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Ins Hornissennest
014

I

Jiroemon seufzte, als Sachi ihm mitteilte, dass sie fortgehen würde, lächelte dann resigniert wie über etwas Unvermeidliches und nickte schwer.
»Nach Edo, nicht wahr?«, sagte er. »Wenn ich kein Gasthaus zu führen und kein Dorf zu verwalten hätte, käme ich mit dir. Es ist ein weiter Weg«, fügte er hinzu und zog langsam an seiner Pfeife. »Einundachtzig Ri. Dauert sieben bis zehn Tage, würde ich sagen, vielleicht länger. Hängt davon ab, wie viel Schnee noch auf den Passhöhen liegt. Lass dir von mir einen Rat geben. Die Leute haben es am Anfang immer viel zu eilig. Nimm es mit der Ruhe, schreite gleichmäßig aus und achte auf deine Füße. So wirst du noch am Ende in guter Verfassung sein. Und sorge dafür, dass du abends noch vor Einbruch der Nacht einen Gasthof erreichst. Bei Dunkelheit solltest du nicht in den Bergen wandern.
Dieser Shin. Das ist ein guter Bursche und ein tapferer dazu. Er wird auf dich aufpassen. Und denk daran: Halte die Augen nach deinem Vater offen, wenn du in Edo bist. Er wird nach dir Ausschau halten.«
Sachi nickte.
»Ich werde immer wissen, dass ich hier einen Vater habe.« Sie fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen.
Am nächsten Tag brachen sie auf. Otama war lange vor dem Morgengrauen aufgestanden, hatte in den Wäldern Farne und Schachtelhalmschösslinge gesucht, um sie für sie zu kochen. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, während sie das Zubereitete in lackierte Holzkästchen legte - das Letzte, was sie je für ihr Kind würde tun können. Sachi weinte auch. Es erschien ihr zu grausam, für so kurze Zeit heimgekommen zu sein und gleich wieder fort zu müssen, um eine Mutter zu suchen, die vielleicht nicht mehr als ein Geist war.
Doch jetzt, nachdem Sachi ihren Entschluss gefasst hatte, wusste sie, dass es für sie alle das Richtige war. Sie musste versuchen, ihre Mutter zu finden; Taki gehörte ganz und gar nicht in dieses Dorf und sehnte sich danach, wieder in Edo zu sein, wo sie, wenn sie Toranosuké auch nicht zu sehen bekäme, ihm doch zumindest ein bisschen näher wäre; und Shinzaemon - der musste einfach weiterziehen. Er hatte ja sowieso nur zwei Tage bleiben wollen. So herzzerreißend es auch war, sie konnten nicht hierbleiben.
Yuki nickte gefasst, als Sachi ihr sagte, dass sie nicht mitkommen könne. Sie hatte hier ein neues Zuhause gefunden. Chobei und sie waren Spielkameraden geworden, und Otama und Jiroemon waren gerne bereit, ihr die Eltern zu ersetzen, die sie verloren hatte. Gleichwohl war Yuki ein Kriegerkind. Sachi wusste, dass Yuki im Dorf nicht allzu lange glücklich sein würde, und versprach ihr, sie zu sich zu nehmen, falls sie das wollte, sobald sich die Dinge wieder beruhigt hatten.
Sachi nahm nur den Brokat mit. Den Rest ihrer Habe ließ sie mit der Anweisung zurück, ihre Gewänder zu verpfänden, falls die Familie Geld brauchte.
Die drei Reisenden hatten so wenig Gepäck, dass sie nur zwei Packpferde mieten mussten. Sie kleideten sich in Umhänge, Beinkleider und breite Reisehüte aus Stroh. Sachi und Taki benutzten ihre Schwertlanzen als Wanderstäbe. Jiroemon, Otama, Yuki und die Kinder begleiteten sie zum Dorfausgang und winkten und verbeugten sich, bis sie außer Sichtweite waren. Genzaburo war auch dabei, grinste und rief ihnen nach: »Wir sehen uns in Edo!« Der Geruch nach Holzrauch und Misosuppe, das Hundegebell und das Krähen der Hähne verloren sich in der Ferne. Als das Dorf hinter ihnen immer kleiner wurde, hörte Sachi noch Otamas leiser und leiser werdenden Ruf: »Komm bald zurück«, wiederholt von Jiroemons rauerer Stimme. Mit Tränen in den Augen murmelte sie das Haiku, das Basho geschrieben hatte, als er in Kiso gewesen war, wenn auch zu einer anderen Jahreszeit:
»Okuraretsu Erst Geleit für dich,
Okuritsu hate wa Dann Geleit für mich; und nun
Kiso no aki Ist Herbst in Kiso.«
Wahrhaftig, das Leben war nichts als eine Abfolge von Begegnungen und Abschieden, Menschen kamen sich nahe, nur um dann wieder auseinandergerissen zu werden. Und am Ende dieser Reise gab es wieder einen Abschied, wenn Shinzaemon sich der Miliz anschloss. Mit einem Seufzer schob Sachi den Gedanken beiseite.
Sogar hier in den Bergen, wo der Schnee eben erst zu tauen begann, wagten sich bereits ein paar Kirschblütenknospen hervor. Den letzten Frühling hatte Sachi in der Burg erlebt. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit den anderen Hofdamen in die Gärten gegangen war, um die zarten Blüten zu bewundern und mit verklärtem Blick über die Kürze ihrer Schönheit und die Vergänglichkeit des Lebens nachzusinnen. War das erst vor einem Jahr gewesen?
Als sie sich vom Dorf entfernten, hörten sie Wasser rauschen und erhaschten einen Blick auf den Kiso, der weit unter ihnen glitzerte. Die Straße wand sich in die Wälder hinauf, durch Honokizypressen- und Kieferngehölze und Schneisen mit raschelndem Bambus. Der Pfad war gepflastert und in Stufen angelegt, wenn er zu steil wurde. Wie Jiroemon geraten hatte, schritten sie langsam und gleichmäßig aus. Sie hatten Glöckchen um ihre Fußgelenke gebunden, um die Schwarzbären abzuschrecken, die in den Bergen hausten. Wenn sie an Bäche und Flüsschen kamen, benutzten sie die Trittsteine oder sprangen von Fels zu Fels. Weit unten hörten sie Glockengeklingel von den Packpferdkolonnen, die sich am Talgrund ihren Weg bahnten, und den dumpfen Trott der Ochsen vor den mit Reis oder Stroh oder Salz beladenen Karren.
Es tat gut, wieder unterwegs zu sein. Manchmal ging Shinzaemon mit beschwingten Schritten voraus, manchmal bildete er die Nachhut, um die Träger und Packpferde im Auge zu behalten. Verstohlen ließ Sachi den Blick über seinen breiten Rücken und das ungebärdige, zu einem glänzenden Pferdeschwanz gebundene Haar gleiten und lauschte auf das Knirschen seiner Strohsandalen auf der festgestampften Straße und seine tiefe Stimme, wenn er die Träger antrieb. Sie wünschte, sie könnte die Zeit verlangsamen, jeden Augenblick zu einer Stunde ausdehnen.
Sie waren tief in den Bergen, auf einem wenig begangenen, dicht bewaldeten Stück der Überlandstraße, als Sachi raue Stimmen hörte. Um sie herum standen dicht an dicht hohe Bäume mit dicken Stämmen. Sachi packte die Schwertlanze fester. Männer stürzten zwischen den Bäumen vor ihnen heraus, schwangen Stäbe und Sicheln. Banditen.
Einer preschte direkt auf Sachi zu, schob sein Gesicht nahe vor ihres.
»Zoll«, knurrte er, hielt seine schmutzige Hand auf. Er sprach im Kiso-Dialekt. »Gib uns tausend Kupfer-Mon.«
Der Mann hatte ein dünnes, spitzes Gesicht wie eine Ratte. Sein Mund war eine gähnende Höhle mit ein paar gelben Zähnen zwischen schwarzen Stümpfen. Seine Kleidung war zerrissen und dreckig, doch seine Arme waren sehnig, und seine kleinen Augen funkelten gierig. Sein Haar war zu einem schmierigen Knoten gebunden. Sachi hatte von solchen Gestalten gehört, Abschaum, der sich in den Glücksspielkaschemmen im ärmsten Teil der Stadt herumtrieb. In normalen Zeiten wären sie nicht mal in ihre Nähe gekommen. Was war aus den Beamten geworden, die die Fernstraßen kontrollierten? Anscheinend war die Ordnung, die man stets für selbstverständlich gehalten hatte, vollkommen zusammengebrochen. Sachi wich angewidert zurück, aber der Mann machte noch einen Schritt auf sie zu.
»Nein, ich sag dir was.« Mit einem Rucken des Kopfes deutete der Mann auf die Pferde. »Wir nehmen die. Das reicht uns.« Einige der Männer griffen bereits nach den Zügeln der Packpferde. Sie würden den Brokat stehlen!
Sachi schaute sich verzweifelt um. Zehn, vielleicht zwanzig Banditen gegen sie, Taki und Shinzaemon. Sie wollte gerade die Scheide von ihrer Schwertlanze ziehen, als der Mann ihre Handgelenke packte, sie mit seinen knochigen Händen fest umschloss. Trotz seiner Dürre war er sehr stark. Sachi wehrte sich heftig, Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen.
Plötzlich ein zischendes Einatmen. Raue Stimmen keuchten »Hora!«, gefolgt von völliger Stille. Die Banditen waren wie erstarrt. Sachi blickte sie erstaunt an. Ihre Münder standen offen, und die Augen traten ihnen aus dem Kopf.
Sie wirbelte herum. Shinzaemon kam von hinten. Er hatte den rechten Ärmel seines Kimono zurückgeschlagen, um seinen Schwertarm frei zu haben, und auf seiner stämmigen Schulter leuchtete die Kirschblütentätowierung. Einige der Banditen und Pferdeknechte, die ihre Packpferde führten, hatten ebenfalls Tätowierungen, die sie von den Ellbogen über die Knie bis zum Nacken wie eine zweite Haut bedeckten - Bilder von Kriegern, Geishas und Kabuki-Schauspielern, kunstvoll gestochen und koloriert, wie prächtige Holzblockdrucke. Shinzaemons Tätowierung war völlig anders. Sie war schlicht und unaufdringlich.
Er hielt sein Schwert in der Hand. Der Reihe nach blickte er die Männer an und runzelte leicht die Stirn, dann glitt ein flüchtiges Grinsen über sein Gesicht, als freute er sich auf einen Spaß.
Im nächsten Moment sanken die Banditen auf dem steinigen Pfad auf die Knie und schlugen ihre Köpfe gegen den Boden.
»Verzeihung, Meister, Verzeihung«, stotterten sie. »Vergib uns, vergib uns. Hab Erbarmen.«
Shinzaemons Grinsen wurde breiter. Wehmütig betrachtete er sein Schwert und steckte es dann langsam und gemächlich zurück in die Scheide. Er zog den Kimonoärmel herab und ruckte mit dem Kinn. Die Banditen gaben Fersengeld und flohen in den Wald.
Sachi hatte verblüfft zugeschaut. Die Tätowierung hatte keineswegs die gleiche Wirkung auf die Soldaten aus dem Süden gehabt, denen sie begegnet waren. Es gab so vieles, was sie über Shinzaemon nicht wusste - wo er gewesen war, was er in seinem Leben getan hatte.
»Na«, sagte Taki mit leiser Stimme, als sie wieder unterwegs waren. »Da haben wir ja Glück gehabt. Wenn Shin dabei ist, brauchen wir uns also keine Sorge mehr wegen Banditen zu machen.«
 
An diesem Abend kehrten sie bei der Poststation in einem einfachen Gasthof ein, in dem auch gewöhnliche Reisende - wie sie es zu sein vorgaben - übernachteten. Männer und Frauen schliefen im selben Raum des Gasthofs und mussten sogar ihr Bettzeug selbst ausbreiten.
Nachdem sie sich eingerichtet hatten, setzten sich Sachi und Shinzaemon auf eine Bank vor dem Gasthaus. Sterne funkelten am schwarzen Himmel. Es war so dunkel, dass man nicht mal die Umrisse der Berge sehen konnte. Wasser rauschte durch die Abflussgräben, und hin und wieder raschelten Tiere in den Büschen und dem Unterholz des Waldes hinter ihnen.
Sachi zog an ihrer langstieligen Pfeife. Wie alle im Frauenpalast, wo sie sich das Rauchen angewöhnt hatte, genoss sie ein gelegentliches Pfeifchen. Das Holzkohlestück glühte rot, und Funken erhellten die Dunkelheit. Sie saßen nahe beieinander, ohne sich direkt zu berühren.
»Noch nie habe ich die Sterne so strahlend gesehen«, sagte Shinzaemon leise. »Ich hätte nie erwartet, an so einem Ort zu sein mit … jemandem wie dir.«
Sie unterhielten sich lange. Sachi erzählte ihm von ihrer Kindheit im Dorf - vom Schwimmen im Fluss, wie Genzaburo einmal mit einem wilden Eber gekämpft hatte, von den Jahreszeiten in den Bergen, den Prozessionen, die durchs Dorf kamen, und den Daimyo, die im Gasthaus abstiegen. Schließlich erzählte sie ihm von der Prinzessin, von der Prozession, die so lang gewesen war, dass ihr Durchzug vier Tage gedauert hatte, und wie die Prinzessin Sachi entdeckt und angeordnet hatte, sie mitzunehmen. Da endete ihre Geschichte. Sie erzählte ihm nichts vom Palast oder dem Shogun, und er stellte keine Fragen.
»Ich habe auch viel Zeit in den Bergen verbracht«, sagte er. »Ich bin mit den Bärenjägern losgezogen, als ich noch ein Kind war. Ich habe mich viel geprügelt. Meine Eltern waren immer wütend auf mich. Aber dann fand ich etwas Sinnvolles für mein Schwert.«
»Was ist mit deiner Tätowierung?«, fragte sie schüchtern. »Magst du mir davon erzählen?«
»Ich wollte immer meine Schwertkunst verbessern, vor allem, nachdem der ganze Ärger begann. Ich habe ein Jahr in der Militärakademie von Edo verbracht. Dann hörte ich von einem Schwertkampfmeister, der der letzte Verfechter einer bestimmten Technik war, genannt ›Die Hand Buddhas‹. Damals war er bereits im Ruhestand. Ich begab mich dorthin und blieb eine Weile bei ihm im Schneeland. Er war ein großer Meister. Nachdem wir aufgenommen worden waren, wurde uns Schülern erlaubt, uns eine Kirschblüte auf die Schulter tätowieren zu lassen, wie er sie hatte. Die Banditen in ganz Zentraljapan scheinen diese Tätowierung zu kennen. Seitdem habe ich mit ihnen keinen Ärger mehr gehabt. Sie fürchten sich vor meinem Meister, nicht vor mir. Oder vielleicht ist es die Hand Buddhas. Vielleicht wollen sie lieber nicht herausfinden, worum es bei dieser geheimen Technik geht.«
Sie hörte ihn in der Dunkelheit leise lachen.
Beide erwähnten sie die Zukunft nicht. Mit jedem Tag, der verging, kamen sie Edo und dem Augenblick der Trennung näher. Dadurch wurde jeder gemeinsame Moment umso kostbarer.
 
Tag für Tag wanderten sie, erschienen klein unter den hoch aufragenden Felsgraten, wie winzige Figuren auf einer Tuschzeichnung. Manchmal war die Straße bevölkert, zu anderen Zeiten wanderte ihre kleine Gruppe allein. Mühsam erklommen sie schneebedeckte Pässe, blickten ehrfürchtig zu den steilen Gipfeln über ihnen hinauf. Sie beteten an den Schreinen auf der Passhöhe, baten die Götter, ihnen Schutz zu gewähren. Gelegentlich kamen sie zwischen Bäumen hindurch, die bis in den Himmel ragten, und deren Äste so tief über der Straße hingen, dass es dunkel war wie in der Nacht. Sie kletterten über Felsen, wankten über dürftige Brücken, die über schwindelerregenden Abgründen schwankten, wateten durch Wasserfälle und Flussläufe und bahnten sich den Weg über Eisfelder und durch Schnee. An manchen Stellen, wo der Schnee schon geschmolzen war, mussten sie sich durch kniehohen Schlamm kämpfen.
Sie waren zu einem Teil der endlosen Prozession geworden, die die Fernstraße bevölkerte. Sie stapften weiter, hielten hier und da an, um die Bänder ihrer Strohsandalen zu richten und ihre verkrampften Beine und schmerzenden Füße zu reiben. Sie trugen Ersatzsandalen am Gürtel und warfen die alten, zerrissenen fort. Wenn es regnete oder das Wetter kalt wurde, zogen sie Regenmäntel aus Stroh über und wirkten dann wie kleine, wandernde Heuhaufen. Brannte die Sonne vom Himmel, suchten sie Zuflucht unter Strohhüten. In ihrer verschmutzten Reisekleidung hätte niemand je vermutet, dass Sachi und Taki Hofdamen waren.
Jeden Morgen zog Sachi ein Paar neue Strohsandalen an, schürzte ihre Kimonoröcke, nahm ihre Schwertlanze und stapfte voller Entschlossenheit los. Mit jedem Tag, der verging, fühlte sie sich kräftiger. Aber sie war auch müde. Ganz gleich, wie oft sie die Strohsandalen wechselte, ihre Füße wurden immer aufgeriebener und wunder.
Taki schritt ebenfalls wie ein Landmädchen aus. Sie hatte Farbe in ihren ehemals bleichen Wangen, und ihre Augen funkelten. Sie beschwerte sich nicht mehr über Kälte und Unbill. Sachi konnte ihr ansehen, wie aufgeregt sie war, auf dem Weg nach Edo zu sein, nach Hause zu kommen.
Auch Sachi hätte aufgeregt sein sollen. Sie kehrte in den Palast zurück, zur Prinzessin - an den Ort, wo sie, wie sie sich immer wieder sagte, ihre Mutter finden würde. Doch mit jedem vergehenden Tag näherte sie sich auch dem Augenblick, an dem sie von Shinzaemon Abschied nehmen musste.
Abends saßen Shinzaemon und Sachi zusammen. Manchmal unterhielten sie sich, manchmal schwiegen sie. Sie sprachen über die Ereignisse des Tages, über ihre Kindheit, über Bücher, die sie gelesen hatten, und Musik und Gedichte, die sie mochten. Gelegentlich streiften sich ihre Hände. Beiden war bewusst, dass sie etwas Ungebührliches taten, doch solange sie unterwegs waren, blieben sie anonym. Außerdem zogen sie in den Krieg. Shinzaemon war darauf vorbereitet, zu sterben, und auch Sachi hatte keine Ahnung, was mit ihr geschehen würde.
Sieben Tage, nachdem sie das Dorf verlassen hatten, erklommen sie den Usui-Pass, den letzten der vier hohen Pässe auf der Inneren Bergstraße. Der Aufstieg war mühsam. Während sie keuchend in der dünnen Luft standen, blickten sie hinaus auf die Kanto-Ebene. Irgendwo da unten lag Edo. Schattenhafte Gipfel erhoben sich in der Ferne, umsäumten die Ebene wie die Zinnen einer Festung. Shinzaemon deutete auf die kantigen Umrisse der Berge Miyogi, Haruna und Akagi. Weit weg im Süden, schimmernd am Horizont, lag - wie ein geisterhafter Schemen - der vollkommene Kegel des Berges Fuji. Sie beteten am Kumano-Schrein auf der Passhöhe, zogen dann weiter, schlitterten und rutschten über tückischen Schiefer, am Bergkamm entlang und hinunter zur Poststation von Sakamoto. Je tiefer sie hinabkamen, desto wärmer wurde es. Es war wie der Übergang vom Winter zum Frühling.
Am folgenden Abend erreichten sie die Burgstadt Takasaki. Noch vor der Morgendämmerung brachen sie wieder auf. Die am Stadtrand an Kreuzen hängenden Leichen - als Warnung für Gesetzlose, das Chaos nicht zu Angriffen auf Reisende auszunutzen - konnten ihnen gar nicht entgehen. Die Berge türmten sich hinter ihnen auf, monströse Formen in der Dunkelheit, die in den Himmel ragten. Von nun an würden sie über die Ebene wandern.
Um die Stunde des Pferdes, als die Sonne hoch am Himmel stand, kamen sie an einen Fluss, der zu breit und reißend war, um ihn zu durchwaten.
»Der Toné«, sagte Shinzaemon. »Sobald wir den überquert haben, liegt nur noch das letzte Wegstück vor uns.«
Der Fluss führte Hochwasser, war angeschwollen vom schmelzenden Schnee. Die Häuser auf der anderen Seite sahen aus, als stünden sie in einer gemalten Landschaft. Am Ufer warfen die Menschen ängstliche Blicke über das Wasser. Ein uraltes flaches Fährboot kam in gefährlichem Zickzackkurs auf sie zu, schwerfällig von einem kahlköpfigen Fährmann mit einer langen Bambusstange gestakt, während ein anderer am Bug kauerte und steuerte. Der Wind raschelte im Schilf am Rand des Wassers.
Ein knorriger alter Mann mit einem Geldgürtel um den Bauch knurrte etwas in einem so ungeschlachten Dialekt, dass Sachi ihn nur mit Mühe verstand.
»Was? Das ist zehnmal so viel wie der übliche Preis!«, brüllte Shinzaemon. »Gieriger Schuft! Das Land steht in Flammen, und du kannst nur daran denken, wie viel Geld du dabei herausschlagen kannst?«
»Tut mir leid, werter Herr«, quäkte der Alte. »Das ist der Fahrpreis, Euer Gnaden. Nehmt ihn hin oder lasst es. Oder sucht euch einen anderen Überweg.«
Das Fährboot kam knarrend und ächzend auf sie zu, so vollgepackt, dass es aussah, als würde es unter dem Gewicht der Menschen und Güter sinken. Der Fährmann stützte sich schwer auf seine Stange, schien bei jedem Staken beinahe ins Wasser zu fallen. Am Heck drängten sich Träger, standen jämmerlich um einen Haufen Stahlkassetten, zitternd und bleich, mit nichts bekleidet als einem Lendenschurz. Am Bug waren ein paar gut genährte Gestalten zu sehen, die wie die Besitzer der Träger aussahen. Sie hatten etwas Verstohlenes an sich, schauten von Zeit zu Zeit über die Schulter, als fühlten sie sich verfolgt. Ihr Tuch über das Gesicht gezogen, beobachtete Sachi sie neugierig.
Sie wirkten wie Kaufleute aus Edo, wie jene, die zum Verkauf von Seidenballen in den Palast kamen. Sie trugen teure Gewänder aus prächtigen Stoffen, schlicht von außen, aber mit schimmerndem Futter, das am Hals und den Ärmelaufschlägen zu sehen war. Am Ufer in Sachis Nähe standen weitere Träger, bewachten Stahlkassetten und Truhen und wurden wiederum von Wachleuten überwacht. Aber an diesen angeblichen Kaufleuten war etwas Merkwürdiges. Bei den Männern am Rande der Gruppe ragten zwei Schwerter unter Städterumhängen hervor, und sie schienen die drei in der Mitte zu beschützen, deren Gesichter unter Reisehüten verborgen waren.
Mit einem großen Wasserschwall schob sich der Bug der Fähre aufs Ufer, und die drei Männer traten an Land, so nahe von Sachi, dass sie die Hand hätte ausstrecken und sie berühren können. Als sich der erste Mann an ihr vorbeidrängte, blähte der Wind seinen Ärmel auf, und für einen Augenblick hing ein Hauch von Parfüm in der Luft. Sachi schloss die Augen und atmete ein. Eine Pflaumenblütenmischung, mild und süß, ein Winterduft mit einem Hauch von Kamelien. Dieser Mann ist kein Kaufmann, dachte sie. Kein Kaufmann würde Zugang zu einem so exquisiten Duft bekommen oder ihn tragen dürfen. Und es hatte etwas Vertrautes, setzte eine verschwommene Erinnerung frei.
Für einen Augenblick war sie wieder im Palast, glitt durch die großen Gemächer mit ihren Kassettendecken und den goldschimmernden Wänden, während der wattierte Saum ihrer Schleppe hinter ihr herrauschte. Die Frauen, an denen sie vorbeikam, plauderten und lachten; jede trug ihr eigenes, charakteristisches Parfüm. Aber es war keines dieser Parfüms, das Sachi roch. Sie eilte weiter, zusammen mit Taki, folgte der Dame Tsuguko, die vor ihnen herschritt und deren langes, mit Grau durchsetztes Haar über den Boden fegte. Aber wohin, und warum? Sachi tastete in ihrem Gedächtnis, versuchte sich zu erinnern. Der Duft weckte ein schreckliches Gefühl der Vorahnung in ihr.
Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Hand des Mannes. Sie war weich und weiß, fleischig und manikürt wie die einer Frau. Plötzlich kam die Erinnerung zurück. Die Hand hatte sich auf die Tatami im Audienzsaal der Prinzessin gedrückt. Der Duft war so überwältigend, dass ihr schwindlig wurde. Der seidige Tonfall eines Mannes hallte in ihren Ohren nach, flüsterte in der verklausulierten Sprache des Hofes immer wieder, dass Seine Majestät, der Shogun, schwer erkrankt sei.
Seine Majestät, der Shogun. Sie sah seine glatte, bleiche Brust, sein jungenhaftes Lächeln. Sie hatte geglaubt, mit der Zeit würde der Schmerz nachlassen, doch sie merkte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen. Dann stellte sie sich vor, wie die Prinzessin hinter ihren Wandschirmen weinte, und hörte sie fragen: »Oguri. Die Krankheit Seiner Majestät - hat sie eine natürliche Ursache?« Oguri. Das war sein Name gewesen.
Unbesonnen hob sie den Kopf. Das nichtssagende, teigige Gesicht mit dem unsteten Blick des ewigen Höflings war nicht zu verkennen. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Ihm war keine Regung anzumerken. Natürlich nicht. Sie war an jenem Tag verborgen gewesen. Er hatte sie nicht sehen können.
Ein jüngerer Mann folgte ihm, fast noch ein Junge, nicht älter als Tatsuemon. Dann kam der dritte. Sachi war so in Gedanken versunken, so entgeistert, Herrn Oguri wiederzusehen, dass sie ihr Tuch losließ. Sie wusste, dass ihre weiße Haut, die zarte Nase und die dunkelgrünen Augen in der Menge auffielen, und es war wichtig, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber da alle so sehr mit sich beschäftigt waren, würde niemand es bemerken. Außerdem hatten diese Männer sie noch nie zuvor gesehen. Sie bedeutete ihnen nichts.
Sie erkannte das zerfurchte, habichtartige Gesicht des Dritten - ein dunkelhäutiges Gesicht mit starken Kieferknochen, von Pockennarben verunstaltet und mit einem von Natur aus verdrießlichen Mund. Der Samurai-Haarknoten des Mannes lag hart und glänzend auf seinem gebräunten, lederartigen Schädel. Das war Herr Mizuno, der an dem schrecklichen Tag Herrn Oguri begleitet hatte.
Ihre Blicke trafen sich - und sein Gesicht verzog sich in blankem Entsetzen. Sein dicklippiger Mund klappte auf, und er stolperte rückwärts, als hätte er einen Geist gesehen.
»Geh weg! Geh weg! Lass mich in Ruhe! Verschwinde!«, brüllte er. Sein Schwertarm zuckte - sie erinnerte sich an dieses seltsame Zucken -, und die Wachen legten die Hand an den Schwertgriff. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, sein Mund war zu einem stummen Schrei weit geöffnet.
Oguri wirbelte herum und funkelte ihn an.
»Sei still«, zischte er mit erstickter Stimme. »Willst du uns alle mit deinem Wahnsinn vernichten?«
Leibwächter schoben die Leute zur Seite, um den Weg frei zu machen; die Männer drängten sich durch die Menge und kletterten in Palankine. Herr Mizuno schaute immer noch zurück, starrte Sachi mit wildem Blick an. Sie sah ihnen nach, als sie vom Fluss in Richtung der Berge verschwanden, gefolgt von einer langen Trägerkolonne, die unter dem Gewicht der Stahlkassetten schwankte, vier Männer für eine Kassette.
Taki trat dicht an Sachi heran. »Diese Männer … Hast du sie gesehen?«, murmelte sie. »Waren das nicht …?«
Doch Sachi verharrte immer noch ungläubig und bestürzt über Mizunos Verhalten. Was konnte das nur bedeuten? War es ihm irgendwie gelungen, sie an jenem Tag zu sehen? Bestimmt nicht. Er konnte keinesfalls wissen, wer sie war. Aber ein anderes Zusammentreffen hatte es nicht gegeben. Bis auf diesen einen Tag hatte sie niemals Männer im Frauenpalast gesehen. Und diese Männer dann hier auf der Straße wiederzutreffen … Sie grübelte, was er in ihrem Gesicht gesehen haben könnte, um derart heftig zu reagieren.
»Um Edo muss es sehr schlimm stehen, wenn selbst die sich davonmachen«, flüsterte Taki. »Und wie er dich angeglotzt hat, was sollte das bedeuten?«
Sachi schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich sind sie nicht daran gewöhnt, Frauen so frei reisen zu sehen«, flüsterte sie und errötete, brannte vor Scham, dass sie törichterweise das Tuch hatte fallen lassen und damit die Aufmerksamkeit dieser Männer auf sich gelenkt hatte. Nie wieder durfte sie so achtlos sein.
Die Fähre in Richtung Edo war fast leer. Außer Sachi, Taki, Shinzaemon und ihren Trägern beförderte sie nur noch zwei Bauern. Das Wasser rauschte wild, der Fährmann konnte sich nur an seine Stange klammern, während das Boot über die Wellen schaukelte. Sachi, Taki und Shinzaemon wurden von einer Seite zur anderen geworfen, und ein kalter Wind fuhr durch ihre dünne Baumwollkleidung. Eisige Gischt besprühte sie in stechenden Schwaden. Möwen flatterten über ihnen, und Wildgänse kreischten.
Das Edo-Ufer war voller Menschen mit verängstigten Gesichtern und Unmengen von Gepäck. Die Leute stießen und drängten, schubsten einander aus dem Weg, schrien: »Meine alte Mutter ist krank, sie muss als Erste hinüber«, »Wir sind in Eile, wir waren zuerst da.« Der Fährmann schob sie weg, brüllte: »Tretet zurück. Das Boot ist voll.« Die am Bug zusammengepferchten Menschen klammerten sich an die Bordwände. Als die Fähre abfuhr, lag sie gefährlich tief im Wasser.
Die drei Reisenden wanderten durch Wälder und über Moore und zwischen braunen Reisfeldern hindurch, frisch gepflügt und bereit für das Auspflanzen. Tempel und Dörfer ragten wie Inseln in einem grünen Meer auf, und Läden und Stände säumten die Überlandstraße. Wolken trieben über den Himmel. Bis Edo waren es nur noch zwanzig Ri - nur noch ein oder zwei Tage mehr.
Shinzaemon verlangsamte seinen Schritt und ging neben Sachi her. Von Zeit zu Zeit schaute sie zu ihm auf, um sich seinen Anblick ins Gedächtnis einzuprägen, wusste sie doch, wie wenig Zeit ihnen noch blieb.
Als sie sich Edo näherten, begegneten ihnen grimmig dreinblickende Flüchtlinge, die müde voranschlurften und mit Hab und Gut hoch beladene Karren zogen. Die Straße war voll von ihnen. Es gab lange Prozessionen von Palankinen und Sänften, im Trab vorbeigetragen, denen Diener vorausliefen, gefolgt von Packpferdkolonnen und Trägern mit Körben und an Stangen befestigten Truhen. Die Ärmeren trotteten beladen mit Bündeln voll Bettzeug und Kleider dahin, überholten Fuhrwerke, gezogen von trägen Ochsen. Kahlköpfige Mönche, Gebete murmelnde Nonnen und zerlumpte Bettler, nur noch Haut und Knochen, baten um Almosen. Pilgergruppen wanderten dahin, plauderten und schwatzten, als hätte sich nichts auf der Welt geändert.
Einige summten diesen trotzigen, hoffnungslosen Refrain: »Ee ja nai ka? Ee ja nai ka? Was soll’s? Was soll’s?« Andere nahmen den Refrain auf, und bald war die ganze Straße voll mit singenden Menschen, manche leise, andere aus voller Kehle. Je öfter sie den sinnlosen Spruch wiederholten, desto wilder wurden ihre Blicke. Manche begannen zu hüpfen und zu singen. Da sowieso alles zerfällt, schien das Lied zu besagen, was kann man dann noch anderes tun, als die Hände zu recken und zu tanzen?
Sachi und Taki musterten die ausdruckslosen, erschöpften Gesichter und fragten sich, ob wohl Frauen aus dem Palast unter ihnen waren. Hin und wieder ertönte ein warnender Ruf aus der Ferne. Während die Menschen hastig aus dem Weg traten, eilte ein Palankin vorbei, dessen Träger mit ihren in Strohsandalen steckenden Füßen den Staub aufwirbelten.
Sachi und ihre Begleiter waren die Einzigen, die auf Edo zugingen. Alle anderen flohen aus der Stadt.
Bei Honjo überquerten sie die lange Brücke über den Kanna und machten in einem Teehaus auf der anderen Seite Rast. Einige Männer saßen dort und rauchten kleine Pfeifen. Sie waren wie Städter gekleidet, redeten aber wie Samurai. Alle Welt schien verkleidet, niemand wagte noch zu zeigen, wer er wirklich war.
»In welche Richtung wollen Sie?«, fragte einer von ihnen, ein unscheinbarer kleiner Mann - sein falscher Haarknoten war ein wenig verrutscht -, der aussah, als hätte er sein Leben lang über Kontobüchern gesessen, untergebracht in einem dieser jämmerlichen Wohnblöcke, in denen die niederrangigen Samurai lebten. Sachi vermutete, dass er keine Ahnung hatte, was zu tun sei, falls er je in einen Kampf geriet.
Shinzaemon zog an seiner Pfeife und ruckte mit dem Kopf nach Süden, in Richtung Edo.
Mit einem scharfen Zischen sog der Mann die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Würde ich nicht machen«, murmelte er, blinzelte durch seine Brille und blickte über die Schulter. »Alle sehen zu, dass sie rauskommen. Die Stadt ist tot. Die Soldaten aus dem Süden haben die Tore übernommen. Sie haben eine Kontrollstation in Itabashi und verhören jeden. Es heißt, sie wären auch in Shinagawa. Sie haben die Kontrolle über die Innere Bergstraße und die Östliche Küstenstraße. Die Stadt steht unter Belagerung. Ich würde auf der Stelle umkehren, wenn ich Sie wäre. Wenn Sie weitergehen, stoßen Sie direkt auf sie.«
»Wir sind bloß Frauen«, warf Sachi ein. Sie sprach im Kiso-Dialekt, um zu verbergen, dass sie eine Hofdame war. »Uns werden sie nichts tun.«
»Sie können nicht einfach durch die Straßen laufen.« Der Mann trank nervös von seinem Tee. »Nicht als Frauen. Das ist viel zu gefährlich. Die meisten Samurai sind fort. Niemand sorgt noch für Ordnung. Polizisten sind nirgends zu sehen. Überall lungern Diebe und Straßenräuber herum. Die haben freie Bahn.«
»Die meisten dieser sogenannten Straßenräuber sind aus dem Süden«, mischte sich ein anderer Mann ein. Auch er sah aus wie ein verkleideter Samurai. »Sorgen für Ärger.«
Sachi hätte am liebsten nach der Burg gefragt. Aber gewöhnliche Leute wie diese wussten nichts von der Burg oder ihren Bewohnern. Sie konnte nur zuhören und hoffen, irgendwelche Neuigkeiten zu erfahren.
Die Straße schlängelte sich durch Marschland und Reisfelder und große Äcker mit Färberdisteln, die gerade zu blühen begannen und sich bis zu den fernen Hügeln am Horizont erstreckten. Strohgedeckte Teehäuser und Stände boten den Reisenden in regelmäßigen Abständen Gelegenheit zur Rast. Hier und dort standen Kirschbaumhaine.
Sie trotteten gegen den Strom dahin, als sie vor sich eine Gruppe von Soldaten aus dem Süden sahen. Sie waren leicht auszumachen - gedrungene, stämmige Männer mit schmalen Augen und ledrigen Gesichtern, bekleidet mit diesen seltsam engen, schwarzen Uniformen. Manche trugen kegelförmige Helme, andere weiße Stirnbänder. Sie wirkten wie eine Bande von Schlägern, die sich von der Hauptarmee abgesetzt hatte und auf Ärger aus war, begierig darauf, sich mit den aus Edo Fliehenden anzulegen.
Angriffslustig standen sie da, versperrten die ganze Straße. Sachi erkannte, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als sich zwischen ihnen hindurchzuschlängeln. Sie ging rasch, den Kopf gesenkt, den Blick zu Boden gerichtet, in der Hoffnung, unsichtbar zu sein, wenn sie es sich nur fest genug einbildete. Sie war mitten zwischen den Soldaten, als sie den Blick hob und durch das Tuch spähte, das wie ein Schleier von ihrem Hut hing. Sie erschrak. Das konnte nicht wahr sein … Verzweifelt betete sie, dass er es nicht war. Sie kannte dieses dunkelhäutige, pockennarbige Gesicht.
Im selben Moment beugte sich der Mann vor und starrte sie an. Eine schmutzige Hand schoss vor und riss ihr den Hut vom Kopf. Sie fasste danach, aber er war fort.
»Na, wenn das nicht …«, rief er. »Dieses Bauernmädchen. Das hübsche kleine, bleichgesichtige Bauernmädchen.«
Er packte sie an den Kleidern und zog sie zu sich. Sie wehrte sich heftig, aber er war sehr stark.
»Erinnerst du dich an mich?«, höhnte er, rieb sein schmieriges Gesicht an ihrem. Er plierte sie aus seinen kleinen, eng zusammenstehenden Augen an. Er stank nach Schmutz und altem Schweiß. Sachi drehte den Kopf weg und wich angeekelt zurück. Sie wusste, dass Bauern als leichte Beute galten und Bäuerinnen erst recht. Die Samurai hatten das Recht, einem Bauern straflos den Kopf abzuschlagen - wobei Sachi kaum glaubte, dass dieser Mann ein Samurai war. Außerdem befanden sie sich im Krieg, und die Soldaten taten, was ihnen gefiel. Passanten verlangsamten den Schritt, drehten sich um und glotzten. Sie wusste nur zu gut, dass keiner von ihnen auch nur im Traum daran dachte, einzugreifen oder sie zu verteidigen und dabei möglicherweise verletzt zu werden.
»Nein«, murmelte sie grimmig, versuchte den Mann wegzustoßen. Voller Furcht, nicht für sich selbst, sondern für Shinzaemon, blickte sie sich um, wollte sehen, was mit ihm und Taki geschah. Sie wusste, dass diese Männer nach ihm gesucht hatten, als sie in jener Nacht in das Haus ihrer Eltern eingedrungen waren.
Mit klopfendem Herzen stieß sie den Mann vor die Brust, so fest sie konnte. Er ließ sie los und stolperte rückwärts.
»Genug«, murmelte einer der anderen Soldaten. »Gehen wir. Sonst kriegen wir noch Ärger.«
Aber die Augen des Pockennarbigen glitzerten. Seine Hand lag auf dem Schwertgriff.
»Verzeihen Sie uns«, sagte Sachi im Kiso-Dialekt. »Es war unverzeihlich, Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Bitte erlauben Sie uns, dass wir weitergehen.«
Die Soldaten schienen lange zu zögern. Sachi machte noch ein paar Schritte durch die Menge, gefolgt von Taki und Shinzaemon. Passanten blieben stehen, um zuzuschauen, traten zur Seite, hielten sich in gebührendem Abstand. Rauch stieg von den Dächern der kleinen Läden auf, die die Straße säumten. Die Kirschbäume waren mit rosa Blüten bedeckt. Alles kam ihr sehr klar und scharf vor, als sähe sie es zum letzten Mal. Auch ihr Kopf war klar. Sie war bereit für alles, was geschehen mochte.
Einer der Soldaten trat auf sie zu, verstellte ihr den Weg.
»He, was macht ihr Bauern mit solchen Waffen?«, blaffte er. »Das ist gegen das Gesetz. Übergebt sie uns, dann könnt ihr weiterziehen.«
Dann knurrte der Pockennarbige: »Wartet!«
Er starrte Shinzaemon an. »Dieser Mann da. Den hab ich schon mal gesehen. Ist das nicht derjenige, der unsere Kameraden in Kiso abgeschlachtet hat? Dieser … dieser Gesetzlose. Und allein? Lass uns mal deine Schulter sehen, Bursche!«
Die Soldaten musterten ihn und nickten. Shinzaemon war stehen geblieben. Mit einem verächtlichen Kräuseln seiner Lippen ließ er den Blick über die Soldaten schweifen. Seine Stirn war vor Konzentration gerunzelt. Sachi erkannte, dass er sich die Chancen ausrechnete. Fünfzehn, vielleicht zwanzig von ihnen und er allein. Aber er musste zwei Frauen beschützen, daher konnte er kein Risiko eingehen. Er musste am Leben bleiben, ganz gleich, was geschah.
Er hat es all diese Jahre überlebt, sagte sie sich. Er wird noch nicht sterben, und wir auch nicht.
Sie hatte ihre Schwertlanze, die sie als Wanderstab benutzt hatte, in der Hand. Mit einem raschen Griff zog sie die Hülle und die Scheide ab. Einen Augenblick lang war Sachi wieder in der Übungshalle des Palastes. Sie meinte, die tiefe Stimme der Dame Masa zu hören, die sie ermahnte, nicht zu denken, Stille im Geist zu suchen, das Handeln ihrem Körper zu überlassen. Die Schwertlanze war schwer, schwerer als ein Übungsstock. Wenn sie die Waffe schwang, bekam diese ihre eigene Stoßkraft. Sie in der Hand zu halten, gab ihr das Gefühl, groß und stark und selbstsicher zu sein.
Sie blickte zu Taki. Nie hatte sie sie so lebendig gesehen. Takis Augen funkelten. Auch sie hatte ihre Schwertlanze aus der Scheide gezogen. Bisher hatten sie nie eine Gelegenheit gehabt, damit zu kämpfen. Dafür waren sie all die Jahre ausgebildet worden. Jetzt war der Moment gekommen, diese Ausbildung umzusetzen.
Wenn wir sterben, dachte Sachi, sterben wir alle drei zusammen. Sie richtete sich auf. Sie war bereit.
Ohne Vorwarnung zogen zwei der Soldaten ihre Schwerter und stürzten sich auf Shinzaemon. Aber er war schneller. Bevor sie ihn erreichen konnten, zischte sein Schwert aus der Scheide. Mit einem Schrei parierte er ihre Hiebe. Eine Hand flog durch die Luft. Die beiden Männer stolperten zurück. Der eine hielt immer noch seinen Arm ausgestreckt. Blut spritzte aus dem Stumpf.
Shinzaemon behielt die Soldaten im Auge, während er das Blut von seiner Klinge wischte.
Jetzt zogen mehrere Männer ihre Schwerter. Klingen blitzten in der Sonne auf. Füßescharren war zu hören. Metal traf mit ohrenbetäubendem Klirren auf Metall. Schreie und Stöhnen erklangen. Männer in schwarzen Uniformen taumelten rückwärts, Blut spritzte. Dem einen strömte Blut über den Arm, einem anderen hing das Kinn lose herab. Einer umklammerte seinen Bauch, aus dem die Gedärme hingen.
Shinzaemon stand nach wie vor. Taki hastete an seine Seite, schwang ihre Schwertlanze.
Sachi war direkt hinter ihr.
»Das sind keine Bauern«, hörte sie einen ihrer Angreifer rufen. Das war für alle offensichtlich, nachdem sie ihre Schwertlanzen enthüllt hatten. Nur Samurai-Frauen trugen solche Waffen und konnten damit kämpfen. Und sie waren nicht nur Samurai, sondern Frauen vom Hof in Edo, darin ausgebildet, gut genug zu kämpfen, um den Shogun zu verteidigen.
Der Pockennarbige sah seine Chance gekommen. Mit gezogenem Schwert trat er ihr in den Weg. Sachi hob ihre Schwertlanze.
»Mach bloß keine Dummheit«, höhnte er, verzog sein zernarbtes Gesicht zu einem Grinsen. »Du wirst dir nur selber wehtun.«
Er schob sich um sie herum, hielt sich in sicherem Abstand von ihrer Klinge. Sie stand ruhig da, die Lanze auf ihn gerichtet. Als er sich bewegte, bewegte sie sich mit ihm. Sie wusste, dass die Lanze eine größere Reichweite hatte als sein Schwert. Sie musste ihn auf Distanz halten. Wenn sie ihn auf Schwertlänge heran ließ, war er stärker als sie. Ihr Herz pochte laut, aber sie blieb konzentriert und achtete darauf, gleichmäßig zu atmen.
»Will dir ja nicht das hübsche Gesichtchen zerkratzen«, brüllte er über das Scharren und Klirren der Klingen. »Leg einfach diese dämliche Waffe ab, dann passiert dir nichts.«
Sachi schwieg. Sie hielt die Lanze in beiden Händen, verfolgte jede seiner Bewegungen. Wenn er in Reichweite kam, hatte sie ihn.
Sie tanzten vor und zurück. Grinsend machte er einen Schritt auf sie zu. Sie sah die Sonne in seiner erhobenen Schwertklinge funkeln. Mit einem Schrei machte sie einen Ausfall und schwang die Lanze, durchschnitt seine Hose und traf ihn an der Wade. Sie hob die Lanze und wirbelte herum, bereit für den nächsten Hieb. Er jaulte auf und sprang mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück. Der feuchte Fleck an seinem Hosenbein breitete sich aus.
»Jetzt bin ich aber wütend«, brüllte er. Sein Gesicht verdunkelte sich und schwoll an wie das eines Ochsenfroschs, als er sich auf sie stürzte und das Schwert mit beiden Händen schwang. Aber die Lanze war länger.
Sachi blieb ruhig, im Gleichgewicht, wartete. Er hob das Schwert. Sie sprang vor und fing den Schlag mit der Klinge ihrer Schwertlanze ab. Das Klirren war ohrenbetäubend. Die Kraft des Schlages ließ sie ein paar Schritte zurücktaumeln. Sie rutschte und streckte die Hand aus, um sich abzustützen. Als sie aufblickte, sah sie das Schwert durch die Luft auf sich zusausen. Bevor sie Zeit zum Atmen hatte, riss sie die Lanze hoch und parierte den Schlag. Dabei drehte sie die Klinge. Sie spürte den Luftzug, roch den abstoßenden Geruch des Mannes, als er unbeholfen vorwärtsstolperte, durch seinen eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht.
Sie sprang auf die Füße und wirbelte auf den Zehen herum, richtete die Schwertlanze auf seine Brust. Ihr Haar hatte sich gelöst und fiel ihr über das Gesicht. Sie spürte keine Angst, nur eine Art wilder Erregung.
Aus dem Augenwinkel sah sie Shinzaemon wie einen Wahnsinnigen kämpfen, stoßen, stechen, Schläge abwehren, Männern die Brust durchbohren und das Gesicht aufschlitzen. Taki war an seiner Seite, schlug mit ihrer Schwertlanze um sich, während sich blutige Körperteile der Angreifer vor ihnen häuften. Aber sie wurden durch den Ansturm unweigerlich zurückgedrängt. Sachi musste hier rasch fertig werden, um ihnen zu helfen.
Der Mann rappelte sich auf, brüllte wie ein verwundetes Tier. Abermals stürzte er auf sie zu. Sie sah den Hass in seinen kleinen schwarzen Augen. Die Geräusche und der Lärm des Kampfes - das metallische Klirren und Krachen, Shinzaemons Kriegsrufe, die Schmerzensschreie - traten in den Hintergrund. Eine unheimliche Stille senkte sich über sie. Auf der ganzen Welt gab es nur noch sie beide. Ihre Schwertlanze war zu einem Teil ihrer selbst geworden, einer Verlängerung ihres Körpers.
Sie konzentrierte sich auf seine Augen. Er schwang sein Schwert. Sie sprang zurück, als es auf die Klinge ihrer Lanze krachte. Dann schoss sie vorwärts und ließ sich auf das eine Knie fallen.
Sehr langsam und besonnen schwang sie die Lanze, zielte auf seine Kehle. Sie spürte die Schwere der Klinge, ihren Schwung, und hörte das Zischen, als sie im Bogen durch die Luft fuhr.
Dann wurde der pockennarbige Kopf plötzlich hochgeschleudert. Erstaunt betrachtete Sachi ihre Schwertlanze. Die Klinge war so glatt durch den muskulösen Hals des Mannes geglitten wie ein Messer durch Wasser.
Der kopflose Körper torkelte weiter, Blut spritzte wie eine Fontäne aus dem Hals, dann sackte er zur Seite und fiel zu Boden. Der Kopf rollte über die Straße und purzelte in den Abzugsgraben. Das Wasser teilte sich darum, floss rot an der Stelle, wo der Kopf hineingefallen war.
Sie erwachte wie aus einer Trance und warf sich ins Kampfgetümmel. Sie sah, dass Shinzaemon verletzt war. Er kämpfte linkshändig. Blut strömte aus seinem rechten Arm. Aber egal, wie viele ihrer Angreifer fielen, noch immer rückten andere nach.
Plötzlich gab es einen Knall, ohrenbetäubend laut. Sachi zuckte zusammen und sah sich hektisch um. Sie kannte das Geräusch, hatte es aber noch nie aus solcher Nähe gehört. Ein Schuss. Alle erstarrten. Dann folgte ein weiterer.
Die Hälfte der Soldaten lag auf dem Boden, stöhnte oder schrie vor Schmerz. Einige gaben keinen Ton mehr von sich. Taki und Shinzaemon stützten sich auf ihre Waffen, wischten sich Blut und Schweiß aus dem Gesicht. Ihre Kleidung war zerfetzt, ihr Haar stand in alle Richtungen ab. Aber bis auf die Wunde an Shinzaemons Arm schienen sie unverletzt zu sein.
Sachi lief zu ihm. »Mir geht’s gut«, sagte er, verzog das Gesicht und riss einen Streifen von seinem Kimonorock ab, um eine Schlinge daraus zu machen. »Nur eine weitere Narbe.«
Die Leute um sie herum standen in sicherer Entfernung und glotzten sie ausdruckslos an. Als die Schüsse ertönten, war es totenstill geworden. Dann kreischte die Menge auf und rannte in alle Richtungen davon.
In dem Durcheinander hatte niemand die von einer Samurai-Eskorte begleiteten Palankine bemerkt. Zwei Gestalten sprangen heraus und stürmten durch die Menge, hielten Schusswaffen über den Kopf. Aus den Läufen kräuselte sich Rauch.
Aber waren das Menschen oder Ungeheuer? Sie hatten zwei Augen, zwei Ohren und zwei Hände, doch sie waren riesig und muskulös, wie Giganten. Ihre Köpfe und Schultern überragten die Menge. Ihre Gesichter waren zerfurcht, nicht glatt und rund, und ihre Nasen waren wie vorspringende Erker, monströs groß. Konnten sie Tengu sein, die langnasigen Kobolde, die in den Bergen lebten? Aber Tengu hatten rote Gesichter. Diese Wesen waren so totenblass wie Geister. Einer hatte Haare in der Farbe von Reishalmen im Herbst, das Haar des anderen war erdfarben. Und sie trugen seltsame, fremdländische Kleidung, wie Sachi sie noch nie gesehen hatte.
Die Menge wich zurück, als die Wesen sich durchdrängten. Manche fielen auf die Knie und drückten den Kopf auf die Erde. Andere blieben wie versteinert stehen und starrten mit offenem Mund. Einige der Frauen schrien und rannten weg.
Der Strohköpfige achtete nicht darauf. Er stürmte durch die Menge und marschierte direkt auf das Schlachtfeld, trat über die stöhnenden Soldaten hinweg. Ein merkwürdiger, ranziger Geruch hing wie Nebel an ihm. Es war der Geruch der Ausgestoßenen, die mit dem Metzgerhandwerk zu tun hatten - der Geruch von Fleisch, von totem Fleisch.
Natürlich. Das waren keine Tengu, sondern etwas viel Furchterregenderes und Absonderlicheres. Tojin - Ausländer. Sachi hatte Gerede über die »stinkenden Barbaren« gehört, war jedoch nie jemandem begegnet, der sie leibhaftig gesehen hatte. Soviel sie wusste, waren sie auf ein kleines Dorf bei Edo namens Yokohama beschränkt, auf einen Hafen in der Nähe von Osaka und eine Handvoll anderer Häfen. Aber sie hatte selbstverständlich die Yokohama-Drucke gesehen, die diese exotischen Wesen mit ihren beängstigenden Nasen, ihrer fremdländischen Kleidung und den eigenartigen Behausungen darstellten. Im Frauenpalast hatte es viele dieser Holzblockdrucke gegeben. Sachi hatte ebenfalls gehört - wie in der Tat jeder zu wissen schien -, der Ursprung des Aufstandes der Südprovinzen beruhe darauf, dass der Shogun nicht in der Lage gewesen sei, die Ausländer zu vertreiben. Zumindest war das der Vorwand für ihren Aufstand gewesen.
Jetzt öffnete der Ausländer den Mund und rief etwas. Sachi richtete sich auf und sah ihn direkt an. Keinesfalls würde sie weglaufen oder kreischen. Sie durfte nicht vergessen, dass sie die im Ruhestand lebende Dame Shoko-in war, die Konkubine Seiner verstorbenen Majestät. Sie deutete auf seine Waffe. Was hatte er damit vor? Wollte er sie alle erschießen?
Er musterte sie mit seinen seltsam bleichen Augen. Das war ihr unangenehm. Sie wünschte, sie könnte ihr Gesicht verbergen, aber sie hatte ihren Hut und den Schleier verloren. Wieder sprach er. Seine Stimme war so laut, dass sie zusammenzuckte. Zu ihrem Erstaunen konnte sie ihn verstehen. Er sprach in einer gestelzten Version ihrer Sprache, wenngleich mit einem reichlich verzerrten Akzent.
»Keine Bange, gnädige Frau. Ich schieße nur in die Luft. Kann ich Ihnen helfen? Sind Sie unverletzt?«
Dann blaffte er die Soldaten an: »Was soll das? Damen anzugreifen? So viele gegen einen einzigen Mann? Schämt euch.«
Die wenigen noch aufrecht stehenden Soldaten blickten finster zu Boden. Sie keuchten, waren angeschlagen, bluteten, ihre schwarzen Uniformen waren zerfetzt, ihr Haar wild zerzaust.
»Dieser Mann ist ein Gesetzloser«, knurrte einer und deutete auf Shinzaemon.
»Das stimmt nicht«, protestierte Sachi hitzig. Sie überlegte in rasender Eile. »Er ist mein … Leibwächter. Er hat mich und meine Dienstbotin - meine Freundin - beschützt.«
Die Soldaten flüsterten untereinander. Ihre Schwerter waren nach wie vor gezogen, ihre Finger zuckten an den Griffen.
»Lästige Barbaren, die sich in alles einmischen müssen!«, zischte einer. »Wir kriegen euch. Wartet’s nur ab!«
»Ich glaube, ihr habt die Proklamation des Kaisers vergessen«, entgegnete der Ausländer glattzüngig. Noch immer hielt er die Waffe in der Hand. Sie sah neu und glänzend aus, ganz anders als die uralten Musketen der Leute in Kiso. »Ausländer dürfen nicht mehr getötet werden. Ihr Männer aus dem Süden bezeichnet euch doch selbst als Getreue des Kaisers. Habt ihr denn keinen Respekt vor dem Dekret Seiner Hoheit?«
Er wandte sich wieder an Sachi.
»Gnädige Frau«, sagte er. »Sie wollen nach Edo? Wir auch. Wir begleiten Sie - Sie, Ihre Freundin und Ihren Leibwächter. Reisen Sie mit uns. Unsere Wachen werden Sie beschützen. Kein Grund zur Sorge.«
Sachi starrte ihn erschrocken an. Mit ihnen reisen, diesen wilden, unberechenbaren Wesen? Sie wusste nichts von ihnen. Bei gewöhnlichen Menschen - Menschen aus ihrem Land - konnte sie in ihren Gesichtern lesen, konnte ihre Gefühle unter der Formalität und den von der Etikette vorgeschriebenen Worten verstehen. Aber bei Barbaren wie diesen hatte sie keine Ahnung, was in deren Köpfen vorging. Es war die verrückteste Idee, die sie je gehört hatte.
Und doch … es herrschte Krieg. Die Straße war zweifellos gefährlich, und Edo noch mehr. Die Barbaren hatten Waffen und eine Samurai-Eskorte mit Schwertern und Stöcken - wenngleich man sich natürlich auch fragen musste, wer diese Samurai waren. Auf wessen Seite standen sie? Wem schuldeten sie Gehorsam? Sicherlich waren es Spione, abgestellt, um die Barbaren im Auge zu behalten. Wenn Sachi und ihre Begleiter mit ihnen reisten, würden sie sorgsam auf ihre Worte achten müssen.
Doch obschon Shinzaemon wie ein Dämon kämpfen konnte, war er nur allein. Am wichtigsten war jetzt, dass sie ihre Reise beendeten, nach Edo kamen - zur Prinzessin, zu Sachis Mutter -, ehe die Truppen aus dem Süden die Stadt vollkommen abriegelten.
Sie blickte zu Taki, die gerade die Klinge ihrer Schwertlanze an ihren Röcken abwischte. Ihr Haar hatte sich gelöst und stand ihr zerzaust um den Kopf. Auf ihrem schmalen Gesicht klebte Blut. Aber in ihren großen Augen schimmerte wilder Triumph. Sie erwiderte Sachis Blick, hob die Augenbrauen und legte den Kopf schräg, als wollte sie sagen: »Mach, was immer du willst. Schlimmer kann es nicht werden.«
Shinzaemon hatte sein Schwert in die Scheide gesteckt und zerriss ein Stück Baumwollstoff, um seinen verletzten Arm zu verbinden. Er schaute sie an, zuckte seine breiten Schultern und hob das Kinn an, wie um zu sagen: »Was bleibt uns denn anderes übrig?«
Sie seufzte und neigte den Kopf. »Vielen Dank«, sagte sie.
Der Barbar nahm seinen Hut ab und verbeugte sich steif.
»Mein Name ist Edwards«, sagte er. »Edowadzu.«
Sie probierte die neuen Silben aus. »Edo-wadzu.« Wie Edo, die Stadt Edo. Das war der seltsamste Name, den sie je gehört hatte.
Der Mann mit dem erdfarbenen Haar trat vor.
»Satow. Zu Ihren Diensten. Bitte, schließen Sie sich uns unter allen Umständen an.«

II

Die beiden Riesen ließen sich in unförmigen Palankinen befördern, gebaut, um ihren langen Beinen Platz zu bieten, und von jeweils sechs Trägern geschleppt. Ihnen folgten ihre Bediensteten in zwei normalen Palankinen und einer Trägerkolonne mit ihrem Gepäck. Sachi, Taki und Shinzaemon gingen mit ihren Packpferden hinter ihnen her. Ein Teil der Samurai-Eskorte marschierte voraus, der Rest bildete die Nachhut. Menschenmengen schoben sich in die andere Richtung - Samurai-Gefolgsleute aus Daimyo-Haushalten trotteten mit grimmiger Entschlossenheit dahin, Kaufleuten folgten endlose Kolonnen von Trägern mit Körben voller Habseligkeiten, Bettler und bedrohliche, vage militärisch aussehende Männer verbargen ihre Gesichter unter tief herabgezogenen Strohhüten. Doch da sie mit den Ausländern und deren Wachleuten reisten, fühlten sich die drei endlich sicher.
Der nächste Ort war von Menschen überschwemmt. Alles schob und drängte sich durch die Straßen. »Tojin! Tojin! Ausländer! Ausländer!«, schrien sie. Sachi hörte auch andere Rufe: »Dumme Barbaren! Werft die Barbaren raus. Verschwindet!« Sie hoffte, dass die Ausländer die Rufe nicht verstehen konnten. Die Menge glotzte und starrte, schubste sich gegenseitig aus dem Weg, um einen Blick in die Palankine zu erhaschen. Die Samurai schoben sie mit ihren Stäben zur Seite, blafften: »Auf die Knie. Runter!« Niemand beachtete Sachi, Taki und Shinzaemon. Sie waren unsichtbar geworden. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, einen Blick auf die Tojin zu erhaschen.
Die Fernstraße schlängelte sich weiter, an einem Fluss entlang, durch Reisfelder, gesäumt von gerade aufblühenden Kirschbäumen, mit verhangenen Bergen, die sich in der Ferne erhoben. Sobald sie den Ort hinter sich gelassen hatten, setzten die Träger die Palankine ab, und die Ausländer stiegen aus, stöhnten und streckten ihre langen Beine. Was für seltsame Wesen sie sind, dachte Sachi. Wie konnten sie sich unwohl fühlen, wenn sie doch in so großen, luxuriösen Palankinen befördert wurden? Anstelle von Sandalen trugen ihre Sandalenträger große, glänzende Stiefel für sie, die nach Tierhäuten rochen. Sie zogen sie mit erleichtertem Seufzen an und gingen zu Fuß weiter.
Sachi, Taki und Shinzaemon blieben auf Abstand. Taki, die immer so furchtlos gewesen war, schienen diese Monster zu ängstigen. Shinzaemon war so viel herumgekommen, dass er solchen Wesen bestimmt schon begegnet war. Zweifellos hasste er sie genauso, wie alle anderen es taten, und hätte sie am liebsten in Stücke gehauen. Aber ihm war auch bewusst, dass Angriffe auf Ausländer nicht nur gegen das Dekret des Kaisers verstießen, sondern auch gegen die Politik seines Lehnsherrn, des Shogun. Egal, was er empfand, er musste den Ausländern gegenüber Zurückhaltung wahren. An seinem finsteren Gesicht und der Haltung seiner Schultern, den auf dem Schwertgriff trommelnden Fingern erkannte Sachi, welche Mühe ihn das kostete. Schlimmer noch, er musste die Demütigung ertragen, als Leibwächter bezeichnet zu werden. Kein Wunder, dass er so verbittert schaute.
Nach einer Weile ließ sich der Strohköpfige zurückfallen.
»Darf ich Sie begleiten?«, fragte er Sachi.
Sachi konnte ein Lachen kaum unterdrücken. Er sah abscheulich aus. Haar spross auf seinem Gesicht, wie die Furcht einflößenden Schnauzbärte auf den Helmen der Samurai. Und der Geruch … Außerdem, die Vorstellung, dass eine Samurai-Frau neben einem Mann ging, der nicht mal zur Familie gehörte (wie es bei Shinzaemon inzwischen praktisch der Fall war), war vollkommen unziemlich. Aber dann überlegte sie, dass er ja nur ein Barbar war - und ein Barbar war überhaupt kein Mann, er zählte nicht. Es war, als würde sie neben einem Bären oder einem Affen gehen.
Sie schaute über die Schulter. Shinzaemon ging hinter ihr her, als achtete er auf nichts. Doch sie wusste, dass er alles sah und hörte.
»Wohin wollen Sie in Edo?«, fragte der Barbar dreist, blickte auf sie hinunter.
Sie war schockiert über die Direktheit der Frage und auch voller Angst. Gewöhnliche Menschen stellten keine direkten Fragen, vor allem nicht in einer Zeit wie dieser, wo niemand wusste, auf wessen Seite man stand. »Waren Sie schon in Edo?«, fragte sie und hoffte, ihm würde ein Hinweis entschlüpfen.
»Wir leben dort«, antwortete er. »Wir haben ein Haus. Ein kleines Haus neben einem Tempel. Auf einem Hügel.«
Sie hatte geglaubt, er müsse alt sein, wegen der Haare in seinem Gesicht und der grobporigen Haut. Aber seine Stimme war jungenhaft. Er konnte nicht viel älter sein als sie. Wo waren seine Mutter und sein Vater? Was machte er hier, so weit von zu Hause entfernt, reiste durch dieses fremde Land, das am Rande eines Krieges stand?
»Alle verlassen Edo, und wir begeben uns dorthin!«, sagte er, wie als Antwort auf ihre unausgesprochene Frage, und zeigte grinsend seine Zähne. »Die Leute sagen, es wird eine schreckliche Schlacht geben, aber Sie wirken überhaupt nicht besorgt. Ich habe noch nie eine Frau so kämpfen sehen wie Sie!«
Während er sprach, fuchtelte er mit den Händen. Sie waren groß und kräftig, sogar größer als Shinzaemons Schwertkämpferhände. Und die Farbe! So weiß wie Kalk. Die bleichen Härchen auf seinen Fingern schimmerten im Sonnenlicht wie Goldfäden. Vielleicht war er doch kein solches Ungeheuer. Er war zwar gewiss nicht von derselben Rasse wie sie, schien aber trotzdem menschlich zu sein.
Sachi hatte gehört, dass die Barbaren grob und unzivilisiert waren, dass sie keine Manieren hatten, gewalttätig wurden, wenn sie betrunken waren, krakeelten und Frauen vergewaltigten. Doch von Nahem schienen sie nicht so schlimm zu sein. Zu glauben, dass sie tatsächlich neben so einem Wesen herging und mit ihm sprach, fiel ihr schwer. Wäre das Land nicht im Krieg gewesen, wäre sie nicht voller Besorgnis gewesen, was geschehen mochte, wenn sie nach Edo kamen, hätte es aufregend sein können, ein erinnerungswürdiges Erlebnis.
Sie spürte Shinzaemons Blick auf sich. Während sie sich dachte, dass der Strohköpfige ja bloß ein Barbar sei, war sich Shinzaemon nur allzu bewusst, dass der Ausländer ein Mann war. Auch Takis Missfallen war ihr bewusst. Doch schließlich war sie die Herrin und Taki nur eine Dienstbotin, und sie hatte ihrem Gastgeber gegenüber höflich zu sein. Und außerdem gefiel es ihr recht gut, mit diesem großen, schwerfälligen Wesen zu sprechen.
Er arbeite für die britische Gesandtschaft, erzählte er ihr, obwohl er nur wenig darüber erwähnte, wo sie gewesen waren, und nichts über den Zweck ihrer Reise verriet. Zweifellos waren sie in geheimer Mission unterwegs gewesen.
»Wir haben große Abenteuer erlebt«, fügte er hinzu. »Wir haben wunderbare Dinge gesehen. Den Berg Fuji. Waren Sie jemals dort? Sind Sie über den Shiojiri-Pass gekommen und haben den Berg Fuji am Horizont gesehen? Noch nie habe ich etwas so Schönes erblickt. Das Wetter war perfekt!«
»Ihr Land …«, murmelte sie zögernd, »muss auch schön sein.«
Er käme, erzählte er ihr, von einer kleinen, weit entfernten Insel. Um ihr Land zu erreichen, hätte er zwei Monate gebraucht. Seines wurde von einer Königin regiert, die in einem beinahe so prächtigen - wenn auch nicht so großen - Palast wie der Burg Edo lebte. Das Land heiße England.
»Ihr Land wird von einer Frau regiert?«, fragte Sachi ungläubig. Bis dahin hatte sie alles geglaubt, was er sagte. Aber ein Land, das von einer Frau regiert wurde - das konnte nicht wahr sein. Er musste sich geirrt haben. Vielleicht beherrschte er ihre Sprache doch nicht so gut, wie sie gedacht hatte. Oder vielleicht hatte er ihr nur Geschichten erzählt.
Aus England stammten sie, hatte er gesagt. Wenn sie Engländer waren, diese Ausländer, standen sie auf Seiten des Südens. Glaubte dieser Edwards wirklich, dass sie nur eine Zivilistin war, die von Ronin angegriffen wurde? Sicherlich nicht. Schließlich hatte er die toten und verwundeten Soldaten auf der Straße liegen sehen. Er war einfach über sie hinweggestiegen. Vielleicht mutmaßte er, dass sie eine Dame vom Hof des Shogun war, die der Süden nur allzu gerne gefangen nehmen würde. Doch er stellte keine Fragen. Sie würde in der Tat sehr vorsichtig sein müssen.
An diesem Abend sahen sie weit in der Ferne Lichter blinken, so viele, dass es aussah, als wären die Sterne vom Himmel gefallen. Über den Hügeln hing ein Rauchschleier und verdeckte den halben Himmel.
»Wachfeuer«, sagte Shinzaemon. »Wir kommen näher. Dieser Affe, der auf seinen Hinterbeinen läuft und so redet, als glaubte er, ein menschliches Wesen zu sein«, fügte er knurrend hinzu. »Wie kannst du nur mit ihm sprechen? Er ist Engländer. Du weißt, auf wessen Seite die stehen. Wieso ist er durch unser Land gereist? Er muss ein Spion sein. Das sind sie alle, diese Ausländer.«
»Sei doch nicht böse, so kurz bevor wir uns trennen müssen«, flehte Sachi. »Du weißt, dass ich es tun muss. Wir sind ihre Gäste.«
»Wir wären auch gut allein zurechtgekommen«, murrte Shinzaemon. »Besser sogar. Ich hätte schon dafür gesorgt.«
»Wir müssen immer noch durch den Kontrollposten von Itabashi, und in Edo wird es vor Soldaten aus dem Süden wimmeln. So, wie wir gekleidet sind, werden sie uns für das Gefolge der Ausländer halten. Das ist die perfekte Tarnung. Verstehst du denn nicht? Du wirst einen guten Blick auf die Truppen des Südens werfen können. So kannst du der Miliz eine Menge berichten - wie viele sie sind, welche Art von Waffen sie haben, solche Dinge.«
»Vermutlich hast du Recht«, gab er widerwillig zu. »Könnte sein, dass ich etwas Nützliches entdecke.«
Als sie am nächsten Tag zur Poststation von Urawa kamen, flatterten rote Banner vor den Toren, mit einem weißen Kreuz in einem Kreis. Bei dem Anblick wurde Sachi das Herz schwer. Das Wappen der Shimazu, der unversöhnlichsten Kriegsherren des Südens. Der Feind stand also tatsächlich an den Toren Edos. Es gab auch noch andere Banner - scharlachrot, mit der goldenen Chrysantheme des Kaisers. Sie hatte Gerüchte gehört, dass sich die Aufrührer aus dem Süden als Kaiserliche Armee bezeichneten. Jetzt hatte sie den Beweis.
Die Fernstraße war voll von feindlichen Soldaten, und sie würden direkt mitten hindurchmarschieren müssen. Sachi hielt ihre Schwertlanze gesenkt, hoffte, dass die Soldaten die Waffe bei dem Gedränge nicht bemerken oder bloß für einen Stab halten würden. Mit gebeugtem Kopf bahnte sie sich den Weg durch die Menge, hielt sich dicht an die Ausländer. Taki und Shinzaemon folgten ihr. Sie ging langsam und gleichmäßig, setzte sorgsam ihre Füße, als liefe sie über Eierschalen, konzentrierte sich aufs Gehen, bemühte sich, ihre Furcht nicht durch das kleinste Zucken ihres Mundes oder ihrer Hände zu verraten. Ihr Herz hämmerte. Tausende von Soldaten, die sich hier sammelten und nur auf den Befehl warteten, nach Edo zu marschieren. Und das war bloß der Anfang. Sie betete zu den Göttern, dass in Edo eine ebenso gewaltige Armee darauf wartete, sie zurückzuschlagen.
Am Abend kamen sie nach Itabashi - »Holzbrücke« -, der letzten Poststation auf der Inneren Bergstraße. Sie waren fast in Edo. Bis zum Zentrum, wo die Burg stand, waren es nur noch zwei Ri. Die Straße war mit Fackeln erleuchtet, und auf den umliegenden Hügeln brannten Wachfeuer.
Lange bevor sie Itabashi betraten, hörten sie Rufe und Lachen und das Klimpern von Shamisen. Die Gasthöfe und Herbergen waren brechend voll. Vor jedem Haus brannten Laternen. Feindliche Soldaten drängten sich auf den Straßen, kippten Sake aus Bambusflaschen in sich hinein, redeten und grölten in ihrem bäurischen Akzent. Geishas und Prostituierte in großer Zahl umschwärmten sie, wenn sie vorbeitorkelten, und versuchten sie in ihre Etablissements zu ziehen. Lastenträger, Sänftenträger und Pferdeknechte boten lautstark ihre Dienste an. Sogar die Bettler grinsten und erfreuten sich an den Lustbarkeiten. So nahe von Edo, der Stadt des Shogun, und sie vergnügten sich so sorglos mit seinen Feinden! War es denn allen egal, auf wessen Seite die Soldaten standen, oder waren sie nur an ihren Geldbeuteln interessiert? Sachi konnte sich denken, was davon stimmte. Alle wussten, dass das Ende nahe war, also welche Rolle spielte es noch? Dann konnten sie sich auch ihr Vergnügen gönnen.
Sie hatten den letzten Kontrollposten vor Edo erreicht. Sachi und ihre Gefährten hielten die Köpfe gebeugt, aber als die Wachen die Palankine der Barbaren erblickten, sanken sie auf die Knie und winkten die Gruppe durch. Als Sachi durch die Tore ging, merkte sie plötzlich, wie erschöpft sie war. Ihre Füße waren wundgelaufen und geschwollen, und ihre Beine fühlten sich so schwer an, dass sie meinte, keinen Schritt mehr machen zu können. Der kleine Zeh ihres linken Fußes schmerzte unerträglich. Das konnte nur eine weitere Blase sein. Sie würde sie verbinden und neue Sandalen anziehen müssen.
Dann blickte sie auf. Durch die Häuser an der Straße erhaschte sie einen Blick auf Reisfelder, gesprenkelt mit Bauernhäusern, und dahinter … Dächer, ziegelgedeckte Dächer, ein großes Meer von Dächern, das im Abendlicht funkelte und sich von einem Ende des Horizonts zum anderen erstreckte. Edo.
Einen Moment lang erschien es ihr so wundervoll wie das Westliche Paradies, als würde Admida Buddha selbst sie dort willkommen heißen. An der dunkler werdenden Ostseite der Stadt glitzerten Lichter, und Rauchfäden kräuselten sich in den Himmel empor. Zwischen den Dächern waren rosa Flecken zu sehen - vielleicht Kirschbäume. Und es gab dunkle Stellen, Baumgruppen und breite, geschwungene Dächer, an denen man die Residenzen der Daimyo erkannte. War es nur ihre Einbildung, oder konnte sie direkt in der Mitte die Festungswälle, gestalteten Lustgärten und bewaldeten Gebiete die Burg ausmachen?
Shinzaemon betrachtete die Stadt. Sachi sah seinem Gesicht die Ungeduld an, dorthin zu gelangen, sich seinen Kameraden anzuschließen, sich auf den Krieg vorzubereiten. Dann drehte er sich um. Ihre Augen trafen sich zu einem langen, sehnsüchtigen Blick. Taki wirkte vor Erleichterung wie betäubt.
Doch schon bald merkten sie, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Die Läden und Stände entlang der Straße waren verwüstet, und die Lagerhäuser waren aufgebrochen. Türen waren eingetreten und Fenster herausgerissen. Zerbrochene Wandschirme, Holzsplitter, Rechenbretter und Seidenballen lagen im Staub, aus umgekippten Fässern ergoss sich Reis. Die Läden, die der Zerstörung entgangen waren, hatte man verschlossen und vernagelt. Schweigend ging die Gruppe vorbei. Sachi wagte ihre Gedanken nicht mal in Worte zu fassen: Wenn es hier schon so war, wie würde es dann in Edo sein?
Shinzaemon war hinter ihr hergegangen. Sie waren bereits ein ganzes Stück in der Stadt, als er Sachi einholte. Er blickte sich nach den Samurai-Wächtern um. Sie waren weit hinter ihnen, außer Hörweite.
»Dort werde ich sein«, sagte er. Eine Straße führte nach links zwischen verfallenen Läden auf den Kanei-ji-Tempel am Ueno-Hügel zu. »Die Miliz ist auf dem Ueno-Hügel kaserniert. Aber vorher bringe ich dich zur Burg.«
Sachi brachte kein Wort heraus. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Vorstellung, ihn zu verlieren, war unerträglich.
 
Eine Weile später überquerten sie den äußeren Wallgraben. Zu ihrer Rechten befand sich der Samurai-Bezirk der Stadt mit seinen breiten Alleen und hohen Mauern um die Residenzen der Daimyo, zur Linken begann das Labyrinth enger Straßen, in denen die Städter wohnten. Sachi entging nicht, dass die Kanäle, die sie das letzte Mal voller Boote und Menschen gesehen hatte, leer waren. Eine schreckliche Stille hing über allem, als wäre eine tödliche Seuche über die Stadt gekommen und hätte alle dahingerafft. Der Duft des Lebens war verschwunden, in der Luft hing nur ein schwacher Staubgeruch. Einige der Daimyo hatten sogar ihre Paläste mitgenommen. Die kleine Kolonne kam an großen, offen stehenden Toren vorbei. Sachi blickte entsetzt hinein. Hinter den ziegelverkleideten Mauern war nichts zu sehen außer einer offenen, mit Sand bedeckten Fläche, keinerlei Gebäude weit und breit. Wie hatte sich alles so rasch verändern können? Als sie im kaiserlichen Palankin die Burg verlassen hatte, war die Stadt ein lebendiger, lärmender Ort gewesen. Jetzt war sie ein Friedhof, bevölkert von Geistern. Sachi versuchte nicht daran zu denken, was in der Burg und im Frauenpalast geschehen war.
Sie überquerten einen weiteren Wassergraben, dann noch einen. Als sie die Hirakawa-Brücke erreichten, war der Abend angebrochen. Auf der anderen Seite befand sich ein massives Flügeltor, verstärkt mit Eisenbändern: das Tsubone-Tor, das »Tor der Damen des Shogun«. Sie standen am Eingang zu den Frauenquartieren der Burg Edo. Die Torflügel waren in eine glatte, undurchdringliche Granitmauer eingelassen, die hoch in den dunkler werdenden Himmel ragte. Sachi griff nach Takis Hand, und sie schauten gemeinsam hinüber. Ein später Sonnenstrahl glitzerte im stillen Wasser des Burggrabens.
Sachi schloss die Augen. Einen Moment lang sah sie ihr altes Leben wieder vor sich. Die goldschimmernden Gemächer, bemalt mit Kiefern und Kranichen und Vögeln. Die durchbrochenen Verzierungen der Quergänge, die exquisiten Kassettendecken, die prunkvollen Kimonos. Und das Essen, die verschwenderischen Mahlzeiten, die sie Tag für Tag eingenommen hatten. Während Sachi dort lebte, hatte sie diese andere Welt vergessen, in der die Menschen arm waren und manchmal nicht genug zu essen hatten. Aber nun erschien ihr der Palast wie ein Traum, so unwirklich, wie der Palast der Tochter des Drachenkönigs unter dem Meer dem armen Urashima vorgekommen sein musste.
Sie hatte den Palast in Flammen gesehen. Doch er war nur ein Teil einer Zitadelle im großen Burgkomplex gewesen. Sicherlich ging das Leben im Rest der Burg so weiter, wie es immer gewesen war? Die Frauen mussten einfach in einen anderen Teil umgezogen sein.
Und was war mit ihrer Mutter? Sie umklammerte das Bündel mit dem Brokat und versuchte sich die Frau vorzustellen, die ihn getragen hatte. War auch sie nur ein Traum?
Der Moment war gekommen, dieser Moment, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte. Sie hatte versucht, nicht daran zu denken, hatte gehofft, dass er nie kommen würde. Aber jetzt gab es keinen Aufschub mehr.
Sachi und Shinzaemon standen zusammen am Rand der Brücke. Die Ausländer waren in ihrer Nähe, aber das war ihnen egal. Auf dem trüben Wasser des Burggrabens schwammen Enten. Der Mond hing bereits bleich am Himmel, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war.
Shinzaemon nahm ihre Hand und drückte sie fest. Sie spürte Schwielen an seiner Handfläche, wo er das Schwert schwang. Sie fühlte die Trockenheit seiner Haut an ihrer, roch den schwachen Hauch von Salz auf seiner Haut, spürte die Wärme seines Körpers. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie drängte sie zurück. Sie wollte ihn bitten, zu bleiben, wusste aber, dass sie das nicht konnte. Sie ließ den Blick über die feinen Knochen seines Gesichtes, die vollen Lippen gleiten.
»Dort wirst du also sein«, hauchte sie. »Wie du gesagt hast, auf dem Ueno-Hügel?«
»Mit der Shogitai-Miliz. Unsere Feinde müssen Edo noch erobern. Wenn wir es für die Tokugawa halten können, dann können wir sie vielleicht zurücktreiben.«
Sie schauten sich an. »Solange ich lebe, werde ich dich nicht vergessen«, sagte er leise. »Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es jemanden wie dich auf der Welt gibt - oder dass die Welt so üppig und farbenprächtig sein könnte. Du machst es mir sehr schwer, hinzunehmen, dass ich sterben könnte. Nein, nicht ›könnte‹. Ich muss sterben.«
»Ich werde mit aller Kraft darum beten, dass du überlebst«, sagte sie. »Wenn der Krieg vorbei ist, komm zurück und suche nach mir.«
Nur noch eins blieb ihr zu tun. Sie tastete in ihrem Ärmel nach dem Kamm, diesem kostbaren Kamm, den sie seit ihrer Kindheit bei sich getragen hatte, und hielt ihn Shinzaemon hin. Das aufgeprägte, in Gold gefasste Wappen schimmerte in den Strahlen der untergehenden Sonne. Ihre beiden Schatten streckten sich lang über den Boden.
»Das ist das Kostbarste, was ich besitze«, sagte sie. »Mein Glücksbringer. Ich habe ihn schon mein ganzes Leben lang. Er wird dich beschützen. Wenn du ihn anschaust, denk an mich.«
»Das kann ich nicht annehmen«, protestierte er. »Der Kamm ist zu wichtig. Ich weiß, was er dir bedeutet.«
»Er wird dich zu mir zurückbringen«, sagte sie. »Er wird dich besser beschützen als jedes Amulett, besser als ein Tausend-Stiche-Gürtel. Wenn wir uns wiedersehen, kannst du ihn mir zurückgeben.«
Sie reichte ihm den Kamm und ließ ihre weichen Hände noch ein wenig auf seinen muskulösen ruhen. Ernst hob er den Kamm in einer formellen Dankesgeste an die Stirn, verbeugte sich dann und steckte ihn in seinen Ärmel. Schweigend blieben sie noch eine Weile stehen.
Plötzlich hatte Sachi eine Idee: »Ich bitte dich, komm noch ein letztes Mal zu mir. Hier, am Tsubone-Tor, morgen, in der Abenddämmerung.«
Sofort begriff sie, wie verrückt ihr Plan war. In der Vergangenheit wäre es undenkbar gewesen, sich hinauszuschleichen, um sich mit einem Mann zu treffen. Sie hatte keinen Grund zu der Annahme, dass sich die Dinge so sehr geändert hatten. In dem Moment, in dem sie die Tore durchschritt, würde sie wieder die im Ruhestand lebende Dame des Seitengemachs sein. Und er? Ein Soldat entfernte sich nicht von seiner Truppe.
Aber ganz gleich, was geschah, sie würde hier sein. »Ich werde auf dich warten«, sagte sie.
Er schaute weg, holte dann Luft und erwiderte: »Ich werde mein Bestes tun.«
Sachi erwartete, dass Taki sie ausschimpfen würde. Beinahe meinte sie, ihre Stimme zu hören: »Denk an deine Stellung. Denk daran, wer du bist.«
Doch Taki tat es nicht. Sie schaute zu Shinzaemon. Auch in ihren Augen standen Tränen. Plötzlich erkannte Sachi, dass Taki ebenfalls traurig war, eine tiefe, hoffnungslose, verzweifelte Traurigkeit. Sie war Toranosuké so fern wie je. Nach Edo zu kommen, hatte sie ihm nicht näher gebracht. Auch sie hatte die Freiheit der Straße genossen und schien nun eher bestürzt darüber, in das Gefängnis des Palastes zurückzukehren.
»Ich habe ebenfalls eine Bitte«, piepste Taki zögernd. »Ich weiß, wie töricht es ist, aber …« Sie zog ein Amulett aus ihrem Ärmel. Sachi erkannte es als das Amulett für langes Leben, das Taki bereits aus Kyoto mitgebracht hatte. Sie drückte es Shinzaemon in die Hand.
»Bitte gib das Meister Toranosuké«, sagte sie. »Sag ihm, dass ich für ihn beten werde. Und für Tatsuemon auch.«
Shinzaemon führte es an seine Stirn und versprach: »Ich werde es ihm sagen. Und ich sorge dafür, dass er es bekommt.«
Die Sonne verschwand hinter den großen Mauern der Burg. Sachi und Shinzaemon blickten sich immer noch an.
»Wir müssen gehen«, sagte Taki leise.
Sachi wusste, was sie zu tun hatte - was die Frau eines Soldaten tun würde. Sie lächelte und verbeugte sich so tapfer, wie sie konnte.
»Gib dein Bestes!«, sagte sie in festem Ton.
Sie wandten sich der Burg zu. Sachi zögerte immer noch. Es fiel ihr schwer, sich loszureißen. Sobald sie die Brücke überquerte, würde sie wieder in dieser anderen Welt sein, einer Welt, in der es keinen Shinzaemon gab. Sie fühlte sich tot im Herzen und erkannte dieses Gefühl. Genauso war ihr zumute gewesen, kurz bevor sie vom Tod des jungen Shogun erfahren hatte.
Eine Brise kräuselte das Wasser des Burggrabens und strich durch das Schilfrohr. Auf der anderen Seite erhoben sich die steilen, scheinbar undurchdringlichen Festungsmauern.
»Es ist fast Nacht«, flüsterte Taki. »Angenommen, wir kommen nicht hinein? Wie sollen wir die Wachen davon überzeugen, dass wir sind, wer wir zu sein vorgeben?«
Sie hatte Recht. Mit ihren fadenscheinigen Kleidern und dem vom Reisen verschmutzten Gesicht sah Taki wie eine Bäuerin oder eine Bettlerin aus, nicht im Entferntesten wie eine Hofdame. Und für Sachi galt dasselbe. Sie waren so lange unterwegs gewesen, hatten so viele Abenteuer erlebt und waren völlig andere Menschen geworden.
Die Burgmauern ragten im Dämmerlicht auf. Aber etwas fehlte.
»Schau mal«, flüsterte Sachi. »Kein Rauch. Es ist Essenszeit. Aber da ist kein Rauch.«
Die Holztore mit ihren Eisenbändern und den riesigen Riegeln waren fest verschlossen. Sachi hatte gedacht, mindestens ein Bataillon Wachen würde davorstehen, aber nicht einmal ein einzelner Wachposten war dort. In einer Seitenwand neben dem Tor befand sich eine kleine Tür. Sie klopfte an und stieß dann dagegen. Die Tür öffnete sich knarrend.
Die Ausländer und Shinzaemon warteten in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Burggrabens. Mit einem Kloß im Hals drehte sich Sachi um, lächelte tapfer und winkte. Vor lauter Tränen konnte sie kaum etwas sehen. Dann traten Taki und sie durch die Tür, die mit einem lauten Knall hinter ihnen zuschwang.