,
ihren Blick für einen kurzen Moment schüchtern über sein Gesicht
huschen zu lassen.
Er hielt inne, um seine Pfeife nachzustopfen, und
fuhr fort, als denke er laut nach.
»In dieser Welt liegt alles in den Händen der
Götter und unseres Karmas. Keiner von uns kann sein eigenes
Schicksal wählen. Ich bin ein Gefangener, genau wie du. Man hat
mich zum Shogun ernannt. Meine Vorgänger - Herr Ieyoshi, Herr
Iesada - haben ihr Leben hier im Palast mit ihren Pagen und ihren
Konkubinen verbracht. Sie haben musiziert und gedichtet, haben
Hirschjagden veranstaltet und die Falknerei betrieben. Ich dachte,
mein Leben würde ebenso verlaufen.
Aber alles ist ganz anders gekommen. Ich habe die
Burg verlassen. Ich bin auf der Östlichen Küstenstraße gereist und
habe die fünfzig berühmten Sehenswürdigkeiten besucht. Ich war in
der Hauptstadt und habe mit dem Sohn des Himmels
verhandelt, mehr als einmal. Ich habe auch mein Volk gesehen,
Tausende von ihnen. Nie zuvor hatte ich solche Menschen erblickt.
Sie sind nicht wie Samurai, sie verbergen ihre Gefühle nicht. Man
kann ihr Leben in ihren Gesichtern erkennen. Du bist genauso. Du
bringst Sonnenschein an diesen düsteren Ort.«
»Eure Majestät!«, rief Sachi entsetzt. Ein Mann
sollte nicht so viel von sich selbst preisgeben, nicht mal vor
einem unwürdigen Mädchen wie ihr; und hier handelte es sich nicht
bloß um irgendeinen Mann, sondern um den Shogun. Auch nur das
geringste Interesse an den minderwertigen Wesen zu zeigen, welche
die Straßen säumten, mochte bei den Lauschern im Schatten auf
Schwäche deuten, und Sachi mit diesen Gestalten zu vergleichen,
könnte als Kritik an den Bemühungen aufgefasst werden, ihr Benehmen
zu verfeinern. Gelassen fuhr er fort.
»Jetzt ist meine Verantwortung noch größer
geworden. Ich habe ein echter Barbarenvertreibender
Oberbefehlshaber zu sein, und nicht nur dem Titel nach. Morgen
reise ich nach Osaka, um meine Truppen bei der Vertreibung der
Choshu-Rebellen anzuführen.«
Die letzten Worte stieß er mit einem Knurren
hervor, verzog den Mund zu einer verächtlichen Samurai-Miene, als
wolle er es ausprobieren. Dann lachte er entwaffnend.
»Lass uns meine letzte Nacht hier genießen«, sagte
er. »Es gibt so vieles, worüber ich mit dir reden möchte. Wenn ich
zurückkomme, werden wir uns richtig kennenlernen. Aber jetzt … lass
mich dich anschauen.«
Er hob ihr Haar an, ließ die glatten Strähnen durch
seine Finger gleiten. Dann schob er ihr Schlafgewand auseinander.
Sie schloss die Augen, als sie die Berührung seiner Hand auf ihrem
Bauch fühlte. Sie spürte die Wärme seiner Haut, atmete
seinen Geruch ein. Sanft streichelte er sie, dann bewegte sich
seine Hand allmählich tiefer.
»So fein, so weich … Wie eine Blume«, murmelte
er.
VI
In dieser Nacht setzte der Regen ein, prasselte
auf die Dachziegel wie eine Armee galoppierender Pferde. Am Morgen
glitzerten jedes Blatt, jede Blüte und jeder Grashalm vor
Feuchtigkeit. Tief im Palast spürten der Shogun und seine
Konkubine, dass sich die erdrückende Hitze verzogen hatte und die
Luft klar war.
Die Kammerfrauen, die zum Wecken kamen, fanden den
kleineren Futon neben dem des Shoguns unbenutzt vor. Der Shogun war
gegangen, war vor Tagesanbruch hinausgeschlüpft. Nur sein Geruch
hing noch im Raum.
Die vier Frauen, die Sachi während der Nacht
bewacht hatten - die ehrwürdige Dame Nakaoka, die Damen Tsuguko und
Chiyo und die kahlrasierte Priesterin - warteten auf sie im
Vorraum. Sie kniete sich vor sie. Die Morgenluft wehte herein.
Sachi, die vier gestrenge Augenpaare auf sich gerichtet spürte,
versuchte ihr zerzaustes Haar zu richten und ihre Schminke zu
glätten. Sie wusste, dass sie jedes Wort der Unterhaltung mit dem
Shogun wiederholen musste. Aber die Worte Seiner Majestät waren ihr
so kostbar, dass Sachi sie für sich behalten und sie nicht wie eine
Schullektion aufsagen wollte. Zaghaft blickte sie zu der Dame
Nakaoka auf. Zu ihrer Überraschung lächelte diese sie an.
»Nun, nun, meine Liebe«, sagte sie und unterdrückte
ein Gähnen. »Du hast das sehr gut gemacht. Wir haben alles gehört,
was wir hören mussten.«
Eine Schar von Kammerfrauen ordnete Sachis Haar,
frischte ihre Schminke auf, half ihr in den Tageskimono und
begleitete sie dann durch die Flure zurück zu den Gemächern der
Prinzessin. Sachi bewegte sich wie im Traum, sah kaum, wohin sie
geführt wurde. Alles hatte sich verändert. Sie war in einer neuen
Welt erwacht, begriff aber noch nicht, was das bedeutete oder was
sie geworden war.
Die Dame Tsuguko geleitete sie zur Prinzessin.
Prinzessin Kazu kniete an ihrem Schreibpult. Sie legte den Pinsel
ab.
»Du musst müde sein«, sagte sie und benutzte die
formellen Redewendungen, mit denen eine Herrin einer Dienerin
dankt. »Du hast mir gut gedient.«
Es war das erste Mal, dass sie direkt mit Sachi
sprach. Sachi schaute vorsichtig hoch. Für einen Moment trafen sich
ihre Blicke. Prinzessin Kazu lächelte ein bisschen traurig.
»Du hast mir einen großen Dienst erwiesen«, fuhr
sie fort. »Wir müssen zu den Göttern beten, dass es dir gelingt,
einen Sohn für mich zu gebären. Die Dame Tsuguko wird dafür Sorge
tragen, dass du entsprechend entlohnt wirst.«
Sie wandte sich wieder ihrem Schreiben zu, und
Sachi verbeugte sich schweigend und zog sich zurück. Erst jetzt
erkannte sie, dass sie durch das Befolgen der Befehle die Zuneigung
der Prinzessin aufs Spiel gesetzt hatte, doch ihr war keine Wahl
geblieben. Es gab nichts, was sie hätte tun können.
Sie dachte immer noch über die Worte der Prinzessin
nach, als der Emissär des Shoguns eintraf, begleitet von einer
Reihe von Kammerfrauen, die Geschenke trugen. Der Shogun hatte der
Prinzessin eine exquisit in Schwarz und Gold lackierte Kimonotruhe
geschickt, geschmückt mit einem Muster aus Schwertlilien und
wirbelndem Wasser. Für die Dame Tsuguko gab es einen Kosmetikkasten
und für andere Hofdamen
Kämme und Fächer. Für Sachi war ein Amulett in einem Seidenbeutel
bestimmt.
Die Prinzessin nahm die Geschenke huldvoll entgegen
und stellte sie beiseite. Dann griff sie zum Pinsel und verfasste
in ihrer anmutigen Schrift ein paar Zeilen auf einer
Schriftrolle.
Nachdem der Emissär gegangen war, beugte sich die
Dame Tsuguko vor.
»Eure Hoheit, die Zeit nähert sich …«
»Heute fühle ich mich ein wenig unwohl. Ich habe
Seiner Majestät mitgeteilt, dass ich nicht in der Lage sein werde,
ihn zu verabschieden. Es besteht keine Notwendigkeit, meine Damen
in Unruhe zu versetzen.«
Ihr Gesicht war eine Maske.
Sachi hatte es noch nie so schwer gefunden, eine
Fassade sittsamer Ruhe zu bewahren. Es war so ungerecht. Ihre
Gefühle waren eben erst geweckt worden, und jetzt reiste der Shogun
ab. Dann war da die Prinzessin - ihre verehrte Prinzessin. Warum
wies sie ihren eigenen Gemahl zurück, weigerte sich, ihn zu
verabschieden, wenn er vielleicht für mehrere Monate fort sein
würde? Sachi hatte gehofft, den Shogun als eine der Damen der
Prinzessin vielleicht noch ein letztes Mal sehen zu können.
Langsam öffnete sie den Amulettbeutel. Er war
wunderschön, aus weißer Seide mit einer Seidenkordel. Sie hatte
gehofft, er hätte eventuell für sie ein Gedicht des Morgens danach
verfasst. Aber das hier war etwas viel Kostbareres - ein Amulett,
das die Geburt eines Sohnes sicherstellen sollte. Sie steckte es
zusammen mit ihrem Dolch in ihren Gürtel.
Sie wagte nicht, sich durch Weinen in der
Öffentlichkeit zu beschämen. Ohne sich darum zu kümmern, was die
anderen denken mochten, eilte sie in die Gärten und rannte
blindlings los, platschte mit ihren hölzernen Getas durch die
Pfützen. Sie
lief und lief, bis die Palastgebäude wie Puppenhäuser in der Ferne
lagen. Dann hob sie ihr Gesicht zum Himmel und ließ ihren Tränen,
vermischt mit dem Regen, freien Lauf.
Taki holte sie keuchend ein. Sie spannte einen
Regenschirm auf und hielt ihn fürsorglich über Sachi.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. Ihr
Mäusequieken hatte etwas Tröstliches. »Er wird bald zurück
sein.«