12
Ein Besuch beim Pfandleiher
019

I

Der Sommer war zu Ende. Es war kühl und feucht, der erste Taifun des Herbstes kündigte sich an, und Sachi fühlte sich schrecklich ruhelos. Jeden Moment rechnete sie damit, die schweren Schritte von Soldaten zu hören, die den Räumungsbefehl überbrachten. Aber Tag um Tag verging, ohne dass etwas geschah. Manchmal überlegte sie, ob sich die Prinzessin geirrt hatte und es gar keinen Erlass gab, oder wenn doch, dass niemand es durchsetzen würde.
Aber jedes Mal, wenn sie zu einem ihrer regelmäßigen Besuche bei Edwards aufbrachen, sahen sie, dass die Östliche Küstenstraße verstopft von Flüchtlingen war. Dann hingen sie fest zwischen großen Menschenmengen mit grauen, verzweifelten Gesichtern, die voranstolperten, einander auf die Hacken traten, Karren mit ihrer Habe zogen. Sie alle, dachte Sachi grimmig, mussten einst Staatsbeamte, Wachen, Schreiber, Angestellte in diesem oder jenem Ministerium, Untersekretäre von Untersekretären, Hofdamen, Bedienstete, Köche gewesen sein. Sie mussten im Dienste des einen oder anderen Zweiges der Tokugawa gestanden haben. Keiner von ihnen hatte mehr oder weniger getan, als von treuen Dienern erwartet wurde. Jetzt waren sie Verräter, vertrieben aus dem einzigen Heim, das sie je gekannt hatten, verdammt zu lebenslanger Ungnade, Verbannung und Armut.
Sachi wusste, dass sie und ihr kleiner Haushalt dem Edikt nicht für immer entkommen konnten. In nicht allzu ferner Zukunft würde auch sie das Schicksal dieser gesichtslosen Flüchtlinge auf der Östlichen Küstenstraße ereilen.
Als Sachi gerade meinte, es könne nicht schlimmer werden, teilte Haru ihr mit, dass die Vorratsräume leer wären. Reis, Miso, Salz, Gemüse, Feuerholz, Lampenöl - fast alles war aufgebraucht.
Während ihrer ganzen Zeit im Frauenpalast hatte Sachi alles gehabt, was sie sich nur wünschen konnte. Schöne Kimonos, jede Art von Kosmetika oder Spiel oder Musikinstrument - wenn es sie danach gelüstete, brauchte sie nur in die Hände zu klatschen, und schon wurde es gebracht. Was das Essen anging, hatte sie es nie geschafft, eine Mahlzeit zu beenden, weil stets viel zu viel aufgetragen wurde. Selbst im Dorf hatte es immer zu essen gegeben; sie hatten ihre Nahrung selbst angebaut. Aber nun … Mit Besorgnis dachte sie an das von Unkraut überwucherte Grundstück. Die Gärtner, die sich um den Gemüsegarten gekümmert hatten, schienen mit allen anderen verschwunden zu sein.
»Und … und wir haben kein Geld?«
In der Vergangenheit hatte sie nie an Geld denken müssen.
»Geld haben wir, Herrin«, sagte Haru mit leichtem Tadel im Ton. »In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Denkst du, dein Vater würde dich verhungern lassen? Was glaubst du, warum uns noch niemand vertrieben hat? Er beschützt dich, und uns mit dir, und er hat dafür gesorgt, dass wir Geld haben.«
Sachi blickte sie erstaunt an. Sie hatte Daisuké seit Monaten nicht mehr gesehen, nicht, seit sie die Burg verlassen hatten. Selbst nach der Schlacht, als Chaos in der Stadt herrschte, hatte er sie nicht aufgesucht, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts zugestoßen war. Sie hatte nicht viel von ihm als Vater gehalten, trotz all seiner großartigen Worte.
Allerdings hatte sie sich gefragt, warum es ihnen gestattet war, weiterhin ein so sorgenfreies Leben zu führen. Zu einer Zeit, in der alle Häuser der Tokugawa und ihrer Verbündeten zerstört oder von den Südclans besetzt wurden, hatten sich keine Soldaten bei ihnen einquartiert oder ihnen befohlen, zu verschwinden. Also hatte Daisuké von fern über sie alle gewacht.
»Wir müssen die Reishändler benachrichtigen«, sagte sie. »Warum haben sie nicht geliefert?«
Doch dann dämmerte es ihr. Sie konnten niemanden benachrichtigen. Sie hatten keine Dienstboten.
»Sie kommen nicht mehr«, sagte Haru leise.
Sachi betrachtete sie eindringlich. Harus fülliges Gesicht war dünner geworden. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Sie hatte nicht ordentlich gegessen, hatte die Hälfte ihrer Ration aufgehoben, um sie Sachi zu geben. Tränen traten Sachi in die Augen bei dem Gedanken an eine so aufopfernde Treue.
»Ich möchte um Erlaubnis bitten, in die Stadt gehen zu dürfen«, fügte Haru hinzu. »Ich muss einen neuen Lieferanten finden.«
Sachis Augen verengten sich. »Und du wirst Geld mitnehmen.«
»Natürlich.«
»Aber in der Stadt herrscht Chaos. Wir müssen alle gehen, alle drei zusammen.«
»Das ist zu gefährlich, Herrin«, protestierte Haru. »Bleib du in der Residenz. Taki und ich werden gehen. Es gehört sich nicht für feine Damen, durch die Straßen zu wandern oder Orte aufzusuchen, wo das gemeine Volk lebt.«
Aber Sachi hatte genug davon, sich zu verstecken. Sie erstickte in diesen prächtigen leeren Räumen, diesen staubigen, stillen Zimmern, all dieser Traurigkeit und Einsamkeit. Sie hungerte nach Leben und Menschen.
»Drei ist sicherer als zwei«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
 
Sachi kleidete sich wieder in das schlichte Städterinnengewand mit einer wattierten Haori-Jacke in unauffälligen Brauntönen. Sie spürte die raue Baumwolle gern auf der Haut. Im Bezirk der Städter wäre selbst der bescheidenste Anschein von Seide eine Einladung für Straßenräuber. Haru füllte eine Geldbörse mit Goldmünzen und steckte sie in das Vorderteil ihres Kimonos, den Obi fest darumgebunden. Die Ausbuchtung war trotzdem zu sehen.
Auf dem Grundstück fegten Windböen durch Felder von Riedgras. Die Frauen kämpften sich durch ein Gestrüpp von Knöterich, Farnen und Wegerich und um große Büschel von Chinaschilf herum, um das Tor zu erreichen. Voll böser Ahnung bemerkte Sachi, dass sogar die Brücke über den Wallgraben morsch wurde.
Um in den Bezirk der Städter zu gelangen, mussten sie durch das ausgebrannte Ödland, das zwischen der Residenz und dem Hügel lag, in entgegengesetzter Richtung zu der Route, die sie zu Edwards einschlugen. Große Raben flatterten über die verlassenen Straßen, ließen sich auf den ausgebrannten Gerippen der Häuser nieder und beäugten die drei Fußgängerinnen mit gelben Knopfaugen. Ihr raues Krächzen hallte in den Ruinen wider und verlieh dem Ganzen noch mehr Trostlosigkeit. Der Hügel ragte still und schweigend am Horizont auf. Seit dem schrecklichen Tag der Schlacht betraten sie diesen Teil der Stadt zum ersten Mal.
Die Frauen schürzten ihre Kimonoröcke und trippelten so schnell dahin, wie es ihre Holzsandalen erlaubten, alle Sinne wachsam. Ein Raubüberfall war das Letzte, was sie brauchen konnten.
Kurz darauf nahmen sie vor sich eine Gruppe abgerissener Männer wahr, die im Schatten lauerten. Sobald die Männer sie erblickten, kamen sie aus ihrem Versteck heraus, verteilten sich quer über die Straße und versperrten ihnen den Weg. Etwa zehn oder zwanzig verzweifelte, ausgemergelte Gestalten. Sie waren mit Stäben und Stöcken und Holzscheiten bewaffnet, die aussahen, als hätten sie sie aus dem zerstörten Palast eines Daimyo herausgerissen.
Haru verschränkte die Arme fest über ihrem Obi. Diesmal waren die Frauen auf sich gestellt. Da war kein Shinzaemon, um sie zu verteidigen, und auch kein Edwards, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass einer von beiden plötzlich an einem so unwirtlichen Ort auftauchte.
Einer der Männer trat vor und schob sein Gesicht dicht an Sachis heran. Er roch so widerlich, dass es sie würgte; er hatte sich eindeutig seit vielen Tagen nicht gewaschen. Sein Gesicht war dünn und verzerrt, sein Haar war zu einem schmierigen Knoten gebunden, und in seinen Augen blitzte Wahnsinn. Er grinste.
»So ganz allein, ihr hübschen Damen?«, nuschelte er. Ihre Städterinnengewänder waren anscheinend keine ausreichende Verkleidung, aber wenigstens waren die Männer zu unwissend, um zu erkennen, welche Beute Sachi darstellte. »Rückt einfach euer Geld raus, und wir lassen euch gehen.«
Sachi schaute sich um. Ein anderer Bursche packte Harus Arme und versuchte sie von ihrer Brust loszuzerren. Haru stand da wie die gut erzogene Edelfrau, die sie war, den Kopf leicht gebeugt, die Zehen nach innen gerichtet. Ihr Gesicht war unbewegt. Der Mann schüttelte sie. Er holte aus und wollte ihr einen Schlag versetzen. Ihr Ausdruck änderte sich nicht. Sie wich aus, hielt die Arme weiter verschränkt, wartete, bis er aus dem Gleichgewicht war und machte dann eine so kleine Bewegung, dass selbst Sachi sie kaum wahrnahm. Sachi lächelte befriedigt. Sie hatte vergessen, was für eine gute Kämpferin Haru war. Der Bursche torkelte an ihr vorbei, starrte dümmlich, strauchelte und krachte mit dem Gesicht voran zu Boden. Seine dürren Beine zitterten, dann sackte er zusammen.
Den anderen Männern fiel die Kinnlade herunter. Sie glotzten ihren gestürzten Kameraden an, bevor sie sich mit verstärkter Wut den drei Frauen zuwandten.
»Einmal Glück gehabt«, knurrte einer. »Aber nur einmal.«
Sie rückten näher heran. Der Gestank war überwältigend. »Wir haben nichts von Wert«, sagte Sachi ruhig. »Bitte lasst uns vorbei. Wir wollen keinen Ärger.« Sie legte die Hand an den Griff ihres Dolches. Die drei Frauen standen Rücken an Rücken. Haru hatte beide Arme fest vor ihrem Obi verschränkt.
»Haltet euch wohl für feine Damen, mit eurem affektierten Gehabe«, schnaubte der Erste. Gelbliche Spuckeklumpen flogen aus seinem zahnlückigen Mund. Sachi wandte ihr Gesicht ab. »Eure schicke Aufmachung wird euch nichts nützen. Wir kriegen euer Geld, und wir kriegen euch. Stimmt’s, Jungs?«
Sachi musterte sie ruhig, wog ihre Chancen ab. Für die Männer sprach ihre brutale Stärke, aber sie wussten nicht, wie man kämpfte. Wenn sie nicht so ungebildet gewesen wären, hätten sie es sich besser überlegt, Palastfrauen anzugreifen. Zugegeben, sie drei hatten ihre Schwertlanzen nicht dabei, und die Männer hatten Stöcke, aber sie erkannte, dass die Burschen nicht mal wussten, wie man richtig stand. Den drei Frauen würde es leichtfallen, die Kraft ihrer eigenen Bewegungen zu nützen, um die Männer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Trotzdem, sie waren viele, und sie waren verzweifelt, wie ausgehungerte Hunde.
Der Mann stellte sich ihr in den Weg. Sie versuchte, ihm seitlich auszuweichen, doch er ließ sie nicht vorbei.
Heulend wie ein Wolfsrudel schwangen die Männer ihre Stöcke und schlugen los. Aus dem Augenwinkel sah Sachi zwei Stöcke auf ihren Kopf zukommen. Sie wich dem einen aus, packte und verdrehte ihn mit einer abrupten Bewegung des Handgelenks. Es knirschte, als der Mann umfiel. Ihr blieb gerade noch Zeit, aus dem Weg zu gehen, als der zweite Mann das Gleichgewicht verlor. Er stolperte unbeholfen auf sie zu, strauchelte und krachte schwer zu Boden.
Als der dritte Stock niedersauste, entwand sie ihn dem Griff des Kämpfers und verdrehte ihn so, dass der Mann gegen eine Mauer prallte und liegen blieb, wo er gefallen war. Der Stock war zwar keine Schwertlanze, eignete sich jedoch gut als Übungsstock. Sie schwang ihn um sich, ließ ihn auf Köpfe, Brustkörbe und Knie prasseln. Dann kam ein Schlag aus dem Nichts. Sie wurde an der Brust getroffen und fiel atemlos zu Boden. Mühsam schnappte sie nach Luft, als sich zwei der Männer auf sie warfen und sie so stark niederdrückten, dass sie befürchtete, ihre Rippen würden brechen.
»Die hier hab ich«, brüllte eine Stimme. »Die andere hat das Geld! Schnappt sie euch!«
Sachi zappelte und wand sich, um freizukommen. Es gelang ihr, den einem Arm so weit zu verdrehen, dass sie ihren Dolch erreichen konnte. Mit einer einzigen Bewegung riss sie ihren Arm los, den Dolch in der Hand, und schwang ihn herum. Sie hörte Haru kreischen: »Niemals! Runter von mir!« Sachis Arm bewegte sich mit seiner eigenen Stoßkraft. Bevor sie wusste, was geschah, fiel der Mann zurück, heulte auf und umklammerte sein Gesicht.
Sie sprang auf. Harus Kleider waren zerrissen, und ihr Gesicht war zerschlagen. Ihr Obi hatte sich gelöst, aber sie hatte immer noch beide Arme um den Bauch geschlungen und wehrte sich mit Tritten und Schulterschlägen. Als Sachi sich umdrehte, versetzte ein Mann Haru einen wuchtigen Schlag in den Rücken. Sie taumelte nach vorn und ließ für einen Moment los. Der Mann schnappte sich die Geldbörse und wollte wegrennen. Ohne nachzudenken schleuderte Sachi ihren Dolch. Er flog im Bogen durch die Luft und sank bis zum Heft in den Rücken des Mannes. Der fiel um und gab keinen Laut mehr von sich. Sachi sprang über die Gefallenen, zog ihren Dolch heraus und hob die Geldbörse auf. Mehrere Männer lagen auf dem Boden mit den Händen über den Augen; Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Taki wischte ihre Haarnadel an ihren Röcken ab.
Am hinteren Rand der Gruppe waren immer noch einige Männer auf den Beinen und blinzelten wie verängstigte Kaninchen. Sachi wandte sich ihnen zu, und sie machten kehrt und flitzten davon wie Küchenschaben. Keuchend reichte sie Haru die Geldbörse, die sie wieder in ihren Kimono steckte und ihren Obi sorgfältig neu band. Schweigend glätteten die drei Frauen ihr Haar und klopften ihre Kimonoröcke ab, bemüht, den Gestank der Männer loszuwerden. Sachi wischte ihren Dolch mit einem Taschentuch sauber und steckte ihn zurück in den Obi.
Der Ueno-Hügel in der Ferne wirkte wie eine friedvolle, baumbestandene Kuppe. Die rauen Schreie der Vögel, die darüber kreisten, hallten durch die bleiche Himmelskuppel. Die Frauen hielten sich vom Hügel fern und gingen ostwärts auf den Städterbezirk von Edo zu.

II

Als sie sich dem Ostteil der Stadt näherten, nahm Sachi allmählich Stimmengewirr und Kochgerüche wahr, brennende Holzfeuer und den üblen Gestank von Fäkalien. Bald kamen sie zu einem großen, offenen Platz, auf dem Jongleure, Marktschreier, Akrobaten und Geschichtenerzähler ihre Künste zum Besten gaben. Eine Frau ließ einen Affen Kunststückchen vorführen. Eine andere verkaufte Blumen. Kleine Stände boten gebratenen Tintenfisch und frisch gebackene Omeletts an. Menschen schoben sich über den Platz, glotzten und applaudierten. Frauen mit hartem Blick und ausgemergelten Gesichtern strichen durch die Menge, boten sich selbst zum Kauf an. Sogar in einer Stadt am Rande des Untergangs ging das Leben weiter. Alle mussten irgendwie überleben.
Hagere Männer mit den Gesichtern und Augen hungriger Ratten umkreisten von außen die Menge, hatten es auf die Frauen abgesehen. Haru hielt die Arme vor der Taille verschränkt. Sachi zog ihr Tuch enger um ihr Gesicht, damit ihre bleiche Haut und die aristokratischen Züge keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregten. Es war beruhigend, andere Frauen um sich herum zu sehen. Einige waren Geishas oder Prostituierte, aber es gab auch gewöhnliche Frauen, die ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen. Das machte es viel leichter, in der Menge unterzutauchen. Trotz der Dringlichkeit ihrer Mission genoss Sachi es, draußen zu sein, fort von den stickigen Räumen der Residenz, zurück in einem Teil der Welt, in dem Männer und Frauen miteinander auf Tuchfühlung kamen.
Die Straße war von Läden gesäumt, aber viele waren vernagelt, und die wenigen offenen schienen kaum Waren oder Kunden zu haben. Vor einem war das Schild eines Reishändlers angebracht. Sie lugten durch den Spalt und versuchten die Tür aufzuschieben, aber sie war fest verschlossen. Die Reishändler - wie alle, die es sich leisten konnten - hatten anscheinend die Stadt verlassen.
Sie bogen in eine mit Wohnhäusern bestandene Gasse ein, dann eine andere. Die Häuser standen dicht an dicht, so nahe beisammen, dass kein Sonnenstrahl durch die Schatten der engen Gassen drang. Sachi, Haru und Taki gingen im Gänsemarsch, drückten sich an die Wände, um Entgegenkommenden auszuweichen. Durch die Abzugsgräben lief fauliges Wasser, überall stank es nach verrottetem Abfall und Exkrementen, Ratten huschten herum, Käfigvögel zwitscherten und Insekten zirpten. Hier und dort saßen zaundürre Menschen an Wände gelehnt, streckten Schalen aus, baten klagend um Almosen.
Inzwischen hatten sie sich völlig verlaufen. Sachi sagte nichts, obwohl ihr allmählich mulmig wurde. Dann stolzierte eine junge Frau auf sie zu, trippelte auf hohen Getas. Sie traten beiseite, um ihr Platz zu machen. Sie schaute sie an, ihr Kinn klappte herunter und die Augen traten ihr fast aus dem Kopf.
»Hora!«, japste sie. »Ist das nicht … Haru-sama? Und … die Dame Oyuri!«
Die Dame Oyuri. Sachi hatte diesen Namen zum letzten Mal vor mehr als drei Jahren gehört, als der Shogun noch lebte, als sie noch die Konkubine Seiner Majestät war, die Dame des Seitengemachs.
Und diese Stimme, schrill und hoch - die erkannte sie sofort. Worte hallten in ihrem Kopf wider: »Dreckiger Bauerntrampel. Ich kann es nicht ertragen, in deiner Nähe zu sein. Warum bist du nicht in den Ställen bei den Tieren?« Bilder tauchten vor ihr auf, von einem schnippischen, hochnäsigen Mädchen in einem kunstvollen Kimono, dessen Stickerei die ganze Stadt Edo darstellte, und wie sie damit durch den prächtigen Korridor zum Eingang des Shogun gerauscht war; von aufeinanderprallenden Übungsstöcken und dem grimmigen Kampf, den sie in der Übungshalle ausgefochten und den Sachi, wider alles Erwarten, gewonnen hatte. Dann sah sie eine erhobene Hand, hörte eine Sandale durch die Luft zischen. Sie spürte den Schmerz und die Demütigung, als die Sandale sie am Ohr traf, hörte das boshafte Kichern, sah das von Hass und Eifersucht verzerrte Gesicht …
Fuyu.
Und dann hatte es ein letztes Treffen gegeben, bei dem Fuyu halb wahnsinnig gewirkt hatte. Danach war sie verschwunden, und niemand hatte je herausgefunden, was aus ihr geworden war, wenngleich manche der Frauen gemeint hatten, sie müsse von ihrer Familie hingerichtet worden sein. Sachi hatte sich die ganze Zeit gefragt, ob es ihre Schuld gewesen sei, ob sie dieses schreckliche Schicksal nicht dadurch heraufbeschworen hätte, dass sie ihre Feindin weit weggewünscht hatte.
Und jetzt stand sie hier, direkt vor ihnen. Aber konnte sie das wirklich sein, oder war es nur ein Fuchsgeist?
Unter der dicken Schminke hatte die Frau Fuyus kecke Nase und die olivfarbene Haut. Da war immer noch der Umriss dieses hübschen, herzförmigen Gesichts, das sie zu der anerkannten Schönheit unter den jüngeren Hofdamen gemacht hatte, aber es war verkniffen und hager. Sie sah niedergeschlagen aus. Ihre Schultern waren nach vorn gebeugt, und der Kimono hing an ihr wie ein Leichentuch. In ihren Augen lag ein harter Ausdruck. Fuyu hatte um ihr Überleben kämpfen müssen.
»Du auch hier, was?«, knurrte sie. Ihre Zähne waren geschwärzt, und zwei fehlten. Sie trug einen unpassend farbenfrohen Kreppkimono mit langen, schwingenden Ärmeln wie der eines jungen Mädchens. Im Palast war ihr Edo-Akzent von der Intonation einer hochrangigen Samurai überlagert gewesen, aber jetzt war sie zu reinem Edo zurückgekehrt. »Hätte gedacht, dass du es bei deinem Glück schaffen würdest.« Sie schaute Sachi an. Die alte Gehässigkeit blitzte auf.
Taki wandte sich abrupt ab. Sachi wusste, dass sie sich mit äußerster Kraft bemühte, ihre Gefühle zu verbergen, wie es sich für eine Samurai gehörte, aber ihre dünnen Schultern bebten vor Abscheu.
»Ihr Damen«, sagte Fuyu. »Ihr landet alle hier unten.«
»Du meinst … hier sind auch noch andere Frauen?«, wollte Taki wissen. »Andere Frauen aus dem Palast?«
Sachi dachte an ihre Hofdamen, ihre Kammerfrauen und Bediensteten, all die Frauen, die verschwunden waren. Sie hatte stets angenommen, dass sie zu ihren Familien zurückgekehrt waren. Bestimmt war doch keine von ihnen hier gelandet?
»Klar. Manche sind auf den Straßen. Andere arbeiten in den Bordellen der Yoshiwara. Jetzt sind sie nicht mehr so anmaßend und arrogant, so viel ist sicher.«
»Und du?«, fragte Haru sanft.
»Spar dir dein Mitleid«, fuhr Fuyu sie an. Ihre Stimme war hart und spröde. »Mein Herr ist ein Pfandleiher. Er sorgt für mich. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich war jung. Aber dann …« Ihre Stimme wurde weicher. »Egal, es ist alles zerfallen, nicht wahr? Ob man die Konkubine eines Shogun wird oder nicht - das spielt jetzt keine Rolle mehr. Alles zunichtegemacht.«
Die Mätresse eines Pfandleihers! Zweifellos hatte sich Fuyu dieses Schicksal selbst zuzuschreiben, aber ganz gleich, was zwischen ihnen vorgefallen war, es war furchtbar, sie so erniedrigt zu sehen. So wenig Sachi sie auch mochte und so sehr sie Fuyu misstraute, sie tat ihr unwillkürlich leid. So tief gefallen zu sein - Fuyu, der Stern am Firmament des Frauenpalastes, die bevorzugte Kandidatin der Ehemaligen als Konkubine des Shogun. Sachi war seit damals ebenfalls tief gefallen, das wusste sie. Aber doch nicht so tief wie die Frau vor ihr.
»Was wollt ihr hier überhaupt?«, fragte Fuyu herausfordernd. »Irgendeine Unterkunft, ist es das? Arbeit? Wollt ihr Arbeit? Kommt. Mein Herr wird euch mit allem, was ihr braucht, aushelfen.«
Sachi blickte zu Taki und Haru und nickte leicht. Sie hatten sich vollkommen verlaufen, und ihnen blieb kaum eine andere Wahl, als Fuyu zu folgen. Fuyu führte sie tief hinein in das Labyrinth der Gassen, und sie gingen hinter ihr her, alle Sinne geschärft.
»Vielleicht will sie uns bloß verkaufen«, flüsterte Taki Sachi zu und blickte sich mit großen Augen um. »Heutzutage ist alles möglich. Fuyu weiß besser als alle anderen, wer du bist und wie viel du wert bist, wenn sie uns den Südclans übergibt.«
»Sag das nicht«, murmelte Sachi und schüttelte den Kopf.
»Keiner aus Edo würde mit den Besatzern kollaborieren«, zischte Haru streng. »Nicht mal die arme Fuyu. Wir stecken alle zusammen da drin.«
Sie bogen um eine Ecke auf ein breiteres Straßenstück. Es gab einen Barbierladen, ein öffentliches Bad, einen Gemüsehändler und daneben einen großen Laden mit einem Pfandleiherschild. Fuyu duckte sich unter dem Vorhang hindurch.
»Oi, Fuyu, bist du das?«, krächzte eine Stimme. »Wieso läufst du weg, wenn es Arbeit zu tun gibt?«
»Oi!«, schnauzte eine andere Stimme.
Drinnen war es neblig vor Rauch. Eine verschrumpelte alte Frau mit einem Haarknoten, eingehüllt in ein formloses braunes Gewand, saß da, die dünnen Beine untergeschlagen, und rauchte eine langstielige Pfeife. Sie wandte den Neuankömmlingen ihr verwelktes Gesicht zu. Ein Mann lag ausgestreckt hinter einem Geländer. Dahinter wies ein Schild streng darauf hin, das Pfandgegenstände nur für maximal acht Monate angenommen wurden. Acht Monate, dachte Sachi. Wer konnte denn wissen, was bis dahin aus der Welt geworden war oder wo sie alle sein würden?
Ein gejagter Blick huschte über Fuyus Gesicht. Dann verzog sie ihre Lippen zu einem koketten Lächeln.
»Ich bin’s«, sagte sie in mädchenhaftem Falsett. »Hab ein paar Freundinnen mitgebracht. Aus alten Zeiten.«
Der Mann setzte sich langsam auf, als er die drei Frauen sah, und klopfte seine Pfeife aus. Sein Kaufmannsgewand war zerknittert, sein Schädel unrasiert. Er kniff die Augen zusammen und linste die Frauen misstrauisch an, verzog sein Gesicht dann zu einem allmählichen Lächeln, ganz Leutseligkeit, und ließ ein paar verrottete Zahnstümpfe aufblitzen.
»Palastdamen, ja? Kommen Sie herein. Unser Laden ist sehr klein. Haben Sie etwas zu verpfänden?«
»Nein. Wir suchen einen Reishändler«, erwiderte Haru.
»Haben wohl nichts mehr zu essen, was?«, höhnte er und befingerte seinen Abakus. »Ja, ja, die Zeiten sind hart. Für diese Stadt ist es vorbei. Diese Leute, die ihren Lebensunterhalt durch die Daimyo verdienten, sind alle fort. Haben die Stadt verlassen. Wir haben auch schon zusammengepackt, um zu verschwinden. Ist es nicht so, Fu-chan?«
Fuyu legte den Mund an sein Ohr. Sein Kinn sackte ihm fast bis zum Boden hinunter. Er stieß ein hörbares Japsen aus, ließ seinen Abakus fallen und kniete nieder, drückte sein Gesicht in die Strohmatte.
»Verzeihung! Verzeihung!«, quiekte er in gedämpftem Ton, rieb mit dem Mund über die Matte. »Vergebt mit, Euer Gnaden. Eure höchst ehrenwerte Konkubine. Vielen Dank, dass Ihr meinen unwürdigen Laden beehrt. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Euch zu helfen. Wir werden ihn nie vergessen … Seine junge Majestät.«
Eine große Träne, dann noch eine, fiel auf die schmierige Matte. Er wischte sich mit der Hand über die Augen. Die alte Frau war ebenfalls auf die Knie gesunken.
»Wir sind hier alle treue Untertanen, Euer Erhabenheit«, krächzte sie. »Wir hassen diese Südprovinzler wie alle anderen. Was immer wir tun können. Was immer wir tun können.«
Sachi war sich nicht sicher, wie aufrichtig sie es meinten, aber das spielte keine Rolle, solange sie ihnen Lebensmittel besorgen konnten. Haru griff in ihren Obi und zog eine einzelne Goldmünze heraus.
»Wir möchten vereinbaren, dass uns Reis geliefert wird. Wir können eine Anzahlung machen«, sagte sie.
Der Mann griff nach einer Brille, hielt die Münze dicht an sein Gesicht und beäugte sie. Er reichte sie der alten Frau, die nachdenklich hineinbiss.
»Hatte gehört, das sei alles weg«, sagte er in verwundertem Ton. Ein verschlagenes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Verzeiht mir, Euer Gnaden. Bin mir nicht sicher, ob das hier noch gilt. Sehen Sie, es trägt den Tokugawa-Stempel.«
Sachi nahm die Münze und drehte sie bestürzt um. Tatsächlich war darauf das Malvenwappen der Tokugawa zu sehen.
»Verstehen Sie, man wird denken, wir hätten es gestohlen. Hier waren Soldaten, Soldaten aus dem Süden, haben die Häuser der Leute auf den Kopf gestellt. Sagten, sie suchten nach dem Gold des Shogun. Sagten, es wäre verschwunden.«
»Sei doch nicht dumm, Älterer Bruder«, schnauzte Fuyu. »Die haben nach den großen Barren gesucht. Vergiss nicht, dass ich ebenfalls im Palast gelebt habe. Außerdem glaubt niemand wirklich, dass es hier bei uns ist. Wo es auch sein mag, es wurde schon vor Langem aus der Stadt geschmuggelt. Tu diesen Damen einen Gefallen. Du kannst es einschmelzen lassen.«
»Haben die Damen denn kein Kupfer?«, fragte der Mann mit einem beflissenen Lächeln. »Nur ein paar Mon. Das würde reichen als Anzahlung. Schließlich ist es für Ihre höchst ehrenwerte Konkubine. Ein Strang würde genügen.«
Haru wühlte in ihrem Obi und zog einen Strang Kupfermünzen heraus.
»Verlassen Sie sich auf mich, meine Damen«, sagte der Mann. »Werde meinen Teil zum Andenken Seiner jungen Majestät beitragen.«

III

Der Pfandleiher hielt Wort. Am nächsten Tag berichtete Haru, dass genug Reis, Salz, Miso, Lampenöl, Gemüse und Feuerholz eingetroffen war, um die Frauen viele Monate lang zu versorgen.
Ein paar Tage später saß Sachi beim Schreiben, als sie das Rascheln von Seide hörte. Taki erschien an der Tür, die Fingerspitzen auf die Tatami gedrückt, ihr makellos frisierter Kopf geneigt.
»Ein Besucher«, verkündete sie in ihrem offiziellsten Tonfall.
Irgendetwas stimmte nicht. Takis Mäusequieken war ein wenig schriller als sonst. Ein Anflug von Hysterie lag in ihrer Stimme.
»Edwards-sama?«
»Nein«, erwiderte Taki scharf. »Dein ehrenwerter Vater Daisuké-sama.«
Erstaunt legte Sachi den Pinsel beiseite.
»Mein Vater! Aber … aber warum? Ich weiß, dass er für uns gesorgt hat … Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn sehen will.«
Die Worte waren heraus, ehe Sachi sie zurückhalten konnte.
»Ich weiß ja, dass er dein Vater ist«, sagte Taki. Ihr dünnes Gesicht war streng. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sog die Luft mit einem Zischen ein. »Aber es erschreckt mich, daran zu denken, dass du ihn zu nahe an dich herankommen lassen könntest. Er gehört nicht … zu derselben Art Menschen wie wir. Er stammt nicht aus dem Samurai-Stand. Vergiss nicht, was mit deiner Mutter geschehen ist.«
»Trotzdem muss ich ihn sehen«, murmelte Sachi, fast wie zu sich selbst. »Ich muss mehr über meine Mutter erfahren.«
Sie hatte ihre Mutter nicht vergessen, hatte sie aber, zusammen mit dem Rätsel, wo sie sich befand und was aus ihr geworden war, tief in ihrem Inneren verborgen. Jetzt flammte diese Sehnsucht wieder auf und loderte heftiger denn je.
Taki hielt einen Spiegel hoch. Sachis Gesicht schimmerte ihr aus der polierten Bronzeoberfläche bleich entgegen. Inzwischen trug sie das Haar nicht mehr kurz geschnitten wie eine Witwe, sondern locker geflochten. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie jedes Mal, wenn sie im Rang befördert wurde, einen neuen Haarstil und einen anderen Satz Kimonos bekam, um das Verstreichen der Monate zu markieren. Traurig lächelte sie, als sie an diese unschuldigen Zeiten dachte, in denen ihr solche Dinge so aufregend und wichtig erschienen waren. Diese Welt war für immer dahin.
Sie fuhr sich mit dem Finger über die Wange. Ihr Gesicht wirkte traurig. Es sah dünner aus, die Wangenknochen traten ein wenig schärfer hervor, und um ihre Augen lag ein schwacher Schatten. Sie hatte ihr neunzehntes Jahr noch nicht erreicht, doch es fiel schwer, sich vorzustellen, welche Art Zukunft vor ihr liegen könnte. Aber sie sah nicht nur sich selbst. Sie kam dem Alter, in dem ihre Mutter ihren Vater kennengelernt hatte, immer näher. Es war seltsam - beunruhigend -, ihre eigene Mutter in sich zu tragen, eine Mutter, die sie nicht mal kannte. Je mehr das Leben sie berührte, je mehr ihr Gesicht vom Leid geformt wurde, desto mehr musste sie ihrer Mutter ähneln. Daisuké würde es sofort bemerken.
Während Taki vor ihr herhuschte und dafür sorgte, dass die Türen offen waren, glitt Sachi von einem schummrigen Raum in den nächsten. Ein Teil von ihr wollte die große Halle nie erreichen, diesen unzuverlässigen Charmeur, diesen sogenannten Vater nie wiedersehen. Doch ein anderer Teil konnte es kaum erwarten. Sie verlangsamte ihre Schritte, bis sie sich kaum noch bewegte, ließ einen Fuß nach dem anderen über die Tatami gleiten, wie man es ihr im Palast beigebracht hatte. Aber ihr Geist schien ihr vorauszueilen.
Lange bevor sie die große Halle erreichte, roch sie den holzigen Duft von Tabakrauch und das besondere, fremdartige Aroma, das immer an Daisukés Kleidung hing. Da war auch noch ein anderer Geruch. Sie hielt inne. Ein Hauch von Moschus, Aloe, Wermut, Weihrauch - die Art von Parfüm, die eine Hofdame als Wohlgeruch für ihre Gewänder benutzen würde. Unwillkürlich bewegten sich Sachis Füße schneller.
Sie fing den Klang vertrauter Stimmen auf. Haru war bereits da.
»Haru.« Das war Daisukés tiefer Bass. In der Stille konnte Sachi jedes Wort verstehen. Sie blieb stehen und machte Taki ein Zeichen, leise zu sein.
»Haru, hab ich es falsch gemacht? Hätte ich im Tempel warten sollen? Die ganzen Jahre hat mich das beschäftigt. Ich dachte, es wäre das Beste für sie, wenn ich verschwände.«
Für sie. Also sprachen sie über die Dame Okoto, Sachis Mutter. Seine Stimme war ein gequältes Grollen.
»Ich muss wissen, warum sie nie zurückkam. Wurde sie eingesperrt? In die Verbannung geschickt? Wurde sie gezwungen, sich selbst zu töten? Wenn ich wüsste, dass sie tot ist, könnte ich wenigstens trauern. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus, all die Jahre musste ich damit leben.« Sachi hörte ein tiefes Seufzen.
»Haru, du musst doch eine Ahnung haben, was mit ihr geschehen ist. Bitte sag es mir. Ich habe für meine Missetaten bezahlt. Ich habe genug gelitten.«
Sachi wagte kaum zu atmen. Sie hatte sich immer eingeredet, dass ihre Mutter zwar verschwunden sein mochte, aber noch irgendwo lebte. Es ging nur darum, sie zu finden.
»Jetzt nicht, Älterer Bruder.« Harus Stimme war nur ein leises Murmeln. »Meine Herrin ist auf dem Weg. Sie wird jeden Moment hier sein.«
Er stöhnte. »Wenn sie noch lebt, dann sag es mir. Nur ein Wort, das genügt.«
Unfähig, es noch länger zu ertragen, betrat Sachi die große Halle.
Rauchwölkchen kringelten sich in den Sonnenstrahlen, die durch die Lücken zwischen den Papierschiebetüren eindrangen. Unter den gewaltigen schwarzen Dachbalken hing der Rauch wie Nebel. Daisuké und Haru saßen zu beiden Seiten des Tabakkästchens einander zugewandt. Ihre Gesichter wirkten fast so geisterhaft wie die Gesichter, die Sachi nach wie vor im Traum sah, die Gesichter der Toten auf dem Ueno-Hügel. Zwischen ihnen, schimmernd wie ein Stück vom Himmel, lag der Brokat. Der Überkimono von Sachis Mutter. Daisukés große Hand ruhte so leicht wie eine Liebkosung darauf.
Als die beiden sie erblickten, zuckten sie zurück, als wären sie beim Aushecken eines schrecklichen Verbrechens ertappt worden. Daisuké riss seine Hand von dem Brokat. Seine Augen öffneten sich weit, und ein Ausdruck des Erschreckens huschte über sein Gesicht. Sachi wusste, dass er nicht sie sah, sondern ihre Mutter. Dann legte er seine langstielige Pfeife beiseite, sank auf die Knie und verneigte sich.
Die breiten Schultern und der wuchtige Rücken, der bullige Nacken und der große, mit leicht ergrauten schwarzen Stoppeln bedeckte Kopf, die kräftigen Hände auf der Tatami - alles an ihm war stark, tüchtig, aufrichtig, offen. Trotz der Monate, die verstrichen waren, war es, als sei überhaupt keine Zeit vergangen. Sachi wusste, dass sie argwöhnisch sein sollte: Er hatte ihre Mutter ins Verderben gestürzt und auf der Seite des Südens gekämpft. Aber sie wusste ebenfalls, dass er gut für sie, Haru und Taki gesorgt hatte. Unwillkürlich wurde sie von einer Woge der Erleichterung und Freude ergriffen, dass dieser Mann ihr Vater war. Rasch kniete sie nieder.
Er hob den Kopf und sah sie lange und eindringlich an, als fürchtete er, sie würde wieder verschwinden, wenn er den Blick abwandte. Er sah ein wenig abgehärmt aus, seine Wangen waren etwas mehr herabgesackt, die Falte zwischen seinen Brauen war tiefer, aber er wirkte nach wie vor so warmherzig und gut aussehend wie immer.
»Tochter«, sagte er feierlich. Dann entspannte sich sein Gesicht. Ein Lächeln breitete sich darüber aus.
Sachi verbeugte sie. Es fiel ihr schwer, nicht zurückzulächeln.
»Willkommen«, erwiderte sie steif. Sie wusste, er wollte, dass sie ihn mit »Vater« anredete, aber sie konnte nicht. Noch nicht.
»Verzeihung«, sagte sie, mochte sich nicht mit dem üblichen Austausch von Plattitüden und Komplimenten aufhalten. »Es ist sehr unhöflich, aber … Ich konnte nicht anders, als mitzuhören, was ihr gesagt habt.«
Haru lag auf den Knien, das Gesicht auf die Hände gedrückt. Die schimmernden Locken und Rollen ihrer Frisur zitterten leicht.
»Haru«, forderte Sachi sie sanft auf. »Bitte erzähl es uns. Ich flehe dich an. Meine Mutter …«
Ein langes Schweigen trat ein. Haru blickte auf. Ihr rundliches Gesicht hatte alle Farbe verloren, und ihre Lippen bebten.
»Wenn sie tot ist«, flehte Sachi, »muss ich es wissen. Ich bin ihr Kind. Ich muss Opfergaben darbringen und beten. Wenn niemand für sie betet, bleibt sie ein hungriger Geist. Ich muss sichergehen, dass sie die nächste Welt gefahrlos erreicht.«
Harus Gesicht verzerrte sich vor Qual. Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schien sie in eine Vergangenheit zu blicken, die sie sich nach Kräften zu vergessen bemüht hatte.
»Herrin, ich habe es dir erzählt«, flüsterte sie. Aber welche »Herrin« meinte sie? Und was hatte sie erzählt?
»Du hast mir erzählt, dass meine Mutter, nachdem ich geboren wurde, in den Palast zurückkehrte«, sagte Sachi. »Dann erhielt sie die Aufforderung, nach Hause zu kommen …«
Sie erinnerte sich genau an Harus Erzählung. Sachis Mutter war aufgefordert worden, nach Hause zurückzukehren, weil ihr Bruder, Herr Mizuno, schwer erkrankt sei und im Sterben liege. Das hatte Haru gesagt. Und doch … Sachi hatte Herrn Mizuno mit eigenen Augen gesehen. Niemals würde sie dieses Furcht erregende, habichtartige, von Pockennarben entstellte Gesicht vergessen oder diese muskulösen Schwertkämpferhände. Er mochte vor all diesen Jahren auf dem Totenbett gelegen haben, aber er war gewiss nicht gestorben.
»Sie wurde in die Residenz ihrer Familie gerufen«, sagte Sachi langsam. »Es hieß … ihr Bruder liege im Sterben. Sie müsse sofort nach Hause. Ich half ihr beim Packen. Ich war noch nie von ihrer Seite gewichen, nie, aber sie sagte, ich müsse zurückbleiben. Ich müsse zum Tempel gehen und Daisuké-sama sagen …«
»Ich habe gewartet, Haru, aber du kamst nicht.« Seine Stimme war rau vor Qual.
»Ich wollte eine Ausrede erfinden und mich wegschleichen. Doch dann … dann kam eine Nachricht.«
Tränen liefen Haru über die Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken fort.
Daisuké beugte sich vor. Seine buschigen Brauen waren zusammengezogen. Er starrte Haru an, als wollte er sich mit seinen Augen in ihre Seele bohren.
Haru öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Heftig schüttelte sie den Kopf, holte zitternd Luft, dann noch einmal. Sachi legte Haru die Hand auf den Arm. Haru kniff die Augen so fest zu, das sie fast in ihren rundlichen Wangen verschwanden.
Sie murmelte ein paar Worte. Sachi rutschte näher, um mitzubekommen, was sie sagte. Taki war direkt hinter ihr. Daisuké war so nahe, dass sie die von seinem großen Körper ausströmende Wärme spürte. Sie hörte seinen rasselnden Atem, roch seinen mit irgendeinem fremdländischen Duft vermischten Schweiß.
Haru sprach erneut im leisesten Flüsterton. Diesmal verstand Sachi die Worte. »Es hieß darin … dass sie verschieden sei. Sie sei krank geworden und entschlafen. Ganz plötzlich. Das stand darin.«
Sachi schnappte nach Luft. Im ersten Moment begriff sie den Sinn der Worte nicht. Dann wurde ihr klar, was Haru gesagt hatte. Sie spürte, wie aus ihrem Inneren eine Kälte aufstieg, bis ihre Fingerspitzen und Zehen ganz taub waren. Sie erzitterte.
»Das hast du mir nicht gesagt, Große Schwester«, krächzte sie.
Daisuké schlug mit seiner großen Faust auf die Tatami.
»Am Tag nach …?«, brüllte er. »Das ist unmöglich. Wie konnte sie so plötzlich sterben?«
Harus Schultern sackten nach vorn, ihr rundliches Gesicht fiel in sich zusammen. »Vielleicht überkam sie eine plötzliche Krankheit«, sagte sie, wich seinem Blick aus. Es war, als würden die Worte aus ihr herausgepresst, als wiederholte sie etwas, was sie sich Millionen Male eingeredet hatte, um sich von dessen Wahrheit zu überzeugen, wie einen Zauberspruch, der Unglück vertreiben soll. »Sie hatte gerade ein Kind geboren. Frauen sterben im Kindbett. Es ist sehr gefährlich, gleich nach der Geburt herumzulaufen. Man darf sieben Tage lang nur aufgerichtet sitzen, damit einem das Blut nicht in den Kopf läuft. Das muss es wohl gewesen sein.«
Daisuké sah sie anklagend an.
»Glaubst du das wirklich, Haru? Glaubst du, dass das geschehen ist? Wir waren zusammen. Ich habe sie unmittelbar nach der Geburt gesehen. Es ging ihr gut.«
Haru wich zurück. »Wie dem auch sei«, murmelte sie. »Die Familie entschuldigte sich beim Shogun, ihn seiner Konkubine beraubt zu haben. Sie schickte Geld, viel Geld. Schließlich war sie ein wertvoller Besitz. Die Dame Honju-in sah den Brief und berichtete uns davon. Ich glaube, wir sollten das als Warnung auffassen, nicht zu vergessen, dass … es ein Verbrechen war, was meine Herrin begangen hatte. Um nicht den gleichen Fehler zu begehen.«
Die Falte zwischen Daisukés Augenbrauen war noch tiefer geworden. Er ballte seine großen Fäuste so fest, dass die Adern hervortraten. »Sie ist also innerhalb eines einzigen Tages einfach so gestorben. Und du gingst zur Bestattung in die Familienresidenz?«
»Es gab keine Nachricht über eine Bestattung, nur über den Todesfall. Uns Frauen war nicht erlaubt, den Palast für Privatangelegenheiten zu verlassen. Aber es gelang mir, mich hinauszuschleichen. Nicht für die Bestattung. Ich ging zum Tempel. Doch du warst fort. Und hattest … dein Kind, meine Herrin, mitgenommen.«
»Und du glaubst wirklich, dass sie tot ist?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Haru. Dann öffnete sie die Augen und blickte Daisuké direkt an. »Ich selbst habe es nie geglaubt. Wenn Frauen ein Verbrechen begehen, wie sie es getan hatte, unternehmen Familien sehr seltsame Dinge. Manchmal sperren sie eine Frau für immer ein. Manchmal richten sie sie hin. Aber oft können sie das nicht ertragen, daher haben sie sich die Geschichte vielleicht ausgedacht und die Dame Okoto irgendwo versteckt. Vielleicht in einem Kloster. Ich bin nicht bei ihrer Bestattung gewesen, ich habe ihren Leichnam nicht gesehen, ich habe keine religiösen Bräuche eingehalten. Ich habe den siebten Tag und den vierzehnten Tag und all die anderen zeremoniellen Tage nach ihrem Tod nicht eingehalten. Soweit es mich betrifft, ist sie noch am Leben.«
Im Kerzenlicht wirkte Daisuké müde und alt. Mit leerem Blick starrte er auf die Tatami. Sein Mund war vor Qual verzerrt. Er hob den Brokat hoch und verbarg das Gesicht darin. Als er ihn wieder hinlegte, war die kunstvolle Stickerei mit Tränen benetzt.
»Nach all dem wart ihr beide tot für mich, und jetzt bist du hier«, sagte Haru leise.
Sie saßen schweigend da, wagten nicht, einander in die Augen zu sehen, bis die Holzkohle im Tabakbecken von Rot zu Grau überzugehen begann. Taki füllte eine Pfeife und drückte den Tabak fest. Sie griff nach einer Zange, harkte durch die Holzkohle, bis sie ein glühendes Stück fand, entzündete die Pfeife und reichte sie Daisuké. Er nahm den zarten Stil zwischen seine großen Finger und führte ihn langsam an die Lippen. Taki bereitete eine Pfeife für Sachi, Haru und schließlich sich selbst vor.
»Die Nachtigall ist gestorben«, sagte Sachi und blickte in die ersterbende Glut. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Kind. Tränen brannten ihr in den Augen. »Vater, ich wünschte, du hättest mich eher besucht.«
Vater. Sie war erstaunt, wie leicht ihr das Wort jetzt über die Lippen kam und wie natürlich es ihr erschien.
Sachi konnte sich kaum mehr erinnern, wie es war, einen Vater zu haben. Seit sie das Dorf verlassen und den Palast betreten hatte, war sie von Frauen umgeben gewesen. Dann war sie plötzlich in die Kälte hinausgestoßen worden, musste Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Nun wusste sie, dass jemand über sie wachte.
Sie begriff jetzt so viele Dinge - wie schwierig es für Daisuké, einen Beamten der kaiserlichen Regierung, gewesen war, auch nur diesen einen Besuch in ihrem Haus zu machen, gesehen zu werden, wie er das Anwesen von Frauen betrat, die dem besiegten Tokugawa-Clan nicht nur nahe standen, sondern dessen Familienmitglieder waren. Wie gefährlich es für ihn gewesen sein musste, dafür zu sorgen, dass sie beschützt wurde, denn es war sicherlich ein Verbrechen, die Familie des Feindes zu versorgen. Und doch hatte er das monatelang getan, ohne Anerkennung oder Dankbarkeit zu erwarten und ohne dass sie auch nur davon etwas ahnte. Nun wusste sie, wie es war, einen Vater zu haben. Das war es, was ein Vater tat.
Er nickte ernst. Ihre Blicke trafen sich. Seine Augen hatten die Form von Bittermandeln, genau wie die Augen, die sie sah, wenn sie in den Spiegel schaute.
Er nahm ihre kleinen Hände in seine großen. »Tochter«, sagte er, »es lag nicht in meiner Absicht, dass du diese schrecklichen Dinge zu hören bekommst. Ich kam, um dir zu sagen, dass ich nach Osaka zurückkehren werde. Man redet davon, dass Osaka die neue Hauptstadt werden könnte.«
Sie versteifte sich. Hauptstadt wovon?, wollte sie fragen. Wessen Hauptstadt? Der Krieg ist noch nicht gewonnen. Aber sie schwieg. Sie wollte dieses neu entstandene Band zwischen ihnen nicht zerreißen. Dazu war es zu kostbar.
»Ich werde sicherstellen, dass du beschützt und versorgt wirst«, sagte er. »Es wird keine Besuche von Soldaten der Südarmee geben, keine Probleme mit Plünderern oder Räubern. Die Residenz wird nicht beschlagnahmt werden, und keiner wird dich daraus vertreiben. Ich hoffe … ich glaube, dass deine Mutter am Leben ist. Sobald ich kann, sobald die Kämpfe vorüber sind, sobald Frieden im Land herrscht, werde ich sie finden. Das verspreche ich dir.«