8
Ins Hornissennest

I
Jiroemon seufzte, als Sachi ihm mitteilte, dass
sie fortgehen würde, lächelte dann resigniert wie über etwas
Unvermeidliches und nickte schwer.
»Nach Edo, nicht wahr?«, sagte er. »Wenn ich kein
Gasthaus zu führen und kein Dorf zu verwalten hätte, käme ich mit
dir. Es ist ein weiter Weg«, fügte er hinzu und zog langsam an
seiner Pfeife. »Einundachtzig Ri. Dauert sieben bis zehn Tage,
würde ich sagen, vielleicht länger. Hängt davon ab, wie viel Schnee
noch auf den Passhöhen liegt. Lass dir von mir einen Rat geben. Die
Leute haben es am Anfang immer viel zu eilig. Nimm es mit der Ruhe,
schreite gleichmäßig aus und achte auf deine Füße. So wirst du noch
am Ende in guter Verfassung sein. Und sorge dafür, dass du abends
noch vor Einbruch der Nacht einen Gasthof erreichst. Bei Dunkelheit
solltest du nicht in den Bergen wandern.
Dieser Shin. Das ist ein guter Bursche und ein
tapferer dazu.
Er wird auf dich aufpassen. Und denk daran: Halte die Augen nach
deinem Vater offen, wenn du in Edo bist. Er wird nach dir Ausschau
halten.«
Sachi nickte.
»Ich werde immer wissen, dass ich hier einen Vater
habe.« Sie fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen.
Am nächsten Tag brachen sie auf. Otama war lange
vor dem Morgengrauen aufgestanden, hatte in den Wäldern Farne und
Schachtelhalmschösslinge gesucht, um sie für sie zu kochen. Sie
wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, während sie das
Zubereitete in lackierte Holzkästchen legte - das Letzte, was sie
je für ihr Kind würde tun können. Sachi weinte auch. Es erschien
ihr zu grausam, für so kurze Zeit heimgekommen zu sein und gleich
wieder fort zu müssen, um eine Mutter zu suchen, die vielleicht
nicht mehr als ein Geist war.
Doch jetzt, nachdem Sachi ihren Entschluss gefasst
hatte, wusste sie, dass es für sie alle das Richtige war. Sie
musste versuchen, ihre Mutter zu finden; Taki gehörte ganz und gar
nicht in dieses Dorf und sehnte sich danach, wieder in Edo zu sein,
wo sie, wenn sie Toranosuké auch nicht zu sehen bekäme, ihm doch
zumindest ein bisschen näher wäre; und Shinzaemon - der musste
einfach weiterziehen. Er hatte ja sowieso nur zwei Tage bleiben
wollen. So herzzerreißend es auch war, sie konnten nicht
hierbleiben.
Yuki nickte gefasst, als Sachi ihr sagte, dass sie
nicht mitkommen könne. Sie hatte hier ein neues Zuhause gefunden.
Chobei und sie waren Spielkameraden geworden, und Otama und
Jiroemon waren gerne bereit, ihr die Eltern zu ersetzen, die sie
verloren hatte. Gleichwohl war Yuki ein Kriegerkind. Sachi wusste,
dass Yuki im Dorf nicht allzu lange glücklich sein würde, und
versprach ihr, sie zu sich zu nehmen, falls sie das wollte, sobald
sich die Dinge wieder beruhigt hatten.
Sachi nahm nur den Brokat mit. Den Rest ihrer Habe
ließ sie mit der Anweisung zurück, ihre Gewänder zu verpfänden,
falls die Familie Geld brauchte.
Die drei Reisenden hatten so wenig Gepäck, dass sie
nur zwei Packpferde mieten mussten. Sie kleideten sich in Umhänge,
Beinkleider und breite Reisehüte aus Stroh. Sachi und Taki
benutzten ihre Schwertlanzen als Wanderstäbe. Jiroemon, Otama, Yuki
und die Kinder begleiteten sie zum Dorfausgang und winkten und
verbeugten sich, bis sie außer Sichtweite waren. Genzaburo war auch
dabei, grinste und rief ihnen nach: »Wir sehen uns in Edo!« Der
Geruch nach Holzrauch und Misosuppe, das Hundegebell und das Krähen
der Hähne verloren sich in der Ferne. Als das Dorf hinter ihnen
immer kleiner wurde, hörte Sachi noch Otamas leiser und leiser
werdenden Ruf: »Komm bald zurück«, wiederholt von Jiroemons rauerer
Stimme. Mit Tränen in den Augen murmelte sie das Haiku, das Basho
geschrieben hatte, als er in Kiso gewesen war, wenn auch zu einer
anderen Jahreszeit:
»Okuraretsu | Erst Geleit für dich, |
Okuritsu hate wa | Dann Geleit für mich; und nun |
Kiso no aki | Ist Herbst in Kiso.« |
Wahrhaftig, das Leben war nichts als eine Abfolge
von Begegnungen und Abschieden, Menschen kamen sich nahe, nur um
dann wieder auseinandergerissen zu werden. Und am Ende dieser Reise
gab es wieder einen Abschied, wenn Shinzaemon sich der Miliz
anschloss. Mit einem Seufzer schob Sachi den Gedanken
beiseite.
Sogar hier in den Bergen, wo der Schnee eben erst
zu tauen begann, wagten sich bereits ein paar Kirschblütenknospen
hervor. Den letzten Frühling hatte Sachi in der Burg erlebt.
Sie erinnerte sich daran, wie sie mit den anderen Hofdamen in die
Gärten gegangen war, um die zarten Blüten zu bewundern und mit
verklärtem Blick über die Kürze ihrer Schönheit und die
Vergänglichkeit des Lebens nachzusinnen. War das erst vor einem
Jahr gewesen?
Als sie sich vom Dorf entfernten, hörten sie Wasser
rauschen und erhaschten einen Blick auf den Kiso, der weit unter
ihnen glitzerte. Die Straße wand sich in die Wälder hinauf, durch
Honokizypressen- und Kieferngehölze und Schneisen mit raschelndem
Bambus. Der Pfad war gepflastert und in Stufen angelegt, wenn er zu
steil wurde. Wie Jiroemon geraten hatte, schritten sie langsam und
gleichmäßig aus. Sie hatten Glöckchen um ihre Fußgelenke gebunden,
um die Schwarzbären abzuschrecken, die in den Bergen hausten. Wenn
sie an Bäche und Flüsschen kamen, benutzten sie die Trittsteine
oder sprangen von Fels zu Fels. Weit unten hörten sie
Glockengeklingel von den Packpferdkolonnen, die sich am Talgrund
ihren Weg bahnten, und den dumpfen Trott der Ochsen vor den mit
Reis oder Stroh oder Salz beladenen Karren.
Es tat gut, wieder unterwegs zu sein. Manchmal ging
Shinzaemon mit beschwingten Schritten voraus, manchmal bildete er
die Nachhut, um die Träger und Packpferde im Auge zu behalten.
Verstohlen ließ Sachi den Blick über seinen breiten Rücken und das
ungebärdige, zu einem glänzenden Pferdeschwanz gebundene Haar
gleiten und lauschte auf das Knirschen seiner Strohsandalen auf der
festgestampften Straße und seine tiefe Stimme, wenn er die Träger
antrieb. Sie wünschte, sie könnte die Zeit verlangsamen, jeden
Augenblick zu einer Stunde ausdehnen.
Sie waren tief in den Bergen, auf einem wenig
begangenen, dicht bewaldeten Stück der Überlandstraße, als Sachi
raue Stimmen hörte. Um sie herum standen dicht an dicht hohe
Bäume mit dicken Stämmen. Sachi packte die Schwertlanze fester.
Männer stürzten zwischen den Bäumen vor ihnen heraus, schwangen
Stäbe und Sicheln. Banditen.
Einer preschte direkt auf Sachi zu, schob sein
Gesicht nahe vor ihres.
»Zoll«, knurrte er, hielt seine schmutzige Hand
auf. Er sprach im Kiso-Dialekt. »Gib uns tausend Kupfer-Mon.«
Der Mann hatte ein dünnes, spitzes Gesicht wie eine
Ratte. Sein Mund war eine gähnende Höhle mit ein paar gelben Zähnen
zwischen schwarzen Stümpfen. Seine Kleidung war zerrissen und
dreckig, doch seine Arme waren sehnig, und seine kleinen Augen
funkelten gierig. Sein Haar war zu einem schmierigen Knoten
gebunden. Sachi hatte von solchen Gestalten gehört, Abschaum, der
sich in den Glücksspielkaschemmen im ärmsten Teil der Stadt
herumtrieb. In normalen Zeiten wären sie nicht mal in ihre Nähe
gekommen. Was war aus den Beamten geworden, die die Fernstraßen
kontrollierten? Anscheinend war die Ordnung, die man stets für
selbstverständlich gehalten hatte, vollkommen zusammengebrochen.
Sachi wich angewidert zurück, aber der Mann machte noch einen
Schritt auf sie zu.
»Nein, ich sag dir was.« Mit einem Rucken des
Kopfes deutete der Mann auf die Pferde. »Wir nehmen die. Das reicht
uns.« Einige der Männer griffen bereits nach den Zügeln der
Packpferde. Sie würden den Brokat stehlen!
Sachi schaute sich verzweifelt um. Zehn, vielleicht
zwanzig Banditen gegen sie, Taki und Shinzaemon. Sie wollte gerade
die Scheide von ihrer Schwertlanze ziehen, als der Mann ihre
Handgelenke packte, sie mit seinen knochigen Händen fest umschloss.
Trotz seiner Dürre war er sehr stark. Sachi wehrte sich heftig,
Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen.
Plötzlich ein zischendes Einatmen. Raue Stimmen
keuchten
»Hora!«, gefolgt von völliger Stille. Die Banditen waren
wie erstarrt. Sachi blickte sie erstaunt an. Ihre Münder standen
offen, und die Augen traten ihnen aus dem Kopf.
Sie wirbelte herum. Shinzaemon kam von hinten. Er
hatte den rechten Ärmel seines Kimono zurückgeschlagen, um seinen
Schwertarm frei zu haben, und auf seiner stämmigen Schulter
leuchtete die Kirschblütentätowierung. Einige der Banditen und
Pferdeknechte, die ihre Packpferde führten, hatten ebenfalls
Tätowierungen, die sie von den Ellbogen über die Knie bis zum
Nacken wie eine zweite Haut bedeckten - Bilder von Kriegern,
Geishas und Kabuki-Schauspielern, kunstvoll gestochen und
koloriert, wie prächtige Holzblockdrucke. Shinzaemons Tätowierung
war völlig anders. Sie war schlicht und unaufdringlich.
Er hielt sein Schwert in der Hand. Der Reihe nach
blickte er die Männer an und runzelte leicht die Stirn, dann glitt
ein flüchtiges Grinsen über sein Gesicht, als freute er sich auf
einen Spaß.
Im nächsten Moment sanken die Banditen auf dem
steinigen Pfad auf die Knie und schlugen ihre Köpfe gegen den
Boden.
»Verzeihung, Meister, Verzeihung«, stotterten sie.
»Vergib uns, vergib uns. Hab Erbarmen.«
Shinzaemons Grinsen wurde breiter. Wehmütig
betrachtete er sein Schwert und steckte es dann langsam und
gemächlich zurück in die Scheide. Er zog den Kimonoärmel herab und
ruckte mit dem Kinn. Die Banditen gaben Fersengeld und flohen in
den Wald.
Sachi hatte verblüfft zugeschaut. Die Tätowierung
hatte keineswegs die gleiche Wirkung auf die Soldaten aus dem Süden
gehabt, denen sie begegnet waren. Es gab so vieles, was sie über
Shinzaemon nicht wusste - wo er gewesen war, was er in seinem Leben
getan hatte.
»Na«, sagte Taki mit leiser Stimme, als sie wieder
unterwegs waren. »Da haben wir ja Glück gehabt. Wenn Shin dabei
ist, brauchen wir uns also keine Sorge mehr wegen Banditen zu
machen.«
An diesem Abend kehrten sie bei der Poststation in
einem einfachen Gasthof ein, in dem auch gewöhnliche Reisende - wie
sie es zu sein vorgaben - übernachteten. Männer und Frauen
schliefen im selben Raum des Gasthofs und mussten sogar ihr
Bettzeug selbst ausbreiten.
Nachdem sie sich eingerichtet hatten, setzten sich
Sachi und Shinzaemon auf eine Bank vor dem Gasthaus. Sterne
funkelten am schwarzen Himmel. Es war so dunkel, dass man nicht mal
die Umrisse der Berge sehen konnte. Wasser rauschte durch die
Abflussgräben, und hin und wieder raschelten Tiere in den Büschen
und dem Unterholz des Waldes hinter ihnen.
Sachi zog an ihrer langstieligen Pfeife. Wie alle
im Frauenpalast, wo sie sich das Rauchen angewöhnt hatte, genoss
sie ein gelegentliches Pfeifchen. Das Holzkohlestück glühte rot,
und Funken erhellten die Dunkelheit. Sie saßen nahe beieinander,
ohne sich direkt zu berühren.
»Noch nie habe ich die Sterne so strahlend
gesehen«, sagte Shinzaemon leise. »Ich hätte nie erwartet, an so
einem Ort zu sein mit … jemandem wie dir.«
Sie unterhielten sich lange. Sachi erzählte ihm von
ihrer Kindheit im Dorf - vom Schwimmen im Fluss, wie Genzaburo
einmal mit einem wilden Eber gekämpft hatte, von den Jahreszeiten
in den Bergen, den Prozessionen, die durchs Dorf kamen, und den
Daimyo, die im Gasthaus abstiegen. Schließlich erzählte sie ihm von
der Prinzessin, von der Prozession, die so lang gewesen war, dass
ihr Durchzug vier Tage gedauert hatte, und wie die Prinzessin Sachi
entdeckt und angeordnet
hatte, sie mitzunehmen. Da endete ihre Geschichte. Sie erzählte
ihm nichts vom Palast oder dem Shogun, und er stellte keine
Fragen.
»Ich habe auch viel Zeit in den Bergen verbracht«,
sagte er. »Ich bin mit den Bärenjägern losgezogen, als ich noch ein
Kind war. Ich habe mich viel geprügelt. Meine Eltern waren immer
wütend auf mich. Aber dann fand ich etwas Sinnvolles für mein
Schwert.«
»Was ist mit deiner Tätowierung?«, fragte sie
schüchtern. »Magst du mir davon erzählen?«
»Ich wollte immer meine Schwertkunst verbessern,
vor allem, nachdem der ganze Ärger begann. Ich habe ein Jahr in der
Militärakademie von Edo verbracht. Dann hörte ich von einem
Schwertkampfmeister, der der letzte Verfechter einer bestimmten
Technik war, genannt ›Die Hand Buddhas‹. Damals war er bereits im
Ruhestand. Ich begab mich dorthin und blieb eine Weile bei ihm im
Schneeland. Er war ein großer Meister. Nachdem wir aufgenommen
worden waren, wurde uns Schülern erlaubt, uns eine Kirschblüte auf
die Schulter tätowieren zu lassen, wie er sie hatte. Die Banditen
in ganz Zentraljapan scheinen diese Tätowierung zu kennen. Seitdem
habe ich mit ihnen keinen Ärger mehr gehabt. Sie fürchten sich vor
meinem Meister, nicht vor mir. Oder vielleicht ist es die Hand
Buddhas. Vielleicht wollen sie lieber nicht herausfinden, worum es
bei dieser geheimen Technik geht.«
Sie hörte ihn in der Dunkelheit leise lachen.
Beide erwähnten sie die Zukunft nicht. Mit jedem
Tag, der verging, kamen sie Edo und dem Augenblick der Trennung
näher. Dadurch wurde jeder gemeinsame Moment umso kostbarer.
Tag für Tag wanderten sie, erschienen klein unter
den hoch aufragenden Felsgraten, wie winzige Figuren auf einer
Tuschzeichnung.
Manchmal war die Straße bevölkert, zu anderen Zeiten wanderte ihre
kleine Gruppe allein. Mühsam erklommen sie schneebedeckte Pässe,
blickten ehrfürchtig zu den steilen Gipfeln über ihnen hinauf. Sie
beteten an den Schreinen auf der Passhöhe, baten die Götter, ihnen
Schutz zu gewähren. Gelegentlich kamen sie zwischen Bäumen
hindurch, die bis in den Himmel ragten, und deren Äste so tief über
der Straße hingen, dass es dunkel war wie in der Nacht. Sie
kletterten über Felsen, wankten über dürftige Brücken, die über
schwindelerregenden Abgründen schwankten, wateten durch Wasserfälle
und Flussläufe und bahnten sich den Weg über Eisfelder und durch
Schnee. An manchen Stellen, wo der Schnee schon geschmolzen war,
mussten sie sich durch kniehohen Schlamm kämpfen.
Sie waren zu einem Teil der endlosen Prozession
geworden, die die Fernstraße bevölkerte. Sie stapften weiter,
hielten hier und da an, um die Bänder ihrer Strohsandalen zu
richten und ihre verkrampften Beine und schmerzenden Füße zu
reiben. Sie trugen Ersatzsandalen am Gürtel und warfen die alten,
zerrissenen fort. Wenn es regnete oder das Wetter kalt wurde, zogen
sie Regenmäntel aus Stroh über und wirkten dann wie kleine,
wandernde Heuhaufen. Brannte die Sonne vom Himmel, suchten sie
Zuflucht unter Strohhüten. In ihrer verschmutzten Reisekleidung
hätte niemand je vermutet, dass Sachi und Taki Hofdamen
waren.
Jeden Morgen zog Sachi ein Paar neue Strohsandalen
an, schürzte ihre Kimonoröcke, nahm ihre Schwertlanze und stapfte
voller Entschlossenheit los. Mit jedem Tag, der verging, fühlte sie
sich kräftiger. Aber sie war auch müde. Ganz gleich, wie oft sie
die Strohsandalen wechselte, ihre Füße wurden immer aufgeriebener
und wunder.
Taki schritt ebenfalls wie ein Landmädchen aus. Sie
hatte
Farbe in ihren ehemals bleichen Wangen, und ihre Augen funkelten.
Sie beschwerte sich nicht mehr über Kälte und Unbill. Sachi konnte
ihr ansehen, wie aufgeregt sie war, auf dem Weg nach Edo zu sein,
nach Hause zu kommen.
Auch Sachi hätte aufgeregt sein sollen. Sie kehrte
in den Palast zurück, zur Prinzessin - an den Ort, wo sie, wie sie
sich immer wieder sagte, ihre Mutter finden würde. Doch mit jedem
vergehenden Tag näherte sie sich auch dem Augenblick, an dem sie
von Shinzaemon Abschied nehmen musste.
Abends saßen Shinzaemon und Sachi zusammen.
Manchmal unterhielten sie sich, manchmal schwiegen sie. Sie
sprachen über die Ereignisse des Tages, über ihre Kindheit, über
Bücher, die sie gelesen hatten, und Musik und Gedichte, die sie
mochten. Gelegentlich streiften sich ihre Hände. Beiden war
bewusst, dass sie etwas Ungebührliches taten, doch solange sie
unterwegs waren, blieben sie anonym. Außerdem zogen sie in den
Krieg. Shinzaemon war darauf vorbereitet, zu sterben, und auch
Sachi hatte keine Ahnung, was mit ihr geschehen würde.
Sieben Tage, nachdem sie das Dorf verlassen hatten,
erklommen sie den Usui-Pass, den letzten der vier hohen Pässe auf
der Inneren Bergstraße. Der Aufstieg war mühsam. Während sie
keuchend in der dünnen Luft standen, blickten sie hinaus auf die
Kanto-Ebene. Irgendwo da unten lag Edo. Schattenhafte Gipfel
erhoben sich in der Ferne, umsäumten die Ebene wie die Zinnen einer
Festung. Shinzaemon deutete auf die kantigen Umrisse der Berge
Miyogi, Haruna und Akagi. Weit weg im Süden, schimmernd am
Horizont, lag - wie ein geisterhafter Schemen - der vollkommene
Kegel des Berges Fuji. Sie beteten am Kumano-Schrein auf der
Passhöhe, zogen dann weiter, schlitterten und rutschten über
tückischen Schiefer, am Bergkamm entlang und hinunter zur
Poststation von
Sakamoto. Je tiefer sie hinabkamen, desto wärmer wurde es. Es war
wie der Übergang vom Winter zum Frühling.
Am folgenden Abend erreichten sie die Burgstadt
Takasaki. Noch vor der Morgendämmerung brachen sie wieder auf. Die
am Stadtrand an Kreuzen hängenden Leichen - als Warnung für
Gesetzlose, das Chaos nicht zu Angriffen auf Reisende auszunutzen -
konnten ihnen gar nicht entgehen. Die Berge türmten sich hinter
ihnen auf, monströse Formen in der Dunkelheit, die in den Himmel
ragten. Von nun an würden sie über die Ebene wandern.
Um die Stunde des Pferdes, als die Sonne hoch am
Himmel stand, kamen sie an einen Fluss, der zu breit und reißend
war, um ihn zu durchwaten.
»Der Toné«, sagte Shinzaemon. »Sobald wir den
überquert haben, liegt nur noch das letzte Wegstück vor uns.«
Der Fluss führte Hochwasser, war angeschwollen vom
schmelzenden Schnee. Die Häuser auf der anderen Seite sahen aus,
als stünden sie in einer gemalten Landschaft. Am Ufer warfen die
Menschen ängstliche Blicke über das Wasser. Ein uraltes flaches
Fährboot kam in gefährlichem Zickzackkurs auf sie zu, schwerfällig
von einem kahlköpfigen Fährmann mit einer langen Bambusstange
gestakt, während ein anderer am Bug kauerte und steuerte. Der Wind
raschelte im Schilf am Rand des Wassers.
Ein knorriger alter Mann mit einem Geldgürtel um
den Bauch knurrte etwas in einem so ungeschlachten Dialekt, dass
Sachi ihn nur mit Mühe verstand.
»Was? Das ist zehnmal so viel wie der übliche
Preis!«, brüllte Shinzaemon. »Gieriger Schuft! Das Land steht in
Flammen, und du kannst nur daran denken, wie viel Geld du dabei
herausschlagen kannst?«
»Tut mir leid, werter Herr«, quäkte der Alte. »Das
ist der
Fahrpreis, Euer Gnaden. Nehmt ihn hin oder lasst es. Oder sucht
euch einen anderen Überweg.«
Das Fährboot kam knarrend und ächzend auf sie zu,
so vollgepackt, dass es aussah, als würde es unter dem Gewicht der
Menschen und Güter sinken. Der Fährmann stützte sich schwer auf
seine Stange, schien bei jedem Staken beinahe ins Wasser zu fallen.
Am Heck drängten sich Träger, standen jämmerlich um einen Haufen
Stahlkassetten, zitternd und bleich, mit nichts bekleidet als einem
Lendenschurz. Am Bug waren ein paar gut genährte Gestalten zu
sehen, die wie die Besitzer der Träger aussahen. Sie hatten etwas
Verstohlenes an sich, schauten von Zeit zu Zeit über die Schulter,
als fühlten sie sich verfolgt. Ihr Tuch über das Gesicht gezogen,
beobachtete Sachi sie neugierig.
Sie wirkten wie Kaufleute aus Edo, wie jene, die
zum Verkauf von Seidenballen in den Palast kamen. Sie trugen teure
Gewänder aus prächtigen Stoffen, schlicht von außen, aber mit
schimmerndem Futter, das am Hals und den Ärmelaufschlägen zu sehen
war. Am Ufer in Sachis Nähe standen weitere Träger, bewachten
Stahlkassetten und Truhen und wurden wiederum von Wachleuten
überwacht. Aber an diesen angeblichen Kaufleuten war etwas
Merkwürdiges. Bei den Männern am Rande der Gruppe ragten zwei
Schwerter unter Städterumhängen hervor, und sie schienen die drei
in der Mitte zu beschützen, deren Gesichter unter Reisehüten
verborgen waren.
Mit einem großen Wasserschwall schob sich der Bug
der Fähre aufs Ufer, und die drei Männer traten an Land, so nahe
von Sachi, dass sie die Hand hätte ausstrecken und sie berühren
können. Als sich der erste Mann an ihr vorbeidrängte, blähte der
Wind seinen Ärmel auf, und für einen Augenblick hing ein Hauch von
Parfüm in der Luft. Sachi schloss die Augen
und atmete ein. Eine Pflaumenblütenmischung, mild und süß, ein
Winterduft mit einem Hauch von Kamelien. Dieser Mann ist kein
Kaufmann, dachte sie. Kein Kaufmann würde Zugang zu einem so
exquisiten Duft bekommen oder ihn tragen dürfen. Und es hatte etwas
Vertrautes, setzte eine verschwommene Erinnerung frei.
Für einen Augenblick war sie wieder im Palast,
glitt durch die großen Gemächer mit ihren Kassettendecken und den
goldschimmernden Wänden, während der wattierte Saum ihrer Schleppe
hinter ihr herrauschte. Die Frauen, an denen sie vorbeikam,
plauderten und lachten; jede trug ihr eigenes, charakteristisches
Parfüm. Aber es war keines dieser Parfüms, das Sachi roch. Sie
eilte weiter, zusammen mit Taki, folgte der Dame Tsuguko, die vor
ihnen herschritt und deren langes, mit Grau durchsetztes Haar über
den Boden fegte. Aber wohin, und warum? Sachi tastete in ihrem
Gedächtnis, versuchte sich zu erinnern. Der Duft weckte ein
schreckliches Gefühl der Vorahnung in ihr.
Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Hand
des Mannes. Sie war weich und weiß, fleischig und manikürt wie die
einer Frau. Plötzlich kam die Erinnerung zurück. Die Hand hatte
sich auf die Tatami im Audienzsaal der Prinzessin gedrückt. Der
Duft war so überwältigend, dass ihr schwindlig wurde. Der seidige
Tonfall eines Mannes hallte in ihren Ohren nach, flüsterte in der
verklausulierten Sprache des Hofes immer wieder, dass Seine
Majestät, der Shogun, schwer erkrankt sei.
Seine Majestät, der Shogun. Sie sah seine glatte,
bleiche Brust, sein jungenhaftes Lächeln. Sie hatte geglaubt, mit
der Zeit würde der Schmerz nachlassen, doch sie merkte, wie ihr
heiße Tränen in die Augen stiegen. Dann stellte sie sich vor, wie
die Prinzessin hinter ihren Wandschirmen weinte, und
hörte sie fragen: »Oguri. Die Krankheit Seiner Majestät - hat sie
eine natürliche Ursache?« Oguri. Das war sein Name gewesen.
Unbesonnen hob sie den Kopf. Das nichtssagende,
teigige Gesicht mit dem unsteten Blick des ewigen Höflings war
nicht zu verkennen. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Ihm
war keine Regung anzumerken. Natürlich nicht. Sie war an jenem Tag
verborgen gewesen. Er hatte sie nicht sehen können.
Ein jüngerer Mann folgte ihm, fast noch ein Junge,
nicht älter als Tatsuemon. Dann kam der dritte. Sachi war so in
Gedanken versunken, so entgeistert, Herrn Oguri wiederzusehen, dass
sie ihr Tuch losließ. Sie wusste, dass ihre weiße Haut, die zarte
Nase und die dunkelgrünen Augen in der Menge auffielen, und es war
wichtig, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber da alle so sehr mit
sich beschäftigt waren, würde niemand es bemerken. Außerdem hatten
diese Männer sie noch nie zuvor gesehen. Sie bedeutete ihnen
nichts.
Sie erkannte das zerfurchte, habichtartige Gesicht
des Dritten - ein dunkelhäutiges Gesicht mit starken Kieferknochen,
von Pockennarben verunstaltet und mit einem von Natur aus
verdrießlichen Mund. Der Samurai-Haarknoten des Mannes lag hart und
glänzend auf seinem gebräunten, lederartigen Schädel. Das war Herr
Mizuno, der an dem schrecklichen Tag Herrn Oguri begleitet
hatte.
Ihre Blicke trafen sich - und sein Gesicht verzog
sich in blankem Entsetzen. Sein dicklippiger Mund klappte auf, und
er stolperte rückwärts, als hätte er einen Geist gesehen.
»Geh weg! Geh weg! Lass mich in Ruhe!
Verschwinde!«, brüllte er. Sein Schwertarm zuckte - sie erinnerte
sich an dieses seltsame Zucken -, und die Wachen legten die Hand an
den Schwertgriff. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, sein Mund war
zu einem stummen Schrei weit geöffnet.
Oguri wirbelte herum und funkelte ihn an.
»Sei still«, zischte er mit erstickter Stimme.
»Willst du uns alle mit deinem Wahnsinn vernichten?«
Leibwächter schoben die Leute zur Seite, um den Weg
frei zu machen; die Männer drängten sich durch die Menge und
kletterten in Palankine. Herr Mizuno schaute immer noch zurück,
starrte Sachi mit wildem Blick an. Sie sah ihnen nach, als sie vom
Fluss in Richtung der Berge verschwanden, gefolgt von einer langen
Trägerkolonne, die unter dem Gewicht der Stahlkassetten schwankte,
vier Männer für eine Kassette.
Taki trat dicht an Sachi heran. »Diese Männer …
Hast du sie gesehen?«, murmelte sie. »Waren das nicht …?«
Doch Sachi verharrte immer noch ungläubig und
bestürzt über Mizunos Verhalten. Was konnte das nur bedeuten? War
es ihm irgendwie gelungen, sie an jenem Tag zu sehen? Bestimmt
nicht. Er konnte keinesfalls wissen, wer sie war. Aber ein anderes
Zusammentreffen hatte es nicht gegeben. Bis auf diesen einen Tag
hatte sie niemals Männer im Frauenpalast gesehen. Und diese Männer
dann hier auf der Straße wiederzutreffen … Sie grübelte, was er in
ihrem Gesicht gesehen haben könnte, um derart heftig zu
reagieren.
»Um Edo muss es sehr schlimm stehen, wenn selbst
die sich davonmachen«, flüsterte Taki. »Und wie er dich angeglotzt
hat, was sollte das bedeuten?«
Sachi schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich sind sie
nicht daran gewöhnt, Frauen so frei reisen zu sehen«, flüsterte sie
und errötete, brannte vor Scham, dass sie törichterweise das Tuch
hatte fallen lassen und damit die Aufmerksamkeit dieser Männer auf
sich gelenkt hatte. Nie wieder durfte sie so achtlos sein.
Die Fähre in Richtung Edo war fast leer. Außer
Sachi, Taki, Shinzaemon und ihren Trägern beförderte sie nur noch
zwei Bauern. Das Wasser rauschte wild, der Fährmann konnte sich nur
an seine Stange klammern, während das Boot über die Wellen
schaukelte. Sachi, Taki und Shinzaemon wurden von einer Seite zur
anderen geworfen, und ein kalter Wind fuhr durch ihre dünne
Baumwollkleidung. Eisige Gischt besprühte sie in stechenden
Schwaden. Möwen flatterten über ihnen, und Wildgänse
kreischten.
Das Edo-Ufer war voller Menschen mit verängstigten
Gesichtern und Unmengen von Gepäck. Die Leute stießen und drängten,
schubsten einander aus dem Weg, schrien: »Meine alte Mutter ist
krank, sie muss als Erste hinüber«, »Wir sind in Eile, wir waren
zuerst da.« Der Fährmann schob sie weg, brüllte: »Tretet zurück.
Das Boot ist voll.« Die am Bug zusammengepferchten Menschen
klammerten sich an die Bordwände. Als die Fähre abfuhr, lag sie
gefährlich tief im Wasser.
Die drei Reisenden wanderten durch Wälder und über
Moore und zwischen braunen Reisfeldern hindurch, frisch gepflügt
und bereit für das Auspflanzen. Tempel und Dörfer ragten wie Inseln
in einem grünen Meer auf, und Läden und Stände säumten die
Überlandstraße. Wolken trieben über den Himmel. Bis Edo waren es
nur noch zwanzig Ri - nur noch ein oder zwei Tage mehr.
Shinzaemon verlangsamte seinen Schritt und ging
neben Sachi her. Von Zeit zu Zeit schaute sie zu ihm auf, um sich
seinen Anblick ins Gedächtnis einzuprägen, wusste sie doch, wie
wenig Zeit ihnen noch blieb.
Als sie sich Edo näherten, begegneten ihnen grimmig
dreinblickende Flüchtlinge, die müde voranschlurften und mit Hab
und Gut hoch beladene Karren zogen. Die Straße war voll von ihnen.
Es gab lange Prozessionen von Palankinen und
Sänften, im Trab vorbeigetragen, denen Diener vorausliefen,
gefolgt von Packpferdkolonnen und Trägern mit Körben und an Stangen
befestigten Truhen. Die Ärmeren trotteten beladen mit Bündeln voll
Bettzeug und Kleider dahin, überholten Fuhrwerke, gezogen von
trägen Ochsen. Kahlköpfige Mönche, Gebete murmelnde Nonnen und
zerlumpte Bettler, nur noch Haut und Knochen, baten um Almosen.
Pilgergruppen wanderten dahin, plauderten und schwatzten, als hätte
sich nichts auf der Welt geändert.
Einige summten diesen trotzigen, hoffnungslosen
Refrain: »Ee ja nai ka? Ee ja nai ka? Was soll’s? Was
soll’s?« Andere nahmen den Refrain auf, und bald war die ganze
Straße voll mit singenden Menschen, manche leise, andere aus voller
Kehle. Je öfter sie den sinnlosen Spruch wiederholten, desto wilder
wurden ihre Blicke. Manche begannen zu hüpfen und zu singen. Da
sowieso alles zerfällt, schien das Lied zu besagen, was kann man
dann noch anderes tun, als die Hände zu recken und zu tanzen?
Sachi und Taki musterten die ausdruckslosen,
erschöpften Gesichter und fragten sich, ob wohl Frauen aus dem
Palast unter ihnen waren. Hin und wieder ertönte ein warnender Ruf
aus der Ferne. Während die Menschen hastig aus dem Weg traten,
eilte ein Palankin vorbei, dessen Träger mit ihren in Strohsandalen
steckenden Füßen den Staub aufwirbelten.
Sachi und ihre Begleiter waren die Einzigen, die
auf Edo zugingen. Alle anderen flohen aus der Stadt.
Bei Honjo überquerten sie die lange Brücke über den
Kanna und machten in einem Teehaus auf der anderen Seite Rast.
Einige Männer saßen dort und rauchten kleine Pfeifen. Sie waren wie
Städter gekleidet, redeten aber wie Samurai. Alle Welt schien
verkleidet, niemand wagte noch zu zeigen, wer er wirklich
war.
»In welche Richtung wollen Sie?«, fragte einer von
ihnen, ein unscheinbarer kleiner Mann - sein falscher Haarknoten
war ein wenig verrutscht -, der aussah, als hätte er sein Leben
lang über Kontobüchern gesessen, untergebracht in einem dieser
jämmerlichen Wohnblöcke, in denen die niederrangigen Samurai
lebten. Sachi vermutete, dass er keine Ahnung hatte, was zu tun
sei, falls er je in einen Kampf geriet.
Shinzaemon zog an seiner Pfeife und ruckte mit dem
Kopf nach Süden, in Richtung Edo.
Mit einem scharfen Zischen sog der Mann die Luft
zwischen den Zähnen ein.
»Würde ich nicht machen«, murmelte er, blinzelte
durch seine Brille und blickte über die Schulter. »Alle sehen zu,
dass sie rauskommen. Die Stadt ist tot. Die Soldaten aus dem Süden
haben die Tore übernommen. Sie haben eine Kontrollstation in
Itabashi und verhören jeden. Es heißt, sie wären auch in Shinagawa.
Sie haben die Kontrolle über die Innere Bergstraße und die Östliche
Küstenstraße. Die Stadt steht unter Belagerung. Ich würde auf der
Stelle umkehren, wenn ich Sie wäre. Wenn Sie weitergehen, stoßen
Sie direkt auf sie.«
»Wir sind bloß Frauen«, warf Sachi ein. Sie sprach
im Kiso-Dialekt, um zu verbergen, dass sie eine Hofdame war. »Uns
werden sie nichts tun.«
»Sie können nicht einfach durch die Straßen
laufen.« Der Mann trank nervös von seinem Tee. »Nicht als Frauen.
Das ist viel zu gefährlich. Die meisten Samurai sind fort. Niemand
sorgt noch für Ordnung. Polizisten sind nirgends zu sehen. Überall
lungern Diebe und Straßenräuber herum. Die haben freie Bahn.«
»Die meisten dieser sogenannten Straßenräuber sind
aus dem Süden«, mischte sich ein anderer Mann ein. Auch er sah aus
wie ein verkleideter Samurai. »Sorgen für Ärger.«
Sachi hätte am liebsten nach der Burg gefragt. Aber
gewöhnliche Leute wie diese wussten nichts von der Burg oder ihren
Bewohnern. Sie konnte nur zuhören und hoffen, irgendwelche
Neuigkeiten zu erfahren.
Die Straße schlängelte sich durch Marschland und
Reisfelder und große Äcker mit Färberdisteln, die gerade zu blühen
begannen und sich bis zu den fernen Hügeln am Horizont erstreckten.
Strohgedeckte Teehäuser und Stände boten den Reisenden in
regelmäßigen Abständen Gelegenheit zur Rast. Hier und dort standen
Kirschbaumhaine.
Sie trotteten gegen den Strom dahin, als sie vor
sich eine Gruppe von Soldaten aus dem Süden sahen. Sie waren leicht
auszumachen - gedrungene, stämmige Männer mit schmalen Augen und
ledrigen Gesichtern, bekleidet mit diesen seltsam engen, schwarzen
Uniformen. Manche trugen kegelförmige Helme, andere weiße
Stirnbänder. Sie wirkten wie eine Bande von Schlägern, die sich von
der Hauptarmee abgesetzt hatte und auf Ärger aus war, begierig
darauf, sich mit den aus Edo Fliehenden anzulegen.
Angriffslustig standen sie da, versperrten die
ganze Straße. Sachi erkannte, dass ihnen keine andere Wahl blieb,
als sich zwischen ihnen hindurchzuschlängeln. Sie ging rasch, den
Kopf gesenkt, den Blick zu Boden gerichtet, in der Hoffnung,
unsichtbar zu sein, wenn sie es sich nur fest genug einbildete. Sie
war mitten zwischen den Soldaten, als sie den Blick hob und durch
das Tuch spähte, das wie ein Schleier von ihrem Hut hing. Sie
erschrak. Das konnte nicht wahr sein … Verzweifelt betete sie, dass
er es nicht war. Sie kannte dieses dunkelhäutige, pockennarbige
Gesicht.
Im selben Moment beugte sich der Mann vor und
starrte sie an. Eine schmutzige Hand schoss vor und riss ihr den
Hut vom Kopf. Sie fasste danach, aber er war fort.
»Na, wenn das nicht …«, rief er. »Dieses
Bauernmädchen. Das hübsche kleine, bleichgesichtige
Bauernmädchen.«
Er packte sie an den Kleidern und zog sie zu sich.
Sie wehrte sich heftig, aber er war sehr stark.
»Erinnerst du dich an mich?«, höhnte er, rieb sein
schmieriges Gesicht an ihrem. Er plierte sie aus seinen kleinen,
eng zusammenstehenden Augen an. Er stank nach Schmutz und altem
Schweiß. Sachi drehte den Kopf weg und wich angeekelt zurück. Sie
wusste, dass Bauern als leichte Beute galten und Bäuerinnen erst
recht. Die Samurai hatten das Recht, einem Bauern straflos den Kopf
abzuschlagen - wobei Sachi kaum glaubte, dass dieser Mann ein
Samurai war. Außerdem befanden sie sich im Krieg, und die Soldaten
taten, was ihnen gefiel. Passanten verlangsamten den Schritt,
drehten sich um und glotzten. Sie wusste nur zu gut, dass keiner
von ihnen auch nur im Traum daran dachte, einzugreifen oder sie zu
verteidigen und dabei möglicherweise verletzt zu werden.
»Nein«, murmelte sie grimmig, versuchte den Mann
wegzustoßen. Voller Furcht, nicht für sich selbst, sondern für
Shinzaemon, blickte sie sich um, wollte sehen, was mit ihm und Taki
geschah. Sie wusste, dass diese Männer nach ihm gesucht hatten, als
sie in jener Nacht in das Haus ihrer Eltern eingedrungen
waren.
Mit klopfendem Herzen stieß sie den Mann vor die
Brust, so fest sie konnte. Er ließ sie los und stolperte
rückwärts.
»Genug«, murmelte einer der anderen Soldaten.
»Gehen wir. Sonst kriegen wir noch Ärger.«
Aber die Augen des Pockennarbigen glitzerten. Seine
Hand lag auf dem Schwertgriff.
»Verzeihen Sie uns«, sagte Sachi im Kiso-Dialekt.
»Es war unverzeihlich, Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Bitte
erlauben Sie uns, dass wir weitergehen.«
Die Soldaten schienen lange zu zögern. Sachi machte
noch ein paar Schritte durch die Menge, gefolgt von Taki und
Shinzaemon. Passanten blieben stehen, um zuzuschauen, traten zur
Seite, hielten sich in gebührendem Abstand. Rauch stieg von den
Dächern der kleinen Läden auf, die die Straße säumten. Die
Kirschbäume waren mit rosa Blüten bedeckt. Alles kam ihr sehr klar
und scharf vor, als sähe sie es zum letzten Mal. Auch ihr Kopf war
klar. Sie war bereit für alles, was geschehen mochte.
Einer der Soldaten trat auf sie zu, verstellte ihr
den Weg.
»He, was macht ihr Bauern mit solchen Waffen?«,
blaffte er. »Das ist gegen das Gesetz. Übergebt sie uns, dann könnt
ihr weiterziehen.«
Dann knurrte der Pockennarbige: »Wartet!«
Er starrte Shinzaemon an. »Dieser Mann da. Den hab
ich schon mal gesehen. Ist das nicht derjenige, der unsere
Kameraden in Kiso abgeschlachtet hat? Dieser … dieser Gesetzlose.
Und allein? Lass uns mal deine Schulter sehen, Bursche!«
Die Soldaten musterten ihn und nickten. Shinzaemon
war stehen geblieben. Mit einem verächtlichen Kräuseln seiner
Lippen ließ er den Blick über die Soldaten schweifen. Seine Stirn
war vor Konzentration gerunzelt. Sachi erkannte, dass er sich die
Chancen ausrechnete. Fünfzehn, vielleicht zwanzig von ihnen und er
allein. Aber er musste zwei Frauen beschützen, daher konnte er kein
Risiko eingehen. Er musste am Leben bleiben, ganz gleich, was
geschah.
Er hat es all diese Jahre überlebt, sagte sie sich.
Er wird noch nicht sterben, und wir auch nicht.
Sie hatte ihre Schwertlanze, die sie als Wanderstab
benutzt hatte, in der Hand. Mit einem raschen Griff zog sie die
Hülle und die Scheide ab. Einen Augenblick lang war Sachi wieder in
der Übungshalle des Palastes. Sie meinte, die tiefe Stimme der
Dame Masa zu hören, die sie ermahnte, nicht zu denken, Stille im
Geist zu suchen, das Handeln ihrem Körper zu überlassen. Die
Schwertlanze war schwer, schwerer als ein Übungsstock. Wenn sie die
Waffe schwang, bekam diese ihre eigene Stoßkraft. Sie in der Hand
zu halten, gab ihr das Gefühl, groß und stark und selbstsicher zu
sein.
Sie blickte zu Taki. Nie hatte sie sie so lebendig
gesehen. Takis Augen funkelten. Auch sie hatte ihre Schwertlanze
aus der Scheide gezogen. Bisher hatten sie nie eine Gelegenheit
gehabt, damit zu kämpfen. Dafür waren sie all die Jahre ausgebildet
worden. Jetzt war der Moment gekommen, diese Ausbildung
umzusetzen.
Wenn wir sterben, dachte Sachi, sterben wir alle
drei zusammen. Sie richtete sich auf. Sie war bereit.
Ohne Vorwarnung zogen zwei der Soldaten ihre
Schwerter und stürzten sich auf Shinzaemon. Aber er war schneller.
Bevor sie ihn erreichen konnten, zischte sein Schwert aus der
Scheide. Mit einem Schrei parierte er ihre Hiebe. Eine Hand flog
durch die Luft. Die beiden Männer stolperten zurück. Der eine hielt
immer noch seinen Arm ausgestreckt. Blut spritzte aus dem
Stumpf.
Shinzaemon behielt die Soldaten im Auge, während er
das Blut von seiner Klinge wischte.
Jetzt zogen mehrere Männer ihre Schwerter. Klingen
blitzten in der Sonne auf. Füßescharren war zu hören. Metal traf
mit ohrenbetäubendem Klirren auf Metall. Schreie und Stöhnen
erklangen. Männer in schwarzen Uniformen taumelten rückwärts, Blut
spritzte. Dem einen strömte Blut über den Arm, einem anderen hing
das Kinn lose herab. Einer umklammerte seinen Bauch, aus dem die
Gedärme hingen.
Shinzaemon stand nach wie vor. Taki hastete an
seine Seite, schwang ihre Schwertlanze.
Sachi war direkt hinter ihr.
»Das sind keine Bauern«, hörte sie einen ihrer
Angreifer rufen. Das war für alle offensichtlich, nachdem sie ihre
Schwertlanzen enthüllt hatten. Nur Samurai-Frauen trugen solche
Waffen und konnten damit kämpfen. Und sie waren nicht nur Samurai,
sondern Frauen vom Hof in Edo, darin ausgebildet, gut genug zu
kämpfen, um den Shogun zu verteidigen.
Der Pockennarbige sah seine Chance gekommen. Mit
gezogenem Schwert trat er ihr in den Weg. Sachi hob ihre
Schwertlanze.
»Mach bloß keine Dummheit«, höhnte er, verzog sein
zernarbtes Gesicht zu einem Grinsen. »Du wirst dir nur selber
wehtun.«
Er schob sich um sie herum, hielt sich in sicherem
Abstand von ihrer Klinge. Sie stand ruhig da, die Lanze auf ihn
gerichtet. Als er sich bewegte, bewegte sie sich mit ihm. Sie
wusste, dass die Lanze eine größere Reichweite hatte als sein
Schwert. Sie musste ihn auf Distanz halten. Wenn sie ihn auf
Schwertlänge heran ließ, war er stärker als sie. Ihr Herz pochte
laut, aber sie blieb konzentriert und achtete darauf, gleichmäßig
zu atmen.
»Will dir ja nicht das hübsche Gesichtchen
zerkratzen«, brüllte er über das Scharren und Klirren der Klingen.
»Leg einfach diese dämliche Waffe ab, dann passiert dir
nichts.«
Sachi schwieg. Sie hielt die Lanze in beiden
Händen, verfolgte jede seiner Bewegungen. Wenn er in Reichweite
kam, hatte sie ihn.
Sie tanzten vor und zurück. Grinsend machte er
einen Schritt auf sie zu. Sie sah die Sonne in seiner erhobenen
Schwertklinge funkeln. Mit einem Schrei machte sie einen Ausfall
und schwang die Lanze, durchschnitt seine Hose und traf ihn an der
Wade. Sie hob die Lanze und wirbelte herum, bereit für den
nächsten Hieb. Er jaulte auf und sprang mit schmerzverzerrtem
Gesicht zurück. Der feuchte Fleck an seinem Hosenbein breitete sich
aus.
»Jetzt bin ich aber wütend«, brüllte er. Sein
Gesicht verdunkelte sich und schwoll an wie das eines
Ochsenfroschs, als er sich auf sie stürzte und das Schwert mit
beiden Händen schwang. Aber die Lanze war länger.
Sachi blieb ruhig, im Gleichgewicht, wartete. Er
hob das Schwert. Sie sprang vor und fing den Schlag mit der Klinge
ihrer Schwertlanze ab. Das Klirren war ohrenbetäubend. Die Kraft
des Schlages ließ sie ein paar Schritte zurücktaumeln. Sie rutschte
und streckte die Hand aus, um sich abzustützen. Als sie aufblickte,
sah sie das Schwert durch die Luft auf sich zusausen. Bevor sie
Zeit zum Atmen hatte, riss sie die Lanze hoch und parierte den
Schlag. Dabei drehte sie die Klinge. Sie spürte den Luftzug, roch
den abstoßenden Geruch des Mannes, als er unbeholfen
vorwärtsstolperte, durch seinen eigenen Schwung aus dem
Gleichgewicht gebracht.
Sie sprang auf die Füße und wirbelte auf den Zehen
herum, richtete die Schwertlanze auf seine Brust. Ihr Haar hatte
sich gelöst und fiel ihr über das Gesicht. Sie spürte keine Angst,
nur eine Art wilder Erregung.
Aus dem Augenwinkel sah sie Shinzaemon wie einen
Wahnsinnigen kämpfen, stoßen, stechen, Schläge abwehren, Männern
die Brust durchbohren und das Gesicht aufschlitzen. Taki war an
seiner Seite, schlug mit ihrer Schwertlanze um sich, während sich
blutige Körperteile der Angreifer vor ihnen häuften. Aber sie
wurden durch den Ansturm unweigerlich zurückgedrängt. Sachi musste
hier rasch fertig werden, um ihnen zu helfen.
Der Mann rappelte sich auf, brüllte wie ein
verwundetes Tier. Abermals stürzte er auf sie zu. Sie sah den Hass
in seinen
kleinen schwarzen Augen. Die Geräusche und der Lärm des Kampfes -
das metallische Klirren und Krachen, Shinzaemons Kriegsrufe, die
Schmerzensschreie - traten in den Hintergrund. Eine unheimliche
Stille senkte sich über sie. Auf der ganzen Welt gab es nur noch
sie beide. Ihre Schwertlanze war zu einem Teil ihrer selbst
geworden, einer Verlängerung ihres Körpers.
Sie konzentrierte sich auf seine Augen. Er schwang
sein Schwert. Sie sprang zurück, als es auf die Klinge ihrer Lanze
krachte. Dann schoss sie vorwärts und ließ sich auf das eine Knie
fallen.
Sehr langsam und besonnen schwang sie die Lanze,
zielte auf seine Kehle. Sie spürte die Schwere der Klinge, ihren
Schwung, und hörte das Zischen, als sie im Bogen durch die Luft
fuhr.
Dann wurde der pockennarbige Kopf plötzlich
hochgeschleudert. Erstaunt betrachtete Sachi ihre Schwertlanze. Die
Klinge war so glatt durch den muskulösen Hals des Mannes geglitten
wie ein Messer durch Wasser.
Der kopflose Körper torkelte weiter, Blut spritzte
wie eine Fontäne aus dem Hals, dann sackte er zur Seite und fiel zu
Boden. Der Kopf rollte über die Straße und purzelte in den
Abzugsgraben. Das Wasser teilte sich darum, floss rot an der
Stelle, wo der Kopf hineingefallen war.
Sie erwachte wie aus einer Trance und warf sich ins
Kampfgetümmel. Sie sah, dass Shinzaemon verletzt war. Er kämpfte
linkshändig. Blut strömte aus seinem rechten Arm. Aber egal, wie
viele ihrer Angreifer fielen, noch immer rückten andere nach.
Plötzlich gab es einen Knall, ohrenbetäubend laut.
Sachi zuckte zusammen und sah sich hektisch um. Sie kannte das
Geräusch, hatte es aber noch nie aus solcher Nähe gehört. Ein
Schuss. Alle erstarrten. Dann folgte ein weiterer.
Die Hälfte der Soldaten lag auf dem Boden, stöhnte
oder schrie vor Schmerz. Einige gaben keinen Ton mehr von sich.
Taki und Shinzaemon stützten sich auf ihre Waffen, wischten sich
Blut und Schweiß aus dem Gesicht. Ihre Kleidung war zerfetzt, ihr
Haar stand in alle Richtungen ab. Aber bis auf die Wunde an
Shinzaemons Arm schienen sie unverletzt zu sein.
Sachi lief zu ihm. »Mir geht’s gut«, sagte er,
verzog das Gesicht und riss einen Streifen von seinem Kimonorock
ab, um eine Schlinge daraus zu machen. »Nur eine weitere
Narbe.«
Die Leute um sie herum standen in sicherer
Entfernung und glotzten sie ausdruckslos an. Als die Schüsse
ertönten, war es totenstill geworden. Dann kreischte die Menge auf
und rannte in alle Richtungen davon.
In dem Durcheinander hatte niemand die von einer
Samurai-Eskorte begleiteten Palankine bemerkt. Zwei Gestalten
sprangen heraus und stürmten durch die Menge, hielten Schusswaffen
über den Kopf. Aus den Läufen kräuselte sich Rauch.
Aber waren das Menschen oder Ungeheuer? Sie hatten
zwei Augen, zwei Ohren und zwei Hände, doch sie waren riesig und
muskulös, wie Giganten. Ihre Köpfe und Schultern überragten die
Menge. Ihre Gesichter waren zerfurcht, nicht glatt und rund, und
ihre Nasen waren wie vorspringende Erker, monströs groß. Konnten
sie Tengu sein, die langnasigen Kobolde, die in den Bergen lebten?
Aber Tengu hatten rote Gesichter. Diese Wesen waren so totenblass
wie Geister. Einer hatte Haare in der Farbe von Reishalmen im
Herbst, das Haar des anderen war erdfarben. Und sie trugen
seltsame, fremdländische Kleidung, wie Sachi sie noch nie gesehen
hatte.
Die Menge wich zurück, als die Wesen sich
durchdrängten. Manche fielen auf die Knie und drückten den Kopf auf
die
Erde. Andere blieben wie versteinert stehen und starrten mit
offenem Mund. Einige der Frauen schrien und rannten weg.
Der Strohköpfige achtete nicht darauf. Er stürmte
durch die Menge und marschierte direkt auf das Schlachtfeld, trat
über die stöhnenden Soldaten hinweg. Ein merkwürdiger, ranziger
Geruch hing wie Nebel an ihm. Es war der Geruch der Ausgestoßenen,
die mit dem Metzgerhandwerk zu tun hatten - der Geruch von Fleisch,
von totem Fleisch.
Natürlich. Das waren keine Tengu, sondern etwas
viel Furchterregenderes und Absonderlicheres. Tojin -
Ausländer. Sachi hatte Gerede über die »stinkenden Barbaren«
gehört, war jedoch nie jemandem begegnet, der sie leibhaftig
gesehen hatte. Soviel sie wusste, waren sie auf ein kleines Dorf
bei Edo namens Yokohama beschränkt, auf einen Hafen in der Nähe von
Osaka und eine Handvoll anderer Häfen. Aber sie hatte
selbstverständlich die Yokohama-Drucke gesehen, die diese
exotischen Wesen mit ihren beängstigenden Nasen, ihrer
fremdländischen Kleidung und den eigenartigen Behausungen
darstellten. Im Frauenpalast hatte es viele dieser Holzblockdrucke
gegeben. Sachi hatte ebenfalls gehört - wie in der Tat jeder zu
wissen schien -, der Ursprung des Aufstandes der Südprovinzen
beruhe darauf, dass der Shogun nicht in der Lage gewesen sei, die
Ausländer zu vertreiben. Zumindest war das der Vorwand für ihren
Aufstand gewesen.
Jetzt öffnete der Ausländer den Mund und rief
etwas. Sachi richtete sich auf und sah ihn direkt an. Keinesfalls
würde sie weglaufen oder kreischen. Sie durfte nicht vergessen,
dass sie die im Ruhestand lebende Dame Shoko-in war, die Konkubine
Seiner verstorbenen Majestät. Sie deutete auf seine Waffe. Was
hatte er damit vor? Wollte er sie alle erschießen?
Er musterte sie mit seinen seltsam bleichen Augen.
Das war ihr unangenehm. Sie wünschte, sie könnte ihr Gesicht
verbergen,
aber sie hatte ihren Hut und den Schleier verloren. Wieder sprach
er. Seine Stimme war so laut, dass sie zusammenzuckte. Zu ihrem
Erstaunen konnte sie ihn verstehen. Er sprach in einer gestelzten
Version ihrer Sprache, wenngleich mit einem reichlich verzerrten
Akzent.
»Keine Bange, gnädige Frau. Ich schieße nur in die
Luft. Kann ich Ihnen helfen? Sind Sie unverletzt?«
Dann blaffte er die Soldaten an: »Was soll das?
Damen anzugreifen? So viele gegen einen einzigen Mann? Schämt
euch.«
Die wenigen noch aufrecht stehenden Soldaten
blickten finster zu Boden. Sie keuchten, waren angeschlagen,
bluteten, ihre schwarzen Uniformen waren zerfetzt, ihr Haar wild
zerzaust.
»Dieser Mann ist ein Gesetzloser«, knurrte einer
und deutete auf Shinzaemon.
»Das stimmt nicht«, protestierte Sachi hitzig. Sie
überlegte in rasender Eile. »Er ist mein … Leibwächter. Er hat mich
und meine Dienstbotin - meine Freundin - beschützt.«
Die Soldaten flüsterten untereinander. Ihre
Schwerter waren nach wie vor gezogen, ihre Finger zuckten an den
Griffen.
»Lästige Barbaren, die sich in alles einmischen
müssen!«, zischte einer. »Wir kriegen euch. Wartet’s nur ab!«
»Ich glaube, ihr habt die Proklamation des Kaisers
vergessen«, entgegnete der Ausländer glattzüngig. Noch immer hielt
er die Waffe in der Hand. Sie sah neu und glänzend aus, ganz anders
als die uralten Musketen der Leute in Kiso. »Ausländer dürfen nicht
mehr getötet werden. Ihr Männer aus dem Süden bezeichnet euch doch
selbst als Getreue des Kaisers. Habt ihr denn keinen Respekt vor
dem Dekret Seiner Hoheit?«
Er wandte sich wieder an Sachi.
»Gnädige Frau«, sagte er. »Sie wollen nach Edo? Wir
auch. Wir begleiten Sie - Sie, Ihre Freundin und Ihren Leibwächter.
Reisen Sie mit uns. Unsere Wachen werden Sie beschützen. Kein
Grund zur Sorge.«
Sachi starrte ihn erschrocken an. Mit ihnen reisen,
diesen wilden, unberechenbaren Wesen? Sie wusste nichts von ihnen.
Bei gewöhnlichen Menschen - Menschen aus ihrem Land - konnte sie in
ihren Gesichtern lesen, konnte ihre Gefühle unter der Formalität
und den von der Etikette vorgeschriebenen Worten verstehen. Aber
bei Barbaren wie diesen hatte sie keine Ahnung, was in deren Köpfen
vorging. Es war die verrückteste Idee, die sie je gehört
hatte.
Und doch … es herrschte Krieg. Die Straße war
zweifellos gefährlich, und Edo noch mehr. Die Barbaren hatten
Waffen und eine Samurai-Eskorte mit Schwertern und Stöcken -
wenngleich man sich natürlich auch fragen musste, wer diese Samurai
waren. Auf wessen Seite standen sie? Wem schuldeten sie Gehorsam?
Sicherlich waren es Spione, abgestellt, um die Barbaren im Auge zu
behalten. Wenn Sachi und ihre Begleiter mit ihnen reisten, würden
sie sorgsam auf ihre Worte achten müssen.
Doch obschon Shinzaemon wie ein Dämon kämpfen
konnte, war er nur allein. Am wichtigsten war jetzt, dass sie ihre
Reise beendeten, nach Edo kamen - zur Prinzessin, zu Sachis Mutter
-, ehe die Truppen aus dem Süden die Stadt vollkommen
abriegelten.
Sie blickte zu Taki, die gerade die Klinge ihrer
Schwertlanze an ihren Röcken abwischte. Ihr Haar hatte sich gelöst
und stand ihr zerzaust um den Kopf. Auf ihrem schmalen Gesicht
klebte Blut. Aber in ihren großen Augen schimmerte wilder Triumph.
Sie erwiderte Sachis Blick, hob die Augenbrauen und legte den Kopf
schräg, als wollte sie sagen: »Mach, was immer du willst. Schlimmer
kann es nicht werden.«
Shinzaemon hatte sein Schwert in die Scheide
gesteckt und
zerriss ein Stück Baumwollstoff, um seinen verletzten Arm zu
verbinden. Er schaute sie an, zuckte seine breiten Schultern und
hob das Kinn an, wie um zu sagen: »Was bleibt uns denn anderes
übrig?«
Sie seufzte und neigte den Kopf. »Vielen Dank«,
sagte sie.
Der Barbar nahm seinen Hut ab und verbeugte sich
steif.
»Mein Name ist Edwards«, sagte er.
»Edowadzu.«
Sie probierte die neuen Silben aus. »Edo-wadzu.«
Wie Edo, die Stadt Edo. Das war der seltsamste Name, den sie je
gehört hatte.
Der Mann mit dem erdfarbenen Haar trat vor.
»Satow. Zu Ihren Diensten. Bitte, schließen Sie
sich uns unter allen Umständen an.«
II
Die beiden Riesen ließen sich in unförmigen
Palankinen befördern, gebaut, um ihren langen Beinen Platz zu
bieten, und von jeweils sechs Trägern geschleppt. Ihnen folgten
ihre Bediensteten in zwei normalen Palankinen und einer
Trägerkolonne mit ihrem Gepäck. Sachi, Taki und Shinzaemon gingen
mit ihren Packpferden hinter ihnen her. Ein Teil der
Samurai-Eskorte marschierte voraus, der Rest bildete die Nachhut.
Menschenmengen schoben sich in die andere Richtung -
Samurai-Gefolgsleute aus Daimyo-Haushalten trotteten mit grimmiger
Entschlossenheit dahin, Kaufleuten folgten endlose Kolonnen von
Trägern mit Körben voller Habseligkeiten, Bettler und bedrohliche,
vage militärisch aussehende Männer verbargen ihre Gesichter unter
tief herabgezogenen Strohhüten. Doch da sie mit den Ausländern und
deren Wachleuten reisten, fühlten sich die drei endlich
sicher.
Der nächste Ort war von Menschen überschwemmt.
Alles schob und drängte sich durch die Straßen. »Tojin!
Tojin! Ausländer! Ausländer!«, schrien sie. Sachi hörte auch
andere Rufe: »Dumme Barbaren! Werft die Barbaren raus.
Verschwindet!« Sie hoffte, dass die Ausländer die Rufe nicht
verstehen konnten. Die Menge glotzte und starrte, schubste sich
gegenseitig aus dem Weg, um einen Blick in die Palankine zu
erhaschen. Die Samurai schoben sie mit ihren Stäben zur Seite,
blafften: »Auf die Knie. Runter!« Niemand beachtete Sachi, Taki und
Shinzaemon. Sie waren unsichtbar geworden. Alle waren zu sehr damit
beschäftigt, einen Blick auf die Tojin zu erhaschen.
Die Fernstraße schlängelte sich weiter, an einem
Fluss entlang, durch Reisfelder, gesäumt von gerade aufblühenden
Kirschbäumen, mit verhangenen Bergen, die sich in der Ferne
erhoben. Sobald sie den Ort hinter sich gelassen hatten, setzten
die Träger die Palankine ab, und die Ausländer stiegen aus,
stöhnten und streckten ihre langen Beine. Was für seltsame Wesen
sie sind, dachte Sachi. Wie konnten sie sich unwohl fühlen, wenn
sie doch in so großen, luxuriösen Palankinen befördert wurden?
Anstelle von Sandalen trugen ihre Sandalenträger große, glänzende
Stiefel für sie, die nach Tierhäuten rochen. Sie zogen sie mit
erleichtertem Seufzen an und gingen zu Fuß weiter.
Sachi, Taki und Shinzaemon blieben auf Abstand.
Taki, die immer so furchtlos gewesen war, schienen diese Monster zu
ängstigen. Shinzaemon war so viel herumgekommen, dass er solchen
Wesen bestimmt schon begegnet war. Zweifellos hasste er sie
genauso, wie alle anderen es taten, und hätte sie am liebsten in
Stücke gehauen. Aber ihm war auch bewusst, dass Angriffe auf
Ausländer nicht nur gegen das Dekret des Kaisers verstießen,
sondern auch gegen die Politik seines Lehnsherrn, des Shogun. Egal,
was er empfand, er musste den Ausländern
gegenüber Zurückhaltung wahren. An seinem finsteren Gesicht und
der Haltung seiner Schultern, den auf dem Schwertgriff trommelnden
Fingern erkannte Sachi, welche Mühe ihn das kostete. Schlimmer
noch, er musste die Demütigung ertragen, als Leibwächter bezeichnet
zu werden. Kein Wunder, dass er so verbittert schaute.
Nach einer Weile ließ sich der Strohköpfige
zurückfallen.
»Darf ich Sie begleiten?«, fragte er Sachi.
Sachi konnte ein Lachen kaum unterdrücken. Er sah
abscheulich aus. Haar spross auf seinem Gesicht, wie die Furcht
einflößenden Schnauzbärte auf den Helmen der Samurai. Und der
Geruch … Außerdem, die Vorstellung, dass eine Samurai-Frau neben
einem Mann ging, der nicht mal zur Familie gehörte (wie es bei
Shinzaemon inzwischen praktisch der Fall war), war vollkommen
unziemlich. Aber dann überlegte sie, dass er ja nur ein Barbar war
- und ein Barbar war überhaupt kein Mann, er zählte nicht. Es war,
als würde sie neben einem Bären oder einem Affen gehen.
Sie schaute über die Schulter. Shinzaemon ging
hinter ihr her, als achtete er auf nichts. Doch sie wusste, dass er
alles sah und hörte.
»Wohin wollen Sie in Edo?«, fragte der Barbar
dreist, blickte auf sie hinunter.
Sie war schockiert über die Direktheit der Frage
und auch voller Angst. Gewöhnliche Menschen stellten keine direkten
Fragen, vor allem nicht in einer Zeit wie dieser, wo niemand
wusste, auf wessen Seite man stand. »Waren Sie schon in Edo?«,
fragte sie und hoffte, ihm würde ein Hinweis entschlüpfen.
»Wir leben dort«, antwortete er. »Wir haben ein
Haus. Ein kleines Haus neben einem Tempel. Auf einem Hügel.«
Sie hatte geglaubt, er müsse alt sein, wegen der
Haare in seinem
Gesicht und der grobporigen Haut. Aber seine Stimme war
jungenhaft. Er konnte nicht viel älter sein als sie. Wo waren seine
Mutter und sein Vater? Was machte er hier, so weit von zu Hause
entfernt, reiste durch dieses fremde Land, das am Rande eines
Krieges stand?
»Alle verlassen Edo, und wir begeben uns dorthin!«,
sagte er, wie als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage, und
zeigte grinsend seine Zähne. »Die Leute sagen, es wird eine
schreckliche Schlacht geben, aber Sie wirken überhaupt nicht
besorgt. Ich habe noch nie eine Frau so kämpfen sehen wie
Sie!«
Während er sprach, fuchtelte er mit den Händen. Sie
waren groß und kräftig, sogar größer als Shinzaemons
Schwertkämpferhände. Und die Farbe! So weiß wie Kalk. Die bleichen
Härchen auf seinen Fingern schimmerten im Sonnenlicht wie
Goldfäden. Vielleicht war er doch kein solches Ungeheuer. Er war
zwar gewiss nicht von derselben Rasse wie sie, schien aber trotzdem
menschlich zu sein.
Sachi hatte gehört, dass die Barbaren grob und
unzivilisiert waren, dass sie keine Manieren hatten, gewalttätig
wurden, wenn sie betrunken waren, krakeelten und Frauen
vergewaltigten. Doch von Nahem schienen sie nicht so schlimm zu
sein. Zu glauben, dass sie tatsächlich neben so einem Wesen herging
und mit ihm sprach, fiel ihr schwer. Wäre das Land nicht im Krieg
gewesen, wäre sie nicht voller Besorgnis gewesen, was geschehen
mochte, wenn sie nach Edo kamen, hätte es aufregend sein können,
ein erinnerungswürdiges Erlebnis.
Sie spürte Shinzaemons Blick auf sich. Während sie
sich dachte, dass der Strohköpfige ja bloß ein Barbar sei, war sich
Shinzaemon nur allzu bewusst, dass der Ausländer ein Mann war. Auch
Takis Missfallen war ihr bewusst. Doch schließlich war sie die
Herrin und Taki nur eine Dienstbotin, und sie hatte ihrem Gastgeber
gegenüber höflich zu sein. Und außerdem gefiel
es ihr recht gut, mit diesem großen, schwerfälligen Wesen zu
sprechen.
Er arbeite für die britische Gesandtschaft,
erzählte er ihr, obwohl er nur wenig darüber erwähnte, wo sie
gewesen waren, und nichts über den Zweck ihrer Reise verriet.
Zweifellos waren sie in geheimer Mission unterwegs gewesen.
»Wir haben große Abenteuer erlebt«, fügte er hinzu.
»Wir haben wunderbare Dinge gesehen. Den Berg Fuji. Waren Sie
jemals dort? Sind Sie über den Shiojiri-Pass gekommen und haben den
Berg Fuji am Horizont gesehen? Noch nie habe ich etwas so Schönes
erblickt. Das Wetter war perfekt!«
»Ihr Land …«, murmelte sie zögernd, »muss auch
schön sein.«
Er käme, erzählte er ihr, von einer kleinen, weit
entfernten Insel. Um ihr Land zu erreichen, hätte er zwei Monate
gebraucht. Seines wurde von einer Königin regiert, die in einem
beinahe so prächtigen - wenn auch nicht so großen - Palast wie der
Burg Edo lebte. Das Land heiße England.
»Ihr Land wird von einer Frau regiert?«, fragte
Sachi ungläubig. Bis dahin hatte sie alles geglaubt, was er sagte.
Aber ein Land, das von einer Frau regiert wurde - das konnte nicht
wahr sein. Er musste sich geirrt haben. Vielleicht beherrschte er
ihre Sprache doch nicht so gut, wie sie gedacht hatte. Oder
vielleicht hatte er ihr nur Geschichten erzählt.
Aus England stammten sie, hatte er gesagt. Wenn sie
Engländer waren, diese Ausländer, standen sie auf Seiten des
Südens. Glaubte dieser Edwards wirklich, dass sie nur eine
Zivilistin war, die von Ronin angegriffen wurde? Sicherlich nicht.
Schließlich hatte er die toten und verwundeten Soldaten auf der
Straße liegen sehen. Er war einfach über sie hinweggestiegen.
Vielleicht mutmaßte er, dass sie eine Dame vom Hof des Shogun war,
die der Süden nur allzu gerne gefangen
nehmen würde. Doch er stellte keine Fragen. Sie würde in der Tat
sehr vorsichtig sein müssen.
An diesem Abend sahen sie weit in der Ferne
Lichter blinken, so viele, dass es aussah, als wären die Sterne vom
Himmel gefallen. Über den Hügeln hing ein Rauchschleier und
verdeckte den halben Himmel.
»Wachfeuer«, sagte Shinzaemon. »Wir kommen näher.
Dieser Affe, der auf seinen Hinterbeinen läuft und so redet, als
glaubte er, ein menschliches Wesen zu sein«, fügte er knurrend
hinzu. »Wie kannst du nur mit ihm sprechen? Er ist Engländer. Du
weißt, auf wessen Seite die stehen. Wieso ist er durch unser Land
gereist? Er muss ein Spion sein. Das sind sie alle, diese
Ausländer.«
»Sei doch nicht böse, so kurz bevor wir uns trennen
müssen«, flehte Sachi. »Du weißt, dass ich es tun muss. Wir sind
ihre Gäste.«
»Wir wären auch gut allein zurechtgekommen«, murrte
Shinzaemon. »Besser sogar. Ich hätte schon dafür gesorgt.«
»Wir müssen immer noch durch den Kontrollposten von
Itabashi, und in Edo wird es vor Soldaten aus dem Süden wimmeln.
So, wie wir gekleidet sind, werden sie uns für das Gefolge der
Ausländer halten. Das ist die perfekte Tarnung. Verstehst du denn
nicht? Du wirst einen guten Blick auf die Truppen des Südens werfen
können. So kannst du der Miliz eine Menge berichten - wie viele sie
sind, welche Art von Waffen sie haben, solche Dinge.«
»Vermutlich hast du Recht«, gab er widerwillig zu.
»Könnte sein, dass ich etwas Nützliches entdecke.«
Als sie am nächsten Tag zur Poststation von Urawa
kamen, flatterten rote Banner vor den Toren, mit einem weißen Kreuz
in einem Kreis. Bei dem Anblick wurde Sachi das Herz schwer. Das
Wappen der Shimazu, der unversöhnlichsten Kriegsherren des Südens.
Der Feind stand also tatsächlich an den Toren Edos. Es gab auch
noch andere Banner - scharlachrot, mit der goldenen Chrysantheme
des Kaisers. Sie hatte Gerüchte gehört, dass sich die Aufrührer aus
dem Süden als Kaiserliche Armee bezeichneten. Jetzt hatte sie den
Beweis.
Die Fernstraße war voll von feindlichen Soldaten,
und sie würden direkt mitten hindurchmarschieren müssen. Sachi
hielt ihre Schwertlanze gesenkt, hoffte, dass die Soldaten die
Waffe bei dem Gedränge nicht bemerken oder bloß für einen Stab
halten würden. Mit gebeugtem Kopf bahnte sie sich den Weg durch die
Menge, hielt sich dicht an die Ausländer. Taki und Shinzaemon
folgten ihr. Sie ging langsam und gleichmäßig, setzte sorgsam ihre
Füße, als liefe sie über Eierschalen, konzentrierte sich aufs
Gehen, bemühte sich, ihre Furcht nicht durch das kleinste Zucken
ihres Mundes oder ihrer Hände zu verraten. Ihr Herz hämmerte.
Tausende von Soldaten, die sich hier sammelten und nur auf den
Befehl warteten, nach Edo zu marschieren. Und das war bloß der
Anfang. Sie betete zu den Göttern, dass in Edo eine ebenso
gewaltige Armee darauf wartete, sie zurückzuschlagen.
Am Abend kamen sie nach Itabashi - »Holzbrücke« -,
der letzten Poststation auf der Inneren Bergstraße. Sie waren fast
in Edo. Bis zum Zentrum, wo die Burg stand, waren es nur noch zwei
Ri. Die Straße war mit Fackeln erleuchtet, und auf den umliegenden
Hügeln brannten Wachfeuer.
Lange bevor sie Itabashi betraten, hörten sie Rufe
und Lachen und das Klimpern von Shamisen. Die Gasthöfe und
Herbergen waren brechend voll. Vor jedem Haus brannten Laternen.
Feindliche Soldaten drängten sich auf den Straßen,
kippten Sake aus Bambusflaschen in sich hinein, redeten und
grölten in ihrem bäurischen Akzent. Geishas und Prostituierte in
großer Zahl umschwärmten sie, wenn sie vorbeitorkelten, und
versuchten sie in ihre Etablissements zu ziehen. Lastenträger,
Sänftenträger und Pferdeknechte boten lautstark ihre Dienste an.
Sogar die Bettler grinsten und erfreuten sich an den Lustbarkeiten.
So nahe von Edo, der Stadt des Shogun, und sie vergnügten sich so
sorglos mit seinen Feinden! War es denn allen egal, auf wessen
Seite die Soldaten standen, oder waren sie nur an ihren Geldbeuteln
interessiert? Sachi konnte sich denken, was davon stimmte. Alle
wussten, dass das Ende nahe war, also welche Rolle spielte es noch?
Dann konnten sie sich auch ihr Vergnügen gönnen.
Sie hatten den letzten Kontrollposten vor Edo
erreicht. Sachi und ihre Gefährten hielten die Köpfe gebeugt, aber
als die Wachen die Palankine der Barbaren erblickten, sanken sie
auf die Knie und winkten die Gruppe durch. Als Sachi durch die Tore
ging, merkte sie plötzlich, wie erschöpft sie war. Ihre Füße waren
wundgelaufen und geschwollen, und ihre Beine fühlten sich so schwer
an, dass sie meinte, keinen Schritt mehr machen zu können. Der
kleine Zeh ihres linken Fußes schmerzte unerträglich. Das konnte
nur eine weitere Blase sein. Sie würde sie verbinden und neue
Sandalen anziehen müssen.
Dann blickte sie auf. Durch die Häuser an der
Straße erhaschte sie einen Blick auf Reisfelder, gesprenkelt mit
Bauernhäusern, und dahinter … Dächer, ziegelgedeckte Dächer, ein
großes Meer von Dächern, das im Abendlicht funkelte und sich von
einem Ende des Horizonts zum anderen erstreckte. Edo.
Einen Moment lang erschien es ihr so wundervoll wie
das Westliche Paradies, als würde Admida Buddha selbst sie dort
willkommen heißen. An der dunkler werdenden Ostseite der
Stadt glitzerten Lichter, und Rauchfäden kräuselten sich in den
Himmel empor. Zwischen den Dächern waren rosa Flecken zu sehen -
vielleicht Kirschbäume. Und es gab dunkle Stellen, Baumgruppen und
breite, geschwungene Dächer, an denen man die Residenzen der Daimyo
erkannte. War es nur ihre Einbildung, oder konnte sie direkt in der
Mitte die Festungswälle, gestalteten Lustgärten und bewaldeten
Gebiete die Burg ausmachen?
Shinzaemon betrachtete die Stadt. Sachi sah seinem
Gesicht die Ungeduld an, dorthin zu gelangen, sich seinen Kameraden
anzuschließen, sich auf den Krieg vorzubereiten. Dann drehte er
sich um. Ihre Augen trafen sich zu einem langen, sehnsüchtigen
Blick. Taki wirkte vor Erleichterung wie betäubt.
Doch schon bald merkten sie, dass etwas ganz und
gar nicht stimmte. Die Läden und Stände entlang der Straße waren
verwüstet, und die Lagerhäuser waren aufgebrochen. Türen waren
eingetreten und Fenster herausgerissen. Zerbrochene Wandschirme,
Holzsplitter, Rechenbretter und Seidenballen lagen im Staub, aus
umgekippten Fässern ergoss sich Reis. Die Läden, die der Zerstörung
entgangen waren, hatte man verschlossen und vernagelt. Schweigend
ging die Gruppe vorbei. Sachi wagte ihre Gedanken nicht mal in
Worte zu fassen: Wenn es hier schon so war, wie würde es dann in
Edo sein?
Shinzaemon war hinter ihr hergegangen. Sie waren
bereits ein ganzes Stück in der Stadt, als er Sachi einholte. Er
blickte sich nach den Samurai-Wächtern um. Sie waren weit hinter
ihnen, außer Hörweite.
»Dort werde ich sein«, sagte er. Eine Straße führte
nach links zwischen verfallenen Läden auf den Kanei-ji-Tempel am
Ueno-Hügel zu. »Die Miliz ist auf dem Ueno-Hügel kaserniert. Aber
vorher bringe ich dich zur Burg.«
Sachi brachte kein Wort heraus. Ihre Augen füllten
sich mit Tränen. Die Vorstellung, ihn zu verlieren, war
unerträglich.
Eine Weile später überquerten sie den äußeren
Wallgraben. Zu ihrer Rechten befand sich der Samurai-Bezirk der
Stadt mit seinen breiten Alleen und hohen Mauern um die Residenzen
der Daimyo, zur Linken begann das Labyrinth enger Straßen, in denen
die Städter wohnten. Sachi entging nicht, dass die Kanäle, die sie
das letzte Mal voller Boote und Menschen gesehen hatte, leer waren.
Eine schreckliche Stille hing über allem, als wäre eine tödliche
Seuche über die Stadt gekommen und hätte alle dahingerafft. Der
Duft des Lebens war verschwunden, in der Luft hing nur ein
schwacher Staubgeruch. Einige der Daimyo hatten sogar ihre Paläste
mitgenommen. Die kleine Kolonne kam an großen, offen stehenden
Toren vorbei. Sachi blickte entsetzt hinein. Hinter den
ziegelverkleideten Mauern war nichts zu sehen außer einer offenen,
mit Sand bedeckten Fläche, keinerlei Gebäude weit und breit. Wie
hatte sich alles so rasch verändern können? Als sie im kaiserlichen
Palankin die Burg verlassen hatte, war die Stadt ein lebendiger,
lärmender Ort gewesen. Jetzt war sie ein Friedhof, bevölkert von
Geistern. Sachi versuchte nicht daran zu denken, was in der Burg
und im Frauenpalast geschehen war.
Sie überquerten einen weiteren Wassergraben, dann
noch einen. Als sie die Hirakawa-Brücke erreichten, war der Abend
angebrochen. Auf der anderen Seite befand sich ein massives
Flügeltor, verstärkt mit Eisenbändern: das Tsubone-Tor, das »Tor
der Damen des Shogun«. Sie standen am Eingang zu den
Frauenquartieren der Burg Edo. Die Torflügel waren in eine glatte,
undurchdringliche Granitmauer eingelassen, die hoch in den dunkler
werdenden Himmel ragte. Sachi griff nach
Takis Hand, und sie schauten gemeinsam hinüber. Ein später
Sonnenstrahl glitzerte im stillen Wasser des Burggrabens.
Sachi schloss die Augen. Einen Moment lang sah sie
ihr altes Leben wieder vor sich. Die goldschimmernden Gemächer,
bemalt mit Kiefern und Kranichen und Vögeln. Die durchbrochenen
Verzierungen der Quergänge, die exquisiten Kassettendecken, die
prunkvollen Kimonos. Und das Essen, die verschwenderischen
Mahlzeiten, die sie Tag für Tag eingenommen hatten. Während Sachi
dort lebte, hatte sie diese andere Welt vergessen, in der die
Menschen arm waren und manchmal nicht genug zu essen hatten. Aber
nun erschien ihr der Palast wie ein Traum, so unwirklich, wie der
Palast der Tochter des Drachenkönigs unter dem Meer dem armen
Urashima vorgekommen sein musste.
Sie hatte den Palast in Flammen gesehen. Doch er
war nur ein Teil einer Zitadelle im großen Burgkomplex gewesen.
Sicherlich ging das Leben im Rest der Burg so weiter, wie es immer
gewesen war? Die Frauen mussten einfach in einen anderen Teil
umgezogen sein.
Und was war mit ihrer Mutter? Sie umklammerte das
Bündel mit dem Brokat und versuchte sich die Frau vorzustellen, die
ihn getragen hatte. War auch sie nur ein Traum?
Der Moment war gekommen, dieser Moment, vor dem sie
sich so sehr gefürchtet hatte. Sie hatte versucht, nicht daran zu
denken, hatte gehofft, dass er nie kommen würde. Aber jetzt gab es
keinen Aufschub mehr.
Sachi und Shinzaemon standen zusammen am Rand der
Brücke. Die Ausländer waren in ihrer Nähe, aber das war ihnen egal.
Auf dem trüben Wasser des Burggrabens schwammen Enten. Der Mond
hing bereits bleich am Himmel, obwohl die Sonne noch nicht
untergegangen war.
Shinzaemon nahm ihre Hand und drückte sie fest. Sie
spürte Schwielen an seiner Handfläche, wo er das Schwert schwang.
Sie fühlte die Trockenheit seiner Haut an ihrer, roch den schwachen
Hauch von Salz auf seiner Haut, spürte die Wärme seines Körpers.
Tränen traten ihr in die Augen, doch sie drängte sie zurück. Sie
wollte ihn bitten, zu bleiben, wusste aber, dass sie das nicht
konnte. Sie ließ den Blick über die feinen Knochen seines
Gesichtes, die vollen Lippen gleiten.
»Dort wirst du also sein«, hauchte sie. »Wie du
gesagt hast, auf dem Ueno-Hügel?«
»Mit der Shogitai-Miliz. Unsere Feinde müssen Edo
noch erobern. Wenn wir es für die Tokugawa halten können, dann
können wir sie vielleicht zurücktreiben.«
Sie schauten sich an. »Solange ich lebe, werde ich
dich nicht vergessen«, sagte er leise. »Ich hätte mir nie
vorstellen können, dass es jemanden wie dich auf der Welt gibt -
oder dass die Welt so üppig und farbenprächtig sein könnte. Du
machst es mir sehr schwer, hinzunehmen, dass ich sterben könnte.
Nein, nicht ›könnte‹. Ich muss sterben.«
»Ich werde mit aller Kraft darum beten, dass du
überlebst«, sagte sie. »Wenn der Krieg vorbei ist, komm zurück und
suche nach mir.«
Nur noch eins blieb ihr zu tun. Sie tastete in
ihrem Ärmel nach dem Kamm, diesem kostbaren Kamm, den sie seit
ihrer Kindheit bei sich getragen hatte, und hielt ihn Shinzaemon
hin. Das aufgeprägte, in Gold gefasste Wappen schimmerte in den
Strahlen der untergehenden Sonne. Ihre beiden Schatten streckten
sich lang über den Boden.
»Das ist das Kostbarste, was ich besitze«, sagte
sie. »Mein Glücksbringer. Ich habe ihn schon mein ganzes Leben
lang. Er wird dich beschützen. Wenn du ihn anschaust, denk an
mich.«
»Das kann ich nicht annehmen«, protestierte er.
»Der Kamm ist zu wichtig. Ich weiß, was er dir bedeutet.«
»Er wird dich zu mir zurückbringen«, sagte sie. »Er
wird dich besser beschützen als jedes Amulett, besser als ein
Tausend-Stiche-Gürtel. Wenn wir uns wiedersehen, kannst du ihn mir
zurückgeben.«
Sie reichte ihm den Kamm und ließ ihre weichen
Hände noch ein wenig auf seinen muskulösen ruhen. Ernst hob er den
Kamm in einer formellen Dankesgeste an die Stirn, verbeugte sich
dann und steckte ihn in seinen Ärmel. Schweigend blieben sie noch
eine Weile stehen.
Plötzlich hatte Sachi eine Idee: »Ich bitte dich,
komm noch ein letztes Mal zu mir. Hier, am Tsubone-Tor, morgen, in
der Abenddämmerung.«
Sofort begriff sie, wie verrückt ihr Plan war. In
der Vergangenheit wäre es undenkbar gewesen, sich
hinauszuschleichen, um sich mit einem Mann zu treffen. Sie hatte
keinen Grund zu der Annahme, dass sich die Dinge so sehr geändert
hatten. In dem Moment, in dem sie die Tore durchschritt, würde sie
wieder die im Ruhestand lebende Dame des Seitengemachs sein. Und
er? Ein Soldat entfernte sich nicht von seiner Truppe.
Aber ganz gleich, was geschah, sie würde hier sein.
»Ich werde auf dich warten«, sagte sie.
Er schaute weg, holte dann Luft und erwiderte: »Ich
werde mein Bestes tun.«
Sachi erwartete, dass Taki sie ausschimpfen würde.
Beinahe meinte sie, ihre Stimme zu hören: »Denk an deine Stellung.
Denk daran, wer du bist.«
Doch Taki tat es nicht. Sie schaute zu Shinzaemon.
Auch in ihren Augen standen Tränen. Plötzlich erkannte Sachi, dass
Taki ebenfalls traurig war, eine tiefe, hoffnungslose, verzweifelte
Traurigkeit. Sie war Toranosuké so fern wie je. Nach Edo zu kommen,
hatte sie ihm nicht näher gebracht. Auch sie hatte
die Freiheit der Straße genossen und schien nun eher bestürzt
darüber, in das Gefängnis des Palastes zurückzukehren.
»Ich habe ebenfalls eine Bitte«, piepste Taki
zögernd. »Ich weiß, wie töricht es ist, aber …« Sie zog ein Amulett
aus ihrem Ärmel. Sachi erkannte es als das Amulett für langes
Leben, das Taki bereits aus Kyoto mitgebracht hatte. Sie drückte es
Shinzaemon in die Hand.
»Bitte gib das Meister Toranosuké«, sagte sie. »Sag
ihm, dass ich für ihn beten werde. Und für Tatsuemon auch.«
Shinzaemon führte es an seine Stirn und versprach:
»Ich werde es ihm sagen. Und ich sorge dafür, dass er es
bekommt.«
Die Sonne verschwand hinter den großen Mauern der
Burg. Sachi und Shinzaemon blickten sich immer noch an.
»Wir müssen gehen«, sagte Taki leise.
Sachi wusste, was sie zu tun hatte - was die Frau
eines Soldaten tun würde. Sie lächelte und verbeugte sich so
tapfer, wie sie konnte.
»Gib dein Bestes!«, sagte sie in festem Ton.
Sie wandten sich der Burg zu. Sachi zögerte immer
noch. Es fiel ihr schwer, sich loszureißen. Sobald sie die Brücke
überquerte, würde sie wieder in dieser anderen Welt sein, einer
Welt, in der es keinen Shinzaemon gab. Sie fühlte sich tot im
Herzen und erkannte dieses Gefühl. Genauso war ihr zumute gewesen,
kurz bevor sie vom Tod des jungen Shogun erfahren hatte.
Eine Brise kräuselte das Wasser des Burggrabens und
strich durch das Schilfrohr. Auf der anderen Seite erhoben sich die
steilen, scheinbar undurchdringlichen Festungsmauern.
»Es ist fast Nacht«, flüsterte Taki. »Angenommen,
wir kommen nicht hinein? Wie sollen wir die Wachen davon
überzeugen, dass wir sind, wer wir zu sein vorgeben?«
Sie hatte Recht. Mit ihren fadenscheinigen Kleidern
und
dem vom Reisen verschmutzten Gesicht sah Taki wie eine Bäuerin
oder eine Bettlerin aus, nicht im Entferntesten wie eine Hofdame.
Und für Sachi galt dasselbe. Sie waren so lange unterwegs gewesen,
hatten so viele Abenteuer erlebt und waren völlig andere Menschen
geworden.
Die Burgmauern ragten im Dämmerlicht auf. Aber
etwas fehlte.
»Schau mal«, flüsterte Sachi. »Kein Rauch. Es ist
Essenszeit. Aber da ist kein Rauch.«
Die Holztore mit ihren Eisenbändern und den
riesigen Riegeln waren fest verschlossen. Sachi hatte gedacht,
mindestens ein Bataillon Wachen würde davorstehen, aber nicht
einmal ein einzelner Wachposten war dort. In einer Seitenwand neben
dem Tor befand sich eine kleine Tür. Sie klopfte an und stieß dann
dagegen. Die Tür öffnete sich knarrend.
Die Ausländer und Shinzaemon warteten in der
Dunkelheit auf der anderen Seite des Burggrabens. Mit einem Kloß im
Hals drehte sich Sachi um, lächelte tapfer und winkte. Vor lauter
Tränen konnte sie kaum etwas sehen. Dann traten Taki und sie durch
die Tür, die mit einem lauten Knall hinter ihnen zuschwang.