9
Das Geheimnis des Brokats

I
Die Dunkelheit war so undurchdringlich, als wären
sie in einen Brunnen gefallen. Nur der Himmel war sichtbar, ein
kleines tiefblaues Quadrat über ihnen. Sterne kamen einer nach dem
anderen heraus. Ein Eule schrie in der Stille. Das Geräusch hallte
noch zwischen den Festungswällen wider, als dicht neben Sachis
Gesicht ein heiseres Krächzen ertönte und ein Rabe mit dem Rauschen
seiner großen Schwingen davonflog. Schaudernd wich sie zurück.
Vögel des Unglücks, Vögel des Todes.
Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt
hatten, erkannte Sachi, wo sie waren - in der Einfriedung zwischen
den äußeren und inneren Toren des Tsubone-Wachhauses. Durch diese
Tore hatte sie einst im Gefolge der Prinzessin die Burg betreten
und sie später, im kaiserlichen Palankin, in großer Eile
verlassen.
Sie war wieder im Palast, wohin sie gehörte, wie
sie beschlossen
hatte, und wo vielleicht ihre Mutter war. Aber sie konnte nur
daran denken, dass Shinzaemon fort war. Es war, als hätte man ihr
etwas Lebenswichtiges entrissen und nur eine leere Hülle
zurückgelassen, die wie ein Geist dahintrieb.
Dann hörte sie das Knarren der sich öffnenden Tore,
und Lichter erschienen, flackerten hierhin und dorthin wie
Glühwürmchen. Füße in Strohsandalen rannten auf sie zu, knirschten
über die Pflastersteine. Männer verteilten sich um sie, schwangen
Laternen. Raue Rufe erschallten.
»He! Was soll das? Wen haben wir denn hier?«
»Halt! Wo wollt ihr hin?«
»Eindringlinge. Spione, die sich einzuschleichen
versuchen!«
Ein Wald aus Piken und Speeren richtete sich gehen
ihre Kehlen.
Sachi stand ganz still. Obwohl Taki und sie wie
Bauersfrauen gekleidet waren, mussten sie irgendwie die Soldaten
überzeugen, dass sie Hofdamen waren und jedes Recht hatten, hier zu
sein. Das Beste war, sich entsprechend ihres Rangs zu benehmen, mit
eisiger Verachtung. Soldaten waren wie Hunde, sagte sie sich, und
konnten Furcht spüren.
»Taki«, zischte sie. »Sag etwas.« Als die im
Ruhestand lebende Dame Shoko-in war es nicht an ihr, diese
unwürdigen Kreaturen anzusprechen.
Taki richtete sich auf. »Ich bin die Dame Takiko,
Hofdame der im Ruhestand lebenden Dame Shoko-in«, fiepste sie in
hochnäsigsten Tönen, benutzte die Sprache, mit der sich Hofdamen an
Dienstboten wandten. »Wir sind in den Palast zurückgekehrt. Wir
verlangen, zu Ihrer Hoheit geführt zu werden.«
Ein verblüfftes Schweigen entstand, gefolgt von
Zischlauten, als die Soldaten zurückwichen und miteinander
flüsterten. Ein alter Mann kam aus der Dunkelheit gehumpelt.
»Vergeben Sie mir«, krächzte er, hob seine Laterne
und ließ den Strahl über Sachis Gesicht wandern. Geblendet von der
Helligkeit, schaute sie weg, ihr Ausdruck kalt und unbewegt. Der
Mann blinzelte zu ihr hoch, kniete dann nieder und drückte sein
altes, ledriges Gesicht auf den Boden.
»Euer Gnaden.« Es schien eine Ewigkeit her zu sein,
seit jemand sie so genannt hatte. »Schlagen Sie uns den Kopf ab für
unsere Unverschämtheit, Herrin.« Sachi nahm an, dass er sie bei
ihrer Flucht von ferne gesehen hatte, als sie in den kaiserlichen
Palankin stieg. Wie war es sonst möglich, dass sich ein Mitglied
der äußeren Wache an sie erinnerte?
Übereinanderpurzelnd fielen die Soldaten auf die
Knie und rieben ihre Köpfe im Staub. Erleichtert blickte Sachi auf
die gebeugten Rücken und die auf den glänzenden, geschorenen Köpfen
zitternden Haarknoten.
Der alte Mann schniefte und wischte sich die Augen.
»Euer Gnaden«, brabbelte er, »seid Ihr das wirklich? Wir haben Euch
vermisst.«
Sachi wusste, dass sie über die Anmaßung dieses
Alten empört sein sollte, aber sie war immer noch die Tochter des
Dorfvorstehers, musste sich erst wieder in die Konkubinengewänder
hüllen. Sie hatte mit so vielen Menschen von so unterschiedlichem
Stand gesprochen - sie war so viele verschiedene Menschen
gewesen. Jetzt war sie endlich zurückgekehrt. Sie hätte erfreut
sein sollen, fühlte sich jedoch nur wie betäubt.
»Aber … Euer Gnaden, vergebt mir«, wimmerte der
Alte. »Vergebt mir, dass ich spreche. Aber … seit Euer Gnaden
fortgegangen sind … seit dem Feuer … Hier gibt es nichts mehr, Euer
Gnaden.«
»Nichts? Die Damen? Ihre Hoheit?«
Ein anderer Soldat mischte sich ein. »Ehrenwerte
Dame, wir werden Sie zu den Gemächern Ihrer Hoheit
eskortieren.«
»Wie könnt ihr die Ohren der ehrenwerten Dame mit
euren Stimmen beschmutzen?«, blaffte Taki. »Bringt uns sofort
dorthin.«
Mit hoch erhobenen Laternen führten die Soldaten
sie auf das Palastgelände. Die Gärten waren stets sorgfältig
gepflegt gewesen, doch jetzt wuchs Gras zwischen den
Pflastersteinen, und Efeu kroch an den Mauern hinauf. Die Bäume
streckten lange Äste aus und drohten, sie alle zu
umschlingen.
Sie gingen einen gewundenen Pfad entlang, gesäumt
von Rhododendronbüschen, und traten dann ins Freie.
Vor ihnen ragten die Grundmauern einer riesigen,
zusammengefallenen Ruine auf und erstreckten sich so weit, wie sie
blicken konnten. Die großen Steinquader waren geschwärzt und
rissig. Dahinter stachen verkohlte Holzbalken wie die Speere einer
Geisterarmee in den Himmel. Große Stützbalken lagen in Haufen,
grotesk ineinander verkeilt. Das bleiche Mondlicht funkelte auf
Bruchstücken der Kassettendecke und Fragmenten goldener
Stellschirme, die irgendwie die Feuersbrunst überdauert hatten. Ein
feuchter, beißender Geruch hing über allem.
»Schauen Sie nicht hin, ehrenwerte Dame. Schauen
Sie nicht hin«, sagte der alte Mann und trieb sie eilig
vorwärts.
Aber wie konnte Sachi nicht hinschauen? Sie kamen
an den Überresten der großen Halle vorbei, wo sie in jener
schrecklichen Nacht mit der Dame Tsuguko und Taki Schutz gesucht
hatte, bevor sie in den Schnee hinausrannten. Die Decke war
eingestürzt, und die herabgefallenen Dachbalken lagen quer vor dem
Eingang. Immer noch sah Sachi die Rauchwolke vor sich und die
Flammen, die von Dach zu Dach sprangen, und hörte das entsetzliche
Zischen, mit dem sie alles auf ihrem Weg aufsogen.
»Wir haben gesucht und gesucht«, stammelte der
Alte. »Wir haben die Toten bestattet. Aber danach … Aber dann
…«
Die Toten … Sachi drückte den Ärmel an ihre Augen,
als Erinnerungen sie überfluteten.
Gesichter tauchten vor ihr auf. Ihre Hoheit -
wenigstens war sie noch am Leben, wie die Männer gesagt hatten. Die
einschüchternde Dame Tsuguko. Haru, die liebe Haru, ihre Lehrerin.
Sachis Hofdamen und ihre Kammerfrauen und Bediensteten. Die Furcht
erregende ehemalige Herrschergattin Tensho-in und ihr Gefolge
vornehmer Damen. Die alte Witwe Honju-in und ihre Hofdamen. Die
verwelkte Mutter des Shogun, die Alte Krähe. Die Dame Nakaoka und
die anderen Ältesten. Die kahlgeschorenen Priesterinnen. Was war
aus all diesen Frauen geworden?
Und was war mit all den anderen geschehen, all den
dreitausend, die den Palast bevölkert hatten, von den ranghöchsten
Hofdamen, die berechtigt waren, sich in der Gegenwart Seiner
Majestät aufzuhalten, bis zu den rangniedersten? Den
Verwalterinnen, Verhandlungsführerinnen, Zeitmesserinnen,
Schneiderinnen, Feuerwehrfrauen, Botinnen, Köchinnen, Sängerinnen,
Tänzerinnen, Musikerinnen, Frauen zum Säubern der Altarräume,
Küchenmägden, Badefrauen, Schreiberinnen, für Tabak und Handwasser
verantwortlichen Bediensteten, Reinigungsfrauen, Wächterinnen,
Dienstmädchen, Dienstmädchen der Dienstmädchen, Dienstmädchen der
Dienstmädchen der Dienstmädchen - was war aus ihnen allen
geworden?
Eine eisige Brise wirbelte die Asche auf und drang
durch ihre jämmerliche Baumwollkleidung. Sachi fröstelte. Die
Ruinen schienen erfüllt von den Klagen all jener Frauen, die hier
gestorben waren. Sie hatten ihr Leben dafür geopfert, einem Mann zu
dienen, den die meisten von ihnen nie zu sehen bekamen. Und dann
eines so grausamen Todes zu sterben!
Sachi und Taki stolperten weiter durch das endlose
Gelände, über Bäche und Brücken, um den Bootsteich mit den
lackierten
Lustbarken, die verloren an Land gezogen dalagen, an den mit
Unkraut überwucherten Gärten und den Pavillons vorbei, über deren
Dächer und durch die Löcher in den Wänden das Moos kroch. Viel
später, nachdem sie einen weiteren Burggraben überquert hatten,
sahen sie geschwungene Dächer und hölzerne Fensterläden.
»Die Zweite Zitadelle«, flüsterte Taki. Ninomaru,
die Zweite Zitadelle, wo die Witwen vormaliger Shogune lebten. War
Sachis Mutter noch dort? Sachi hatte den weiten Weg zurückgelegt,
um sie zu suchen, doch jetzt erfüllte der Gedanke, ihr zu begegnen,
sie mit Furcht.
Sie gingen an einem Gebäude nach dem anderen
vorbei, bis sie zum Frauenpalast der Ninomaru kamen. Wächterinnen
eskortierten sie hinein und führten sie durch ein Labyrinth von
Gemächern und Fluren. In einigen warfen Wachsstöcke und Kerzen ein
flackerndes Licht, in anderen ertasteten sie sich ihren Weg durch
die Schatten, nur geleitet von den hüpfenden Laternen der
Wächterinnen.
Sachi erwartete immer noch, zu einer offenen Tür zu
gelangen und einen Raum voller Frauen in ihren wie Seerosen
ausgebreiteten Gewändern zu finden, sie nähen oder einander die
Haare kämmen zu sehen. Aber es herrschte vollkommene Stille. Kein
Geplauder oder Lachen, kein Rascheln von Seide, kein
Geschirrklappern, kein Singen oder Klimpern einer Koto. Das einzige
Geräusch war das Scharren ihrer eigenen Füße über die Holzböden und
Tatamimatten.
Ein modriger Geruch hing in der Luft. Sachi
bemerkte Spinnweben in den Quergängen, in Zimmerecken und über den
Schmuckregalen. Also waren selbst die »ehrbaren Welpen«
verschwunden - die Kinder, die niedrige Arbeiten verrichteten, im
Schatten lebende junge Mädchen, die in den Augen der adligen Damen
gar nicht existierten.
Im schummrigen Licht erhaschte sie einen Blick auf
einen stacheligen Haufen, wie ein monströser Igel, in der
hintersten Ecke eines der Gemächer. Die Wächterinnen eilten daran
vorbei. Dann sah Sachi ein weiteres dieser Gebilde hinter einer
Tür. Riesige Reisighaufen. In einem Gemach nach dem anderen lagen
solche Reisighaufen und Büschel trockenen Grases in dunklen Ecken
verborgen. Instinktiv wusste sie, wofür sie gedacht waren, und bei
der Erkenntnis wurde ihr kalt vor Furcht. Das war also das
Schicksal, zu dem die Götter sie hierhergeführt hatten.
Schließlich kamen sie zu einer Reihe geschlossener,
mit großen roten Quasten behängter Türen. Die Wächterinnen knieten
nieder und verkündeten: »Ihre Gnaden, die im Ruhestand lebende Dame
Shoko-in.«
Eine Tür glitt auf. Dahinter lag eine Frau auf den
Knien, den Kopf an die Tatami gedrückt. Sachi sog die Luft ein. Sie
kannte diesen gerundeten Rücken und das dicke, zu einem einfachen
Knoten aufgesteckte Haar. An jedem Morgen ihres Lebens im Palast
war dieser Kopf da gewesen, hatte sich an der Tür zu ihrem Gemach
verbeugt. Bei dem Anblick kam ihr der Palast nicht mehr so fremd
vor. Sie war doch heimgekehrt.
Die Frau hob den Kopf, legte die Hand über den Mund
und lächelte, bis ihre Katzenaugen in den Falten ihrer runden,
rosigen Wangen verschwanden. Tränen liefen ihr über das füllige
Gesicht.
»Also, niemals!«, rief sie. »Niemals! Herrin! Ich
dachte, ich würde dich niemals wiedersehen.«
»Haru! Große Schwester!«
»Willkommen zu Hause. Willkommen zu Hause!«
Haru - die Sachi unter ihre Fittiche genommen
hatte, als sie gerade aus dem Dorf gekommen war, neu und
verängstigt, und eine Dame aus ihr gemacht hatte; die sie gelehrt
hatte, wie
eine Dame am Hof des Shogun zu sprechen und mit würdevollen
Schritten zu gleiten, statt wie eine Bäuerin zu trampeln; wie man
schön schrieb, anmutig aß, sang, tanzte, die Sachi alles sanft
erklärt und sie freundlich verbessert hatte. An dem Tag, als Sachi
befohlen wurde, in das Gemach Seiner Majestät zu gehen, war es Haru
gewesen, die ihr sagte, was sie zu tun hatte und dass sie keine
Angst haben müsste. Haru mit ihren Geschichten und Späßen - die
Geschichte von der Leiche im Palankin, das Gerede von dem
Eidechsenpulver und den Pilzstängeln …
Sachi versuchte zu sprechen, aber es kam kein Wort
heraus. Tränen strömten über ihre Wangen. Auch Taki weinte.
Sachi kniete nieder, tupfte sich mit dem Ärmel über
die Augen. Sie nahm Harus weiche Hände in die ihren und drückte
sie, musste sich vergewissern, dass sie eine lebendige Frau war und
kein Geist. Sie blickte ihr ins Gesicht. Runzeln hatten sich auf
ihrer Stirn gebildet, und in ihrem Haar waren graue Strähnen. Um
ihre Augen entstanden immer noch viele Fältchen, wenn sie lachte,
aber es lag auch eine neue Traurigkeit darin.
»Große Schwester. Den Göttern sei Dank, den Göttern
sei Dank. Du hast das Feuer überlebt.«
»Ja, die Götter waren auf meiner Seite«, lächelte
Haru. »Und auf deiner.«
»Große Schwester, wie geht es allen? Ihre Hoheit,
wie geht es ihr? Wo sind all die Damen?«
Aber Haru antwortete nicht. Sie starrte Sachi
seltsam an, als hätte nun wiederum sie einen Geist gesehen.
»Also, niemals!«, wiederholte sie. »Du siehst aus
wie …«
Sachi konnte sich vorstellen, wie sie aussehen
musste - wie eine Wilde oder eine Wahnsinnige, mit ihrem zerzausten
Haar und den glänzend weißen Zähnen und den formlosen, bäuerlichen
Kleidern.
Haru schüttelte den Kopf. »Ich werde anscheinend
alt«, sagte sie. »Kommt, ihr beide, ihr müsst baden und euch
umziehen. Ich werde Ihre Hoheit benachrichtigen. Aber … wie seid
ihr hierhergekommen? Wie habt ihr es unbeschadet durch die Stadt
geschafft? Ich hörte, dass überall Strauchdiebe aus dem Süden
herumlungern und die gesamte Bevölkerung geflohen ist. Ihr hättet
fortbleiben sollen. Hier gibt es nichts als den Tod, für uns
alle.«
Nicht alle waren fortgegangen. Noch gab es genügend
Dienstbotinnen, die dafür sorgten, dass die großen Bäder von
dampfendem Wasser überflossen. Es wäre wirklich das Ende, wenn es
das nicht mehr gebe, dachte Sachi. Auf kleinen Holzhockern neben
den Badezubern schrubbten Taki und sie sich gegenseitig den Rücken;
es gab keine Bademädchen mehr, und außerdem war sie es gewohnt,
Taki um sich zu haben.
»Setz dich mit mir zusammen hinein, Taki«, sagte
sie.
Sie stiegen in das heiße Wasser, ließen sich bis
zum Hals hineinsinken und blieben eine Weile so sitzen, spürten,
wie die Müdigkeit des Tages von ihnen wich. Sachi war dankbar für
den herumwirbelnden Dampf, der ihre Tränen verbarg. Das hier war
nicht das Zuhause, an das sie sich erinnerte, dieser trostlose,
hallende Palast. Sie hatte sich eingeredet, dass dies hier, trotz
aller Veränderungen in der äußeren Welt, immer noch ein
Zufluchtsort war. Wie sehr sie sich doch geirrt hatte.
Shinzaemon … Shinzaemon … Wenn er nur bei ihr wäre!
Es kam ihr vor, als würde ein Teil von ihr fehlen. Ohne ihn war die
Welt ein unwirtlicher Ort. Sie fühlte sich verlorener, als sie es
je für möglich gehalten hatte.
Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen -
seine schrägen Augen, die dichten Brauen, die breite Nase, den
vollen Mund. In Gedanken ging sie jeden Tag durch, jeden Augenblick
ihres Beisammenseins, all die Dinge, die er getan und gesagt hatte
-
als er ihr die wilde Orchidee überreichte, als er sagte, er würde
sie in das Dorf begleiten. Sie versuchte sich an die Berührung
seiner Hand und seinen salzigen Geruch zu erinnern. Es war töricht
gewesen, sich darauf einzulassen, aber sie bedauerte es nicht im
Geringsten, war glücklich, sich daran erinnern zu können.
Takis dünnes, hohlwangiges Gesicht war von der
Hitze tiefrot geworden. Sachi sah, dass sie ebenfalls weinte.
»Ich dachte, sobald wir in den Palast zurückkämen,
wäre ich wieder ich selbst«, schniefte Taki. Ihre Piepsstimme
hallte klagend durch die großen Baderäume. Sie bewegte sich ein
wenig, und Sachi spürte die Hitze auf ihrer Haut, als sich das
heiße Wasser kräuselte. »Ich hätte nie gedacht, dass es möglich
wäre, so zu empfinden. Ich wusste nicht, dass es solche Gefühle
gibt. Wenn wir hiergeblieben wären, dann wäre nichts von all dem
geschehen. All diese Freiheit ist uns zu Kopf gestiegen. Das sage
ich mir immer wieder. Wir haben uns einfach fortreißen lassen, du
und ich.«
Aber Taki und ich sind nicht mehr dieselben, dachte
Sachi. Taki war nie zuvor über die Grenzen ihres Familienheims oder
des Frauenpalastes hinausgekommen. Sie hatte kein anderes Leben
gekannt. Durchaus möglich, dass ihr das Unterwegssein, zusammen mit
Männern, tatsächlich zu Kopf gestiegen war. Da für sie alles so neu
war, musste es äußerst berauschend gewesen sein. Kein Wunder, dass
sie sich in den gut aussehenden Toranosuké verguckt hatte. Doch
Sachi war weit entfernt vom Palast aufgewachsen und hatte immer
gewusst, dass er nicht die einzige Welt war, die es gab.
»Als wir hierher zurückkamen, dachte ich, es würde
wie das Aufwachen aus einem Traum sein«, seufzte Taki. »Aber ich
scheine nicht aufwachen zu können. Ich habe das Gefühl, dass das
hier alles der Traum ist.«
»Wie bei Urashima und der Tochter des
Drachenkönigs«, sagte Sachi leise. »Was war wirklich und was war
Traum - sein Dorf, nachdem er dreihundert Jahre im Palast unter dem
Meer gewesen war?«
Taki murmelte die ersten Zeilen eines Gedichtes:
»Kakikurasu | Durch den schwärzesten Schatten |
Kokoro no yami ni | Der Dunkelheit des Herzens wandere ich |
Madoiniki | In Verwirrung …« |
Sachi kannte es gut - ein wunderschönes Gedicht,
geschrieben vor Hunderten von Jahren von dem großen Dichter und
Liebhaber Ariwara no Narihira. Es schien vollkommen mit ihren
Gefühlen übereinzustimmen. Für einen Augenblick vergaßen Sachi und
Taki ihre Schwermut und rezitierten die Coda gemeinsam; ihre
Stimmen hallten in dem großen Badehaus wider:
»Yume utsutsu to wa | Ob es Traum oder Wirklichkeit ist: |
Koyoi sadame yo | lass uns heut’ Nacht entscheiden.« |
Taki seufzte. »Wir werden schon bald aufwachen«,
sagte sie. »Wir leben nicht in einem Märchen. Wir sind keine Bauern
oder Kinder, die ihren Gefühlen blind folgen. Das führt nur in die
Katastrophe. Je schneller wir uns davon lösen, desto besser.«
Sie hat Recht, dachte Sachi. Gleichwohl hatte sie
nicht vergessen, dass Shinzaemon am kommenden Abend vielleicht an
der Brücke warten würde. Nach dem morgigen Abend, befahl sie sich
streng. Dann war der Zeitpunkt gekommen, diese kindischen Gefühle
zu zügeln.
Nach dem Bad saß sie schweigend da, während Taki
herumhantierte, Sachi die Zähne schwärzte und die Augenbrauen
rasierte. Wenn sie zuvor in den Spiegel geschaut hatte, war da das
strahlende Gesicht gewesen, das Shinzaemon sah. Jetzt war ihr
Spiegelbild bleich und fahl.
Sorgfältig schminkte Taki ihr das Gesicht
porzellanweiß, legte ihr Wangenrot auf, machte den Mund klein und
rot wie eine Rosenknospe und tupfte ihr die beiden Mottenflügel auf
die Stirn. Dann kämmte und ölte sie Sachis Haar, bis es wie ein
schimmernder schwarzer Vorhang herabfiel. Sie hob es Strähne für
Strähne an und hielt eine Räucherpfanne darunter, um das Haar zu
parfümieren, und legte Kimonos zurecht, Schicht um Schicht, passend
für eine Witwe, die das heilige Gelübde abgelegt hatte.
Nach und nach verschwand Sachi, die Tochter des
Dorfvorstehers, die anonyme Reisende auf der Inneren Bergstraße. Im
Spiegel vor ihr erschien die im Ruhestand lebende Dame Shoko-in,
die verwitwete Konkubine Seiner verstorbenen Majestät, Herrn
Iemochi. Taki rückte noch einmal die Gewänder zurecht, zupfte herum
und glättete die Kragen, bis sie vollkommen parallel lagen. Als sie
ihr in den Überkimono half, wurde Sachi ernst und gesetzt, spürte
wieder das Gewicht der Sorgen und Verantwortungen, die zusammen mit
dem Gewicht der vielen Stoffschichten auf ihren Schultern
lasteten.
Aber innerlich wusste sie, dass sie diese Person
nicht mehr war. Unter dem weißen Puder war Farbe in ihren Wangen
und ein neues Licht in ihren Augen. Sie hatte zu viel gesehen, war
an zu vielen Orten gewesen. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde,
und sie würde ihre Pflicht tun. Gleichwohl hatte sie die Freiheit
gekostet und konnte nie wieder dieselbe sein.
Sachi eilte zu den Gemächern der Prinzessin und
kniete vor der Tür nieder, voller Furcht, was sie vorfinden und wie
sie
empfangen werden mochte. Sie atmete tief durch und schob dann
leise die Tür auf.
Trotz der lastenden Stille hatte sie halbwegs
erwartet, einen Vorraum mit goldenen Wandschirmen zu erblicken,
voll von goldverzierten Kästen auf Lackborden, plaudernden und
lachenden Hofdamen, die mit Kimonostoffen hin und her eilten und
dabei mit ihren prächtigen Gewändern raschelten. Aber der Raum war
so gut wie leer. Es gab nur ein paar Ständer mit Kimonos zum
Lüften, eine einzelne Kimonotruhe und ein Kosmetikkästchen.
Die Prinzessin war allein und nicht mal hinter
Stellschirmen verborgen. Sie kniete an einem kleinen Tisch mitten
im Raum, hielt einen Pinsel in ihren dünnen Fingern und schrieb.
Sie beendete den Strich und legte den Pinsel ab. Dann blickte sie
sich um, neigte den Kopf und berührte die Tatami mit den
Fingerspitzen.
»Ich habe Euch viel aufgebürdet«, murmelte sie,
sprach diese formellen Begrüßungsworte in der archaischen Sprache
des kaiserlichen Hofes. Ihre Stimme hatte sich nicht verändert. Es
war dasselbe piepsende, vogelartige Flüstern, das Sachi so gut
kannte. »Ihr müsst müde sein. Ihr habt einen langen Weg hinter
Euch. Was für eine Reise Ihr gemacht haben müsst.«
Sie lächelte ihr sanftes, trauriges Lächeln und
wechselte in die Sprache der Adligen aus Edo über.
»Willkommen, Kind«, sagte sie. »Haru hat mir von
deiner Rückkehr berichtet. Komm und setz dich zu mir.«
Tränen brannten Sachi in den Augen. Diese Frau zu
sehen, die stets von Schwärmen von Hofdamen umgeben gewesen war,
die in ihrem ganzen Leben nie etwas selbst hatte tun müssen - sie
hier so allein sitzen zu sehen, war zu bewegend für Worte.
Schweigend kniete Sachi sich vor die Prinzessin und
blickte
ihr unauffällig ins Gesicht. Ein beklagenswerter Verstoß gegen die
Etikette, aber sie musste das Gesicht des Menschen sehen, der ihr
so am Herzen lag.
Unter der weißen Schminke war die Haut der
Prinzessin nach wie vor durchscheinend bleich. Die zart
geschwungene Nase, die großen traurigen Augen, der winzige,
aufgeworfene Mund - nichts hatte sich verändert. Sie war so dünn,
dass es aussah, als könnte sie jeden Augenblick in die Welt der
Geister entschwinden. Ein paar ihrer Haarsträhnen waren in
Unordnung, als müsse sie sogar - eine unmögliche Vorstellung - ihre
Haare selbst kämmen. Zwischen den rasierten Augenbrauen entdeckte
Sachi eine leichte Falte, ein Zeichen ihres Kummers.
Doch etwas war anders. Sie hielt sich aufrechter.
In ihren Augen war ein Glitzern, als hätte sie etwas gefunden,
wofür es sich zu kämpfen lohnte nach den vielen Jahren, in denen
sie ihr Leben nur teilnahmslos an sich vorbeiziehen sah. Sie wirkte
kühner, gebieterischer.
»Komm«, sagte die Prinzessin und führte Sachi zu
einer Seite des Raumes. Auf dem Altar standen eine Gedächtnistafel
und eine kleine Daguerreotypie. Dieses Bild! Sachi erinnerte sich
so gut daran. Sie nahm es in beide Hände und hob es ehrfurchtsvoll
an die Stirn. Durch die Tränen, die ihr in die Augen traten, über
die Wangen liefen und die Schminke verschmierten, konnte sie kaum
sehen. Das war Seine verstorbene Majestät. In ihrer Erinnerung war
er stets so kenntnisreich, so erwachsen gewesen. Aber damals war
sie nur ein Kind gewesen. Auf dem Bild erkannte sie jetzt, dass er
bloß ein verletzlicher Junge war. Die beiden Frauen knieten
gemeinsam, murmelten Gebete, ließen die Gebetsperlen durch die
Finger gleiten.
»Ich bin froh, dass Eure Hoheit diese Dinge
gerettet haben«, flüsterte Sachi.
»Dich zu sehen, erinnert mich an glücklichere
Zeiten«, erwiderte
die Prinzessin. »Und doch … Waren sie so glücklich? Wenn ich ihm
nur eine bessere Gemahlin gewesen wäre.«
»Ich bin sicher, er …«, sagte Sachi und hielt inne.
Es stand ihr nicht zu, von solchen Dingen zu sprechen.
Prinzessin Kazu tupfte sich die Augen mit dem Ärmel
ab. »Gut, dass du zurückgekommen bist«, sagte sie. »Es gibt eine
Menge zu erzählen. Vieles ist geschehen, seit du fort warst.«
Schweigen füllte den Raum. Sachi wartete
respektvoll darauf, dass die Prinzessin fortfuhr.
»Du hast deine Mission erfolgreich beendet.«
Mission? Sachi hatte fast vergessen, dass sie eine
Mission gehabt hatte.
»Wir hörten, dass der kaiserliche Palankin von
Rebellen angegriffen wurde. Die Leute sagten, man habe mich
entführt - mich oder die Ehemalige oder uns beide - und nach
Satsuma gebracht, der Hochburg der Aufständischen. Ja, die Leute
waren voller Wut. Niemand bezweifelte, dass der Palast von Rebellen
aus dem Süden in Brand gesetzt worden war. Unsere Männer brannten
die Residenz des Satsuma-Clans nieder und verjagten ihre Anhänger
aus der Stadt. Später fanden sie den kaiserlichen Palankin …
irgendwo weit von Edo entfernt.«
Sie blickte auf ihre schmalen, im Schoß gefalteten
Hände und schaute dann wieder auf.
»Wir dachten, wir hätten dich verloren«, sagte sie
leise. »Wir trauerten um dich. Wir dachten, du wärst für immer von
uns gegangen …« Ihre Stimme verebbte. Sie blickte sich in dem
leeren Raum um und öffnete die Hände mit einer Geste der
Hilflosigkeit. »Unser Leben hat sich verändert. Unsere Welt ist am
Ende. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es dazu kommen
würde. Nie. Nie!«
Verblüfft über die Heftigkeit ihrer Worte sah Sachi
auf.
»Ich habe dich vermisst, Kind«, murmelte die
Prinzessin.
»Ich war traurig, dass ich dich auf eine so schreckliche Mission
geschickt hatte, ohne Gefolge, nicht mal mit einer einzigen
Kammerfrau. Wie hast du überlebt? Es muss entsetzlich gewesen sein
… da draußen, fort von all unseren Annehmlichkeiten. Ich bin froh
zu erfahren, dass du deine Pflicht getan hast. Aber es war grausam
von mir - unverzeihlich -, dich so fortzuschicken. Es beruhigt
mich, dich wieder hier zu sehen, und bei guter Gesundheit.«
Sachi sah sie erstaunt an. Die Prinzessin hatte
Tränen in den Augen. Dass sie überhaupt an Sachi gedacht hatte -
sich sogar vorzustellen versucht hatte, was aus ihr geworden war -,
zeigte ihr, wie viel die Prinzessin gelitten, wie sehr sie sich
verändert hatte.
»Eure Hoheit. Es ist sehr unhöflich von mir, aber …
Was ist mit den Damen geschehen? Der Dame Tsuguko …?« Die
Oberhofdame war stets an der Seite der Prinzessin gewesen. Sachi
wagte nicht daran zu denken, was mit ihr geschehen war.
»Dame Tsuguko …«, wiederholte die Prinzessin. Ein
Schatten glitt über ihr Gesicht.
Schritte überquerten die Tatami vor dem Gemach der
Prinzessin. Die Tür glitt auf. Eine hochgewachsene Gestalt kniete
davor.
»Eure Kaiserliche Hoheit. Verzeiht meine Grobheit.
Ich hörte, dass sie zurückgekehrt ist. Meine Dame Shoko-in!
Schwiegertochter!«
Sachi kannte diese gebieterische Präsenz und die
tiefe, volltönende Stimme. Hastig verbeugte sie sich bis auf den
Boden und drückte ihr Gesicht auf die Hände.
Die Ehemalige trug einen eleganten Kimono in
schlichten Grautönen. Ihr Haar, das ihr bis auf die Schultern hing,
war glänzend und schwarz. Ihre Augen funkelten, ihre Schönheit war
ungetrübt. Sachi musste an die Eiskönigin aus dem
Volksmärchen denken, die Männer mit ihrer Schönheit in
schneebedeckte Ödnisse lockte und sie dort erfrieren ließ. Die
Ehemalige war genauso vollkommen und kaltherzig. Sie betrachtete
Sachi mit honigsüßem Lächeln. Sachi bekam es mit der Angst. War sie
den weiten Weg gekommen, nur um wieder zur Zielscheibe ihres Spotts
zu werden? Sie machte sich innerlich darauf gefasst.
»Willkommen«, sagte die Ehemalige glattzüngig. »Du
hast einen langen Weg zurückgelegt. Wie ungeheuer tapfer, hierher
zurückzukehren. Du zeigst große Gefolgschaftstreue zum Clan der
Tokugawa. Wir schließen dich wieder in unsere Umarmung.«
Die Prinzessin erwiderte die Verbeugung und achtete
sorgfältig darauf, den Kopf auch nicht einen Bruchteil tiefer zu
neigen als die Ehemalige. Sie kämpften also immer noch um den
Vorrang, sogar jetzt, wo nur noch sie beide übrig waren.
»Natürlich bin ich sehr glücklich, dich zu sehen«,
sagte die Ehemalige, an Sachi gewandt. Sachi verneigte sich. Die
Höflichkeit der Ehemaligen war viel beunruhigender als ihre offen
gezeigte Feindseligkeit.
»Wir dachten, du wärst zu deinen eigenen Leuten
zurückgekehrt«, fuhr die Ehemalige fort, sprach jede Silbe mit
eisiger Klarheit aus. »Wir hatten nicht erwartet, dich
wiederzusehen. Warum bist du zurückgekehrt?«
Sachi erschauderte. Die Worte trafen sie wie ein
Graupelschauer, ließen sie bis ins Mark gefrieren. Aber die
Schroffheit der Ehemaligen verletzte sie nicht mehr so wie
früher.
»Dir muss klar sein, dass alles vorbei ist«,
zischte die Ehemalige. »Hier gibt es nichts mehr. Keinen Luxus.
Nichts mehr außer dem Tod. Es besteht keine Notwendigkeit, dass du
bleibst. Alle sind fort. Alle außer uns.«
Alle fort … Falls ihre Mutter hier gewesen war,
dann war
sie also auch … Sachi versuchte zu schlucken, doch es gelang ihr
nicht.
»Du gehörst nicht hierher«, sagte die Ehemalige im
Ton höhnischer Verachtung. »Wir entlassen dich. Ich schlage vor,
dass du von hier verschwindest, solange du noch die Möglichkeit
hast.«
»Es ist sehr gut, dass du zurückgekehrt bist,
liebes Kind«, warf die Prinzessin hastig ein. »Wir sind froh, dich
zu sehen. Froh, dass du uns und den Tokugawa gegenüber solche
Gefolgschaftstreue empfindest. Froh, die Möglichkeit zu haben, uns
von dir zu verabschieden. Aber du musst gehen, und das schnell. Wir
gehören zu den Tokugawa, die Dame Tensho-in und ich. Wir sind
Gemahlinnen, wir haben in die Familie eingeheiratet. Doch du bist
jung. Das Leben liegt noch vor dir. Ich war diejenige, die dich
hierhergebracht hat - du kamst nicht aus freien Stücken. Jetzt ist
es meine Verpflichtung, dich zu entlassen. Du musst gehen.«
Aber die Prinzessin war ebenfalls nicht aus freien
Stücken gekommen, wie Sachi sehr wohl wusste. Dies war keine Welt,
in der man selbst über sein Leben bestimmen konnte, am wenigsten
die Prinzessin.
»Und … und was werden Sie tun?«, flüsterte
sie.
»Wir erwarten jeden Augenblick den Angriff«,
erwiderte die Prinzessin. Sie sprach leichthin, beinahe sorglos,
und Sachi sah, dass ihre Miene gelassen wirkte und ihre Augen
leuchteten. Als ob sie ihre Hochzeit besprachen, keine entsetzliche
Schlacht. »Die Stadt steht unter Belagerung. Wir hörten, dass
fünfzigtausend Soldaten bei Shinagawa und Itabashi bereitstehen und
auf den Angriffsbefehl warten. Wenn die Zeit kommt, werden unsere
Männer bis zum Tod kämpfen. Die Stadt wird in Flammen aufgehen. Wir
werden hierbleiben, die Dame Tensho-in und ich. Das ist unser
Platz. Wenn sie die Burg stürmen,
werden wir hier sein. Wir werden den Palast in Brand stecken und
uns töten. Geh, Kind. Geh jetzt.«
Also deswegen sah die Prinzessin so anders, so
lebendig aus. Das war das Schicksal, nach dem sie sich sehnte. Am
Ende anwesend zu sein, in Flammen aufzugehen mit der größten Burg
des Landes - das war ein Schicksal, das man mit Freuden
annahm.
Einen Moment lang fühlte sich auch Sachi wie
berauscht, mitgerissen von der Erregung der Prinzessin. Doch dann
dachte sie an Shinzaemon. Sie wollte den Tod nicht mehr umarmen wie
einen Liebhaber, wie es eine Samurai tun würde. Die Prinzessin und
die Ehemalige hatten keinen Grund zu leben, alt zu werden. Sachi
schon. In ihrer Vorstellung schlich sie sich aus der zum Untergang
verurteilten Burg. Taki würde mitkommen. Sie würden am Tsubone-Tor
auf Shinzaemon warten. Sie würde ihn anflehen, mit ihnen zu
fliehen. Natürlich würde er ablehnen, würde von Ehre und Pflicht
reden, aber sie würde sich einen Einwand nach dem anderen
ausdenken: Er müsse sie beschützen, das sei seine Pflicht.
Schließlich würde sie ihn überzeugen. Sie stellte sich vor, wie sie
drei aus der Stadt flohen, irgendwie die feindlichen Truppen
umgingen, die Innere Bergstraße erreichten und zwischen den Hügeln
verschwanden.
Aber dann fiel Sachi die Suche nach ihrer Mutter
ein. Sie musste herausfinden, ob sie noch lebte und was mit ihr
geschehen war. Wie konnte sie jetzt fortgehen, wenn auch nur die
kleinste Möglichkeit bestand, dass ihre Mutter am Leben war und auf
sie wartete? Ihr blieb keine Wahl. Sie kannte ihre Pflicht und was
sie zu sagen hatte. Sie war eine Kriegerfrau, eine Samurai, und
musste bereit sein, wie eine Samurai zu sterben, stolz und tapfer.
Ganz gleich, was sie in ihrem Herzen empfand, egal, was sie selbst
wollte, es war ihre Pflicht als Konkubine
des verstorbenen Shogun, bereit zu sein, gemeinsam mit der
Prinzessin und der Ehemaligen in den Tod zu gehen. Etwas anderes
blieb ihr nicht.
»Niemals!« Sie sprach ruhig und nachdrücklich.
»Auch ich bin eine Tokugawa, unwürdig, wie ich sein mag. Seine
Majestät hat gnädig geruht, mich zu seiner Konkubine zu nehmen -
seiner einzigen Konkubine. Ich werde das Schicksal der Tokugawa
teilen, ganz gleich, welches es ist.«
Die Ehemalige fixierte Sachi mit ihren schwarzen
Augen.
»Du nennst dich eine Tokugawa?«, blaffte sie mit
höhnisch verzogenen Lippen. »Du vergisst eines! Du bist keine
Samurai. Du bist eine Bäuerin. Erdreiste dich nicht, anzunehmen,
dass du unserem Kodex folgen kannst. Verschwinde, solange es dir
noch möglich ist.«
Aber Sachi fürchtete sich nicht mehr vor der
Ehemaligen.
»Ehrenwerte Dame«, sagte sie ruhig. »Ich bin
genauso eine Tokugawa wie Sie. Ich habe mir meinen Geburtsort nicht
ausgesucht, aber ich kann den Ort meines Todes wählen. Egal, was
ich bin, ich kenne meine Pflicht.«
»Kind, ich befehle dir, zu gehen«, sagte die
Prinzessin. »Die Zeit läuft uns davon. Du hast keine Verpflichtung,
hierzubleiben. Du musst gehorchen.«
»Niemals. Wenn Sie hier sterben, werde ich es auch
tun.«
Die Ehemalige seufzte. Ihr Gesicht wurde weicher.
Bildete sich Sachi das nur ein, oder erschien da sogar eine Träne
in diesen grimmigen Augen?
»Du zeigst große Stärke«, sagte sie
schließlich.
»Ihre Gnaden hat unsere Hofdamen angewiesen, die
Burg zu verlassen«, sagte die Prinzessin. »Sie schrie sie an,
erklärte, das sei ein Befehl. Doch sie ging nicht davon aus, dass
sie ihn befolgen würden.«
»Sie nennen sich Samurai«, höhnte die Ehemalige,
»und sie
fürchten sich vor dem Tod! Ich dachte, sie würden stolz darauf
sein, hierzubleiben und zusammen mit uns zu sterben. Aber sie sind
alle geflohen.« Ihre Lippen kräuselten sich wieder verächtlich.
»Sind zu ihren Familien zurückgekrochen. In der alten Zeit wären
alle geblieben.«
Die Prinzessin und die Ehemalige blickten sich an
und lächelten - ein triumphierendes Lächeln. Sachi hatte sie nie so
glücklich und stolz gesehen, als sei ihr Augenblick gekommen, als
ständen sie kurz davor, das Schicksal zu erfüllen, auf das sie so
lange gewartet hatten. Sie waren keine Opfer mehr, die gegen ihren
Willen verheiratet worden waren. Ihre Augen schimmerten wie die
junger Mädchen, die erbebend ihren ersten Liebhaber erwarteten, als
läge ihr ganzes Leben noch vor ihnen. Doch es war nicht das Leben,
sondern der Tod, nach dem sie sich mit solcher Ungeduld
sehnten.
»Die Zeiten haben sich geändert«, sagte die
Prinzessin. »Wir befinden uns nicht mehr in der Zeit der kämpfenden
Reiche, als sich die Menschen dafür entschieden, gemeinsam zu
sterben.«
»Es macht mich traurig, dass die Maßstäbe so tief
gesunken sind.« Die Ehemalige blickte Sachi unverwandt an und
lächelte. »Du hast dein Leben als Bauernmädchen begonnen. Aber du
hast wahrlich das Herz einer Samurai.«
II
»Nach dem Feuer hat die Prinzessin alle
aufgefordert, die Burg zu verlassen«, erzählte Haru. »Es wäre zu
gefährlich, hierzubleiben. Die Ehemalige sagte, es sei ein Befehl.
Wir sind hier in der Burg in großer Gefahr. Der Angriff kann jeden
Augenblick erfolgen. Die Truppen aus dem Süden haben die Stadt
im Würgegriff. Wenn sie die Burg einnehmen, beherrschen sie das
Land.«
Haru hatten die Essenstabletts hinausgebracht und
kniete jetzt, drehte ihren Fächer immer wieder in ihrer fülligen
Hand. Kerzen in hohen, goldenen Leuchtern standen um das Gemach
verteilt, knisterten und zischten. Die Kerzenflammen hüllten ihr
Gesicht in einen gelben Schein, flackerten über ihre runden Wangen.
Die Kimonoständer warfen lange Schatten. Sachi stellte sich vor,
außerhalb der Burgmauern zu sein, die gewaltige Silhouette der Burg
über sich aufragen zu sehen, die Dunkelheit nur unterbrochen von
ein paar nadeldünnen Lichtstrahlen.
»Aber du bist nicht gegangen«, meinte Sachi. »Die
Prinzessin sagte, du hättest gehen können, doch du hättest dich
geweigert.«
»Warum sollte ich gehen?«, fragte Haru scharf.
»Wohin? Zu wem?« Sachi sah sie erstaunt an. Harus Gesicht hatte
sich verändert. Ihre kleinen Augen hatten sich geweitet, und ihre
Brauen waren zusammengezogen, als sei ihr unerbeten eine
schmerzliche Erinnerung in den Sinn gekommen. Sie starrte in die
Ferne wie auf eine längst vergessene Vergangenheit. »Zu einer
Familie und in eine Provinz, die ich überhaupt nicht kenne?«, fügte
sie hinzu. »Dieser ferne Ort, aus dem ich stamme - er bedeutet mir
nichts. Ich bin schon mein ganzes Leben lang hier. Das ist meine
Familie und mein Zuhause.«
»Aber …« Sachi fielen die Geschichten ein, die Haru
ihr über die Tote im Palankin und viele andere seltsame und
schreckliche Dinge erzählt hatte, die in der Burg geschehen waren.
Haru hatte immer darüber geklagt, was für ein unglücklicher Ort das
wäre, wie ihr die Gesellschaft von Männern fehle. Doch als sie die
Möglichkeit gehabt hatte, die Burg zu verlassen, hatte sie sich zum
Bleiben entschlossen.
Haru musterte Sachi eindringlich. Sachi wandte sich
ab, da sie sich plötzlich unbehaglich fühlte.
»Und die Dame Tsuguko?«, fragte sie hastig.
Haru schüttelte den Kopf, kam in die Gegenwart
zurück.
»Niemand weiß es. Du warst die Letzte, die sie
gesehen hat. Brachte sie dich nicht zum kaiserlichen
Palankin?«
Natürlich. Die hochgewachsene Gestalt, die durch
die von Rauch erfüllten Räume eilte, während die Flammen immer
lauter prasselten. Sie konnte es kaum durch das Inferno
zurückgeschafft haben, musste dort umgekommen sein. Ein
bewundernswerter Tod, ein guter Tod: Sie war in Erfüllung ihrer
Pflicht gestorben. Trotzdem kamen Sachi die Tränen. Die Dame
Tsuguko hatte Sachi so vieles gelehrt und sich immer auf ihre Seite
gestellt. Warum musste das Leben so voller Traurigkeit sein?
Haru hatte für gewöhnlich ein sonniges Gemüt, doch
an diesem Abend wirkte sie ruhelos. Sie betrachtete Sachi, als
könne sie ihren Blick nicht von ihr wenden, schien durch sie
hindurch und über sie hinaus zu schauen. Sie öffnete den Mund, als
wollte sie etwas sagen, schloss ihn wieder, griff nach ihrem
Nähzeug und legte es gleich darauf beiseite. Erschreckt sah Sachi,
dass Tränen in Harus Augen standen.
In der Ecke lag das unförmige Bündel, das Sachi mit
in den Palast gebracht hatte. Der Brokat darin schien zu glühen,
die Blicke auf sich zu ziehen. Sachi fiel ein, dass Haru damals das
Wappen auf dem Kamm zu erkennen schien. Dasselbe Wappen war auf dem
Brokat eingestickt. Sie legte das Bündel vor sich auf den Boden und
machte sich an dem Knoten zu schaffen. Haru streckte die Hand aus
und nahm es ihr ab.
Sachi beobachtete sie neugierig.
Als Haru den Knoten gelöst hatte, fiel die dünne
Seidenumhüllung
auseinander. Darin lag der gefaltete Brokat, leuchtend wie der
Himmel.
Haru schnappte nach Luft und wurde bleich, als
hätte sie einen Geist gesehen. Sie starrte den Stoff an, streckte
zitternd den Finger aus und berührte den Brokat, schien nicht
glauben zu können, dass er echt war, und Angst zu haben, er könne
zu Staub zerfallen. Dann hob sie ihn hoch und schüttelte ihn aus.
Ein schwacher, muffiger Duft, so alt wie die Zeit - nach Moschus
und Aloe, Wermut und Weihrauch - stieg auf. Haru hielt den Stoff an
ihr Gesicht und atmete tief und bebend ein. Ihre Schulter krümmten
sich, ihr Gesicht sackte zusammen, und sie begann zu weinen. Sie
weinte, bis Sachi meinte, sie würde nie wieder aufhören.
Sachi blickte sie bestürzt an. Haru hatte das
Wappen nicht mal angesehen; es war der Brokat selbst, der diese
dramatische Wirkung ausgelöst hatte. Furcht grub sich in Sachis
Magen, umklammerte ihn mit eiserner Faust. Schließlich zwang sie
sich, etwas zu sagen.
»Du … du kennst ihn, Große Schwester.«
»Es ist so lange her. So viele Jahre.« Haru fuhr
sich mit dem Ärmel über das Gesicht und breitete den Brokat
vorsichtig auf ihrem Schoß aus. »Du siehst ihr so ähnlich, Kleine
Schwester«, hauchte sie. Ihre Stimme war ein heiseres Flüstern.
»Das dachte ich schon immer, aber ich konnte es einfach nicht
glauben. Ich redete mir ein, es sei Zufall, mein Gedächtnis ließe
mich im Stich. Wie konnte so etwas möglich sein?«
Sachi legte die Hände auf die Tatami, um ihr
Gleichgewicht zu halten. Die Wahrheit über ihre Mutter - darüber,
wer sie war - lag so nahe, doch plötzlich wusste sie nicht mehr, ob
sie es ertragen könnte, es zu erfahren. Sie hatte Angst.
»Wem sehe ich ähnlich?«, rief sie. »Große
Schwester, wem sehe ich ähnlich?«
»Es ist so lange her, seit ich sie zum letzten Mal
sah. Und dann kamst du. Zuerst warst du nur ein kleines Ding. Und
als du älter wurdest, ähneltest du ihr immer mehr … Und jetzt,
nachdem du fort warst und ich dich mit anderen Augen wiedersehe …
Mir ist, als wäre sie zurückgekommen. Als wäre sie wieder
hier.«
»Meine Mutter …« Sachi musste es aussprechen.
Haru weinte, brachte eine Weile kein Wort heraus.
Der Duft des Brokats erfüllte den Raum. Eine Kerze tropfte und
verlöschte. Mondlicht strömte durch das feine weiße Papier der
Fenster. Wo einst die Burg voller Stimmen, Schritte und Gelächter
gewesen war, herrschte absolute Stille, nur unterbrochen vom
Seufzen des Windes draußen in den Bäumen, dem Schrei einer
Nachteule und Harus Schluchzern.
»Sie war so schön. Sie war so wunderschön«, sagte
Haru schließlich mit gebrochener Stimme. »Jeder, der ihr Antlitz
sah, musste sich in sie verlieben. Und du … du bist genauso.«
»Ist sie hier, Große Schwester?« Sachis Stimme
klang schrill in der Stille. »Wenn ich sie nur sehen könnte, nur
ein einziges Mal.«
Haru wandte ihr das Gesicht zu. Sie war nicht mehr
die rundliche, fröhliche Haru, die Sachi kannte. Im schwachen Licht
der Kerzen war sie zu einer alten Frau verwelkt. Sie schüttelte den
Kopf.
»Ich … weiß nicht, wo sie ist«, flüsterte sie. »Ich
habe sie nicht mehr gesehen, seit … seit jenem Tag. Seit dem Tag,
an dem du geboren wurdest.«
Sachi wurde lange vor Morgengrauen wach und
wartete ungeduldig darauf, dass die ersten Lichtstrahlen durch die
hölzernen Läden drangen. Taki hatte wieder ihre Rolle als
Kammerfrau eingenommen. Sachi bat sie, die Läden
aufzuschieben.
In der Ferne krähten Hähne. Andere antworteten aus
dem Palastgelände. Vögel zwitscherten, Insekten summten, der süße
Duft des Frühlings strömte herein. Hunde bellten wie von Sinnen,
während die Stadt zum Leben erwachte. Tempelglocken erklangen, und
Trommeln verkündeten die Stunde.
Als der Konkubine des verstorbenen Shogun hatte man
Sachi eines der besten Gemächer im Palast zugewiesen. Während
bleiches Licht in den Raum sickerte, stellte sie einen Spiegel auf
einen Ständer und betrachtete ihr Gesicht, das ihr von der
polierten Metalloberfläche entgegenschimmerte. Sie musterte das
glatte, bleiche Oval, die gerade, beinahe kühne Nase, die schmalen
schrägen Augen, den kleinen aufgeworfenen Mund. Irgendetwas fehlte,
etwas anderes, das da sein musste, wenn sie es nur erkennen könnte.
Denn wie sie nun wusste, war es nicht nur sie selbst, die sie sah,
sondern eine Fremde: Ihre Mutter, die von einem tief verborgenen,
fernen Ort zu ihr zurückschaute.
Taki kniete hinter ihr und begann, Sachis
glänzendes schwarzes Haar zu kämmen.
»Haru scheint deine Mutter zu kennen«, sagte sie,
»und doch hat sie in all diesen Jahren nie etwas gesagt.
Irgendetwas muss geschehen sein, etwas Schreckliches, was sie
derart zum Weinen gebracht hat. Das sieht ihr überhaupt nicht
ähnlich.«
Sachi blieb so wenig Zeit, und es gab so vieles,
was sie erfahren musste.
Haru wartete im äußeren Gemach. Bei Tageslicht
hatte der Brokat seinen unnatürlichen Glanz verloren. Sachi strich
mit den Fingern darüber, als befürchtete sie, ihn nie
wiederzusehen, wenn sie ihn fortlegte - dass der Bann brechen, die
Frau, die zurückgekommen war, verschwinden würde. Sie sah zu Haru
auf.
»Sag mir ihren Namen, Große Schwester«, bat sie.
»Wie ist ihr Name?«
»Das werde ich, Herrin.« Sachi runzelte die Stirn.
Haru hatte sie noch nie »Herrin« genannt, sondern immer »Kleine
Schwester«. »Aber zunächst bitte ich dich inständig, mir von diesem
Brokat zu erzählen. Woher hast du ihn?«
Sachi lächelte. »Ich hatte ihn schon die ganze
Zeit, nur wusste ich das nicht«, antwortete sie. »Wir kehrten in
das Dorf zurück, wo ich früher gelebt habe. Da haben sie es mir
erzählt - meine … Eltern. Sie erzählten mir, dass mein Vater mich
zu ihnen gebracht hätte, eingewickelt in den Brokat.«
»Dein Vater …!« Haru wurde bleich. Ihre rundlichen
Hände fuhren zitternd hoch, um ihren Mund zu bedecken. »Er ist den
weiten Weg gegangen … bis in das Dorf?«
»Er ist ein entfernter Verwandter meiner Eltern. Er
hat sie erst kürzlich wieder besucht«, sagte Sachi, bemüht, ihr
Erstaunen zu verbergen. Konnte es möglich sein, dass Haru auch
ihren Vater kannte?
Haru schnappte nach Luft. »Du meinst … er ist am
Leben?«, fragte sie begierig. »Hast du ihn gesehen?« Sie blickte
Sachi eindringlich an, mit halbem Lächeln, als würden Erinnerungen
wachgerufen.
»Nein«, erwiderte Sachi. »Aber meine Eltern.«
Haru wich zurück, als fiele ihr plötzlich ein, wer
und wo sie war. »Und es ging ihm … gut?«, fragte sie, in eher
formellem Ton.
»Es geht ihm gut. Er war …« Wie konnte sie
aussprechen, dass er auf Seiten des Feindes stand?
Doch Haru war weit fort. Sie verschränkte die Arme
um ihren Obi und wiegte sich sanft vor und zurück. »Daisuké-sama,
Daisuké-sama«, murmelte sie, und ihre Augen füllten sich mit
Tränen. »Es wäre besser gewesen, wir hätten ihn nie zu Gesicht
bekommen, deine Mutter und ich. Aber dann … würdest du auch nicht
da sein.«
Eine Dienstbotin brachte ein Tablett nach dem
anderen mit Gerichten herein, wie Sachi sie seit dem Verlassen des
Palastes nicht mehr gesehen hatte.
»Erzähl mir … erzähl mir von meiner Mutter, Große
Schwester. Woher kanntest du sie?«
»Wir sind zusammen aufgewachsen, Herrin«, sagte
sie. »Mein Vater war ein Gefolgsmann ihres Vaters. Ich kam zusammen
mit ihr in den Palast. Ich war ihre Kammerfrau. Wir waren ständig
zusammen - genau wie ihr beide. Ich vermisse sie immer noch, ich
kann gar nicht sagen, wie sehr.«
Ihre Kammerfrau …! Taki gab einen erstaunten Laut
von sich. Ein langes Schweigen trat ein.
»Wie hieß sie?«, fragte Sachi leise.
»Okoto«, flüsterte Haru, kostete jede Silbe aus.
»Okoto-nakata. Dame Okoto.«
Dame Okoto. Im Schatten bewegte sich ein Kimono auf
einem Ständer in der Zugluft, die durch den Raum strich.
»Sie stammte aus dem Hause Mizuno. Ihr Vater war
Herr Tadahira, Kämmerer der Fürsten von Kisshu.«
Herr Mizuno … War das nicht der Mann, der in den
Palast gekommen war, um mitzuteilen, dass Seine Majestät erkrankt
sei, dieser grässliche Mann, den Taki und sie erst vor ein paar
Tagen beim Verlassen der Fähre gesehen hatten? Sachi sah sein
dunkles Gesicht vor sich, als er hinter Herrn Oguri an ihr
vorbeiging, verkleidet als Kaufmann, mit einem tief ins Gesicht
gezogenen Reisehut. Wie er sie angestarrt hatte, als sehe er einen
Geist … Es musste daran gelegen haben, dass sie ihrer Mutter so
ähnelte!
Haru hob den Brokat hoch, schüttelte ihn aus und
strich mit den Fingern darüber, bis sie das auf der Schulter
eingestickte Wappen fand. Wie gebannt schaute Sachi darauf. Das war
es, das Wappen der Mizuno. Sie hätte es erkennen müssen.
Sie wollte gerade etwas sagen, als sie spürte, wie
eine dünne Hand nach ihrem Arm griff. Sie hatte vergessen, dass
Taki und sie Schweigen gelobt hatten. Außer der Prinzessin und der
Dame Tsuguko wussten nur sie beide, dass er im Palast gewesen
war.
Sachi konnte noch seinen Schrei hören: »Geh weg!
Geh weg! Lass mich in Ruhe!« Wenn ihre Mutter aus derselben Familie
stammte wie dieser grässliche Mann, dann … Sachi auch. In ihren
Adern floss dasselbe Blut. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz
kalt.
»Meine Mutter war … die Amme deiner Mutter.« Haru
war so in ihre Geschichte vertieft, dass sie Sachis Reaktion auf
das Wappen gar nicht bemerkt hatte. Ihr Gesicht leuchtete. Sie
befand sich in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Sie setzte
sich auf die Fersen zurück, und die Worte strömten nur so aus ihr
heraus. »Damals war sie die Dame Ohiro, die kleine Dame Ohiro.
Selbst als kleines Mädchen war sie schon entzückend. Sie hatte das
lieblichste Gesicht, war überhaupt nicht schüchtern, als hätte sie
von klein auf gewusst, was für eine bedeutende Zukunft vor ihr lag.
Wir haben immer zusammen gespielt. Die Burg Tankaku in Shingu, in
der Provinz Kii - da lebten wir. Wenn es stürmisch war, konnte man
draußen das Meer rauschen hören. Ich lag dann auf meinen Futons und
lauschte auf die Wellen, die an die Felsen unter den Burgmauern
schlugen. Manchmal höre ich es heute noch.
Wir lernten zusammen. In allem, dem sie sich
zuwandte, war sie brillant - Lesen, Kalligraphie, Dichtkunst, der
Teezeremonie, dem Räucherwerkraten, der Koto, der Schwertlanze,
allem. Sie war sehr gescheit, viel gescheiter als ich. Aber wild,
so wild. Sie ging wandern, kletterte auf Bäume, auf die Klippen.
Stell dir das vor! Mein Vater pflegte zu sagen, sie hätte ein Junge
werden sollen, hätte zu viel Eigensinn, um ein
Mädchen zu sein. Sie bekam immer, was sie wollte. Sie konnte jeden
bezaubern.
Aber sie war gut zu mir. Sie behandelte mich wie
eine Schwester. Wir waren noch Kinder, als der Familie Mizuno
befohlen wurde, nach Edo in ihre Residenz zu ziehen. Sie sagte, sie
würde das nur tun, wenn ich mitkäme. Aber wir blieben nicht lange
dort, sie und ich. Zwei Jahre später trat sie in den Dienst des
Palastes und nahm mich als ihre persönliche Kammerfrau mit.
Ich war nicht viel älter als du bei deiner Ankunft,
Herrin. Der Palast war so riesig! Wie ein Labyrinth, endlos. Und
die Damen in ihren prächtigen Kimonos, ihren geschminkten
Gesichtern. So vornehm, so hochmütig. Ich hatte schreckliche Angst
vor ihnen.«
Haru seufzte und wischte sich eine Träne von der
Wange.
Sachi lag halb kniend auf der Tatami, das Kinn in
die Hand gestützt, den Blick auf Haru gerichtet. Sie war ganz
ergriffen von ihrer Geschichte und sog die Worte förmlich in sich
auf. Taki kniete neben ihr, hörte ebenfalls gespannt zu.
Zumindest wusste Sachi jetzt, dass adliges Blut in
ihren Adern floss. Deswegen war sie so blasshäutig, wie ein Geist
oder eine Aristokratin, nicht nussbraun wie die Bauern des
Kiso-Tals. Und vielleicht hatte sie das Schicksal deshalb in den
Frauenpalast geführt, genau wie ihre Mutter. Aber mehr noch: auch
sie war eigensinnig. Sie hatte dasselbe Blut wie der verrückte Herr
Mizuno.
»Die alte Dame Honju-in war damals Konkubine Nummer
eins«, fuhr Haru fort. »Ihre Majestät, die Midaidokoro, die Gattin
seiner Majestät, war längst gestorben. Daher hatte die Dame
Honju-in das Sagen. Sie führte den Palast mit eiserner Hand. Du
denkst, dass die Ehemalige hart ist. Die Dame Honju-in war
schlimmer, viel schlimmer. Die Prügel, die ich
bekam! Ich war grün und blau geschlagen. Sie war die oberste
Konkubine, weil sie die Mutter des Erben war. Ein hoffnungsloser,
tapsiger Junge von etwa zwanzig Jahren. Ich habe dir von ihm
erzählt. Schwach im Körper und schwach im Geiste. Alle hofften und
beteten, dass ein anderer Sohn der Erbe würde.
In dem Augenblick, als Seine Majestät Herr Ieyoshi
meine Herrin erblickte, verguckte er sich in sie. Das überraschte
mich nicht, nicht im Geringsten. Wer konnte ihr schon widerstehen?
Sie war so entzückend und strahlend und voller Sonnenschein - wie
du, Kleine Schwester. Genau wie du. Er war alt und kahl, aber ein
lieber Mann, sehr freundlich. Natürlich hatte er viele Konkubinen.
Doch er war nicht wie sein Vater, der Frauen sammelte wie
Keramiken. Er hatte ein empfindsames Herz. Er hatte immer eine
Favoritin. Seine letzte war im Kindbett gestorben. Er war so
traurig, hörten wir, konnte nicht schlafen, weinte die ganze Zeit.
Dann trafen wir ein.«
»Und was geschah dann?«
»Er warf nur einen Blick auf sie und fragte: ›Wie
heißt sie?‹ Ich wusste nicht mal, was die Frage bedeutete. Ich
begriff nicht, dass er meine Herrin zur Konkubine haben wollte.
Auch sie hatte Angst, genau wie du, als Seine junge Majestät nach
dir fragte. Aber sie musste es tun, das wusste sie. Also wurde sie
die Dame Okoto, die Dame des Seitengemachs.
Was für ein Leben wir führten! Wir waren in einer
Reihe prächtiger Gemächer untergebracht. Ich war ihre Oberhofdame.
Kaufleute standen Schlange am Palasttor mit Truhen und Kästen
voller Kimonos, Obis, Haarschmuck, Kosmetika, alles für sie. All
die Herren und Beamten und Höflinge und Kaufleute wollten sie auf
ihrer Seite haben, wenn sie Petitionen bei Seiner Majestät
einreichten. Sie wussten, dass sie nur durch sie das Ohr Seiner
Majestät gewinnen konnten. Meine Aufgabe war es, all diese
Geschenke zu sichten.
Es gab viele Konkubinen, aber Seine Majestät war
nur an ihr interessiert. Jeden Abend ließ er sie kommen. Im Jahr
nach unser Ankunft gebar sie einen Sohn, Prinz Tadzuruwaka. Es gab
ein großes Fest und eine Zeremonie, um ihn zum Erben Seiner
Majestät zu ernennen. Aber der Prinz lebte nicht lange. Er starb
noch im Säuglingsalter. Dann bekam meine Dame eine Tochter,
Prinzessin Shige. Auch sie starb …«
Harus Stimme verlor sich. Sachi schaute über ihre
Schulter. Sie meinte beinahe, die Anwesenheit ihrer Mutter, der
schönen Dame Okoto, hier im Raum bei ihnen zu spüren. Sie kniete
beim Fenster, ihr Haar schimmernd in geölten Wellen, und war mit
dem prächtigen Brokatüberkimono in der Farbe des Himmels bekleidet.
Vielleicht fühlte sich diese lebhafte, bezaubernde Frau im Palast
eingesperrt. Vielleicht blickte sie hinaus auf die Gärten und
wünschte sich, fliehen zu können, dachte an die Burg Tankaku und
die Wellen, die ans Ufer schlugen. Vielleicht war sie einsam
inmitten all der Geschenke.
»Niemand hätte sich vorstellen können, dass es so
weit kommen würde«, murmelte Haru. »Ich kann nicht sagen, ob wir
glücklich oder traurig waren. Wir lebten unser Leben, hier im
Palast. Und sie war immer noch jung, deine Mutter, hatte nicht mal
ihr zwanzigstes Jahr erreicht.« Sie verbarg ihr Gesicht in den
Händen. »Ich habe so sehr versucht, es zu vergessen!«, schluchzte
sie plötzlich. »Ich dachte, es sei mir gelungen. Aber dann bist du
aufgetaucht.« Sie warf Sachi einen Blick zu, während ihr Tränen
über die Wangen liefen.
Sachi beugte sich vor. Sie war sich äußerst
bewusst, wie wenig Zeit ihnen noch blieb, in welcher Gefahr sie
schwebten.
»Große Schwester«, drängte sie. »Ich bitte dich,
sag mir, wer mein Vater ist. Wie hat er … meine Mutter
kennengelernt?«
Die Schatten im Raum wurden länger. Fliegen
surrten. Eine glänzende Küchenschabe huschte über eine Wand. Auch
Taki
starrte ins Leere. Sachi erkannte, dass sie scharf nachdachte, die
Teile des Rätsels zusammenzusetzen versuchte.
Haru betrachtete den Brokat. Ehrfürchtig hob sie
ihn hoch und hielt ihn an ihre Wange.
»Dein Vater«, sagte sie leise. »Wenn du ihn nur
sehen könntest, würdest du es vielleicht verstehen. Ich entdecke
auch ihn in deinem Gesicht.«
Sachis Vater … Der Mann, der sie als Neugeborenes
zum Dorf getragen hatte; der Mann, der jetzt ein Feind war.
»Aber Haru, wie kannst du den Vater meiner Herrin
gekannt haben?«, wollte Taki wissen und sprach damit Sachis
Gedanken aus. »Du hast den Palast doch nie verlassen!«
»Ich werde es euch erzählen«, erwiderte Haru
zögerlich. »Ich habe mein Geheimnis so lange bewahrt. Aber jetzt
geht alles dem Ende zu. Nichts spielt mehr eine Rolle.
Es war … das Jahr des Hahns, das zweite Jahr der
Ära Kaei. Das Jahr, bevor du geboren wurdest. Baumeister waren
gekommen, um eine Schätzung über die jährlichen Reparaturarbeiten
abzugeben.«
Ihre Augen verschwanden in den Falten ihrer rosigen
Wagen, als ein schalkhaftes Lächeln ihr Gesicht zerknitterte. Einen
Augenblick lang war sie wieder die alte Haru.
»Es herrschte immer große Aufregung, wenn Männer
auftauchten. Wir Frauen beäugten sie alle durch das Gitterwerk.
Natürlich beteiligte sich meine Herrin, deine Mutter, nie an
solchem Unsinn. Schließlich war sie die Konkubine Seiner Majestät
und musste ihre Würde wahren. Aber Seine Majestät … Wie soll ich
das ausdrücken? Er brauchte einen Erben. Denn er war schließlich
der Shogun. Kurz gesagt, er rief sie nie mehr zu sich. Meine Herrin
bemühte sich nach Kräften, sich damit abzufinden. Doch sie war
immer so voller Leben gewesen. Sie wurde bleich und traurig.
In jenem Sommer waren die Damen alle aufgeregt und
flatterig, wie ein Wald voller Vögel, hielten nach diesen Männern
mit ihren Werkzeuggürteln Ausschau. Hässliche Burschen,
größtenteils, überhaupt nicht wie Samurai. Sie krochen herum, als
seien sie zu Tode erschrocken. Sie brauchten ja nur jemanden zu
brüskieren, und schon wurde ihnen der Kopf abgeschlagen.
Normalerweise hätten wir solchen Kreaturen nicht die geringste
Aufmerksamkeit geschenkt. Aber welche Möglichkeit hatten wir sonst,
Männer zu sehen?
Meine Herrin war in ihrem Gemach, zusammen mit
ihren Hofdamen, als die Tür aufglitt und einige der Handwerker
hereinkamen, um die Decke zu untersuchen. Ein paar von den
Bambuslatten waren abgenutzt und fielen auseinander. Wir hätten
überhaupt nicht dort sein sollen, aber niemand hatte uns
benachrichtigt, dass sie kamen. Meine Herrin erhob sich sofort, und
wir rauschten alle hinaus. Aber mir entging nicht, dass sie einen
der Zimmerleute musterte, und er sie. Nur einen Moment lang, nichts
Unziemliches.«
Haru schloss die Augen. Sie war weit fort, zurück
in einer fernen Zeit. Im Raum wurde es ganz still. Sachi saß wie
gebannt, wollte sich kein Wort entgehen lassen. Taki umklammerte
fest ihre Hand.
»Du meine Güte, sah der gut aus!«, sagte Haru
leise. Ȇberhaupt nicht wie die anderen Zimmerleute, ganz und gar
nicht. Er glich eher einem der Kabuki-Schauspieler, die wir alle so
bewunderten. Es war uns nicht erlaubt, ins Theater zu gehen, aber
einige der Damen hatten sich hinausschleichen können. Es gab einen
wirklich berühmten Schauspieler, den wir alle anbeteten - Sojiro
Sawamura. Und genauso sah dieser Zimmermann aus. Das fiel uns allen
auf. Unwillkürlich klopften unsere Herzen. Das war Daisuké-sama.
Dein Vater.
Später plauderten wir über ihn. Aber nicht meine
Herrin.
Sie sagte kein Wort. Dazu war sie viel zu vornehm. Doch als die
Tage vergingen, wurde sie bleicher und bleicher. Sie konnte nicht
essen. Sie wirkte verhärmt, hatte dunkle Ringe um die Augen, als
hätte sie Opium oder Absinth zu sich genommen. Ich befürchtete
schon, sie sei an der Schwindsucht erkrankt. Doch dann begann ich
mich zu fragen, ob ihr jemand Pulver von gebackenen Eidechsen ins
Essen gemischt hatte. So sah er nämlich aus, dieser ferne Blick in
ihren Augen, als befände sie sich nicht mehr in ihrem Körper.
Dann sagte sie eines Tages: ›Haru, Haru, ich glaube
ich bin unter einen Zauberbann geraten. Das ist wie geistiges
Verhungern. ‹ Geistiges Verhungern, genau das sagte sie. ›Tag und
Nacht kann ich an nichts anderes denken. So habe ich mich noch nie
gefühlt. Ich bin zu einem hungrigen Geist geworden. Ich werde
sterben, es sei denn … Irgendwie muss ich diesen Mann
wiedersehen.‹
Wir alle sehnen uns nach der Gesellschaft der
Männer, aber was können wir tun, außer es zu ertragen? Die
Einsamkeit, das Alleinsein ertragen, zu leben, ohne dass unser
Körper je entbrennt. Aber ihr war es stets gleichgültig, was andere
dachten. Sie musste immer das haben, was sie wollte. Ich bat einen
Priester, den ich kannte, uns zu helfen. Wir fanden den Namen des
Mannes heraus, und der Priester schickte ihm eine Nachricht. Ich
wusste, dass Daisuké-sama kommen würde. Das war schon bei dem einen
Blick, den sie gewechselt hatten, ersichtlich gewesen.
Wir dachten uns eine Geschichte aus. Meine Herrin
sagte, sie würde in den Zojoji-Tempel gehen, um an den Grabmälern
der Vorfahren Seiner Majestät zu beten. Welchen anderen Grund
könnte es geben, den Palast zu verlassen? Wir bestiegen Palankine
und wurden von einer Gruppe Hofdamen und Bediensteten begleitet.
Zwei der Hofdamen hatten wir ins
Vertrauen gezogen. Sie blieben bei den Palankinen am Zojoji,
während wir uns wegschlichen. Der Priester, den ich kannte, hatte
selbst schon Affären mit Palastdamen gehabt. Für ebensolche Zwecke
hatte er einen geheimen Raum in seinem Tempel. Dein Vater wartete
auf uns.«
Sachi schlug die Hände vor den Mund. Das war sie
also, daher kam sie. Ein geistiges Verhungern … Sie kannte das
Gefühl. Derselbe Wahnsinn wogte in ihren Adern. Aber zumindest …
zumindest war sie nicht so weit gegangen wie ihre Mutter. Sie hatte
Pflicht und Ehre nicht verworfen.
»Danach sagte sie kein Wort. Doch es hatte den
Hunger nicht gestillt. Ja, ihr Hunger wurde immer stärker, bis ich
glaubte, er würde sie auffressen. Wieder und wieder besuchten wir
die Grabmäler der Vorfahren des Shogun. Seine Majestät muss gedacht
haben, sie sei plötzlich sehr fromm geworden - abgesehen davon,
dass er überhaupt nicht mehr an sie dachte. Das war das Traurige
daran. Ich sagte ihr immer wieder, sie müsse aufhören. Aber sie
konnte nicht. Sie konnte einfach nicht aufhören, sich mit ihm zu
treffen.
Ich bediente die beiden mit Sake, während sie sich
unterhielten. Nach einer Weile schien es keine Rolle mehr zu
spielen, dass er gut aussah oder sie schön war. Sie mussten einfach
nur zusammen sein.
Meine Herrin wurde wieder rundlich. Sie blühte auf
wie eine Blume. Ihre Augen glänzten, sie hatte Farbe in den Wangen,
sie lachte und scherzte. Wenn wir allein waren, redete sie
ununterbrochen von ihm. Ich befürchtete, die Palastfrauen würden
bemerken, wie sehr sie sich verändert hatte. Bald kam mir Getuschel
und Klatsch zu Ohren. Die anderen Konkubinen waren tödlich
eifersüchtig auf sie, weil sie die Favoritin des Shogun gewesen
war. Sie hatte viele Feindinnen.
Dann stellte sich heraus, dass sie schwanger war.
Doch
Seine Majestät hatte sie seit Monaten nicht mehr zu sich gerufen.
Es war offensichtlich, dass sie es loswerden musste - aber der
Gedanke war ihr unerträglich. Wir hatten Winter. Meine Herrin zog
die Kimonos Schicht um Schicht übereinander, um ihren Bauch zu
verbergen. Sie gewöhnte sich an, ständig in ihrem Gemach zu
bleiben, bis auf die Treffen mit deinem Vater im Tempel.
Auch das Kind gebar sie dort. Ich half ihr. Ich
brachte dich mit auf die Welt. Ich erinnere mich noch an dich - so
ein winziges, verschrumpeltes Ding.«
Haru schaute Sachi an und schenkte ihr ein
mütterliches Lächeln. Dann legte sie Sachi die rundliche Hand an
die Wange, als müsste sie sich ihrer Anwesenheit versichern.
»Zuerst waren sie so glücklich, die beiden. Sie
hielten dich, betrachteten dich. Sie konnten nicht aufhören, dich
und einander anzusehen. Aber dann geriet meine Herrin in Panik.
›Wir müssen zurück in die Burg‹, sagte sie. ›Sie werden uns
nachkommen und mein Kind töten.‹ ›Du musst dich ausruhen‹, sagte
ich zu ihr, aber sie hatte zu viel Angst.
Meine Herrin begann zu weinen. Sie konnte es nicht
ertragen, dich zu verlassen, auch nur für kurze Zeit. Sie wusste,
dass sie zu weit gegangen und sich eines unverzeihlichen
Verbrechens schuldig gemacht hatte. Sie trug den Brokatkimono, den
du hast. In den wickelte sie dich ein und steckte ihren Kamm in die
Falten. ›Da, Kleine‹, sagte sie. ›Wenn mir irgendetwas zustoßen
sollte, komm und suche mich eines Tages.‹ Und es hat geklappt,
siehst du. Auf seltsame Weise hat es geklappt.«
Haru schlang die Arme um ihre Brust und wiegte sich
vor und zurück. Dann holte sie tief Luft.
»Danach … legte sie dich in die Arme deines Vaters.
Wir trugen sie zum Palankin, sie konnte nicht laufen. So … Auf
diese Weise kamen wir zurück in den Palast.«
Eine große Ratte huschte in eine Ecke. Die Kerzen
schimmerten mit hellem, gelbem Licht. Die Schatten im Raum wurden
länger. Es war beinahe Abend.
»Als wir zurückkamen, war eine Nachricht
eingetroffen. Der Bruder meiner Herrin sei schwer erkrankt.«
Sachi zuckte zusammen. Der Bruder ihrer Mutter -
Herr Mizuno; vielleicht derselbe Herr Mizuno, den sie beim
Überqueren des Flusses gesehen hatte. Taki warf ihr mit gerunzelter
Stirn einen warnenden Blick zu.
»Sie solle sofort in die Residenz ihrer Familie
hier in Edo kommen«, fuhr Haru fort. »Ich dachte, ich würde mit ihr
gehen, aber sie wies mich an, zu bleiben. ›Wenn ich morgen nicht
zurück bin‹, sagte sie, ›teile Daisuké mit, dass er nicht warten
soll. Nichts anderes ist wichtig, nur meine Tochter. Sie muss in
Sicherheit gebracht werden.‹ Sie ließ mich schwören, das Geheimnis
zu bewahren. ›Erzähle nie jemandem davon, außer meinem Kind‹, sagte
sie. Am nächsten Tag kam sie nicht zurück und auch nicht am
übernächsten. Ich schlich mich hinaus und ging zum Tempel. Daisuké
war bereits fort und hatte dich mitgenommen. Der Priester wusste
nicht, wohin er gegangen war.
Es war das letzte Mal, dass ich den Palast verließ.
Ich konnte nicht mal weinen und auch niemandem berichten, was
geschehen war. Mein Leben war vorüber. Ich blieb einfach hier,
verrichtete meine Arbeit. Ich konzentrierte mich darauf, die neuen
Mädchen zu unterweisen.
Und dann … kamst du. Du warst noch so jung, aber
etwas an dir ließ mich an jenes Kind denken. Wenn die Kleine am
Leben geblieben wäre, dachte ich, wäre sie jetzt genau in deinem
Alter. Und dann sah ich deinen Kamm. So ein prächtiger Kamm für ein
kleines Mädchen vom Land. Er glich genau demjenigen, mit dem ich
die Haare meiner Herrin zu kämmen
pflegte, Stunde um Stunde. Ich redete mir ein, dass ihn ein
Kaufmann in deinem Dorf gelassen haben musste. Aber trotzdem konnte
ich nicht umhin, mir Fragen zu stellen. Und jetzt ist es, als wäre
sie zurückgekehrt. Sie ist wieder hier, meine geliebte Herrin, in
dir.«
Sachi war nach wie vor von Harus Geschichte
gefesselt - von ihrer eigenen Geschichte. Aber der Kamm, der Kamm …
Sie hatte ihn Shinzaemon gegeben, mit dem sie durch eine Beziehung
verbunden war, die beinahe so besessen, so wahnsinnig - so
gefährlich - war wie die ihrer Mutter zu ihrem Vater.
Plötzlich nahm sie das Tropfen der Kerzen und die
länger werdenden Schatten im Raum wahr. Sie straffte sich und stand
auf. Sie fühlte sich seltsam körperlos, als hätte sie keine
Herrschaft über ihre Glieder.
»Du hast deine Mutter in dir«, sagte Haru. Ein
wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Einen Augenblick lang überlegte Sachi, was sie
meinte, aber sie hatte Dringenderes zu bedenken.
»Geh«, sagte Haru. »Geh nur, Herrin. Geh zu
ihm.«
III
Sachi eilte über das Palastgelände, so schnell sie
konnte. Sie hatte den Umhang einer Städterin über ihre Hofgewänder
geworfen und sich ein Tuch um den Kopf geschlungen. Ihre Röcke
klebten an ihren Beinen, zwangen sie zu kleinen Trippelschritten.
Sie war erhitzt und keuchte, war schweißüberströmt. Sie hörte ihren
Atem laut in der Stille. Von Hofdamen wurde erwartet, anmutig wie
über Eis zu gleiten, nicht wie Bäuerinnen zu rennen. Kaum nahm sie
den Schlamm wahr, der an ihren Getas klebte und ihre Rocksäume
bespritzte. Sie wusste
nur, dass sie bei Einbruch der Abenddämmerung am Tsubone-Tor sein
musste.
Die Gärten waren verwildert, und Kirschblüten
schwebten herab wie Schnee. Sie blieben an ihren Kleidern hängen
und lagen in feuchten Haufen am Boden, ballten sich um ihre Füße
zusammen. Blind eilte sie an den weitläufigen Palastgebäuden
vorbei, an den Bächen und Brücken und Pavillons und der
ausgebrannten Ruine des Frauenpalastes. Sie hörte Takis Schritte,
die hinter ihr herhasteten. Auch der alte Mann, dem sie bei ihrer
Ankunft begegnet waren, tauchte aus dem Nichts auf. Wenn ihnen
Wachposten begegneten, rief er ihnen eine Warnung zu und scheuchte
sie weg.
Das Gelände wimmelte von Soldaten. Die Frauen
mochten die Burg verlassen haben, aber Männer waren in großer Zahl
hier; Regimenter marschierten mit Gewehren auf und ab und
bereiteten sich auf die Verteidigung der Burg vor.
Das Tsubone-Tor - das Tor der Damen des Shogun, der
Eingang zum Frauenpalast der Hauptzitadelle - war fest
verschlossen. Eskortiert von dem alten Mann, schlüpften die beiden
Frauen zwischen den Wachen hindurch und eilten durch die kleine Tür
neben dem Außentor. Taki blieb im Schatten stehen, während Sachi
auf die Brücke hinaustrat. Sie wusste, dass nur sehr wenig Zeit
blieb. Die Tür würde bei Einbruch der Nacht verschlossen werden.
Sich nach Dunkelheit außerhalb der Burg aufzuhalten und sich damit
auf Gedeih und Verderb den Soldaten aus dem Süden auszuliefern, war
undenkbar.
Während sie allein auf der Brücke stand, vor den
hoch aufragenden Wehrmauern der Burg, fühlte sie sich plötzlich
sehr klein. Auf der anderen Seite war ein riesiger Platz und
dahinter, winzig in der Ferne, eine große Mauer um eine der
Daimyo-Residenzen. Breite Alleen führten in alle Richtungen. Das
Wasser des Burggrabens glitzerte in den letzten Strahlen der
untergehenden Sonne. Fledermäuse flatterten und hoben sich vor dem
riesigen Bogen des dunkler werdenden Himmels ab.
Sachi ging allmählich auf, wie leichtsinnig sie
war. Die Straßen waren vollkommen leer, und falls plötzlich
Strauchdiebe oder Schurken oder feindliche Soldaten auftauchten,
würde sie rennen müssen, um das Tor wieder zu erreichen. Von
irgendwo nicht weit entfernt waren raue Schreie und hastige
Schritte und Schüsse zu hören. Furcht überkam sie. Fest umklammerte
sie ihren Dolch, wagte kaum zu atmen.
Der Mond stieg wie eine riesige, runde Laterne
hinter den Bäumen auf, das Bild des Kaninchens, das Reiskuchen
stampft, deutlich auf der Oberfläche.
Natürlich würde Shinzaemon nicht kommen. Er war ein
Mann, ein Soldat. Er würde sich nicht von törichten Gefühlen leiten
lassen, vor allem nicht von etwas so Absurdem wie der Schwäche für
eine Frau. Und um hierherzukommen, müsste er sich durch Straßen
voll feindlicher Soldaten schleichen. Sie sollte jetzt gehen,
redete sie sich streng ein, nicht hier herumstehen wie eine
vulgäre, würdelose Kurtisane.
Aber egal, wie sehr sie sich auch tadelte, sie
konnte nicht umhin, eine abgrundtiefe Leere zu empfinden. Jetzt
wusste sie, um was es sich dabei handelte - um dieses geistige
Verhungern, das bereits das Verderben ihrer Mutter gewesen war.
Doch es kümmerte sie nicht, wie wahnsinnig und leichtfertig und
falsch das war. Sie würde noch ein wenig länger warten. Es war noch
nicht ganz dunkel.
Zwischen den Bäumen auf der anderen Straßenseite
war eine Bewegung zu sehen. Ein Mann. Im Mondlicht erkannte sie das
Gesicht, das sie sich seit ihrer Trennung so oft vor Augen gerufen
hatte - die breite Nase, die vollen Lippen, das glänzende,
zurückgebundene Haar. Er bewegte sich mit dieser gelassenen,
katzenhaften Anmut, die beiden Schwerter fest in
den Gürtel gesteckt. Sie stand wie eine Statue, mit pochendem
Herzen, griff nach dem glatten Holzgeländer der Brücke, als sich
ihre Blicke trafen. Sie versuchte wegzuschauen, den Bann zu
brechen. Aber es gelang ihr nicht.
In seinen Augen brannte ein feuriger, verwegener
Wahnsinn - als käme es auf nichts mehr an, als sehe er, wie der Tod
seine Hände ausstreckte, um ihn in seine eisige Umarmung zu
schließen. Sie hatte geglaubt, er würde stehen bleiben, sie
ansprechen, irgendetwas sagen. Aber er kam direkt auf sie zu.
»Du«, sagte er leise. Beim Klang seiner Stimme, rau
und zärtlich, durchlief sie ein Zittern.
Er zog sie an sich. Sie spürte, wie sich sein
fester Körper an sie presste und sie schier erdrückte. Sie spürte
seinen Herzschlag, roch seinen salzigen Schweiß.
Er drückte sein Gesicht an ihr Haar. Dann fuhr er
mit den Lippen gierig über ihr Ohr und ihren Nacken. Das sinnliche
Gefühl seines Mundes auf ihrer Haut ließ sie erschaudern. Einer
Ohnmacht nahe, sank ihr Körper gegen seinen. Sie nahm nichts mehr
wahr außer dem brennenden Verlangen, eins mit ihm zu sein.
Ein letzter Rest von Vernunft sagte ihr jedoch,
dass sich ehrbare Frauen nicht so benahmen. Vielleicht in den
Freudenvierteln, aber keine Samurai und gewiss keine Hofdamen. Doch
ihre Mutter … Sie musste sich retten. Sie würde dieses Muster nicht
wiederholen, das durfte nicht sein.
»Hör auf, hör auf«, keuchte sie. »Das wird mich …
zerstören.«
Er atmete tief durch, trat zurück und blickte sie
an.
»Wir haben nicht viel Zeit. Ich musste einem Trupp
feindlicher Soldaten ausweichen, die auf die Burg zumarschieren. Du
musst wieder hinein. Hier draußen ist es zu gefährlich.«
Er grinste sie an, mit diesem verschwörerischen
Blick. Sie
war sich bewusst, wie anders sie in ihren Nonnengewändern aussehen
musste, obwohl es fast dunkel war und sie einen Umhang
darübergeworfen hatte. Sie war so gekleidet wie bei ihrer ersten
Begegnung.
»Ich dachte, du würdest nicht kommen«, flüsterte
sie.
»Ich konnte nicht anders. Ich habe nur noch an dich
gedacht. Wie kann ich ein Soldat sein, wenn du mich in eine Frau
verwandelst?«
»Ich habe dich vermisst.«
Schweigend standen sie da, konnten ihre Blicke
nicht voneinander wenden.
»Wir sind gleich«, sagte er. »Du und ich. All … das
hier.« Er deutete auf die Burgmauern und die großen Festungswälle
auf der anderen Seite des Burggrabens. »Wir stehen außerhalb. Ich
bin ein Einzelgänger. Du auch. Ich weiß immer noch nicht, wer oder
was du bist, aber das zumindest weiß ich.«
Im ersten Moment wollte sie ihm alles erzählen -
dass sie die im Ruhestand lebende Dame Shoko-in war, die Konkubine
des verstorbenen Shogun. Dass sie die Tochter einer anderen
Konkubine war, der Dame Okoto. Doch er würde bald sterben, und sie
würden sich nie wiedersehen.
»Alle sind ganz begierig aufs Blutvergießen,
begierig auf den Krieg«, sagte er. »Nur ich habe etwas anderes im
Kopf. Das ist schändlich. Aber …« Im sterbenden Licht sah sie seine
Augen blitzen. »Ich werde umso besser kämpfen. Ich werde für dich
kämpfen.«
Er nahm sie wieder in die Arme, und alles um sie
herum verblasste. Es gab nur noch sie beide, hier auf der Brücke,
mit dem Mond über ihnen, der sich im gekräuselten Wasser spiegelte.
Nichts anderes existierte mehr. Im gesamten Universum gab es nur
sie und Shinzaemon.
Schritte näherten sich. Schattenhafte Gestalten
erschienen
auf der Anhöhe, kamen entlang der Straße auf sie zu. Ihr wurde
klar, dass sich die Tür an den Toren jeden Augenblick schließen
würde.
Er zog etwas aus seinem Gürtel.
»Nimm das«, sagte er, löste sich widerstrebend von
ihr. »Für dich. Ein Andenken. Der Verschluss meines
Tabakbeutels.«
Sie spürte die raue Haut seiner Hand, als er ihre
Finger darum schloss. Es war klein und schwer, wie ein Kieselstein,
und warm von seinem Körper. Tränen quollen ihr aus den Augen.
»Ich muss zurück«, sagte er.
»Zum Kanei-ji-Tempel?«
Er nickte. »Auf dem Ueno-Hügel. Der zurückgetretene
Shogun, Herr Yoshinobu, ist dort. Wir sind Tausende. Wir haben
Männer in den umliegenden Hügeln, die gegen die Südarmee vorgehen
und sie so lange zurückhalten, wie es geht. Ich kann es kaum
erwarten, wieder mit meinem Schwert auf die Feinde einzuhacken. Wir
werden Seine Majestät dorthin zurückbringen, wohin er gehört, dort
oben in die Burg. Der Ruhm wird uns gehören!«
Er hielt sie mit seinem Blick fest.
»Ich freue mich auf die Ehre, im Kampf für meinen
Herrn zu sterben. Aber falls ich überlebe, werde ich kommen und
dich finden.«
Sie nickte mit zitternden Lippen.
»Ich werde auf dich warten - in dieser Welt oder in
der nächsten«, sagte sie.
Widerstrebend drehte sie sich um und lief über die
Brücke zu den großen Burgtoren. Als sie gegen die Tür drückte,
öffnete sie sich knarrend. Sachi schaute zurück und sah Shinzaemon
immer noch auf der Brücke stehen, ein dunkler Schatten, der Wache
hielt. Sie verneigte sich. Er hob die Hand und ging davon.
In der Sicherheit hinter den Toren öffnete sie die
Hand. Taki hielt die Laterne hoch. Er hatte ihr einen Netsuke
gegeben, einen hölzernen Knebel, geschnitzt in der Form eines
Affen. Sein Geburtsjahr. Sie hielt den Knebel an die Nase. Er roch
nach ihm, nach seinem Körper.
Erneut kamen ihr die Tränen und liefen ihr in einem
heißen Strom über die Wangen. Wenn er sie gebeten hätte, mit ihm
fortzulaufen … Was hätte sie dann getan? Streng ermahnte sie sich,
nicht so töricht zu sein. Sie hatten einander Lebewohl gesagt. Sie
hatten ihren letzten Augenblick zusammen gehabt. Jetzt gab es
nichts mehr, auf das man sich freuen konnte, bis auf den Tod -
seinen … und ihren.
IV
Sachi rieb ein bisschen mehr Tusche, tauchte ihren
Pinsel ein und schrieb ein paar Zeichen mit wenigen, eleganten
Strichen, ließ den Pinsel sich heben und senken wie einen
Regenpfeifer im Flug. Sie hätte ihr Todesgedicht verfassen sollen.
Doch stattdessen wollten ihr die leidenschaftlichen Zeilen von Ono
no Komachi, einer Dichterin aus der Heian-Zeit, nicht aus dem Kopf
gehen:
Yumeji ni wa | Auf dem Pfad der Träume |
Ashi mo yasumezu | Ruhen meine Füße nie, |
Kayoedo mo | Wenn sie zu dir laufen. |
Utsutsu ni hitome | Aber solche Traumbilder können niemals |
Mishi goto wa arazu. | Deinen Anblick im Wachen ersetzen. |
»Deinen Anblick im Wachen …« Den Moment der Nähe.
Während sie schrieb, war sie wieder auf der Brücke. Sie spürte
Shinzaemons Arme um sich, die gegen ihren Körper gedrückten
Muskeln, seine Lippen rau auf ihrem Nacken. Die Tatsache, dass sie
einander vielleicht nie wiedersehen würden, machte es umso
ergreifender.
Sie schaute zu Taki. Gemeinsam hatten sie so vieles
durchgestanden. Sie war ein so winziges, dünnes kleines Wesen,
nicht viel mehr als ein Bündel Stöckchen unter ihrer Kleidung. Und
doch war sie so stark, so unbeugsam, so verlässlich. Sie war wie
eine Schwester - wie es Haru für Sachis Mutter gewesen war.
Taki betrachtete sie stirnrunzelnd. »Sie ist nicht
wie du«, sagte sie streng. »Deine Mutter. Das war vor langer Zeit.
Sie war die verwöhnte Tochter eines Samurai. Du bist anders. Du
bist auf dem Land aufgewachsen. Deine Eltern standen mit beiden
Beinen fest auf dem Boden. Lass dich nicht von Harus Geschichte
verwirren.«
Dann lächelte sie und senkte den Blick. »Aber wer
bin ich, so zu reden?« Sie errötete. »Schau mich nur an, ich bin
genauso töricht.« Zögernd, als wagte sie fast nicht zu fragen,
flüsterte sie: »Hatte Shin … eine Botschaft für mich?«
Sachi atmete tief ein. »Toranosuké schickt Grüße
und sagt, er denke an dich.« Das war eine Lüge, aber es spielte
keine Rolle. Es war das, was Taki hören wollte.
Taki nickte zufrieden. Dann weiteten sich ihre
Augen. Sie neigte den Kopf zur Seite wie ein Vogel und schnappte
nach Luft.
»Hör mal.«
Irgendwo in der Ferne tat sich etwas. Leute gingen
durch leere Räume, huschten nicht wie Frauen oder glitten
respektvoll dahin wie Höflinge, sondern bewegten sich mit
drängendem, schwerem Schritt. Stimmen waren ebenfalls zu hören,
laute, tiefe Stimmen. Männerstimmen. Und Lachen,
Männerlachen.
Männer? Im Frauenpalast? Aber das war …
unmöglich.
Die Tür wurde aufgeschoben. Haru kniete davor. Ihr
rundliches Gesicht war verzerrt, ihre Lippen bebten.
»Ihre Hoheit fordert unverzüglich eure
Anwesenheit.«
Frauen tauchten aus den Tiefen des Palastes auf,
die jüngeren wie große Blumen in ihren bauschigen, leuchtend bunten
Kimonos, die älteren wie Herbstblätter in welken, trüben Farben.
Die Witwe Honju-in erschien humpelnd, winziger und verhutzelter
denn je. Von ihren dreihundert betagten Hofdamen waren nur noch
zwei übrig. Die Alte Krähe, die Mutter des Shogun, schlurfte
ebenfalls herein, begleitet von einer einzigen Bediensteten. Ohne
ihren Pomp und Prunk waren sie nur zwei müde alte Damen, fahlhäutig
und faltig. Aber ihre Gesichter leuchteten mit grimmiger Freude,
als hätten sie bereits ihren heroischen Tod gesehen. Sachi hatte
nicht geahnt, dass doch noch so viele Frauen im Palast verblieben
waren.
Sie strömten auf die große Halle zu; die schweren
Schleppen ihrer Gewänder fegten über die Tatami.
Die Prinzessin und die Ehemalige standen am
hinteren Ende der Halle auf einem Podium. Auf der Wand hinter ihnen
breitete ein knorriger Kirschbaum seine Äste aus, bedeckt mit
Wolken rosafarbener Blüten. Er war so realistisch gemalt, dass man
ihn für einen echten Baum gehalten hätte, wäre da nicht der
Hintergrund aus schimmerndem Blattgold gewesen. Er kündete vom
Leben, aber auf den Gesichtern der beiden Damen war nichts als Tod.
Sie standen da wie Statuen, unheilvoll ruhig.
Stille breitete sich aus. Die Ehemalige richtete
sich auf. Ihr Gesicht schien eingesunken zu sein, bis es nur noch
aus Knochen bestand. Ihre Augen glühten fiebrig wie Kohlen. Eine
Ader pochte an ihrem Hals. Sie holte Luft, sammelte sich mit
sichtbarer Anstrengung.
»Meine Damen. Mit dem Frauenpalast ist es aus - mit
uns, mit unserer Welt, mit unserer Lebensart. Diese große Burg,
dieses Leben in Schönheit, das wir geführt haben, diese
Traditionen, die wir über Hunderte von Jahren bewahrt haben, seit
den Tagen des ersten Shogun, Herrn Ieyasu, sind zu Ende.
Die Burg Edo … hat sich zu ergeben. Sie wird in
sieben Tagen geräumt. Die kaiserlichen Gesandten sind eingetroffen.
Sie haben die Bedingungen der Kapitulation in der großen
Audienzhalle der Hauptzitadelle verlesen. Sie werden jeden
Augenblick hier sein, um unsere Einwilligung zu verlangen.«
Unterdrücktes Luftschnappen und Schluchzen
erfüllten die Halle.
»Kapitulation?« Das war die krächzende alte Stimme
der Witwe Honju-in. »Wer hat denn so etwas jemals gehört? Du,
Schwiegertochter«, kreischte sie, zeigte mit ihrem knorrigen Finger
anklagend auf die Ehemalige. »Du solltest die Letzte sein, eine
solche Schmach hinzunehmen. Uns den Feinden ergeben? Niemals! Wir
sind verraten worden. Aber uns bleibt noch Zeit. Meine Damen, wir
müssen uns jetzt töten!«
Die Ehemalige wurde noch blasser. »Es geschieht auf
Befehl Seiner Majestät, des zurückgetretenen Shogun, Herrn
Yoshinobu«, sagte sie mit bebender Stimme. »Das Privileg des
Freitodes wird uns verweigert. Uns bleibt keine Wahl, als zu
gehorchen. Wir haben kampflos abzuziehen.«
»Wie Hunde, den Schwanz zwischen die Beine
gekniffen!«, fauchte die Witwe Honju-in. In ihrem Alter konnte sie
sagen, was sie wollte. »Der Doppelzüngige, kommt uns wieder mit
seinen alten Winkelzügen. Kaum überraschend.«
Sachis Herz pochte laut. Ihre Kehle war wie
zugeschnürt, ihr Atem kam in kurzen Stößen.
Für die Witwe Honju-in war Kapitulation die
äußerste Schmach, der ehrenvolle Tod hingegen das, wonach sich
jeder
Samurai sehnte. Aber die Witwe Honju-in war alt. Jetzt lagen die
Dinge anders, wie Sachi begriff. Der Shogun war nicht mehr der
Anführer seiner Truppen. Er hielt sich versteckt und hatte sich
bereits ergeben. Warum sollte dann die Burg noch standhalten? Warum
sollten sie kämpfen und für den Shogun sterben, wenn er selbst
nicht dazu bereit war?
Sie ließ den Blick zur Prinzessin, zur Ehemaligen
und den anderen Frauen wandern. Die Prinzessin war totenblass, so
bleich, dass Sachi befürchtete, sie könnte ohnmächtig werden. Das
ruhmvolle Schicksal, das sie für sich ausersehen hatten, war ihnen
verweigert worden. Kein Muskel bewegte sich. In jedem Gesicht lag
Trotz, doch sie gehörten zum Haushalt des Shogun, für immer an ihn
gebunden, und würden tun, was ihnen befohlen wurde. In der
Vergangenheit hatten sie Wohlstand, Macht und Ruhm mit ihm geteilt.
Jetzt würden sie seine Schande mit ihm teilen. Es wäre viel besser
gewesen, wären sie gestorben.
Sachi verstand das alles. Aber tief in sich spürte
sie etwas so Schmachvolles, dass sie es kaum zugeben mochte, sogar
vor sich selbst. Eine Art Erleichterung. Sie würde leben.
Das Scharren der Schritte wurde lauter und
verstummte dann. Die Türen wurden aufgeschoben.
Sofort senkten die Frauen die Köpfe, als
befürchteten sie, dass nur ein einziger Blick auf den Feind sie in
Stein verwandeln würde. Keinem Mann außer dem Shogun war es
gestattet, ihr Gesicht zu sehen. Undenkbar, dass diese
hassenswerten Eindringlinge sie mit ihren Augen schändeten. Kein
Geräusch war zu hören - kein Schluchzen, kein Schniefen. Sie
besaßen immer noch ihren Stolz, zumindest das. Doch obwohl sie den
Blick gesenkt hielten, war jede entschlossen, durch die Neigung
ihres Rückens keinesfalls Ehrerbietung auszudrücken, sondern puren
Trotz.
Sachi starrte fest auf die Tatami. Sie hörte die
Schritte der Männer beim Betreten der großen Halle. Großspurig
stolzierten sie herein, ihre Stimmen ungehörig laut in der Stille.
Eine vielschichtige Duftmischung strömte mit ihnen herein. Sie
erkannte ein zartes Parfüm, das an den kaiserlichen Hof erinnerte.
Also befanden sich unter ihnen kaiserliche Gesandte. Aber der Duft
wurde von erdigeren Gerüchen überlagert - dem Gestank von Schweiß,
vermischt mit Tabakrauch, Leder, Pferden, dreckigen Kleidern. So
rochen niederrangige Samurai. Sie verzog die Nase, als sie den
scharfen Geruch von Nelkenöl wahrnahm. Mit diesem Öl wurden
Schwerter poliert. Wie konnte das sein? Das musste bedeuten …
Selbst Rüpel wie diese konnten doch nicht so ignorant sein,
Schwerter im Frauenpalast zu tragen!
Wenigstens bin ich auf meinen Reisen mit Männern
zusammengetroffen, dachte sie, daher ist es kein solcher Schock.
Aber diese Frauen waren seit zwanzig oder dreißig oder mehr Jahren
nicht in die Nähe eines Mannes gekommen, und in all den Jahren
waren die einzigen Männer, die sie erblickten, der exquisit
parfümierte Shogun und die jungen Prinzen gewesen. Der Kontrast
zwischen jenen Tagen der Kultur und Schönheit und der grausamen
Realität der Gegenwart musste kaum zu ertragen sein.
Eine Stimme knurrte in barschem, südlichem
Schnarren, so fremdländisch, dass es fast unmöglich war, die Worte
zu verstehen.
»Nun, da sind wir … äh … meine Damen.«
Die Frauen erstarrten. Erschrockene Laute waren zu
hören, ein entsetztes Kichern. Er hatte nicht mal Ahnung von der
Etikette, kannte die angemessene Sprache nicht, mit der man sich an
Damen von Stand wandte. Und das sollten ihre neuen Herren sein!
Sieger oder nicht, dass derart niederrangige Männer
ihren Fuß in den Palast setzten und die mächtigsten Frauen des
Landes zu Gesicht bekamen, schön genug, um für den Haushalt des
Shogun ausgewählt worden zu sein … Wenn Sachi nicht dabei gewesen
wäre, hätte sie es nie geglaubt. Vor diesem Krieg hätten solche
Männer noch nicht einmal im Traum daran denken können, sich an
einem solchen Ort wiederzufinden. Der Mann klang sogar ein wenig
ehrfürchtig, was er in der Tat auch sein sollte.
»Von nun an gehört die Burg Edo dem Kaiser …« Das
war einer der Gesandten, der sich in der formellen Hofsprache
äußerte. »Die Burg ist den kaiserlichen Truppen zu übergeben. Wir
nehmen sie in sieben Tagen in Besitz. Die Damen werden
aufgefordert, die Burg zu verlassen.«
»Wenn wir eintreffen, erwarten wir, die Burg leer
vorzufinden«, sagte ein anderer. »Die Damen werden außerhalb der
Burg angemessen untergebracht. Sie haben in Abgeschiedenheit zu
verbleiben, unter unserem Befehl.«
»Dann müssen Sie uns zuerst töten.« Die Stimme der
Ehemaligen war scharf und klar wie ein Eissplitter. »Wir gehören
hierher. Das ist unser Heim. Wenn Sie wollen, dass wir gehen,
müssen Sie uns mit Gewalt entfernen. Wir werden durch unsere eigene
Hand sterben.«
»Verzeihen Sie mir, ehrenwerte Dame.« Die Stimme
der Prinzessin. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, sprach ruhig und
würdevoll. »Ich werde persönlich dafür sorgen, dass die Befehle
ausgeführt werden. Ich beuge mich der Befehlsgewalt Seiner Hoheit,
meines Neffen, dem Sohn des Himmels.«
In den Gärten kreischte ein Reiher. Der Duft des
Frühlings drang durch das dicke Blattgold der Wände, durchtränkte
die dunkelsten Ecken der großen Halle mit dem Geruch von Erde und
nassen Blättern und Bäumen und Blumen kurz vor dem Erblühen. An
einem duftenden Frühlingstag wie diesem hatte
Seine Majestät, der verstorbene Shogun, Sachi zum ersten Mal in
den Gärten gesehen. Sie spürte, wie sich ihre Kehle bei der
Erinnerung an seine Erzählung zusammenzog, und schluckte
schwer.
Barsche Männerstimmen krächzten von der anderen
Seite des Raumes.
»Gerade rechtzeitig, um die Kirschblüte zu
sehen.«
»Glück gehabt, was?«
Die Frauen knieten weiterhin, starrten trotzig auf
die Tatami. Eine grausame Mahnung daran, dass sich alles ändern
würde. Sie würden fort sein, noch bevor die Kirschen voll erblüht
waren.
Unter dem Murmeln der Stimmen hörte Sachi ein
unterdrücktes Schluchzen. Erschrocken schaute sie sich um. Haru,
ausgerechnet. Und sie als Samurai!
Der Raum war voller Männer, zusammengedrängt an den
Seiten der großen Halle und vor den offenen Türen. Die beiden
Gesandten in vollem Hofornat waren der Prinzessin und der
Ehemaligen zugewandt. Dort standen auch noch vier oder fünf andere
Männer. Sie sahen wie Offiziere aus, vielleicht Generäle. Sie
trugen prächtige rote und goldfarbene Haori-Überröcke mit
versteiften, flügelartigen Schultern, aber statt der üblichen,
formellen Kleidung waren darunter die schwarzen Uniformen der
Südarmee zu sehen. Eine verwegen aussehende Bande mit dunklen
Gesichtern und grimmigen schwarzen Augen. Einige hatten Schnauzer
und Bärte und Haare so lang und buschig wie eine Bärenmähne. Andere
trugen das Haar geölt und zu Pferdeschwänzen zurückgebunden,
festgehalten von einem roten und goldfarbenen Band.
Der Rest waren gewöhnliche Soldaten - stämmige
Kriegsveteranen, Kämpfer mit hartem Blick. Einige hielten rote
Banner mit einem weißen Kreuz in einem Kreis - das Wappen der
Satsuma, des aufwieglerischsten der südlichen Clans. Genau, wie
Sachi gedacht hatte, trugen sie alle ihre Schwerter.
Ein paar gähnten, wirkten gelangweilt. Andere
blickten hämisch, unterdrückten ihr Grinsen, als könnten sie ihr
Glück nicht fassen. Sie wirkten auch ein wenig verlegen, wie
Kinder, die beim Streiten oder Stehlen erwischt worden waren. Hier
waren sie nun, direkt im verbotenen Palast, dem innersten
Heiligtum, dem allergeheimsten Teil, hatten etwas betreten, was
kein Mann zuvor betreten hatte, sahen Frauen, auf die kein Mann
jemals einen Blick hatte werfen dürfen. Und das, ohne auch nur ihre
Schwerter abzulegen! Es war unerträglich.
Haru kniete kerzengerade, die Fäuste geballt. Ihre
Augen waren geweitet, und ihre rundlichen Wangen so bleich wie das
Stroh der Tatamimatten. Tränen rannen ihr achtlos über die Wangen.
Sie starrte wie gebannt auf jemanden.
Am anderen Ende der Halle stand ein Mann mittleren
Alters etwas abgesondert von den anderen. Er wirkte wie eine Art
Beamter. Gekleidet war er formell in steife, schwarze Hakama-Hosen
und eine Haori-Jacke. Er hatte zwei Schwerter, schien aber kein
Samurai zu sein. Sein Kopf war nicht geschoren, und er trug keinen
Haarknoten. Sein dichtes Haar, grau an den Schläfen, war kurz
geschnitten wie das eines Ausländers. Er schaute sich mit
ungenierter Neugier um, ließ den Blick über die Reihen der
gebeugten Köpfe wandern, als versuchte er, die Gesichter unter den
glänzenden Frisuren mit den glitzernden Haarnadeln und Kämmen
auszumachen.
Sachi bemerkte unwillkürlich, was für ein gut
aussehender Mann er war, trotz seines Alters. Vielleicht lag es an
seiner Haltung, einer Art ruhiger Selbstsicherheit. Vielleicht lag
es an seinem breiten Gesicht mit den hohen Wangenknochen oder an
seinen unverwandten Blicken oder an den Lachfältchen um seine Augen
oder dem versteckten Lächeln, das um seine vollen,
recht sinnlichen Lippen spielte. Für einen Mann aus dem Süden sah
er fast menschlich aus.
Einen kurzen Moment lang trafen sich ihre Blicke.
Sie sah, wie sich seine Kehle beim Schlucken bewegte. Er ballte die
Fäuste so fest, dass seine Knöchel weiß wurden, und umklammerte
sein Schwert, als müsse er sich stützen.
Sachi wandte rasch den Blick ab. In ihrem Kopf
verschob sich etwas, als hätte sie versucht, eine dieser
Geheimschatullen zu öffnen, wie sie einige Frauen im Palast
besaßen. Nur die Besitzerin des Kästchens kannte die geheime
Abfolge, in welcher man die kleinen Holzstückchen verschieben
musste. Bei manchen dieser wunderschönen Kästen waren hundert
Verschiebungen nötig, bevor es sich öffnete. Sachi hatte es fast
geschafft, hatte herausgefunden, welches Teil sie bewegen musste,
wusste aber noch nicht, in welche Richtung.
Sobald die Formalitäten beendet waren, kam der Mann
auf sie zu. Er kniete nieder, zog seinen Fächer aus dem Obi, legte
ihn vor sich auf die Tatami und machte eine formelle
Verbeugung.
In ihrem Bauch breitete sich ein dumpfes Gefühl
aus. Plötzlich wusste Sachi genau, was er sagen würde.
Leise, aber deutlich sprach er die Worte aus: »Ich
bin dein Vater.«