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Muscheln des Vergessens, 1865
007

I

Sachi spielte das Muschelspiel mit Prinzessin Kazu. Die Hände im Schoß gefaltet, den Blick sittsam gesenkt, kniete sie ihr gegenüber und hörte das Rascheln der Seide, als die Prinzessin träge den langen Ärmel ihres Gewandes zurückschob und mit der Hand in den lackierten, goldgeprägten Muschelkasten griff. Ein leises Klappern war zu hören, während sie ihre Finger über die kleinen Muscheln gleiten ließ. Sie nahm eine heraus und legte sie mit der Innenseite nach oben auf die Tatami. Sachi beugte sich vor. In der Muschel war eine Miniaturwelt mit adligen Herren und Damen vor einem Hintergrund aus Blattgold abgebildet.
Weitere Muscheln lagen in ordentlichen Reihen zwischen den beiden Frauen. Die Prinzessin griff nach einer und schaute hinein.
»Warum verlässt mich das Glück immer?«, seufzte sie und warf die Muschel gereizt beiseite. »Wenn es doch nur Vergessensmuscheln wären. Dann könnte ich vielleicht vergessen.« Sie murmelte ein Gedicht:
»Wasuregai Ich sammle keine
Hiroi shi mo seji Muscheln des Vergessens,
Shiratama o Sondern Perlen,
Kouru o dani mo Mementos des Juwelengleichen,
Katami to omowan Dem mein Herz gehörte.«
Sachi hob kurz den Blick. Sie dachte an die Geschichten, die sie gehört hatte - dass man die Prinzessin gezwungen hatte, nach Edo zu kommen und den Shogun gegen ihren Willen zu heiraten und dass sie einst mit einem kaiserlichen Prinzen verlobt gewesen war. Aber das war alles lange her. Wenn Ihre Hoheit nur aufhören könnte, in der Vergangenheit zu verweilen, wenn Ihre Hoheit nur nicht immer so traurig wäre …
Die Prinzessin sah sie erwartungsvoll an. Sachi ließ die Hand über den Muscheln schweben, die umgekehrt dalagen. Sie nahm eine, schaute hinein und stieß einen kleinen Schrei aus, griff dann nach der Muschel, die die Prinzessin aus dem Kasten genommen hatte. Beide passten genau zusammen. Sie lachte laut und fröhlich, bis ihr einfiel, wo sie war, errötete und schlug beide Hände vor den Mund.
»Was für ein Kind«, sagte die Dame Tsuguko, die Oberhofdame der Prinzessin, und lächelte nachsichtig. Die Dame Tsuguko war die mächtigste Person im Gefolge der Prinzessin und die ausschlaggebende Autorität in allen Fragen der Etikette. Sie war eine hochgewachsene, aristokratische Frau, deren bodenlanges Haar mit Grau durchzogen war. Viele der jüngeren Hofdamen hatten Angst vor ihr. Aber jenen gegenüber, die von der Prinzessin bevorzugt wurden, war sie die Freundlichkeit in Person.
Die Prinzessin lächelte matt. »Sie könnte jeden mit diesen grünen Augen bezaubern«, murmelte sie. »Sie hat so viel Freude am Leben. Ich wünschte, alle Tage wären so friedvoll wie dieser …« Sie blickte zu der Dame Tsuguko. »Uns bleibt nur so wenig Zeit«, fügte sie mit ersterbender Stimme hinzu.
»Das menschliche Leben ist immer ungewiss, Eure Hoheit. Aber vielleicht sind uns die Götter dieses eine Mal gewogen.«
»Nicht, wenn die Ehemalige ihren Willen durchsetzt. Ich weiß, sie hat das Ohr Seiner Majestät …«
Es war der fünfzehnte Tag des fünften Monats des ersten Jahres der Ära Keio, und der Regen ließ auf sich warten. Jeder Tag war heißer, stickiger und drückender als der vorherige. Dunkle Wolken verbargen den Himmel. Die Papiertüren, mit denen die Räume unterteilt wurden, und die Holztüren an den äußeren Wänden des Gebäudes waren entfernt worden, was den ganzen riesigen Palast in ein Labyrinth miteinander verbundener Pavillons verwandelte. Doch nicht einmal die kleinste Brise brachte die Bambusjalousien zum Klappern.
An diesem Morgen war Sachi für ein paar Minuten von ihren Pflichten entbunden gewesen. Sie war auf die Veranda geeilt und hatte hinaus auf die Palastgärten geblickt. Die Rasenflächen, sauber beschnittenen Büsche und spitznadeligen Kiefern breiteten sich zu einem verwirrenden grünen Flickenteppich aus. Der elegante See mit den halbmondförmigen Brücken lag still wie auf einem Gemälde. Bambusschösslinge ragten aus der Erde, und knorrige Äste bogen sich unter dicken neuen Knospen und Blättern. Sachi hatte die feuchte Luft eingeatmet, den warmen Duft von Erde, Blättern und Gras.
Eine Zikade zirpte laut und zerbrach die Stille. Das plötzliche Geräusch hatte Sachi mit sich fortgetragen. Für einen Augenblick hatte sie an einem Berghang zwischen dichten Bäumen gestanden. Unter ihr schmiegte sich eine Reihe schindelgedeckter, mit Steinen beschwerter Dächer ins Tal. Beinahe meinte sie, den Holzrauch und das Aroma von Misosuppe zu riechen. Das Dorf. Die Erinnerung war so deutlich und scharf, dass sie ihr Tränen in die Augen trieb.
Wie sie es täglich tat, dachte sie an jenen schicksalhaften Herbstmorgen, an dem die Prinzessin durch das Dorf gekommen war. Sachi war wieder in der Eingangshalle des großen Gasthauses, spürte den Holzboden kalt und hart unter ihren Knien. Frauen wimmelten um sie herum, und Stimmen zwitscherten. Ihre Eltern verneigten sich, ihre Mutter wischte sich Tränen weg. Dann hatte ihr Vater gesagt: »Du musst mit ihnen gehen. Du bist ein glückliches Mädchen. Vergiss das nie. Was auch immer du tust, weine nicht. Sorge dafür, dass wir stolz auf dich sein können.«
Kurz darauf war sie die Straße entlanggewandert, neben einer Hofdame, die sie fest an der Hand hielt. Sachi erinnerte sich, wie sie gegen die Tränen gekämpft und sich immer und immer wieder umgedreht hatte, um Blicke auf das Dorf zu erhaschen, bevor es außer Sichtweite kam. Viele Tage später hatten sie die große Stadt Edo erreicht, und schließlich hatte Sachi die weißen Festungswälle der Burg Edo erblickt, die den Himmel auszufüllen schienen. Sie hatten die Burg betreten, und die Tore hatten sich hinter ihnen geschlossen.
Wie einsam sie am Anfang gewesen war! Sie hätte sich nie träumen lassen, dass man so traurig sein kann. So vieles hatte sie lernen müssen - wie man geht und wie eine Dame spricht, wie man liest und schreibt. Seit damals waren vier Winter und drei Sommer vergangen. Aber sie dachte jeden Tag an ihre Mutter und ihren Vater und fragte sich, wie es ihnen wohl gehen mochte.
 
Jetzt nahm sie ihren üblichen Platz neben der Prinzessin ein und begann sie zu fächeln, bemüht, die Luft um sie herum so kühl und ruhig wie möglich zu halten. Ein duftender Rauchfaden kräuselte sich von der Räucherpfanne in der Ecke empor. Auf der anderen Seite der goldverzierten Wandschirme, die den privaten Teil des Gemachs der Prinzessin umgaben, ruhten Gruppen von Hofdamen, plauderten und lachten, ihre Gewänder wie Blätter auf einem Seerosenteich um sie gebauscht. Nur ein paar Erwählten war der Zutritt hinter die Wandschirme gestattet. Wenn Sachi nicht so jung gewesen wäre, hätte sie es wohl seltsam gefunden, dass ausgerechnet sie hier sein durfte. Aber aus irgendeinem Grunde hatte die Prinzessin Zuneigung zu ihr gefasst. Sie fände Sachis Gesellschaft wohltuend, sagte sie.
Sachi warf einen raschen Blick auf die Prinzessin. Sie wusste, dass sie ihre Augen stets sittsam gesenkt halten sollte, vor allem in Gegenwart der Prinzessin. Aber es gab so viele Regeln, so vieles, was sie sich merken musste. Und außerdem hatte sie manchmal das Gefühl, die Einzige zu sein, die Prinzessin Kazu wirklich gern hatte. Für Sachi verkörperte sie Perfektion. Ihre Handschrift war eleganter als die all ihrer Hofdamen, ihre Gedichte waren prägnanter, und wenn sie die Koto spielte, waren die Zuhörerinnen zu Tränen gerührt. Wenn sie die Teezeremonie ausführte, waren ihre Bewegungen reine Poesie. Und doch hatte sie etwas von einer wilden Kreatur an sich, gefangen in dem Netz der Zeremonie und Ehrerbietung, das sie umgab. Manchmal meinte Sachi, ein Aufblitzen von Panik in den schwarzen Augen der Prinzessin zu sehen, wie bei einem verängstigten Reh. So jung und machtlos, wie Sachi war, sehnte sie sich danach, die Prinzessin zu beschützen.
Von weit entfernt kam das Trippeln von Schritten, die durch den Flur auf sie zueilten. Sachi hörte die Tür zum äußeren Gemach in ihrer Führung zurückgleiten, dann das Knarren der Bodenbretter, als die Besucherin auf die Knie sank. Stimmen ertönten, das Rascheln von Seide, dann tauchte eine Hofdame auf und verneigte sich am Rand des Wandschirms. Die Dame Tsuguko beugte sich in ihrer hochmütigen Art zu ihr, wandte sich dann zur Prinzessin und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Sachi fing die Worte auf: »Die Zeit der Morgenvisite nähert sich.«
Die Prinzessin erstarrte. Dann blickte sie aus irgendeinem seltsamen Grund direkt zu Sachi. Sachi schaute rasch zu Boden.
Die Prinzessin atmete tief durch, als fiele ihr ein, was und wer sie war. Zu der Dame Tsuguko gewandt, sagte sie mit eingeübter Ruhe: »Sag meinen Damen, sie sollen sich bereit machen.«
Rasch sammelte Sachi die Muscheln ein und legte sie zurück in ihre Kästen, verknotete sorgfältig die mit Quasten geschmückten Bänder, mit denen diese verschlossen wurden. Bei Sachis Ankunft im Palast war alles so neu gewesen, dass sie kaum bemerkt hatte, wo sie war oder welcher ungeheure Luxus sie umgab. Jetzt, vier Jahre später, ging sie voller Ehrfurcht mit den winzigen bemalten Muscheln und den lackierten achtseitigen Kästen um.
Nur die Hofdamen von höchstem Rang durften sich in die Gegenwart des Shogun begeben. Das Leben im Palast drehte sich ausschließlich um ihn. War er abwesend, dann schien es, als wäre Finsternis eingetreten. All die Frauen, die im Frauenpalast herumtrippelten, von der höchsten in der Hierarchie bis zur niedersten - hochrangige Hofdamen, unbedeutendere Hofdamen, Alte, Junge, Kammerfrauen, Kammerfrauen der Kammerfrauen, mit Schwertlanzen bewaffnete Wächterinnen, Bademägde, Putzmägde, Wasser- und Kohleträgerinnen, selbst die niedersten Dienstmädchen, die von allen »ehrenwerte Welpen« genannt wurden - waren schweigsam und verängstigt. Wenn er zurückkehrte, war es, als wäre die Sonne aufgegangen. Aber die meisten Frauen, die ihr Leben dem Dienst an diesem gottgleichen Wesen widmeten, erwarteten niemals, es zu sehen.
In der Tat war es außergewöhnlich, hatte Sachi die älteren Frauen zueinander sagen hören, dass der Shogun je fort war. Seit der dritte Shogun, Herr Iemitsu, in der Ära Kan’ei, vor mehr als zweihundert Jahren, nach Kyoto gereist war, hatte kein Shogun mehr die Burg verlassen. Der vorherige Shogun, der arme Herr Iesada, war wie alle seine Vorgänger in diesen Mauern geboren worden, hatte hier gelebt und war hier gestorben.
Denn warum sollte jemand fortwollen? Die Burg war eine eigene, in sich geschlossene Welt. Neben dem inneren Palast mit seinen Amtszimmern, Wachräumen, großen Küchen, Speisesälen und Bädern, den Unterpalästen für die vornehmen Damen und den Labyrinthen der Räume, in denen die Frauen lebten, alle umgeben von exquisiten Gärten mit Seen und Flüssen und Wasserfällen und Bühnen für Theateraufführungen und Tänze, gab es noch den mittleren Palast, die Residenz des Shogun, wenn er sich nicht im inneren Palast und dem äußeren Palast aufhielt, wo offizielle Geschäfte abgewickelt wurden und sich die Amtszimmer der Regierung befanden.
Dort kamen die Frauen natürlich niemals hin und wussten theoretisch nicht, was vorging, wenngleich in der Praxis Neuigkeiten und Klatsch wie Luft in den inneren Palast strömte, sodass die Frauen, auch wenn sie ihn nie verließen, genau wussten, was in der Außenwelt geschah. All das - der innere, mittlere und äußere Palast - bildeten die Hauptzitadelle. Aber es gab auch eine zweite Zitadelle, in welcher der Erbe - so es einen gab - und seine Mutter ihren Hof hatten, und die westliche Zitadelle, in der die Witwen - die Frauen, Gefährtinnen und Konkubinen - des verstorbenen Shogun nach Ablegen heiliger Gelübde zu leben hatten. Jede war eine kleinere Version der Hauptzitadelle mit einem eigenen äußeren, mittleren und inneren Palast. Innerhalb des großen Wassergrabens und der hoch aufragenden Mauern befanden sich ebenfalls die bewaldete Fläche der Fukiage-Lustgärten und der Momiji-Hügel, wo sich die Frauen ergehen und die wechselnden Jahreszeiten genießen konnten, sowie die Residenzen der Familien Tayasu und Shimizu, Blutsverwandte der Tokugawa-Familie.
Es war also alles vorhanden, was man sich wünschen konnte. Sobald die Frauen die Burg betraten, wussten sie, dass sie für den Rest ihres Lebens hierbleiben würden, außer sie waren unglücklich oder benahmen sich ungebührlich. Natürlich konnten sie von Zeit zu Zeit ihre Familien besuchen. Sachi wusste, dass sich die Zeit näherte, wo auch sie für ein paar Tage zu ihrer Familie reisen durfte, wenn ihr altes Leben ihr auch so fern schien, dass sie sich kaum an das kleine Mädchen erinnern konnte, das sie einst gewesen war.
 
Wenn die Prinzessin in der Vergangenheit ihre tägliche Aufwartung beim Shogun gemacht hatte, war Sachi in den Gemächern ihrer Herrin zurückgeblieben. Aber heute hatte sich etwas geändert. Vielleicht, dachte Sachi, hat es etwas mit meinem Alter zu tun. Sie war jetzt in ihrem fünfzehnten Jahr und damit volljährig. Ihre monatliche Unreinheit hatte eingesetzt. Ihr Haar war in einem erwachseneren Stil gebunden, und sie trug die Art Kimono, die sie als jüngere Kammerfrau auswies. Sie hatte sogar einen neuen Namen.
Statt Sachi, »Glück«, hieß sie jetzt Yuri, »Lilie«. Sie mochte ihren neuen Namen. Damit kam sie sich zart und fraulich und bedeutender vor, Teil einer prächtigeren Welt als zuvor. Auch ihr Körper veränderte sich, wuchs fast so schnell wie Bambusschösslinge während der Regenzeit. Ihre Arme und Beine waren lang und schlank geworden, und sie hatte kleine runde Brüste, die in ihrem Kimono zurechtgerückt werden mussten. Selbst ihr Gesicht kam ihr bei jedem Blick in den Spiegel anders vor.
Vielleicht war das der Grund, warum die Dame Tsuguko ihr an diesem Morgen mitgeteilt hatte, sie solle sich darauf vorbereiten, der Begrüßung des Shogun beizuwohnen. Aber es stand Sachi nicht zu, Fragen zu stellen. Die älteren Frauen wiesen sie immer wieder darauf hin, dass Sachi selbst und ihre Gefühle vollkommen bedeutungslos waren. Ganz gleich, was geschah, ganz gleich, was sie empfand, sie müsse stets bestrebt sein, eine ruhige, unbewegte Oberfläche zu zeigen, wie ein Teich, der wieder still wird, nachdem ein Stein hineingeworfen wurde. Das einzig Wichtige war, zu wissen, was sich für sie gehörte, fügsam zu sein und niemals Schande über sich oder andere zu bringen.
Um die Mitte des Vormittags, als sich die Stunde des Pferdes näherte, machten sich die Frauen zum Gehen bereit. Die Prinzessin erhob sich, hielt ihren zeremoniellen Fächer in Hüfthöhe und glitt aus ihren Räumen. Sie bewegte sich so sachte, dass der Rauch, der aus der Räucherpfanne aufstieg, kaum erzitterte. Ihre weiten roten Hosen kräuselten sich, und der gesteppte Saum ihres Brokatmantels breitete sich wie ein Fächer hinter ihr aus. Ein zarter Duft hüllte sie ein, wehte aus ihren parfümierten Gewändern. Ihre Hofdamen folgten ihr wie eine endlose Prozession riesiger Blumen in ihren dünnen weißen Sommerkimonos und den wuchtigen zinnoberroten Mänteln. Für gewöhnlich führte die Dame Tsuguko die Reihe an, wie es ihrem Rang als Oberhofdame geziemte. Aber heute blieb sie hinten, mit Sachi an ihrer Seite.
Draußen war der Durchgang voll kniender Frauen. Mit Verbeugung nach Verbeugung begrüßten die Einweiserinnen die Prinzessin. Sachi huschte mit winzigen Schritten weiter, gab acht auf die Stoffbahnen, die um ihre Füße wirbelten. Einmal stolperte sie über ihre Schleppe. »Kleinere Schritte«, wies die Dame Tsuguko sie an, hakte ihren eleganten Finger unter Sachis Ellbogen. »Die Zehen nach innen. Hände auf die Hüften, die Finger gerade, Daumen nach innen. Kopf beugen. Sieh auf den Boden.«
Mit den Einweiserinnen vor ihnen, glitten die Prinzessin und ihre Damen unendlich langsam, in abgemessenen Schritten, einen Flur nach dem anderen entlang, mit leise rauschenden Gewändern, wie Wellen, die an ein Flussufer plätschern. Der Palast war ein Irrgarten. Die Augen fest auf die Tatamimatten gerichtet, trippelte Sachi mit und fragte sich, ob sie je den Weg zurück finden würde, wenn sie allein wäre. Im Aufschauen erhaschte sie einen Blick auf den langen Flur, der in der Ferne verschwand, gesäumt von Reihen geschlossener Holztüren. Dahinter befanden sich, wie sie wusste, die überfüllten Räume, in denen einige der Hunderte von Hofdamen und ihre Kammerfrauen lebten.
Als sie erneut einen Blick wagte, kamen sie gerade an einem riesigen Audienzsaal vorbei. Der größte Teil lag im Dunkeln. Eine der Doppeltüren, kaum zu erkennen im Dämmerlicht, war mit auffliegenden Kranichen und schwimmenden Schildkröten bemalt; auf einer anderen waren Berge und Wasserfälle zu sehen, die Sachi einen Moment lang an zu Hause erinnerten. Leoparden und Tiger lauerten mit glitzernden Augen im Schatten. Drachen wanden sich entlang der Türstürze und Friese, und die Decke schimmerte golden. Selbst die Nagelköpfe waren aus Gold und kunstvoll gehämmert. Zu einer Seite des Saales lag ein Hof mit einem kleinen Teich und einem winzigen Stück grauen Himmels. Weiße Blumen funkelten auf den Felssteinen. Die Hitze war so intensiv, dass jede Bewegung schwerfiel. Die Luft war dampfig, dicht vor Feuchtigkeit.
»Kopf runter!«, zischte die Dame Tsuguko.
Sie kamen an den überdachten Gang zum Privatflügel des Shogun; wie ein Pavillon erhob sich dieser Flügel zwischen Rasenflächen, Weiden, glitzernden Bächen und Beeten mit lilafarbenen Iris. Dort wartete eine große Gruppe kniender Frauen. Sie rutschten auf den Knien zurück, als die Prinzessin näher kam. In vorderster Reihe waren sieben runzelige Frauen mit Pergamentgesichtern und aufwendigen Perücken aus glänzendem schwarzen Haar - die Ältesten, die über jede Einzelheit im Frauenpalast bestimmten. Sie waren, wie es hieß, einst Schönheiten gewesen, gehörten zu den hunderten Konkubinen des Herrn Ienari, des Großvaters des jetzigen Shogun. Aber für Sachi waren sie nichts anderes als feuerspeiende Drachen. Sie lebte in Angst vor ihren scharfen Zungen und harten Knöcheln. Was mochten sie sagen oder tun, wenn sie sahen, das ein so niederes Wesen wie sie es wagte, sich so weit über seine Stellung zu erheben? Sie hob die Augen gerade hoch genug, um in ihre Gesichter zu schauen, während die Dame Tsuguko sie vorbeiführte. Verblüfft stellte Sachi fest, das sie freundlich blickten. Eine lächelte sogar und nickte ermutigend.
Ihr blieb kaum Zeit, sich über diese Merkwürdigkeit weiter Gedanken zu machen, bevor die Prinzessin und ihr Gefolge einen langen, düsteren Durchgang betraten. Jalousien aus Schilfrohr, geschmückt mit großen roten Quasten, bildeten die eine Wand. Am Ende befand sich eine schwere Holztür.
Das war der berühmte obere Glockenflur, der Eingang in den Frauenpalast von den mittleren und äußeren Palästen, die den Männern vorbehalten waren. Nur der Shogun benutzte ihn; er war der einzige Mann, der jemals die Frauengemächer betrat. Es gab ein paar Männer, die dort arbeiteten - vertrocknete Priester, zwei glattgesichtige Ärzte, die stämmigen Wächter an den Außentoren -, aber die zählten nicht. Niemand bemerkte sie. Für die Frauen existierten sie nicht.
Neben der Tür hing ein Ball aus Kupferglocken, die erklangen, wenn der Shogun eintrat; sie zu anderen Zeiten ertönen zu lassen, galt als schreckliches Verbrechen. Zu beiden Seiten kniete eine Hofdame, zusammen mit zwei »Priesterinnen«, knorrigen alten Frauen mit schimmernd kahlrasiertem Schädel, die wie Männer in Priesterroben gekleidet waren. Als Sachi sie zum ersten Mal sah, hatte sie sie erstaunt angestarrt, doch nun erschienen sie ihr nur noch wie ein zugehöriger Teil der Palastbewohner.
Die Prinzessin und ihr Gefolge trugen weiße Gewänder, scharlachrote Hosen und zinnoberrote Brokatmäntel, die zur formellen Kleidung des kaiserlichen Hofes in Kyoto gehörten. Aber die Edelfrauen, die den Durchgang füllten, waren in üppigere Gewänder gehüllt, als Sachi sie je gesehen hatte. Einige waren mit Glyzinien- und Irismustern bestickt, andere mit Holzfächern und Ochsenkarren. Auf wieder anderen wanden sich Miniaturlandschaften in Blauschattierungen über den Rücken der Damen. Die Prinzessin und ihre Hofdamen trugen das Haar lang und glatt bis auf den Boden herabfallend. Doch diese gebeugten Köpfe waren mit schweren Rollen und Locken aus geöltem Haar geschmückt, das vor Kämmen, Haarnadeln und Bändern starrte.
Die Witwe Jitsusei-in, die leibliche Mutter des Shogun, kniete auf einem Ehrenplatz direkt vor der geschlossenen Tür. Sie hatte ein verkniffenes, fahles Gesicht. Als Witwe trug sie kurzes Haar, schlichte Gewänder und die Haube einer Nonne. Sachi nannte sie bei sich die Alte Krähe. Jeden Tag kam sie in ihren schwarzen Gewändern in die Gemächer der Prinzessin gerauscht und fand ständig etwas zu mäkeln. Ganz egal, wie sehr alle versuchten, es ihr recht zu machen, sie entdeckte stets etwas, was ihr missfiel.
Die Prinzessin nahm ihren Platz auf dem Kissen ihr gegenüber ein. Aber gerade, als sie ihre Hosen unter ihren Knien ordnete, näherte sich langsam und würdevoll eine Schar von Hofdamen in reich bestickten Gewändern dem Durchgang, angeführt von einer hochgewachsenen, herrischen Frau. Sie trug, wie die Alte Krähe, die Robe einer Nonne, doch ihr Gewand war aus feinster Seide, Grau, das in Violett überging, und ihr Umhang war so geschickt drapiert, dass ein wenig der weichen Haut ihres schneeweißen Halses zu sehen war. Ihre Haltung machte deutlich, dass sie, ganz gleich, in welchem Gewand, eine Prinzessin war.
Nach einem raschen Blick von ihrem Platz am Ende der Reihe erzitterte Sachi. Es war die ehemalige Herrschergattin, die Furcht erregende Witwe Tensho-in. Alle hatten Angst vor ihr. Es hieß, sie habe ein hitziges Temperament und sei stark wie ein Mann. Alle kannten die Geschichte, wie sie den verstorbenen Shogun, ihren Ehemann, einst während eines Erdbebens auf ihren Armen aus dem Palast getragen hatte. Außerdem, flüsterten die Frauen, sei sie auch eine ausgezeichnete Reiterin, die mit der Schwertlanze genauso geschickt umgehen könne wie jeder Soldat, und sie sei eine wahre Könnerin im Gesang und Tanz des Noh-Theaters. Noch keine dreißig, stand sie in der Blüte ihrer Schönheit. Ein wissendes Lächeln spielte um ihre glänzend roten Lippen, und in ihren Augen brannte eine feurige Energie.
Aber alle Köpfe drehten sich nach der jungen Frau um, die hinter ihr herhuschte. Sie war jung, nicht älter als Sachi, hatte die Stupsnase und die olivfarbene Haut eines Edo-Mädchens, ganz anders als die aristokratische Blässe der Frauen aus Kyoto. Ihr kindlich rundes Gesicht war meisterhaft im Edo-Stil geschminkt, ihre vollen Lippen schimmerten in dem grünlichen Glanz, der als »frisches Bambusrot« bekannt war. Sie trippelte mit winzigen, nach innen gerichteten Schritten, ein Fuß vorsichtig vor den anderen gesetzt, die Augen sittsam niedergeschlagen. Aber wie die Haltung ihrer Schultern verriet, wusste sie, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren.
Sachi schnappte nach Luft, als sie das Mädchen erkannte. Das war Fuyu, die anerkannte Favoritin unter den jüngeren Hofdamen. Sachi sehnte sich danach, so selbstbewusst wie sie zu sein. In Fuyus Gegenwart war sie sich ihrer bescheidenen Herkunft und mangelnden Erziehung schrecklich bewusst. Fuyu wiederum hielt sich nicht damit auf, mit Sachi zu sprechen, außer bei seltenen Gelegenheiten, wenn es Sachi gelang, während der Schwertlanzenübungen einen Streich mit ihrem Übungsstock anzubringen. Dann reckte Fuyu das Kinn, schaute sie von oben herab an und schnaubte verächtlich: »Nicht schlecht, würde ich sagen … für einen Bauerntrampel!« Sie war die Tochter eines Hauptmanns der Wache und, wie Sachi, dem Rang nach eine jüngere Kammerfrau. Trotz all ihrer Allüren hatte sie genauso wenig das Anrecht, sich in die Gegenwart des Shogun zu begeben, wie Sachi.
Aber es war ihr Übergewand, das ein bewunderndes Murmeln durch die Reihen gehen ließ. Eingestickt darauf war eine atemberaubende Darstellung der Stadt Edo. Um den wattierten Saum wand sich der Fluss Sumida, gesäumt von Lagerhäusern und der Nihonbashi-Brücke, die sich darüberspann. Die Bucht von Edo war eine gewundene blaue Biegung an der Hüfte. Ausgebreitet über den Rücken und die Ärmel befanden sich Häuser, Tempel, eine Pagode, mit winzigen gestickten Figuren bevölkerte Straßen, Laubwerk, sogar ein flüchtiger Eindruck der Türmchen der Burg Edo, ausgeführt in Goldfäden. Es war ein Kunstwerk, unvorstellbar kostspielig. Dazu entworfen, jeden Blick auf sich zu lenken.
Während die Hofdamen ihre Plätze an der einen Seite des Flures einnahmen, rauschte die Ehemalige zu der Alten Krähe und der Prinzessin und verneigte sich tief.
»Seien Sie gegrüßt, Kaiserliche Hoheit«, sagte sie an die Prinzessin gewandt. Sie sprach leise, aber ihre Stimme - ungewöhnlich tief und sonor - trug bis zum Ende des Flures. »Sie sind uns höchst willkommen. Welche Ehre es ist, Sie bei uns zu haben. Ich hoffe, Sie achten gut auf Ihre Gesundheit bei diesem heißen Wetter.«
Bis auf das Flattern der Fächer war es still im Flur. Die Hitze war drückender denn je. Sachi bewegte sich unbehaglich, spürte, wie ihr die schweren Gewänder an der Haut klebten. Sie beugte den Kopf, horchte ängstlich auf die Antwort der Prinzessin.
Als jemand, der »über den Wolken lebte« - sie war schließlich die Tochter des verstorbenen Himmelssohns und die Schwester des amtierenden Kaisers -, erwartete Prinzessin Kazu Ehrerbietung, wie es sich für ihren überlegenen Status geziemte. Sie vergaß nie, nicht für einen Augenblick, dass sie das kultivierte Leben am kaiserlichen Hof von Kyoto aufgegeben hatte, um sich auf die Ebene dieser niederen Gemeinen herabzulassen. Doch weit davon entfernt, sich entsprechend respektvoll zu verhalten und dem Opfer der Prinzessin Anerkennung zu zollen, nutzte die Ehemalige jede Gelegenheit, ihre eigene Vorrangstellung geltend zu machen. Als die Witwe des vorhergehenden Shogun und Adoptivmutter des jetzigen war die Ehemalige die unumstrittene Macht im Palast gewesen, bevor die Prinzessin eintraf, und nun entschlossen, ihre Autorität zu wahren.
In der Abgeschiedenheit der Privatgemächer der Prinzessin hatten die aristokratischen Damen, die Prinzessin Kazu aus der Hauptstadt begleitet hatten, nichts als Verachtung für die Ehemalige und ihre Hofdamen übrig. Sie seien ungehobelt, um nicht zu sagen regelrecht vulgär, flüsterten sie. Wie konnten sie es wagen, die Prinzessin so respektlos zu behandeln? Und was ihre Art anging, sich wie Samurai zu kleiden und zu sprechen und zu benehmen - tja, einfach Mitleid erregend, wenn es nicht so lachhaft wäre. Wenn die Hofdamen der Prinzessin denen der Ehemaligen auf den Fluren begegneten, rauschten sie vorbei, ließen sich kaum zu einem abfälligen Kopfnicken herab. Aber unter ihren Kammerfrauen gab es ständiges Gezänk. Stimmen wurden gehoben, und es war sogar schon dazu gekommen, dass sie sich gekratzt, gekniffen, gebissen und sich gegenseitig an den Haaren und Kleidern gezogen hatten.
Die beiden Edelfrauen taten ihr Bestes, sich aus dem Weg zu gehen. Trotzdem spitzten sich die Dinge manchmal zu. Die Prinzessin war viel zu stolz und zu feinfühlig erzogen, um für sich selbst einzutreten. Aber Sachi wusste, wie viel Schmerz ihr diese Zusammenstöße bereiteten.
Als die Prinzessin in der Burg eingetroffen war, hatte sie darauf bestanden, die archaische Sprache des kaiserlichen Hofes beizubehalten. Das war die Ausdrucksweise, die Sachi als Erstes gelernt hatte. Die Prinzessin hatte sogar erwartet, dass alle im Frauenpalast die Sprache und Gebräuche von Kyoto übernehmen würden, denn das war eine der Bedingungen ihrer Eheschließung gewesen. Aber auch darin, wie in vielem anderen, war sie enttäuscht worden.
Jetzt, statt in ihrem Kyoto-Dialekt zu erwidern: »Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit«, wie sie es einst getan hätte, flüsterte sie: »Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, ehrenwerte Ehemalige.« Prinzessin Kazu hatte eine hohe, hauchige kleine Stimme, wie ein Vogel.
Mehrere Minuten lang tauschten sie Komplimente aus, übertrafen sich dabei in der Blumigkeit ihrer Sprache und der Extravaganz ihrer Schmeicheleien. Dann richtete sich die Ehemalige auf.
»Ein weiteres Mal entbiete ich Ihnen meinen aufrechten Dank, Eure Kaiserliche Hoheit, dass Sie so gut für Seine Majestät, meinen adoptierten Sohn, sorgen«, sagte sie, blickte die Prinzessin direkt an und verzog ihre Lippen zu dem süßlichsten, giftigsten Lächeln. »Aber es beschämt mich, zu sehen, dass die Einweiserinnen erneut ihren üblichen Fehler begangen haben. Wie immer haben sie Ihnen versehentlich meinen Platz zugewiesen. Sie akzeptieren ja wohl, dass ich, als Ihre Schwiegermutter und erste Dame seines Haushalts, natürlich die Erste sein muss, die meinen Sohn in seinem Heim willkommen heißt. Sie haben sicherlich nichts dagegen, mir zuzustimmen, dass dieser Fehler korrigiert werden muss.«
Schweigen trat ein. Niemand wagte zu atmen. Prinzessin Kazu hielt den Blick gesenkt, kaute auf ihrer Lippe.
»Im Gegenteil. Ich muss Ihnen meine Dankbarkeit ausdrücken, ehrenwerte Dame Tensho-in«, murmelte sie mit eisiger Höflichkeit. »Ich bin entzückt, Sie zu sehen. Aber Sie wissen sehr gut, dass ich als Vertreterin des Himmelssohns und als bescheidene Gefährtin Seiner Majestät die Pflicht habe, unwürdig, wie ich bin, den Vorrang einzunehmen. Ich hoffe, Sie sind so freundlich, mir zu erlauben, an dem mir zustehenden Platz zu verbleiben, wenigstens dieses eine Mal.«
»Wir haben dieses Gespräch schon oftmals geführt, Schwiegertochter«, erwiderte die Ehemalige mit Feuer sprühenden schwarzen Augen. »Sie sprechen von Tradition und althergebrachten Vorgehensweisen. Aber Sie vergessen, dass wir uns auf Burg Edo befinden. Hier in Edo haben wir unsere eigenen Traditionen und Vorgehensweisen, die vom allerersten Shogun, Seiner Verehrten Majestät Prinz Ieyasu, eingeführt wurden und über Jahrhunderte Bestand hatten. Sie wissen sehr gut, dass ich die Witwe Seiner Majestät, des dreizehnten Shogun Prinz Iesada bin. Als Ihre Schwiegermutter bin ich bestürzt, dass Sie überhaupt daran denken können, sich meinem Willen zu widersetzen. Sie bestehen darauf, Ihren kuriosen Titel und provinziellen Haar- und Kleidungsstil beizubehalten. Das ist ja alles gut und schön. Aber wenn wir gezwungen sind, uns zu begegnen, müssen Sie sich mit dem geziemenden Respekt benehmen.«
Sachi zitterte vor Entsetzen, spürte die Demütigung der Prinzessin, als wäre es ihre eigene. Prinzessin Kazu sagte nichts mehr, rutschte nur zurück und kniete auf dem Boden, während die Ehemalige Kazus Platz auf dem Kissen einnahm.

II

Die Glocken am Ende des Flurs läuteten. Der dünne, blecherne Klang hallte noch wider, als vier Trommelschläge, einer nach dem anderen, von der Brustwehr der Burg ertönten und die volle Stunde verkündeten. Die Ältesten und Einweiserinnen, die Hofdamen und ergrauten Priesterinnen warfen sich zu beiden Seiten der Tür auf den Boden.
Sachi war ebenfalls auf den Knien, starrte auf die Tatami. Sie hörte das Kreischen der zurückgezogenen Eisenbolzen und das Ächzen der großen Tür beim Aufschieben. Dann entstand eine lange Stille, gefolgt von gedämpftem Stahlklirren. Unter dem Stimmengewirr war das ungewohnte Timbre einer männlichen Stimme auszumachen, der ersten, die Sachi in vier Jahren hörte. Zusammen mit dem Trippeln weiblicher Füße und dem Rascheln von Seide kam das Geräusch weich beschuhter Füße, die sich mit flotten Männerschritten über die Tatamimatten bewegten, dazu der Duft eines exotischen und komplexen Parfüms. Die Zeit verging in schmerzhafter Langsamkeit. Die Stimme und der Geruch näherten sich. Das Geplapper von Komplimenten, Reden und Lachen wurde lauter. Dann kamen die Männerschritte direkt vor ihr zum Halt.
»Und das ist sie?«, fragte die Stimme. Die Worte klangen seltsam und archaisch. Sachi hatte diese formelle Sprache, die ausschließlich der Shogun benutzen durfte, nie zuvor gehört, und es gelang ihr nur mit Mühe, zu verstehen, was er gesagt hatte.
»Schau auf, Kind«, zischte die Dame Tsuguko, die Oberhofdame der Prinzessin. »Begrüße Seine Majestät!«
Sachi hob den Kopf gerade hoch genug, um ein Paar weiße Seidenstrümpfe zu sehen. Dann blickte sie für einen flüchtigen Moment auf. Sie merkte, dass sie direkt in ein Paar wissbegierige braune Augen schaute. Rasch senkte sie den Kopf, so rot vor Verwirrung, dass ihre Ohren glühten.
Ein langes Schweigen entstand.
»Wie heißt sie?«, fragte die Stimme.
Ein Murmeln, wie der durch ein Feld von Sommergras raschelnde Wind, lief durch den Flur. Die Dame Tsuguko lachte, ein silbrig klingelndes Lachen.
»Majestät, dieses bescheidene Kind ist Yuri, aus dem Hause Sugi, Vasall des Daimyo von Ogaki«, sagte sie. »Sie steht unter meiner Obhut.«
Sachi zitterte immer noch, lange nachdem die Schritte verklungen und der Duft verweht war und sie gehört hatte, wie die Türen zu den Privatgemächern des Shogun aufgeglitten waren und sich wieder geschlossen hatten.
Schweigend folgte sie den Hofdamen zurück zu den Gemächern der Prinzessin, während ihr die Gedanken wild durch den Kopf rasten. Sie hatte die Grundregel gebrochen. Sie hatte das Gesicht zu einem Wesen erhoben, das sogar noch höher stand als die Ältesten oder die Dame Tsuguko oder die Ehemalige - zu Seiner Majestät, dem Shogun, der eher ein Gott war als ein Mensch. Prinzessin Kazu stand im Rang natürlich noch über ihm. Aber das war etwas anderes. Sachi gehörte der Prinzessin. Die Prinzessin hatte sie erwählt und beschlossen, sie bei sich zu behalten. Hatte sie etwas missverstanden? Die Dame Tsuguko hatte doch sicherlich nicht beabsichtigt, Sachi einen solchen Verstoß gegen die Etikette begehen zu lassen?
Merkwürdiger noch, Seine Majestät war jung. Sachi hatte stets angenommen, dass jemand so Mächtiges und Allwissendes, der von normalen Sterblichen nie gesehen werden durfte, viel älter, schroffer und Furcht erregender sein musste als die altgedienten Ratgeber, die manchmal mit Botschaften auftauchten, die Sachi der einen oder anderen Hofdame zu überbringen hatte.
Und dann war da Fuyu. Warum war sie dort gewesen, und in solch aufdringlicher Pracht? Es war alles viel zu verwirrend. Während Sachi mit winzigen Schritten durch einen Flur nach dem anderen trippelte, die Schultern sittsam gerundet, wie man es ihr beigebracht hatte, fühlte sie sich von all den Regeln und Etikettevorschriften wie erstickt. Wenn sie doch nur all die Stoffbahnen abwerfen und rennen, hüpfen und springen könnte wie früher. Sie musste mit Taki reden, ihrer Freundin. Taki verstand alles. Sie würde die Antworten wissen.
Die Dame Tsuguko schwieg ebenfalls, bis sie die Gemächer der Prinzessin erreichten. Dort zog sie Sachi hinter die Wandschirme und drückte sie auf die Knie, ihr gegenüber.
»Nun, mein liebes Kind«, sagte sie. »Was für ein glückliches Mädchen du bist!« Sie strahlte regelrecht vor Entzücken. Sachi hatte nie zuvor erlebt, dass die Dame Tsuguko ein anderes Verhalten als würdevolle Vornehmheit und hochmütige Herablassung an den Tag legte.
»Du hast das sehr, sehr gut gemacht. Deine Eltern werden stolz auf dich sein.«
Zu verblüfft, um an ihre Erziehung zu denken, starrte Sachi sie offen an.
»Es scheint, als habe Seine Majestät das Angebot Ihrer Hoheit angenommen. Natürlich müssen die Vereinbarungen in geziemender Weise getroffen werden. Seine Majestät hat seinen Wunsch zur Kenntnis gebracht, wie du gehört hast, und Ihre Hoheit hat ihr Einverständnis gegeben. Das Schreiben wird aufgesetzt werden und unverzüglich an den Emissär Seiner Majestät gesandt werden. Komm heute bei Sonnenuntergang zu mir, und ich werde dich einweisen und vorbereiten.«
»Mich vorbereiten? Worauf?«
»Die Unschuld dieses Kindes«, sagte die Dame Tsuguko mit leisem Lachen. »Du bist zu einer Kammerfrau im mittleren Rang befördert worden. Auf Ersuchen Seiner Majestät bietet Ihre Hoheit dich ihm als Abschiedsgeschenk dar, als seine Konkubine.«
Als Konkubine! Sachi beugte den Kopf bis auf die Tatami.
»Ich bin diese Ehre nicht wert«, stammelte sie. Dann, als sie allmählich das volle Ausmaß der Worte begriff, schnappte sie erschrocken nach Luft.
»Herrin … Verehrte Dame Tsuguko … Die Ehre ist zu groß. Ihre Hoheit war immer viel freundlicher zu mir, als ich es verdiene. Ich habe keinen größeren Ehrgeiz, als Ihrer Hoheit zu dienen.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Bitte wählt eine andere. Nicht mich, verehrte Dame. Bitte zwingt mich nicht dazu. Ich mache es bestimmt nicht richtig. Ich weiß nicht, wie das geht. Ich bin nicht bereit. Ich weiß nichts, verehrte Dame. Ich weiß überhaupt nichts.«
»Kind! Erdreiste dich nicht, unsere Entscheidung infrage zu stellen«, sagte die Dame Tsuguko scharf. Dann wurde ihre Stimme weicher. »Mir ist bewusst, dass du noch jung bist und nichts von der Welt weißt. Aber selbst du musst begreifen, dass es die größte Ehre und außergewöhnlichste Bevorzugung ist, die einem Mädchen je zuteilwerden kann, vor allem einem Mädchen deiner Herkunft. Alles hat sich sehr rasch entwickelt. Ich hatte keine Zeit, dir alles beizubringen, was du wissen musst. Aber das ist gut. Deine Unschuld macht deinen Reiz aus. Seine Majestät reist morgen nach Osaka ab, daher werden wir die formellen Zeremonien bis nach seiner Rückkehr verschieben. Wenn es dir nur gelingt, Seine Majestät zu erfreuen, steht dein Fuß fest auf der Schwelle des juwelenbesetzten Palankins. Glaub mir, du wirst nie wieder eine Chance wie diese bekommen. Wir verlassen uns auf dich«, fügte sie mit strenger Stimme hinzu. »Du wirst heute Nacht zu Seiner Majestät gehen.«
Sachi kniete immer noch benommen da, als an der Tür Unruhe entstand. Es war die Ehemalige. Bisher hatte sie sich noch nie den Gemächern der Prinzessin genähert. Seide raschelte aufgeregt, als die Hofdamen auf die Knie fielen. Im nächsten Augenblick tauchte die Ehemalige hinter den Wandschirmen auf. Ihr schönes Gesicht war erstarrt, bis auf eine Ader, die an ihrer Schläfe pochte. Sie wandte sich an die Dame Tsuguko.
»Nun ja«, sagte sie und richtete sich herrisch auf. »Sie müssen stolz auf sich sein. Sie haben das sehr geschickt gemacht, Sie und Ihre Herrin, meinem Sohn diese Kreatur - dieses Findelkind - aufzunötigen.«
Die Dame Tsuguko lag auf den Knien. Im Aufblicken hob sie ihre Augenbrauen und runzelte die Stirn in einem Ausdruck gespielter Demut.
»Was für eine Überraschung!«, rief sie. »Wir fühlen uns äußerst geehrt, meine Dame, dass Sie unsere bescheidene Unterkunft mit Ihrer hochgeschätzten Anwesenheit beehren. Ergebensten Dank für Ihre Glückwünsche. Ich muss Sie natürlich nicht daran erinnern, dass die Dame Yuri die adoptierte Tochter des Hauses Sugi ist, Vasallen des Daimyo von Ogaki.«
»Sie mag zwar aufgestiegen sein, aber wir wissen alle, woher sie stammt«, blaffte die Ehemalige, wobei ihr die Röte in die Wangen schoss. »Sie ist ein Tier, ein ungebildeter Bauerntrampel. Wir haben sie gesehen, als sie hergebracht wurde. Sie konnte nicht mal wie ein menschliches Wesen sprechen.«
»Beruhigen Sie sich, meine Dame. Sie wissen sehr gut, dass wir verzweifelt nach einer Konkubine gesucht haben, die Seiner Majestät zu einem Sohn verhilft. Auch Sie waren deswegen besorgt. Es wäre für uns alle das Schlimmste, wenn Herr Yoshinobu, der Regent, in der Lage wäre, die Macht zu übernehmen. Wir haben den Auswahlprozess mehrfach in Gang gesetzt, doch Seine Majestät hat jede Hofdame, die wir ihm zugeführt haben, abgelehnt. Gleichwohl«, fuhr die Dame Tsuguko geschmeidig fort, »hat dieses bescheidene Mädchen aus irgendeinem Grund sein Gefallen gefunden. Wir sollten den Göttern danken.«
»Sie bringen Schande über das Haus Tokugawa«, fauchte die Ehemalige.
»Sie haben sicherlich nicht vergessen, meine Dame, dass die Dame Tama, die Mutter des fünften Shogun und geliebte Gefährtin des dritten Shogun, Prinz Iemitsu, ihr Leben als Tochter eines Lebensmittelhändlers begann, von so niederer Geburt, dass sie sich nicht mal in die Gegenwart Seiner Majestät begeben durfte.« Die Stimme der Dame Tsuguko war zuckersüß. »Sie war, wie Sie sich erinnern werden, eine Magd, dazu abgestellt, Seiner Majestät beim Bad zu helfen, als sie seinen erhabenen Gefallen fand. Der sechste Shogun, Prinz Ienobu, war das Kind einer so niederen Gemeinen, dass ihr nicht mal der Status einer offiziellen Konkubine erteilt werden konnte. Seine Majestät, wenn ich mir die Freiheit erlauben darf, Sie daran zu erinnern, musste im Verborgenen von einem Gefolgsmann aufgezogen werden. Dann war da die Dame Raku, die Mutter des vierten Shogun. Lassen Sie mich überlegen. War ihr Vater nicht ein Verkäufer gebrauchter Kleidung?«
»Genug, genug!«
»Auf jeden Fall hat das alles nichts mit uns zu tun, meine Dame. Sie waren anwesend, als Seine Majestät nicht Ihre Kandidatin, sondern unsere wählte.«
»Er ist ein Junge«, zischte die Ehemalige. »Er weiß nichts. Sie haben ihn verhext.«
»Sie wissen sehr gut, dass es das Vorrecht Ihrer Hoheit ist, Seiner Majestät eine Konkubine als Geschenk anzubieten. Sie sehen, dass Sie überhaupt keinen Grund haben, sich zu beschweren.« Sie legte beide Hände auf die duftende Strohmatte, die Finger geschlossen, wobei sich die Spitzen der Zeigefinger berührten.
»Vielen Dank, dass Sie geruht haben, uns zu besuchen«, sagte sie mit einem Anstrich von Endgültigkeit und berührte ihre Hände mit der Stirn.
»Und Sie haben Sie in der Kunst des Schlafgemachs unterwiesen? Ich glaube kaum. Das Wesen ist ein Bauerntrampel. Sie wird sich nicht lange halten!« Damit rauschte die Ehemalige aus dem Raum.
Als sich die Tür geschlossen hatte und ihre raschelnden Schritte auf dem Flur verklungen waren, wandte sich die Dame Tsuguko mit besorgter Miene an Sachi.
»Welche grausamen und unbedachten Worte!«, sagte sie. Sachi hatte sie noch nie mit so viel Gefühl sprechen hören. »Man erwartet von uns allen, der Dame Tensho-in Ehrerbietung zu erweisen, aber sie geht in ihren Ansprüchen zu weit. Dieses Mal hat sie die Schlacht verloren. Sei nicht traurig, liebes Kind. Vergiss ihren gemeinen Neid. Als Ihre Hoheit dich zum ersten Mal sah, wusste sie sofort, dass du nicht dorthin, in diese bäuerliche Umgebung, gehörst. Sie wusste, dass dir ein anderes Schicksal beschert war und du zu uns gehörtest. Seine Majestät ist jung und feinfühlig erzogen. Er ist nicht daran interessiert, mit Frauen zu spielen. Die Dame Tensho-in und die Ältesten haben ihm viele schöne Damen von edlem Blut zugeführt, gut ausgebildet in der Kunst der Koketterie, aber er hat sie alle abgelehnt. Ihre Hoheit kennt ihn gut. Sie wusste, dass du, mit deinem hübschen Gesicht und dem reinen Herzen, seinem Geschmack entsprechen würdest. Fürchte dich nicht. Ihre Hoheit und ich haben volles Vertrauen in dich. Aber nimm dich in Acht. Bleib bis heute Abend in den herrschaftlichen Gemächern. Wer weiß, wozu Eifersucht eine Frau treiben kann?«
Sachi lag immer noch auf den Knien. Sie war schon oft zur Zielscheibe bitterböser Gehässigkeiten geworden. Der Frauenpalast, hatte sie gelernt, war ein heimtückischer Ort, wo die Frauen lächelten und dann Worte äußerten, die verletzten, als wäre einem ein Dolch in den Bauch gestoßen worden. Denn obschon Sachi offiziell von einer Samurai-Familie adoptiert worden war, wussten alle, woher sie stammte. Viele Damen der Prinzessin und aus dem Frauenpalast waren zugegen gewesen, als Ihre Hoheit Sachi entdeckte und Gefallen an ihr fand. Für diese Damen war Sachi ein wildes Ding, ein Tier, das die Prinzessin unerklärlicherweise als Schoßhündchen adoptiert hatte. Selbst nachdem sie die Sprache, den Gang und das Benehmen der vornehmen Damen erlernt hatte, selbst nachdem sie sich tagtäglich unter ihnen aufhielt, würde deren Welt Sachi für immer verschlossen bleiben. Sie waren freundlich zu ihr, wie man es zu einem Hund ist.
Sachi war nach wie vor zu benommen, um sich die Beleidigungen zu Herzen zu nehmen. Die Worte, die ihr im Kopf widerhallten, stammten nicht von der Ehemaligen, sondern von der Dame Tsuguko. »Dein hübsches Gesicht und dein reines Herz …« So sah sie sich selbst überhaupt nicht.
Wenn sie doch nur zu Ihrer Hoheit könnte! War das der Grund, warum die Prinzessin sie aus dem Dorf mitgenommen und auf diese Höhen erhoben hatte? Um Ihrer Hoheit diesen Dienst zu erweisen? Sachi war sich sicher, dass es da noch ein Letztes gab, das sie erfahren musste, damit alles klar wurde. Aber die Prinzessin kehrte nicht zurück.
Wie dem auch sei, Sachi verstand ihre Pflicht. Egal, was geschah, sie würde Ihrer Hoheit nach bestem Können dienen. Sie war bereit für alles, was die Götter für sie vorgesehen haben mochten.

III

Sachi ging in den Raum, in dem sie mit den anderen Kammerfrauen schlief, zog ihren formellen Kimono aus und hängte ihn vorsichtig über den Kimonoständer. Wie betäubt schlüpfte sie in ihr Kammerfrauengewand, griff nach ihrem Nähzeug und setzte sich in eine Ecke. Sie starrte vor sich hin, die Näharbeit unberührt im Schoß. Dann waren draußen Schritte auf dem Holzboden zu hören. Die Tür flog auf, und ein Mädchen stürmte herein, das Gesicht zu einem breiten Lächeln verzogen. Taki.
»Hast du ihn gesehen?«, wollte sie wissen. Sie hatte eine piepsige Mäuschenstimme.
Taki stammte aus Kyoto und war die Tochter eines verarmten Samurai, der wiederum der Gefolgsmann einer der Hofdamen der Prinzessin war, der Dame Kin. Die Dame Kin hatte Taki in Dienst genommen, als sie zwölf war, und mit nach Edo gebracht. Taki und Sachi hatten die Burg zur gleichen Zeit betreten.
Taki war nicht hübsch - um die Wahrheit zu sagen, sie war eher unscheinbar. Sie hatte ein dünnes, blasses Gesicht, von Pocken zernarbt, und vorstehende Zähne, die sie wie ein kleines Kaninchen aussehen ließen. Als Sachi eintraf, hatten die jüngeren Kammerfrauen, vor allem die aus Edo, die schon länger in der Burg lebten, sie gnadenlos schikaniert, ihren Dialekt nachgeäfft und sie verspottet, wenn sie Fehler bei der Etikette beging. Taki hatte ihr immer zur Seite gestanden, hatte sie hitzig verteidigt und ihr geholfen, die richtige Sprechweise und das angemessene Benehmen zu lernen. Sie waren enge Freundinnen geworden, obwohl Taki von Geburt einen viel höheren Rang hatte.
Taki hüpfte auf und ab, klatschte in die Hände.
»Alle reden davon«, rief sie. »Alle sind eifersüchtig. Du wirst die neue Konkubine sein! Aber sag mir, hast du einen Blick erhaschen können? Wie sieht er aus? Ist er jung? Ist er alt? Ist er stattlich? Ich habe gehört, er sei jung und sehe gut aus.«
Sie warf sich neben Sachi auf den Boden, schloss sie in die Arme, strahlte sie an und wartete auf eine Antwort.
»Na ja«, murmelte Sachi befangen, »ich hab ihn kaum gesehen. Er sah recht jung aus. Er könnte auch stattlich sein.«
»Und du bist zur Kammerfrau im mittleren Rang befördert worden. Du musst in deinem letzten Leben etwas sehr Gutes getan haben, um so viel Glück zu verdienen! Du bist in den juwelengeschmückten Palankin gesprungen! Ich weiß, dass die Götter dir nicht umsonst so ein Gesicht wie deines gegeben haben.«
»Aber was muss eine Konkubine tun?«
»Also, soweit ich weiß, arbeiten die mittleren Kammerfrauen in drei Schichten. Es gibt eine Morgenschicht, eine Nachmittagsschicht und eine Abendschicht. Es müssen immer Kammerfrauen bereitstehen, Ihrer kaiserlichen Hoheit zu jeder Tages- und Nachtzeit zu dienen.«
»Hör auf, dich lustig zu machen. Du weißt, was ich meine. Wie ist es mit Seiner Majestät?«
»Nun … das weiß ich nicht genau. Du wirst seine Gemahlin Nummer zwei, die Königin seines gesamten Palastes - wenn du ein Kind bekommst, heißt das, aber das wirst du natürlich. Deine Familie wird reich werden. Sie muss sich nie wieder Sorgen machen. Es ist das Herrlichste, was einem Mädchen je passieren kann. Du wirst Kammerfrauen brauchen. Lass mich deine Kammerfrau sein. Bitte, Sachi, bitte. Bitte frag die Dame Kin.«
»Aber … ich muss heute Nacht zu ihm.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Du musst doch Kopfkissenbücher gesehen haben und diese seltsamen Bilder, die einige der Damen haben, diese ›lachenden Bildchen‹. Schließ einfach die Augen und lass es über dich ergehen. Es wird vermutlich nicht lange dauern. Könnte sogar Spaß machen. Ich hab sagen hören, dass es Spaß macht. Komm, versteck dich nicht hier. Lass uns zu den anderen Damen gehen.«
Sie waren kaum in das Hauptgemach zurückgekehrt, als Haru, Sachis Lehrerin, erschien und sich an der Tür verneigte. Sachi war überglücklich, sie zu sehen. Sie lief zu ihr, um sie zu begrüßen, und stolperte in ihrer Eile über ihren Kimono. Die Hofdamen und ihre Kammerfrauen, die den Raum wie ein Schwarm bunter Vögel füllten, wandten sich ab. Nur eine warf einen Blick in Sachis Richtung, als sie vorbeilief - ob mitleidig oder neidisch oder sonst etwas, konnte Sachi nicht erkennen.
Haru begrüßte sie mit einer weiteren Verbeugung, drückte ihr Gesicht an den Boden. »Meine tief empfundenen Glückwünsche«, sagte sie feierlich.
Sie setzte sich auf die Fersen zurück und schaute Sachi an, legte dann aber die Hand über den Mund und lächelte breit.
»Der ganze Palast ist in heller Aufregung«, sagte sie mit einem entzückten Kichern. Sachi lächelte unsicher zurück.
Haru hatte ein rundes Gesicht, das einmal schön gewesen sein mochte, aber inzwischen längst eher pummelig geworden war. Sie hatte rosige Pausbacken, und ihre katzenartigen Augen verschwanden, wenn sie lächelte, was oft geschah. Sachi nannte sie »Große Schwester«, obwohl Haru nahe ihres dreißigsten Jahres war. Für gewöhnlich war sie voller Lachen und fröhlicher Geschichten, aber in unbewachten Momenten verzog sich ihr Gesicht zu einer traurigen Miene. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in den Frauengemächern der Burg Edo verbracht, des feudalsten Palasts des Landes, sie war an einen Luxus gewöhnt, der für die Menschen außerhalb dieser Mauern unvorstellbar war, und trotzdem trug sie nach wie vor den schlichten Kimono einer Kammerfrau von niederem Rang und band ihr Haar zu einem einfachen Knoten. Während andere Frauen im Rang aufstiegen, blieb sie eine Lehrerin. Vielleicht wegen ihrer vielen Talente, oder weil sie aus einem Teil des Landes stammte, der nicht weit von Sachis Heimat entfernt lag und daher den barbarischen Dialekt verstehen konnte, den Sachi bei ihrer Ankunft gesprochen hatte, war Haru die Aufgabe zugefallen, Sachi in eine Dame zu verwandeln.
Sie zogen sich in ihre übliche Ecke des großen Raumes zurück. Eine Weile bemühten sie sich, an ihren Lektionen zu arbeiten, aber Sachis Gedanken waren weit weg. Es gab so vieles, was sie lernen musste, und die einzige Person, die sie zu fragen wagte, war Haru. Schließlich nahm sie ihren Mut zusammen.
»Hast du je bei einem Mann gelegen?«, murmelte sie im leisesten Flüsterton.
Haru beugte sich vor. Als sie die Worte vernahm, legte sie die Hände über den Mund, setzte sich zurück auf die Fersen und lachte schallend. Die Damen, die im Raum verteilt saßen, blickten sich verblüfft um.
»Alle beneiden dich«, sagte Haru und lächelte eher traurig. »Es ist eine Erfahrung, welche die meisten von uns wohl nie machen werden, und ich ganz sicher nicht.«
Sogar Sachi wusste, dass nur sehr wenige der dreitausend Palastfrauen je zu Konkubinen erwählt wurden. Doch alle hatten ihr Leben lang unberührt zu bleiben.
»Dieses Glück ist uns verwehrt«, sagte Haru. »Wenn ich auch einst eine Dame kannte, die es ergriffen hat.«
»Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie verschwand. Frauen ist es nicht gestattet, eine solche Wahl selbst zu treffen, insbesondere, wenn sie dem Shogun gehören. Sie war sehr schön. Sie sah dir sehr ähnlich.«
Sachi konnte nur an eines denken.
»Was wird geschehen? Was muss ich tun?«
»Wie um alles in der Welt soll ich das wissen?«, fragte Haru unter weiterem Gelächter. »Sorge dafür, dass du vor Schmerz aufschreist, damit sie sicher sind, dass du noch nie bei einem Mann gelegen hast. Seine Majestät reist morgen ab, aber er wird bald zurückkehren. Dann kannst du deine Karriere als seine Konkubine ernsthaft beginnen. Ich kann dir die Theorie dessen beibringen, was einem Mann Vergnügen bereitet. Ich habe viele Kopfkissenbücher studiert. Du bist sehr jung. Du hast beste Aussichten, ihm einen gesunden Sohn zu gebären. Die Hauptsache ist, keine Fragen zu stellen und genau das zu tun, was dir gesagt wird. Vergiss nie, dass du jetzt eine Adlige bist. Bewahre um jeden Preis deine Würde. Ganz gleich, was geschieht, zeige nie deine Gefühle, nicht für einen einzigen Augenblick.«
»Du meinst, es wird wehtun?«
»Lass niemanden je hören, dass du so etwas sagst! Das hier ist die größte Ehre, die jemandem zuteilwerden kann! Du bist in deinem fünfzehnten Jahr, Kleine Schwester. Die meisten Mädchen in deinem Alter sind verheiratet. Es wird Zeit, dass du entdeckst, was es bedeutet, mit einem Mann zu schlafen.
Es gebührt mir nicht, so etwas zu sagen«, fügte Haru mit gesenkter Stimme hinzu. »Aber du kannst dich glücklich schätzen. Seine Majestät ist sanft und gutherzig. Seine Vorgänger waren das nicht alle. Und er ist jung.«
Nervös ließ Sachi die Finger an den Zinken ihres Kammes in ihrem Obi entlanggleiten.
»Was hast du da?«, fragte Haru.
»Nichts …«
Aber es schien falsch, etwas vor Haru zu verbergen, daher holte Sachi den Kamm heraus und zeigte ihn ihr. Harus Gesichtsausdruck veränderte sich.
»Woher hast du den?«, zischte sie.
Seit Sachi in den Palast gekommen war, hatte der Kamm immer in einer Falte ihres Gewandes gesteckt. Er war wunderschön, aus Schildpatt, mit einem aufgeprägten Wappen, das aussah, als müsse es einer adligen Familie gehören, eingelegt mit einem Goldrand. Es fing das Licht auf und erhellte die dunkle Ecke des Raumes, in dem sie saßen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie verwirrt. »Das ist mein Glückskamm. Ich habe ihn aus dem Dorf mitgebracht. Ich hatte ihn schon, als ich klein war.«
»Lass mich mal sehen.« Haru nahm den Kamm in die Hand und drehte ihn hin und her. Sachi sah sie fragend an. Haru starrte ihr ins Gesicht, als wolle sie dort etwas finden. Ihr für gewöhnlich so sonniges Lächeln war gänzlich verschwunden. Dann blinzelte sie und schien mit einem Ruck in die Gegenwart zurückzukehren. Sachi griff nach dem Kamm und steckte ihn zurück in ihren Obi.
»Das ist ein prächtiger Kamm.« Haru schüttelte den Kopf, als wolle sie eine aufkommende Erinnerung verdrängen. »Eine sehr schöne Arbeit. Ich wusste nicht, dass es auf dem Land so etwas gibt.«

IV

Lange vor dem Abend hockte Sachi wieder hinter dem Wandschirm im privaten Bereich des Gemachs der Prinzessin und wartete darauf, dass die Dame Tsuguko ihr Anweisungen erteilte. Noch immer war die Prinzessin nicht zurückgekehrt. Sachi hatte noch nie erlebt, dass sie so lange abwesend war. Sie wusste, dass sie Prinzessin Kazu gehörte und dass Ihre Hoheit beschlossen hatte, sie Seiner Majestät zu schenken. Wenn sich Sachi doch nur hätte gewiss sein können, dass das, was sie nun tat, die Traurigkeit der Prinzessin mindern würde, statt sie zu verstärken.
»Die Zeit nähert sich.«
Sachi folgte der Dame Tsuguko in den Hauptumkleideraum. Öllampen und hohe Kerzen erhellten die dunkelsten Ecken, warfen flackernde Lichttümpel auf die exquisit gemalten Vögel, Bäume und Blumen an den vergoldeten Wandschirmen. Selbst die bescheidensten Gegenstände - die runden Spiegel auf ihren Ständern, die Handtuchgestelle, die Schminkkästen mit Bürsten, Kämmen, Pinzetten und Tiegeln, in ordentlichen Reihen aufgestellt, die runden Becken und langtülligen Wasserkrüge - waren in Gold lackiert und mit dem kaiserlichen Wappen versehen. Mit Sommerblumen bestickte Kimonos hingen auf ihren Ständern.
Sachi kniete sich hin. Die für den Umkleideraum zuständige Kammerfrau öffnete einen kleinen Eisenkessel mit einer Mischung aus Sumachblattgalle, Sake und Eisen, die zum Schwärzen der Zähne der Prinzessin benutzt wurde. Der bittere Geruch erfüllte den Raum. Sorgfältig begann die Kammerfrau, Sachis Zähne zu schwärzen. Sachi beobachtete im Spiegel, wie die weißen Zähne, die sie seit ihrer Kindheit kannte - so glänzend wie die eines Wilden oder eines Tieres - verschwanden. Wenn sie lächelte, sah sie den höhlenartigen Mund einer erwachsenen Frau, einer, die bei einem Mann gelegen hatte.
Die Kammerfrau rasierte Sachis Augenbrauen, zupfte jedes noch verbliebene Haar aus. Sie massierte Wachs in Sachis Gesicht, trug dann weiße Schminke auf und puderte zum Schluss darüber. Dann tauchte sie ihre Daumen in Holzkohlepulver und drückte sie vorsichtig genau eine Daumenlänge über die Stellen, wo Sachis Augenbrauen gewesen waren. Zwei schwarze Ovale, wie die Fühlerspitzen einer Motte, erschienen auf ihrer Stirn. Die Kammerfrau umrandete Sachis Augen in Schwarz, legte ihr Wangenrot auf und malte mit roter Färberdistelpaste ein winziges Blütenblatt auf Ober- und Unterlippe, verwandelte den Mund in eine kleine, gekräuselte Rosenknospe.
Aus dem Spiegel blickte eine makellose weiße Maske zu Sachi zurück. Sie war eine Puppe geworden, wie Puppen, die zum Mädchenfest aufgereiht wurden.
Andere Kammerfrauen, die um sie knieten, teilten ihr Haar in Strähnen, zogen und lockerten es, bis es wie ein Fächer um sie herum bis zum Boden fiel. Sie ölten und kämmten jeden Teil, schlugen ihn dann hoch und nach hinten, fort von Sachis Gesicht. Es ergoss sich in einem Pferdeschwanz über ihren Rücken, so schwarz und schimmernd wie Lack, mit Bändern gebunden. Sachi blieb reglos stehen, während die Kammerfrauen sie in einen zeremoniellen Kimono aus weißer Seide hüllten, wie in einen Hochzeitskimono - oder ein Leichentuch.
Der Flur draußen war voller Schatten und dunkler Ecken. Es war das erste Mal, dass Sachi die Gemächer der Prinzessin nach Einbruch der Nacht verließ. Die Frauen, die den Flur säumten, blickten sie neugierig an und flüsterten, während sie vorbeiging. Die von den Begleiterinnen getragenen dünnen Wachskerzen warfen ein flackerndes Licht, und die brennenden Laternen in den Durchgängen knisterten. Der Rauch kribbelte ihr in der Nase. Schatten tanzten an den Holzwänden entlang. Die polierten Dielenbretter knarrten unter dem leichten Tritt so vieler weich beschuhter Füße.
Als sie den Oberen Glockenflur erreichten, kniete sich die Dame Tsuguko vor die Tür zu den Räumen des Shogun. Sie senkte die Stirn zu Boden und verkündete: »Ich bringe die niedere Dame des Seitengemachs. Ich erbitte Ihr Wohlwollen.«
»Gib dein Bestes, Kind«, flüsterte sie.
Sachi spürte, wie ihr unter dem Gewand Schweiß aus den Achselhöhlen rann. Stumm betete sie, dass die steife Seidengaze nicht befleckt oder verknittert wurde. Sie fühlte sich furchtbar allein. Es war nur schwer zu glauben, dass das alles keine Bestrafung für ein schreckliches Vergehen war, das sie begangen hatte.
Sie fand sich in einem von Laternen und riesigen, blakenden Kerzen in hohen goldenen Leuchtern erhellten Vorraum wieder. Dort kniete die Oberste der sieben Ältesten, die Dame Nakaoka, winzig und elegant unter ihrer schimmernden schwarzen Perücke. Ihre Begleiterinnen gruppierten sich respektvoll um sie.
»Komm her, Kind«, sagte sie, nicht unfreundlich. Im schummrigen Licht verliehen ihr die gelbliche Haut und die eingesunkenen Wangen das unheimliche Aussehen einer Dämonenmaske.
Wie im Traum blieb Sachi stocksteif stehen, während die Begleiterinnen sie auskleideten.
»Beine spreizen«, befahl die Dame Nakaoka brüsk und deutete auf den vor ihr ausgebreiteten Futon. Sachi legte sich hin, fühlte sich klein und verletzlich. Die alte Frau beugte sich vor, zog hier und tastete da. Die Untersuchung schien endlos zu dauern. Schließlich schob sie ihren knotigen Finger tief hinein. Sachi blickte starr an die Decke, betrachtete den kunstvoll verwobenen Bambus.
Harus Worte hallten in ihren Ohren wider. Irgendwie müsse sie ihre Würde bewahren. Nie dürfe sie ihre Gefühle zeigen, egal, wie groß der Schmerz und die Erniedrigung wären. Sachi lenkte ihre Gedanken auf glücklichere Erinnerungen, und ihr altes Leben überflutete sie erneut. Sie dachte an das große Holzhaus mit den Dachschindeln, an das Zirpen der Zikaden und das kühle Wasser des Kiso-Flusses. Sie versuchte sich das kleine Mädchen vorzustellen, das in dem Dorf gelebt hatte, tief in den Bergen, aber es war nur noch eine verwehte Erinnerung. Damals war das Leben so sorglos gewesen. Jetzt war sie vollkommen verändert. Sie konnte nie zurückkehren.
Die Dame Nakaoka nickte. »Gut«, sagte sie.
Sachi kniete sich hin, und die Frauen banden ihr Haar auf. Die Dame Nakaoka kämmte es mit den Fingern Strähne für Strähne durch, als suchte sie nach etwas Verborgenem.
»Gut«, sagte sie erneut.
Sachi wurde nackt in einen Ankleideraum geführt. Kammerfrauen machten sich geschäftig an ihr zu schaffen, banden ihr das Haar locker zurück, steckten es mit einem Kamm fest und halfen ihr in ein loses Schlafgewand aus feinem weißem Damast. Die Dame Nakaoka befahl ihr, sich ihr gegenüber hinzuknien.
»Da es dein erstes Mal ist, Kind, werde ich dir deine Pflichten erklären. Pass genau auf. Die Dame Chiyo und eine der Priesterinnen werden in der Nähe Wache halten. Ich selbst und die Dame Tsuguko werden in einem Nebenraum sein. Wir werden die ganze Nacht wach bleiben. Es ist unsere Pflicht, auf jedes Wort zu lauschen, das zwischen Seiner Majestät und dir gewechselt wird. Am Morgen wirst du mir von eurem Gespräch berichten. Merke es dir gut. Die Dame Chiyo und die Priesterin werden ebenfalls berichten. Alle drei Darstellungen müssen übereinstimmen. Hüte dich davor, Seine Majestät um Gefallen zu bitten. Und vergiss nicht - achte darauf, dass du mit dem Gesicht zu Seiner Majestät schläfst.«

V

Als die vier Trommelschläge die volle Stunde verkündeten, ertönten die kleinen Glöckchen im Oberen Glockenflur. Auf dem Flur waren schlendernde Schritte zu hören, begleitet von jungenhaftem Gelächter. Die Tür wurde aufgeschoben, und ein Moschusduft erfüllte den Raum. Die Damen warfen sich zu Boden.
Die Zeit schien stillzustehen. Sachi drückte ihre Stirn an den Boden. Parfümierte Kleidung streifte an ihr vorbei. Sie hörte das leise Plätschern beim Eingießen von Sake, das gedämpfte Klicken hölzerner Becher, den Klang von Stimmen und Gelächter. Der süße Geruch von Tabakrauch vermischte sich mit dem Parfümduft und dem Geräusch kleiner Pfeifen, die entzündet, an denen gezogen und die ausgeklopft wurden.
»Kommen Sie, meine Dame.«
Die Kammerfrauen führten sie in das Schlafgemach des Shogun. Flüchtig nahm Sachi die prächtige Möblierung, das luxuriöse, mehrlagige Bettzeug, das Schimmern von Rot und Gold und den Glanz weißer Seidendecken wahr. Eine Armlänge entfernt, rechts vom Podium, auf dem das Bettzeug des Shogun ausgebreitet lag, befand sich ein kleinerer, dünnerer Futon mit einer lackierten Kopfstütze, Kosmetikkästchen und einem Tageskimono daneben. Dort würde Sachi schlafen, nachdem sie ihre Pflicht getan hatte. Dann gab es noch zwei weitere Futons, einen zu jeder Seite. Der Futon neben dem des Shogun war für die Dame Chiyo bestimmt, der neben Sachis für die Priesterin.
Sachi kniete, die Augen gesenkt. Die Kammerfrauen waren mit dem Shogun beschäftigt. Sachi hörte das Klirren, als sie seine Schwerter auf die Lackgestelle am Kopf des Bettes legten, und das Rascheln von Seide, als sie ihn entkleideten und ihm in ein Schlafgewand halfen.
Schließlich legte er sich hin. Sein Kopf ruhte auf einer gepolsterten Holzstütze, bezogen mit roter, fransenbesetzter Seide. Sachi wagte immer noch nicht, den Shogun anzusehen, zog ihr Gewand eng um sich und nahm ihren Platz neben ihm ein. Der Futon war so weich und flaumig, dass sie zu schweben meinte. Die Kammerfrauen löschten die Laternen aus, nur eine ließen sie glimmen. Sachi hörte das Rascheln der Dame Chiyo und der Priesterin, die ihre Plätze zu beiden Seiten von ihnen einnahmen.
Im Dämmerlicht lag sie da, die Augen fest geschlossen, und wagte kaum zu atmen. Sie spürte die vom Körper des Shogun ausstrahlende Wärme wie glühende Kohle neben sich. Sein Schweißgeruch, vermischt mit dem Parfüm, war so stark, dass sie zu ersticken meinte. Dann griff eine Hand herüber und zog ihr Schlafgewand auf.
»Wunderschön«, murmelte eine jungenhafte Stimme. Eine Weile lang wurde es still. Sie spürte, wie seine Blicke über sie wanderten. Dann streifte eine Hand, so weich wie die einer Frau, ihren Bauch. Sie erschauderte unter der Berührung. Leicht wie eine Feder streichelte die Hand ihren Brustkorb und umrundete ihre Brust, legte sich für einen Augenblick darüber.
»Wunderschön«, flüsterte die Stimme erneut.
Sanft streifte er ihre Brustwarze, ließ die Finger dann zu ihrem Nabel hinabgleiten, ganz langsam, als wolle er Sachi erforschen. Dann drückte er ihre Beine auseinander. Sachi spürte die Wärme seiner Hand, während er an der Innenseite des einen Oberschenkels entlangstrich, dann an der anderen. Ihr Körper kribbelte von einem merkwürdigen Gefühl. Aber sie wagte nicht, diesem Gefühl allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken - aus Angst davor, was als Nächstes geschehen mochte. Was auch immer er tat, sie wusste, dass sie es ertragen musste.
Dann kam ein sanfter, aber entschiedener Schubs. Pflichtbewusst ließ sie sich auf den Bauch drehen. Furcht überkam sie, löschte alle anderen Gedanken aus. Die Hand schob ihre Beine weiter auseinander. Der Augenblick war gekommen. Im nächsten Moment lag ein schwerer Körper auf ihr. Zusammengedrückt unter ihm, glitschig vor Schweiß, hatte sie das Gefühl, auseinandergerissen zu werden.
Vor Schreck und Schmerz stieß sie einen Schrei aus. Das Keuchen und Schnaufen schien ewig zu dauern. Mit dem Gesicht an das Kissen gedrückt, fragte sie sich, wie lange sie es noch aushalten konnte. Aber dann geschah etwas Seltsames. Ein unbekanntes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Zuerst kitzelte es in ihrem Bauch, dann kroch es an ihrem Rückgrat hinauf. Ihre Glieder schienen sich in Wasser verwandelt zu haben. Das Gefühl erreichte ihre Kehle. Es war überhaupt nicht unangenehm. Ja, es war sogar ganz köstlich.
Dann verschwand alles. Sie vergaß die Furcht und den Schmerz. Ertrinkend in dem Gefühl, verloren in seinem Duft, entschlüpfte ihren Lippen ein Stöhnen. Auch der Shogun stöhnte und lag schwer auf ihr.
Eine Weile lagen sie schweigend da. Als sie wieder zu sich kam, spürte Sachi ein große Woge der Erleichterung. Es war vorbei, sie hatte überlebt. Aber sie hatte nichts getan, hatte nicht gewusst, was sie tun sollte. Angenommen, er war angewidert von ihr, angenommen, er wollte sie nicht mehr als Konkubine haben?
Er streckte die Hand aus. Eine Glocke klingelte.
»Oi!«, rief er. Eine Kammerfrau rutschte auf den Knien herbei. Sie entzündete eine langstielige Pfeife, reichte sie ihm und schlüpfte wieder hinaus.
Sachi drehte sich um und warf einen verstohlenen Blick auf ihn. Im flackernden Lampenlicht schien sein glatter Brustkorb mit der Blässe eines Mannes zu schimmern, der nie auf den Feldern gearbeitet hatte oder nicht mal in die Sonne gegangen war, jemand, der sein ganzes Leben geschützt vor den Elementen verbracht hatte.
Als sie den Blick weiter hochwandern ließ, nahm sie ein eher schwaches Kinn wahr, dann einen zarten Mund, geformt wie ein Bogen, angehoben an den Enden. Dann kam eine Nase, leicht nach oben gerichtet, in einem ovalen Gesicht, dann zwei schmale braune Augen unter feinen Brauen. Die Blässe seiner Haut setzte sich bis zum Schädel fort, der im Samurai-Stil rasiert war. Sein gepflegter Haarknoten war zerzaust, und Strähnen seines geölten Haars hingen um sein Gesicht.
Er glich keinem Mann, den sie je gesehen hatte. In der Tat war er ja auch kein Mann, sondern praktisch ein Gott. Er war der Shogun, der Herrscher des ganzen großen Reiches der aufgehenden Sonne. Er war auch der erste Mann, den sie seit Betreten des Frauenpalastes zu Gesicht bekommen hatte. In ihren Augen schien er jede edle Eigenschaft zu verkörpern, die sie sich überhaupt vorstellen konnte. Und hier war er, lag direkt neben ihr, sein seidenes Gewand lässig zurückgeschlagen.
Er betrachtete sie mit ernstem Blick, schien jede Ecke und jeden Winkel ihres Gesichts zu studieren. Er strich mit den Fingern über ihre Wange und ihr Kinn und um ihren Nacken.
»O-yuri-no-kata …«, sagte er, als probiere er die Silben aus. Er hatte eine klare, etwas hohe Stimme. »Dame Yuri?« Er zog an seiner Pfeife. Dann klopfte er sie aus, stopfte etwas Tabak hinein, griff nach der Zange, hob ein Stück Holzkohle hoch und zog erneut an der Pfeife.
»Sollen wir Freunde sein?«, fragte er, beinahe wehmütig.
Sachi schnappte nach Luft, schockiert und verängstigt, dass diese bedeutende Persönlichkeit direkt mit ihr sprach, und in einer so alltäglichen Sprache. Sie spürte die wachsamen Ohren neben sich, die jedes Wort auffingen. Konnte sie es wagen, ihm zu antworten? Sie holte tief Luft.
»Eure Majestät?«, flüsterte sie.
»Nenn mich Kiku«, sagte er. »So nennen mich all meine Frauen. Kikuchiyo war der Name, den ich hatte, als ich klein war.«
Sie wusste, dass sie gehorchen musste, auch wenn das, was er ihr befahl, gegen alle Regeln der Etikette verstieß.
»Eure Majestät … ich meine, Kiku-sama«, flüsterte sie nervös, stolperte über die intimen Silben. Aus dem Schatten kam ein schwaches Rascheln. »Sie müssen wissen … die Damen …«
Hilflos deutete sie in Richtung des Bettzeugs zu beiden Seiten.
»Mach dir um die keine Sorgen.« Er grinste sie an. »Beobachter und Lauscher gibt es hier überall. Ich werde nichts sagen, was dir schadet. Als ich dich zum ersten Mal sah, warst du in den Gärten«, fügte er schelmisch hinzu. »Das wusstest du nicht, stimmt’s? Du bist herumgelaufen, hast Kirschblüten mit den Füßen hochgewirbelt, und dein Haar flog. Du hast so süß ausgesehen, wie ein kleines Mädchen.«
Sachi spürte, wie ihr Gesicht brannte. Sie wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Er schaute sie an und lachte, kein höfliches, künstliches Lachen wie das der Hofdamen, wenn sie verlegen waren, sondern ein offenes, fröhliches Lachen.
»Ich hatte noch nie jemanden wie dich gesehen«, fuhr er fort und wurde ernst. »Du warst wie ein Reh, so frei und anmutig. Dein Gesicht ist perfekt. Deine Haut ist so weiß, so glatt, so flaumig. Wie eine Lotosblüte. Deine Lippen.« Er strich mit dem Finger darüber. »Und deine Augen. Wenn du dich nur sehen könntest. Sie sind grün, dunkelgrün. Wie ein Kiefernwald in den Bergen. Meine Frauen werden alle wegen ihrer Schönheit ausgewählt, aber keine von ihnen ist wie du - außer natürlich Prinzessin Kazu, deine Herrin. Ihr seid wie ein Muschelpaar. Sie hat mir von dir erzählt. Und nachdem ich dich einmal gesehen hatte, fielst du mir immer wieder auf. Ich bin überzeugt, dass unsere Schicksale miteinander verbunden sind.«
Sachi lag schweigend da. Sie versuchte ihn nicht anzuschauen, wie es sich in der Gegenwart einer so bedeutenden Persönlichkeit gehörte, konnte aber hin und wieder nicht umhin, ihren Blick für einen kurzen Moment schüchtern über sein Gesicht huschen zu lassen.
Er hielt inne, um seine Pfeife nachzustopfen, und fuhr fort, als denke er laut nach.
»In dieser Welt liegt alles in den Händen der Götter und unseres Karmas. Keiner von uns kann sein eigenes Schicksal wählen. Ich bin ein Gefangener, genau wie du. Man hat mich zum Shogun ernannt. Meine Vorgänger - Herr Ieyoshi, Herr Iesada - haben ihr Leben hier im Palast mit ihren Pagen und ihren Konkubinen verbracht. Sie haben musiziert und gedichtet, haben Hirschjagden veranstaltet und die Falknerei betrieben. Ich dachte, mein Leben würde ebenso verlaufen.
Aber alles ist ganz anders gekommen. Ich habe die Burg verlassen. Ich bin auf der Östlichen Küstenstraße gereist und habe die fünfzig berühmten Sehenswürdigkeiten besucht. Ich war in der Hauptstadt und habe mit dem Sohn des Himmels verhandelt, mehr als einmal. Ich habe auch mein Volk gesehen, Tausende von ihnen. Nie zuvor hatte ich solche Menschen erblickt. Sie sind nicht wie Samurai, sie verbergen ihre Gefühle nicht. Man kann ihr Leben in ihren Gesichtern erkennen. Du bist genauso. Du bringst Sonnenschein an diesen düsteren Ort.«
»Eure Majestät!«, rief Sachi entsetzt. Ein Mann sollte nicht so viel von sich selbst preisgeben, nicht mal vor einem unwürdigen Mädchen wie ihr; und hier handelte es sich nicht bloß um irgendeinen Mann, sondern um den Shogun. Auch nur das geringste Interesse an den minderwertigen Wesen zu zeigen, welche die Straßen säumten, mochte bei den Lauschern im Schatten auf Schwäche deuten, und Sachi mit diesen Gestalten zu vergleichen, könnte als Kritik an den Bemühungen aufgefasst werden, ihr Benehmen zu verfeinern. Gelassen fuhr er fort.
»Jetzt ist meine Verantwortung noch größer geworden. Ich habe ein echter Barbarenvertreibender Oberbefehlshaber zu sein, und nicht nur dem Titel nach. Morgen reise ich nach Osaka, um meine Truppen bei der Vertreibung der Choshu-Rebellen anzuführen.«
Die letzten Worte stieß er mit einem Knurren hervor, verzog den Mund zu einer verächtlichen Samurai-Miene, als wolle er es ausprobieren. Dann lachte er entwaffnend.
»Lass uns meine letzte Nacht hier genießen«, sagte er. »Es gibt so vieles, worüber ich mit dir reden möchte. Wenn ich zurückkomme, werden wir uns richtig kennenlernen. Aber jetzt … lass mich dich anschauen.«
Er hob ihr Haar an, ließ die glatten Strähnen durch seine Finger gleiten. Dann schob er ihr Schlafgewand auseinander. Sie schloss die Augen, als sie die Berührung seiner Hand auf ihrem Bauch fühlte. Sie spürte die Wärme seiner Haut, atmete seinen Geruch ein. Sanft streichelte er sie, dann bewegte sich seine Hand allmählich tiefer.
»So fein, so weich … Wie eine Blume«, murmelte er.

VI

In dieser Nacht setzte der Regen ein, prasselte auf die Dachziegel wie eine Armee galoppierender Pferde. Am Morgen glitzerten jedes Blatt, jede Blüte und jeder Grashalm vor Feuchtigkeit. Tief im Palast spürten der Shogun und seine Konkubine, dass sich die erdrückende Hitze verzogen hatte und die Luft klar war.
Die Kammerfrauen, die zum Wecken kamen, fanden den kleineren Futon neben dem des Shoguns unbenutzt vor. Der Shogun war gegangen, war vor Tagesanbruch hinausgeschlüpft. Nur sein Geruch hing noch im Raum.
Die vier Frauen, die Sachi während der Nacht bewacht hatten - die ehrwürdige Dame Nakaoka, die Damen Tsuguko und Chiyo und die kahlrasierte Priesterin - warteten auf sie im Vorraum. Sie kniete sich vor sie. Die Morgenluft wehte herein. Sachi, die vier gestrenge Augenpaare auf sich gerichtet spürte, versuchte ihr zerzaustes Haar zu richten und ihre Schminke zu glätten. Sie wusste, dass sie jedes Wort der Unterhaltung mit dem Shogun wiederholen musste. Aber die Worte Seiner Majestät waren ihr so kostbar, dass Sachi sie für sich behalten und sie nicht wie eine Schullektion aufsagen wollte. Zaghaft blickte sie zu der Dame Nakaoka auf. Zu ihrer Überraschung lächelte diese sie an.
»Nun, nun, meine Liebe«, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen. »Du hast das sehr gut gemacht. Wir haben alles gehört, was wir hören mussten.«
Eine Schar von Kammerfrauen ordnete Sachis Haar, frischte ihre Schminke auf, half ihr in den Tageskimono und begleitete sie dann durch die Flure zurück zu den Gemächern der Prinzessin. Sachi bewegte sich wie im Traum, sah kaum, wohin sie geführt wurde. Alles hatte sich verändert. Sie war in einer neuen Welt erwacht, begriff aber noch nicht, was das bedeutete oder was sie geworden war.
Die Dame Tsuguko geleitete sie zur Prinzessin. Prinzessin Kazu kniete an ihrem Schreibpult. Sie legte den Pinsel ab.
»Du musst müde sein«, sagte sie und benutzte die formellen Redewendungen, mit denen eine Herrin einer Dienerin dankt. »Du hast mir gut gedient.«
Es war das erste Mal, dass sie direkt mit Sachi sprach. Sachi schaute vorsichtig hoch. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Prinzessin Kazu lächelte ein bisschen traurig.
»Du hast mir einen großen Dienst erwiesen«, fuhr sie fort. »Wir müssen zu den Göttern beten, dass es dir gelingt, einen Sohn für mich zu gebären. Die Dame Tsuguko wird dafür Sorge tragen, dass du entsprechend entlohnt wirst.«
Sie wandte sich wieder ihrem Schreiben zu, und Sachi verbeugte sich schweigend und zog sich zurück. Erst jetzt erkannte sie, dass sie durch das Befolgen der Befehle die Zuneigung der Prinzessin aufs Spiel gesetzt hatte, doch ihr war keine Wahl geblieben. Es gab nichts, was sie hätte tun können.
Sie dachte immer noch über die Worte der Prinzessin nach, als der Emissär des Shoguns eintraf, begleitet von einer Reihe von Kammerfrauen, die Geschenke trugen. Der Shogun hatte der Prinzessin eine exquisit in Schwarz und Gold lackierte Kimonotruhe geschickt, geschmückt mit einem Muster aus Schwertlilien und wirbelndem Wasser. Für die Dame Tsuguko gab es einen Kosmetikkasten und für andere Hofdamen Kämme und Fächer. Für Sachi war ein Amulett in einem Seidenbeutel bestimmt.
Die Prinzessin nahm die Geschenke huldvoll entgegen und stellte sie beiseite. Dann griff sie zum Pinsel und verfasste in ihrer anmutigen Schrift ein paar Zeilen auf einer Schriftrolle.
Nachdem der Emissär gegangen war, beugte sich die Dame Tsuguko vor.
»Eure Hoheit, die Zeit nähert sich …«
»Heute fühle ich mich ein wenig unwohl. Ich habe Seiner Majestät mitgeteilt, dass ich nicht in der Lage sein werde, ihn zu verabschieden. Es besteht keine Notwendigkeit, meine Damen in Unruhe zu versetzen.«
Ihr Gesicht war eine Maske.
Sachi hatte es noch nie so schwer gefunden, eine Fassade sittsamer Ruhe zu bewahren. Es war so ungerecht. Ihre Gefühle waren eben erst geweckt worden, und jetzt reiste der Shogun ab. Dann war da die Prinzessin - ihre verehrte Prinzessin. Warum wies sie ihren eigenen Gemahl zurück, weigerte sich, ihn zu verabschieden, wenn er vielleicht für mehrere Monate fort sein würde? Sachi hatte gehofft, den Shogun als eine der Damen der Prinzessin vielleicht noch ein letztes Mal sehen zu können.
Langsam öffnete sie den Amulettbeutel. Er war wunderschön, aus weißer Seide mit einer Seidenkordel. Sie hatte gehofft, er hätte eventuell für sie ein Gedicht des Morgens danach verfasst. Aber das hier war etwas viel Kostbareres - ein Amulett, das die Geburt eines Sohnes sicherstellen sollte. Sie steckte es zusammen mit ihrem Dolch in ihren Gürtel.
Sie wagte nicht, sich durch Weinen in der Öffentlichkeit zu beschämen. Ohne sich darum zu kümmern, was die anderen denken mochten, eilte sie in die Gärten und rannte blindlings los, platschte mit ihren hölzernen Getas durch die Pfützen. Sie lief und lief, bis die Palastgebäude wie Puppenhäuser in der Ferne lagen. Dann hob sie ihr Gesicht zum Himmel und ließ ihren Tränen, vermischt mit dem Regen, freien Lauf.
Taki holte sie keuchend ein. Sie spannte einen Regenschirm auf und hielt ihn fürsorglich über Sachi.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. Ihr Mäusequieken hatte etwas Tröstliches. »Er wird bald zurück sein.«