12
Ein Besuch beim Pfandleiher

I
Der Sommer war zu Ende. Es war kühl und feucht,
der erste Taifun des Herbstes kündigte sich an, und Sachi fühlte
sich schrecklich ruhelos. Jeden Moment rechnete sie damit, die
schweren Schritte von Soldaten zu hören, die den Räumungsbefehl
überbrachten. Aber Tag um Tag verging, ohne dass etwas geschah.
Manchmal überlegte sie, ob sich die Prinzessin geirrt hatte und es
gar keinen Erlass gab, oder wenn doch, dass niemand es durchsetzen
würde.
Aber jedes Mal, wenn sie zu einem ihrer
regelmäßigen Besuche bei Edwards aufbrachen, sahen sie, dass die
Östliche Küstenstraße verstopft von Flüchtlingen war. Dann hingen
sie fest zwischen großen Menschenmengen mit grauen, verzweifelten
Gesichtern, die voranstolperten, einander auf die Hacken traten,
Karren mit ihrer Habe zogen. Sie alle, dachte Sachi grimmig,
mussten einst Staatsbeamte, Wachen, Schreiber, Angestellte in
diesem oder jenem Ministerium, Untersekretäre
von Untersekretären, Hofdamen, Bedienstete, Köche gewesen sein.
Sie mussten im Dienste des einen oder anderen Zweiges der Tokugawa
gestanden haben. Keiner von ihnen hatte mehr oder weniger getan,
als von treuen Dienern erwartet wurde. Jetzt waren sie Verräter,
vertrieben aus dem einzigen Heim, das sie je gekannt hatten,
verdammt zu lebenslanger Ungnade, Verbannung und Armut.
Sachi wusste, dass sie und ihr kleiner Haushalt dem
Edikt nicht für immer entkommen konnten. In nicht allzu ferner
Zukunft würde auch sie das Schicksal dieser gesichtslosen
Flüchtlinge auf der Östlichen Küstenstraße ereilen.
Als Sachi gerade meinte, es könne nicht schlimmer
werden, teilte Haru ihr mit, dass die Vorratsräume leer wären.
Reis, Miso, Salz, Gemüse, Feuerholz, Lampenöl - fast alles war
aufgebraucht.
Während ihrer ganzen Zeit im Frauenpalast hatte
Sachi alles gehabt, was sie sich nur wünschen konnte. Schöne
Kimonos, jede Art von Kosmetika oder Spiel oder Musikinstrument -
wenn es sie danach gelüstete, brauchte sie nur in die Hände zu
klatschen, und schon wurde es gebracht. Was das Essen anging, hatte
sie es nie geschafft, eine Mahlzeit zu beenden, weil stets viel zu
viel aufgetragen wurde. Selbst im Dorf hatte es immer zu essen
gegeben; sie hatten ihre Nahrung selbst angebaut. Aber nun … Mit
Besorgnis dachte sie an das von Unkraut überwucherte Grundstück.
Die Gärtner, die sich um den Gemüsegarten gekümmert hatten,
schienen mit allen anderen verschwunden zu sein.
»Und … und wir haben kein Geld?«
In der Vergangenheit hatte sie nie an Geld denken
müssen.
»Geld haben wir, Herrin«, sagte Haru mit leichtem
Tadel im Ton. »In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu
machen. Denkst du, dein Vater würde dich verhungern lassen?
Was glaubst du, warum uns noch niemand vertrieben hat? Er
beschützt dich, und uns mit dir, und er hat dafür gesorgt, dass wir
Geld haben.«
Sachi blickte sie erstaunt an. Sie hatte Daisuké
seit Monaten nicht mehr gesehen, nicht, seit sie die Burg verlassen
hatten. Selbst nach der Schlacht, als Chaos in der Stadt herrschte,
hatte er sie nicht aufgesucht, um sich zu vergewissern, dass ihr
nichts zugestoßen war. Sie hatte nicht viel von ihm als Vater
gehalten, trotz all seiner großartigen Worte.
Allerdings hatte sie sich gefragt, warum es ihnen
gestattet war, weiterhin ein so sorgenfreies Leben zu führen. Zu
einer Zeit, in der alle Häuser der Tokugawa und ihrer Verbündeten
zerstört oder von den Südclans besetzt wurden, hatten sich keine
Soldaten bei ihnen einquartiert oder ihnen befohlen, zu
verschwinden. Also hatte Daisuké von fern über sie alle
gewacht.
»Wir müssen die Reishändler benachrichtigen«, sagte
sie. »Warum haben sie nicht geliefert?«
Doch dann dämmerte es ihr. Sie konnten niemanden
benachrichtigen. Sie hatten keine Dienstboten.
»Sie kommen nicht mehr«, sagte Haru leise.
Sachi betrachtete sie eindringlich. Harus fülliges
Gesicht war dünner geworden. Unter ihren Augen lagen dunkle
Schatten. Sie hatte nicht ordentlich gegessen, hatte die Hälfte
ihrer Ration aufgehoben, um sie Sachi zu geben. Tränen traten Sachi
in die Augen bei dem Gedanken an eine so aufopfernde Treue.
»Ich möchte um Erlaubnis bitten, in die Stadt gehen
zu dürfen«, fügte Haru hinzu. »Ich muss einen neuen Lieferanten
finden.«
Sachis Augen verengten sich. »Und du wirst Geld
mitnehmen.«
»Natürlich.«
»Aber in der Stadt herrscht Chaos. Wir müssen alle
gehen, alle drei zusammen.«
»Das ist zu gefährlich, Herrin«, protestierte Haru.
»Bleib du in der Residenz. Taki und ich werden gehen. Es gehört
sich nicht für feine Damen, durch die Straßen zu wandern oder Orte
aufzusuchen, wo das gemeine Volk lebt.«
Aber Sachi hatte genug davon, sich zu verstecken.
Sie erstickte in diesen prächtigen leeren Räumen, diesen staubigen,
stillen Zimmern, all dieser Traurigkeit und Einsamkeit. Sie
hungerte nach Leben und Menschen.
»Drei ist sicherer als zwei«, sagte sie in einem
Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Sachi kleidete sich wieder in das schlichte
Städterinnengewand mit einer wattierten Haori-Jacke in
unauffälligen Brauntönen. Sie spürte die raue Baumwolle gern auf
der Haut. Im Bezirk der Städter wäre selbst der bescheidenste
Anschein von Seide eine Einladung für Straßenräuber. Haru füllte
eine Geldbörse mit Goldmünzen und steckte sie in das Vorderteil
ihres Kimonos, den Obi fest darumgebunden. Die Ausbuchtung war
trotzdem zu sehen.
Auf dem Grundstück fegten Windböen durch Felder von
Riedgras. Die Frauen kämpften sich durch ein Gestrüpp von
Knöterich, Farnen und Wegerich und um große Büschel von Chinaschilf
herum, um das Tor zu erreichen. Voll böser Ahnung bemerkte Sachi,
dass sogar die Brücke über den Wallgraben morsch wurde.
Um in den Bezirk der Städter zu gelangen, mussten
sie durch das ausgebrannte Ödland, das zwischen der Residenz und
dem Hügel lag, in entgegengesetzter Richtung zu der Route, die sie
zu Edwards einschlugen. Große Raben flatterten über die verlassenen
Straßen, ließen sich auf den ausgebrannten
Gerippen der Häuser nieder und beäugten die drei Fußgängerinnen
mit gelben Knopfaugen. Ihr raues Krächzen hallte in den Ruinen
wider und verlieh dem Ganzen noch mehr Trostlosigkeit. Der Hügel
ragte still und schweigend am Horizont auf. Seit dem schrecklichen
Tag der Schlacht betraten sie diesen Teil der Stadt zum ersten
Mal.
Die Frauen schürzten ihre Kimonoröcke und
trippelten so schnell dahin, wie es ihre Holzsandalen erlaubten,
alle Sinne wachsam. Ein Raubüberfall war das Letzte, was sie
brauchen konnten.
Kurz darauf nahmen sie vor sich eine Gruppe
abgerissener Männer wahr, die im Schatten lauerten. Sobald die
Männer sie erblickten, kamen sie aus ihrem Versteck heraus,
verteilten sich quer über die Straße und versperrten ihnen den Weg.
Etwa zehn oder zwanzig verzweifelte, ausgemergelte Gestalten. Sie
waren mit Stäben und Stöcken und Holzscheiten bewaffnet, die
aussahen, als hätten sie sie aus dem zerstörten Palast eines Daimyo
herausgerissen.
Haru verschränkte die Arme fest über ihrem Obi.
Diesmal waren die Frauen auf sich gestellt. Da war kein Shinzaemon,
um sie zu verteidigen, und auch kein Edwards, und es war mehr als
unwahrscheinlich, dass einer von beiden plötzlich an einem so
unwirtlichen Ort auftauchte.
Einer der Männer trat vor und schob sein Gesicht
dicht an Sachis heran. Er roch so widerlich, dass es sie würgte; er
hatte sich eindeutig seit vielen Tagen nicht gewaschen. Sein
Gesicht war dünn und verzerrt, sein Haar war zu einem schmierigen
Knoten gebunden, und in seinen Augen blitzte Wahnsinn. Er
grinste.
»So ganz allein, ihr hübschen Damen?«, nuschelte
er. Ihre Städterinnengewänder waren anscheinend keine ausreichende
Verkleidung, aber wenigstens waren die Männer zu unwissend,
um zu erkennen, welche Beute Sachi darstellte. »Rückt einfach euer
Geld raus, und wir lassen euch gehen.«
Sachi schaute sich um. Ein anderer Bursche packte
Harus Arme und versuchte sie von ihrer Brust loszuzerren. Haru
stand da wie die gut erzogene Edelfrau, die sie war, den Kopf
leicht gebeugt, die Zehen nach innen gerichtet. Ihr Gesicht war
unbewegt. Der Mann schüttelte sie. Er holte aus und wollte ihr
einen Schlag versetzen. Ihr Ausdruck änderte sich nicht. Sie wich
aus, hielt die Arme weiter verschränkt, wartete, bis er aus dem
Gleichgewicht war und machte dann eine so kleine Bewegung, dass
selbst Sachi sie kaum wahrnahm. Sachi lächelte befriedigt. Sie
hatte vergessen, was für eine gute Kämpferin Haru war. Der Bursche
torkelte an ihr vorbei, starrte dümmlich, strauchelte und krachte
mit dem Gesicht voran zu Boden. Seine dürren Beine zitterten, dann
sackte er zusammen.
Den anderen Männern fiel die Kinnlade herunter. Sie
glotzten ihren gestürzten Kameraden an, bevor sie sich mit
verstärkter Wut den drei Frauen zuwandten.
»Einmal Glück gehabt«, knurrte einer. »Aber nur
einmal.«
Sie rückten näher heran. Der Gestank war
überwältigend. »Wir haben nichts von Wert«, sagte Sachi ruhig.
»Bitte lasst uns vorbei. Wir wollen keinen Ärger.« Sie legte die
Hand an den Griff ihres Dolches. Die drei Frauen standen Rücken an
Rücken. Haru hatte beide Arme fest vor ihrem Obi verschränkt.
»Haltet euch wohl für feine Damen, mit eurem
affektierten Gehabe«, schnaubte der Erste. Gelbliche Spuckeklumpen
flogen aus seinem zahnlückigen Mund. Sachi wandte ihr Gesicht ab.
»Eure schicke Aufmachung wird euch nichts nützen. Wir kriegen euer
Geld, und wir kriegen euch. Stimmt’s, Jungs?«
Sachi musterte sie ruhig, wog ihre Chancen ab. Für
die Männer sprach ihre brutale Stärke, aber sie wussten nicht,
wie man kämpfte. Wenn sie nicht so ungebildet gewesen wären,
hätten sie es sich besser überlegt, Palastfrauen anzugreifen.
Zugegeben, sie drei hatten ihre Schwertlanzen nicht dabei, und die
Männer hatten Stöcke, aber sie erkannte, dass die Burschen nicht
mal wussten, wie man richtig stand. Den drei Frauen würde es
leichtfallen, die Kraft ihrer eigenen Bewegungen zu nützen, um die
Männer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Trotzdem, sie waren viele,
und sie waren verzweifelt, wie ausgehungerte Hunde.
Der Mann stellte sich ihr in den Weg. Sie
versuchte, ihm seitlich auszuweichen, doch er ließ sie nicht
vorbei.
Heulend wie ein Wolfsrudel schwangen die Männer
ihre Stöcke und schlugen los. Aus dem Augenwinkel sah Sachi zwei
Stöcke auf ihren Kopf zukommen. Sie wich dem einen aus, packte und
verdrehte ihn mit einer abrupten Bewegung des Handgelenks. Es
knirschte, als der Mann umfiel. Ihr blieb gerade noch Zeit, aus dem
Weg zu gehen, als der zweite Mann das Gleichgewicht verlor. Er
stolperte unbeholfen auf sie zu, strauchelte und krachte schwer zu
Boden.
Als der dritte Stock niedersauste, entwand sie ihn
dem Griff des Kämpfers und verdrehte ihn so, dass der Mann gegen
eine Mauer prallte und liegen blieb, wo er gefallen war. Der Stock
war zwar keine Schwertlanze, eignete sich jedoch gut als
Übungsstock. Sie schwang ihn um sich, ließ ihn auf Köpfe,
Brustkörbe und Knie prasseln. Dann kam ein Schlag aus dem Nichts.
Sie wurde an der Brust getroffen und fiel atemlos zu Boden. Mühsam
schnappte sie nach Luft, als sich zwei der Männer auf sie warfen
und sie so stark niederdrückten, dass sie befürchtete, ihre Rippen
würden brechen.
»Die hier hab ich«, brüllte eine Stimme. »Die
andere hat das Geld! Schnappt sie euch!«
Sachi zappelte und wand sich, um freizukommen. Es
gelang
ihr, den einem Arm so weit zu verdrehen, dass sie ihren Dolch
erreichen konnte. Mit einer einzigen Bewegung riss sie ihren Arm
los, den Dolch in der Hand, und schwang ihn herum. Sie hörte Haru
kreischen: »Niemals! Runter von mir!« Sachis Arm bewegte sich mit
seiner eigenen Stoßkraft. Bevor sie wusste, was geschah, fiel der
Mann zurück, heulte auf und umklammerte sein Gesicht.
Sie sprang auf. Harus Kleider waren zerrissen, und
ihr Gesicht war zerschlagen. Ihr Obi hatte sich gelöst, aber sie
hatte immer noch beide Arme um den Bauch geschlungen und wehrte
sich mit Tritten und Schulterschlägen. Als Sachi sich umdrehte,
versetzte ein Mann Haru einen wuchtigen Schlag in den Rücken. Sie
taumelte nach vorn und ließ für einen Moment los. Der Mann
schnappte sich die Geldbörse und wollte wegrennen. Ohne
nachzudenken schleuderte Sachi ihren Dolch. Er flog im Bogen durch
die Luft und sank bis zum Heft in den Rücken des Mannes. Der fiel
um und gab keinen Laut mehr von sich. Sachi sprang über die
Gefallenen, zog ihren Dolch heraus und hob die Geldbörse auf.
Mehrere Männer lagen auf dem Boden mit den Händen über den Augen;
Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Taki wischte ihre
Haarnadel an ihren Röcken ab.
Am hinteren Rand der Gruppe waren immer noch einige
Männer auf den Beinen und blinzelten wie verängstigte Kaninchen.
Sachi wandte sich ihnen zu, und sie machten kehrt und flitzten
davon wie Küchenschaben. Keuchend reichte sie Haru die Geldbörse,
die sie wieder in ihren Kimono steckte und ihren Obi sorgfältig neu
band. Schweigend glätteten die drei Frauen ihr Haar und klopften
ihre Kimonoröcke ab, bemüht, den Gestank der Männer loszuwerden.
Sachi wischte ihren Dolch mit einem Taschentuch sauber und steckte
ihn zurück in den Obi.
Der Ueno-Hügel in der Ferne wirkte wie eine
friedvolle, baumbestandene Kuppe. Die rauen Schreie der Vögel, die
darüber kreisten, hallten durch die bleiche Himmelskuppel. Die
Frauen hielten sich vom Hügel fern und gingen ostwärts auf den
Städterbezirk von Edo zu.
II
Als sie sich dem Ostteil der Stadt näherten, nahm
Sachi allmählich Stimmengewirr und Kochgerüche wahr, brennende
Holzfeuer und den üblen Gestank von Fäkalien. Bald kamen sie zu
einem großen, offenen Platz, auf dem Jongleure, Marktschreier,
Akrobaten und Geschichtenerzähler ihre Künste zum Besten gaben.
Eine Frau ließ einen Affen Kunststückchen vorführen. Eine andere
verkaufte Blumen. Kleine Stände boten gebratenen Tintenfisch und
frisch gebackene Omeletts an. Menschen schoben sich über den Platz,
glotzten und applaudierten. Frauen mit hartem Blick und
ausgemergelten Gesichtern strichen durch die Menge, boten sich
selbst zum Kauf an. Sogar in einer Stadt am Rande des Untergangs
ging das Leben weiter. Alle mussten irgendwie überleben.
Hagere Männer mit den Gesichtern und Augen
hungriger Ratten umkreisten von außen die Menge, hatten es auf die
Frauen abgesehen. Haru hielt die Arme vor der Taille verschränkt.
Sachi zog ihr Tuch enger um ihr Gesicht, damit ihre bleiche Haut
und die aristokratischen Züge keine unerwünschte Aufmerksamkeit
erregten. Es war beruhigend, andere Frauen um sich herum zu sehen.
Einige waren Geishas oder Prostituierte, aber es gab auch
gewöhnliche Frauen, die ihren alltäglichen Beschäftigungen
nachgingen. Das machte es viel leichter, in der Menge
unterzutauchen. Trotz der Dringlichkeit
ihrer Mission genoss Sachi es, draußen zu sein, fort von den
stickigen Räumen der Residenz, zurück in einem Teil der Welt, in
dem Männer und Frauen miteinander auf Tuchfühlung kamen.
Die Straße war von Läden gesäumt, aber viele waren
vernagelt, und die wenigen offenen schienen kaum Waren oder Kunden
zu haben. Vor einem war das Schild eines Reishändlers angebracht.
Sie lugten durch den Spalt und versuchten die Tür aufzuschieben,
aber sie war fest verschlossen. Die Reishändler - wie alle, die es
sich leisten konnten - hatten anscheinend die Stadt
verlassen.
Sie bogen in eine mit Wohnhäusern bestandene Gasse
ein, dann eine andere. Die Häuser standen dicht an dicht, so nahe
beisammen, dass kein Sonnenstrahl durch die Schatten der engen
Gassen drang. Sachi, Haru und Taki gingen im Gänsemarsch, drückten
sich an die Wände, um Entgegenkommenden auszuweichen. Durch die
Abzugsgräben lief fauliges Wasser, überall stank es nach
verrottetem Abfall und Exkrementen, Ratten huschten herum,
Käfigvögel zwitscherten und Insekten zirpten. Hier und dort saßen
zaundürre Menschen an Wände gelehnt, streckten Schalen aus, baten
klagend um Almosen.
Inzwischen hatten sie sich völlig verlaufen. Sachi
sagte nichts, obwohl ihr allmählich mulmig wurde. Dann stolzierte
eine junge Frau auf sie zu, trippelte auf hohen Getas. Sie traten
beiseite, um ihr Platz zu machen. Sie schaute sie an, ihr Kinn
klappte herunter und die Augen traten ihr fast aus dem Kopf.
»Hora!«, japste sie. »Ist das nicht …
Haru-sama? Und … die Dame Oyuri!«
Die Dame Oyuri. Sachi hatte diesen Namen zum
letzten Mal vor mehr als drei Jahren gehört, als der Shogun noch
lebte, als sie noch die Konkubine Seiner Majestät war, die Dame des
Seitengemachs.
Und diese Stimme, schrill und hoch - die erkannte
sie sofort. Worte hallten in ihrem Kopf wider: »Dreckiger
Bauerntrampel. Ich kann es nicht ertragen, in deiner Nähe zu sein.
Warum bist du nicht in den Ställen bei den Tieren?« Bilder tauchten
vor ihr auf, von einem schnippischen, hochnäsigen Mädchen in einem
kunstvollen Kimono, dessen Stickerei die ganze Stadt Edo
darstellte, und wie sie damit durch den prächtigen Korridor zum
Eingang des Shogun gerauscht war; von aufeinanderprallenden
Übungsstöcken und dem grimmigen Kampf, den sie in der Übungshalle
ausgefochten und den Sachi, wider alles Erwarten, gewonnen hatte.
Dann sah sie eine erhobene Hand, hörte eine Sandale durch die Luft
zischen. Sie spürte den Schmerz und die Demütigung, als die Sandale
sie am Ohr traf, hörte das boshafte Kichern, sah das von Hass und
Eifersucht verzerrte Gesicht …
Fuyu.
Und dann hatte es ein letztes Treffen gegeben, bei
dem Fuyu halb wahnsinnig gewirkt hatte. Danach war sie
verschwunden, und niemand hatte je herausgefunden, was aus ihr
geworden war, wenngleich manche der Frauen gemeint hatten, sie
müsse von ihrer Familie hingerichtet worden sein. Sachi hatte sich
die ganze Zeit gefragt, ob es ihre Schuld gewesen sei, ob sie
dieses schreckliche Schicksal nicht dadurch heraufbeschworen hätte,
dass sie ihre Feindin weit weggewünscht hatte.
Und jetzt stand sie hier, direkt vor ihnen. Aber
konnte sie das wirklich sein, oder war es nur ein Fuchsgeist?
Unter der dicken Schminke hatte die Frau Fuyus
kecke Nase und die olivfarbene Haut. Da war immer noch der Umriss
dieses hübschen, herzförmigen Gesichts, das sie zu der anerkannten
Schönheit unter den jüngeren Hofdamen gemacht hatte, aber es war
verkniffen und hager. Sie sah niedergeschlagen aus. Ihre Schultern
waren nach vorn gebeugt, und der Kimono
hing an ihr wie ein Leichentuch. In ihren Augen lag ein harter
Ausdruck. Fuyu hatte um ihr Überleben kämpfen müssen.
»Du auch hier, was?«, knurrte sie. Ihre Zähne waren
geschwärzt, und zwei fehlten. Sie trug einen unpassend farbenfrohen
Kreppkimono mit langen, schwingenden Ärmeln wie der eines jungen
Mädchens. Im Palast war ihr Edo-Akzent von der Intonation einer
hochrangigen Samurai überlagert gewesen, aber jetzt war sie zu
reinem Edo zurückgekehrt. »Hätte gedacht, dass du es bei deinem
Glück schaffen würdest.« Sie schaute Sachi an. Die alte
Gehässigkeit blitzte auf.
Taki wandte sich abrupt ab. Sachi wusste, dass sie
sich mit äußerster Kraft bemühte, ihre Gefühle zu verbergen, wie es
sich für eine Samurai gehörte, aber ihre dünnen Schultern bebten
vor Abscheu.
»Ihr Damen«, sagte Fuyu. »Ihr landet alle hier
unten.«
»Du meinst … hier sind auch noch andere Frauen?«,
wollte Taki wissen. »Andere Frauen aus dem Palast?«
Sachi dachte an ihre Hofdamen, ihre Kammerfrauen
und Bediensteten, all die Frauen, die verschwunden waren. Sie hatte
stets angenommen, dass sie zu ihren Familien zurückgekehrt waren.
Bestimmt war doch keine von ihnen hier gelandet?
»Klar. Manche sind auf den Straßen. Andere arbeiten
in den Bordellen der Yoshiwara. Jetzt sind sie nicht mehr so
anmaßend und arrogant, so viel ist sicher.«
»Und du?«, fragte Haru sanft.
»Spar dir dein Mitleid«, fuhr Fuyu sie an. Ihre
Stimme war hart und spröde. »Mein Herr ist ein Pfandleiher. Er
sorgt für mich. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich war jung. Aber
dann …« Ihre Stimme wurde weicher. »Egal, es ist alles zerfallen,
nicht wahr? Ob man die Konkubine eines Shogun wird oder nicht - das
spielt jetzt keine Rolle mehr. Alles zunichtegemacht.«
Die Mätresse eines Pfandleihers! Zweifellos hatte
sich Fuyu dieses Schicksal selbst zuzuschreiben, aber ganz gleich,
was zwischen ihnen vorgefallen war, es war furchtbar, sie so
erniedrigt zu sehen. So wenig Sachi sie auch mochte und so sehr sie
Fuyu misstraute, sie tat ihr unwillkürlich leid. So tief gefallen
zu sein - Fuyu, der Stern am Firmament des Frauenpalastes, die
bevorzugte Kandidatin der Ehemaligen als Konkubine des Shogun.
Sachi war seit damals ebenfalls tief gefallen, das wusste sie. Aber
doch nicht so tief wie die Frau vor ihr.
»Was wollt ihr hier überhaupt?«, fragte Fuyu
herausfordernd. »Irgendeine Unterkunft, ist es das? Arbeit? Wollt
ihr Arbeit? Kommt. Mein Herr wird euch mit allem, was ihr braucht,
aushelfen.«
Sachi blickte zu Taki und Haru und nickte leicht.
Sie hatten sich vollkommen verlaufen, und ihnen blieb kaum eine
andere Wahl, als Fuyu zu folgen. Fuyu führte sie tief hinein in das
Labyrinth der Gassen, und sie gingen hinter ihr her, alle Sinne
geschärft.
»Vielleicht will sie uns bloß verkaufen«, flüsterte
Taki Sachi zu und blickte sich mit großen Augen um. »Heutzutage ist
alles möglich. Fuyu weiß besser als alle anderen, wer du bist und
wie viel du wert bist, wenn sie uns den Südclans übergibt.«
»Sag das nicht«, murmelte Sachi und schüttelte den
Kopf.
»Keiner aus Edo würde mit den Besatzern
kollaborieren«, zischte Haru streng. »Nicht mal die arme Fuyu. Wir
stecken alle zusammen da drin.«
Sie bogen um eine Ecke auf ein breiteres
Straßenstück. Es gab einen Barbierladen, ein öffentliches Bad,
einen Gemüsehändler und daneben einen großen Laden mit einem
Pfandleiherschild. Fuyu duckte sich unter dem Vorhang
hindurch.
»Oi, Fuyu, bist du das?«, krächzte eine Stimme.
»Wieso läufst du weg, wenn es Arbeit zu tun gibt?«
»Oi!«, schnauzte eine andere Stimme.
Drinnen war es neblig vor Rauch. Eine
verschrumpelte alte Frau mit einem Haarknoten, eingehüllt in ein
formloses braunes Gewand, saß da, die dünnen Beine untergeschlagen,
und rauchte eine langstielige Pfeife. Sie wandte den
Neuankömmlingen ihr verwelktes Gesicht zu. Ein Mann lag
ausgestreckt hinter einem Geländer. Dahinter wies ein Schild streng
darauf hin, das Pfandgegenstände nur für maximal acht Monate
angenommen wurden. Acht Monate, dachte Sachi. Wer konnte denn
wissen, was bis dahin aus der Welt geworden war oder wo sie alle
sein würden?
Ein gejagter Blick huschte über Fuyus Gesicht. Dann
verzog sie ihre Lippen zu einem koketten Lächeln.
»Ich bin’s«, sagte sie in mädchenhaftem Falsett.
»Hab ein paar Freundinnen mitgebracht. Aus alten Zeiten.«
Der Mann setzte sich langsam auf, als er die drei
Frauen sah, und klopfte seine Pfeife aus. Sein Kaufmannsgewand war
zerknittert, sein Schädel unrasiert. Er kniff die Augen zusammen
und linste die Frauen misstrauisch an, verzog sein Gesicht dann zu
einem allmählichen Lächeln, ganz Leutseligkeit, und ließ ein paar
verrottete Zahnstümpfe aufblitzen.
»Palastdamen, ja? Kommen Sie herein. Unser Laden
ist sehr klein. Haben Sie etwas zu verpfänden?«
»Nein. Wir suchen einen Reishändler«, erwiderte
Haru.
»Haben wohl nichts mehr zu essen, was?«, höhnte er
und befingerte seinen Abakus. »Ja, ja, die Zeiten sind hart. Für
diese Stadt ist es vorbei. Diese Leute, die ihren Lebensunterhalt
durch die Daimyo verdienten, sind alle fort. Haben die Stadt
verlassen. Wir haben auch schon zusammengepackt, um zu
verschwinden. Ist es nicht so, Fu-chan?«
Fuyu legte den Mund an sein Ohr. Sein Kinn sackte
ihm fast bis zum Boden hinunter. Er stieß ein hörbares Japsen aus,
ließ
seinen Abakus fallen und kniete nieder, drückte sein Gesicht in
die Strohmatte.
»Verzeihung! Verzeihung!«, quiekte er in gedämpftem
Ton, rieb mit dem Mund über die Matte. »Vergebt mit, Euer Gnaden.
Eure höchst ehrenwerte Konkubine. Vielen Dank, dass Ihr meinen
unwürdigen Laden beehrt. Ich werde alles in meiner Macht Stehende
tun, um Euch zu helfen. Wir werden ihn nie vergessen … Seine junge
Majestät.«
Eine große Träne, dann noch eine, fiel auf die
schmierige Matte. Er wischte sich mit der Hand über die Augen. Die
alte Frau war ebenfalls auf die Knie gesunken.
»Wir sind hier alle treue Untertanen, Euer
Erhabenheit«, krächzte sie. »Wir hassen diese Südprovinzler wie
alle anderen. Was immer wir tun können. Was immer wir tun
können.«
Sachi war sich nicht sicher, wie aufrichtig sie es
meinten, aber das spielte keine Rolle, solange sie ihnen
Lebensmittel besorgen konnten. Haru griff in ihren Obi und zog eine
einzelne Goldmünze heraus.
»Wir möchten vereinbaren, dass uns Reis geliefert
wird. Wir können eine Anzahlung machen«, sagte sie.
Der Mann griff nach einer Brille, hielt die Münze
dicht an sein Gesicht und beäugte sie. Er reichte sie der alten
Frau, die nachdenklich hineinbiss.
»Hatte gehört, das sei alles weg«, sagte er in
verwundertem Ton. Ein verschlagenes Lächeln glitt über sein
Gesicht. »Verzeiht mir, Euer Gnaden. Bin mir nicht sicher, ob das
hier noch gilt. Sehen Sie, es trägt den Tokugawa-Stempel.«
Sachi nahm die Münze und drehte sie bestürzt um.
Tatsächlich war darauf das Malvenwappen der Tokugawa zu
sehen.
»Verstehen Sie, man wird denken, wir hätten es
gestohlen. Hier waren Soldaten, Soldaten aus dem Süden, haben die
Häuser
der Leute auf den Kopf gestellt. Sagten, sie suchten nach dem Gold
des Shogun. Sagten, es wäre verschwunden.«
»Sei doch nicht dumm, Älterer Bruder«, schnauzte
Fuyu. »Die haben nach den großen Barren gesucht. Vergiss nicht,
dass ich ebenfalls im Palast gelebt habe. Außerdem glaubt niemand
wirklich, dass es hier bei uns ist. Wo es auch sein mag, es wurde
schon vor Langem aus der Stadt geschmuggelt. Tu diesen Damen einen
Gefallen. Du kannst es einschmelzen lassen.«
»Haben die Damen denn kein Kupfer?«, fragte der
Mann mit einem beflissenen Lächeln. »Nur ein paar Mon. Das würde
reichen als Anzahlung. Schließlich ist es für Ihre höchst
ehrenwerte Konkubine. Ein Strang würde genügen.«
Haru wühlte in ihrem Obi und zog einen Strang
Kupfermünzen heraus.
»Verlassen Sie sich auf mich, meine Damen«, sagte
der Mann. »Werde meinen Teil zum Andenken Seiner jungen Majestät
beitragen.«
III
Der Pfandleiher hielt Wort. Am nächsten Tag
berichtete Haru, dass genug Reis, Salz, Miso, Lampenöl, Gemüse und
Feuerholz eingetroffen war, um die Frauen viele Monate lang zu
versorgen.
Ein paar Tage später saß Sachi beim Schreiben, als
sie das Rascheln von Seide hörte. Taki erschien an der Tür, die
Fingerspitzen auf die Tatami gedrückt, ihr makellos frisierter Kopf
geneigt.
»Ein Besucher«, verkündete sie in ihrem
offiziellsten Tonfall.
Irgendetwas stimmte nicht. Takis Mäusequieken war
ein wenig schriller als sonst. Ein Anflug von Hysterie lag in ihrer
Stimme.
»Edwards-sama?«
»Nein«, erwiderte Taki scharf. »Dein ehrenwerter
Vater Daisuké-sama.«
Erstaunt legte Sachi den Pinsel beiseite.
»Mein Vater! Aber … aber warum? Ich weiß, dass er
für uns gesorgt hat … Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn
sehen will.«
Die Worte waren heraus, ehe Sachi sie zurückhalten
konnte.
»Ich weiß ja, dass er dein Vater ist«, sagte Taki.
Ihr dünnes Gesicht war streng. Sie zog die Augenbrauen zusammen und
sog die Luft mit einem Zischen ein. »Aber es erschreckt mich, daran
zu denken, dass du ihn zu nahe an dich herankommen lassen könntest.
Er gehört nicht … zu derselben Art Menschen wie wir. Er stammt
nicht aus dem Samurai-Stand. Vergiss nicht, was mit deiner Mutter
geschehen ist.«
»Trotzdem muss ich ihn sehen«, murmelte Sachi, fast
wie zu sich selbst. »Ich muss mehr über meine Mutter
erfahren.«
Sie hatte ihre Mutter nicht vergessen, hatte sie
aber, zusammen mit dem Rätsel, wo sie sich befand und was aus ihr
geworden war, tief in ihrem Inneren verborgen. Jetzt flammte diese
Sehnsucht wieder auf und loderte heftiger denn je.
Taki hielt einen Spiegel hoch. Sachis Gesicht
schimmerte ihr aus der polierten Bronzeoberfläche bleich entgegen.
Inzwischen trug sie das Haar nicht mehr kurz geschnitten wie eine
Witwe, sondern locker geflochten. Sie erinnerte sich an die Zeit,
als sie jedes Mal, wenn sie im Rang befördert wurde, einen neuen
Haarstil und einen anderen Satz Kimonos bekam, um das Verstreichen
der Monate zu markieren. Traurig lächelte sie, als sie an diese
unschuldigen Zeiten dachte, in denen
ihr solche Dinge so aufregend und wichtig erschienen waren. Diese
Welt war für immer dahin.
Sie fuhr sich mit dem Finger über die Wange. Ihr
Gesicht wirkte traurig. Es sah dünner aus, die Wangenknochen traten
ein wenig schärfer hervor, und um ihre Augen lag ein schwacher
Schatten. Sie hatte ihr neunzehntes Jahr noch nicht erreicht, doch
es fiel schwer, sich vorzustellen, welche Art Zukunft vor ihr
liegen könnte. Aber sie sah nicht nur sich selbst. Sie kam dem
Alter, in dem ihre Mutter ihren Vater kennengelernt hatte, immer
näher. Es war seltsam - beunruhigend -, ihre eigene Mutter in sich
zu tragen, eine Mutter, die sie nicht mal kannte. Je mehr das Leben
sie berührte, je mehr ihr Gesicht vom Leid geformt wurde, desto
mehr musste sie ihrer Mutter ähneln. Daisuké würde es sofort
bemerken.
Während Taki vor ihr herhuschte und dafür sorgte,
dass die Türen offen waren, glitt Sachi von einem schummrigen Raum
in den nächsten. Ein Teil von ihr wollte die große Halle nie
erreichen, diesen unzuverlässigen Charmeur, diesen sogenannten
Vater nie wiedersehen. Doch ein anderer Teil konnte es kaum
erwarten. Sie verlangsamte ihre Schritte, bis sie sich kaum noch
bewegte, ließ einen Fuß nach dem anderen über die Tatami gleiten,
wie man es ihr im Palast beigebracht hatte. Aber ihr Geist schien
ihr vorauszueilen.
Lange bevor sie die große Halle erreichte, roch sie
den holzigen Duft von Tabakrauch und das besondere, fremdartige
Aroma, das immer an Daisukés Kleidung hing. Da war auch noch ein
anderer Geruch. Sie hielt inne. Ein Hauch von Moschus, Aloe,
Wermut, Weihrauch - die Art von Parfüm, die eine Hofdame als
Wohlgeruch für ihre Gewänder benutzen würde. Unwillkürlich bewegten
sich Sachis Füße schneller.
Sie fing den Klang vertrauter Stimmen auf. Haru war
bereits da.
»Haru.« Das war Daisukés tiefer Bass. In der Stille
konnte Sachi jedes Wort verstehen. Sie blieb stehen und machte Taki
ein Zeichen, leise zu sein.
»Haru, hab ich es falsch gemacht? Hätte ich im
Tempel warten sollen? Die ganzen Jahre hat mich das beschäftigt.
Ich dachte, es wäre das Beste für sie, wenn ich verschwände.«
Für sie. Also sprachen sie über die Dame Okoto,
Sachis Mutter. Seine Stimme war ein gequältes Grollen.
»Ich muss wissen, warum sie nie zurückkam. Wurde
sie eingesperrt? In die Verbannung geschickt? Wurde sie gezwungen,
sich selbst zu töten? Wenn ich wüsste, dass sie tot ist, könnte ich
wenigstens trauern. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus,
all die Jahre musste ich damit leben.« Sachi hörte ein tiefes
Seufzen.
»Haru, du musst doch eine Ahnung haben, was mit ihr
geschehen ist. Bitte sag es mir. Ich habe für meine Missetaten
bezahlt. Ich habe genug gelitten.«
Sachi wagte kaum zu atmen. Sie hatte sich immer
eingeredet, dass ihre Mutter zwar verschwunden sein mochte, aber
noch irgendwo lebte. Es ging nur darum, sie zu finden.
»Jetzt nicht, Älterer Bruder.« Harus Stimme war nur
ein leises Murmeln. »Meine Herrin ist auf dem Weg. Sie wird jeden
Moment hier sein.«
Er stöhnte. »Wenn sie noch lebt, dann sag es mir.
Nur ein Wort, das genügt.«
Unfähig, es noch länger zu ertragen, betrat Sachi
die große Halle.
Rauchwölkchen kringelten sich in den
Sonnenstrahlen, die durch die Lücken zwischen den
Papierschiebetüren eindrangen. Unter den gewaltigen schwarzen
Dachbalken hing der Rauch wie Nebel. Daisuké und Haru saßen zu
beiden Seiten des Tabakkästchens einander zugewandt. Ihre Gesichter
wirkten
fast so geisterhaft wie die Gesichter, die Sachi nach wie vor im
Traum sah, die Gesichter der Toten auf dem Ueno-Hügel. Zwischen
ihnen, schimmernd wie ein Stück vom Himmel, lag der Brokat. Der
Überkimono von Sachis Mutter. Daisukés große Hand ruhte so leicht
wie eine Liebkosung darauf.
Als die beiden sie erblickten, zuckten sie zurück,
als wären sie beim Aushecken eines schrecklichen Verbrechens
ertappt worden. Daisuké riss seine Hand von dem Brokat. Seine Augen
öffneten sich weit, und ein Ausdruck des Erschreckens huschte über
sein Gesicht. Sachi wusste, dass er nicht sie sah, sondern ihre
Mutter. Dann legte er seine langstielige Pfeife beiseite, sank auf
die Knie und verneigte sich.
Die breiten Schultern und der wuchtige Rücken, der
bullige Nacken und der große, mit leicht ergrauten schwarzen
Stoppeln bedeckte Kopf, die kräftigen Hände auf der Tatami - alles
an ihm war stark, tüchtig, aufrichtig, offen. Trotz der Monate, die
verstrichen waren, war es, als sei überhaupt keine Zeit vergangen.
Sachi wusste, dass sie argwöhnisch sein sollte: Er hatte ihre
Mutter ins Verderben gestürzt und auf der Seite des Südens
gekämpft. Aber sie wusste ebenfalls, dass er gut für sie, Haru und
Taki gesorgt hatte. Unwillkürlich wurde sie von einer Woge der
Erleichterung und Freude ergriffen, dass dieser Mann ihr Vater war.
Rasch kniete sie nieder.
Er hob den Kopf und sah sie lange und eindringlich
an, als fürchtete er, sie würde wieder verschwinden, wenn er den
Blick abwandte. Er sah ein wenig abgehärmt aus, seine Wangen waren
etwas mehr herabgesackt, die Falte zwischen seinen Brauen war
tiefer, aber er wirkte nach wie vor so warmherzig und gut aussehend
wie immer.
»Tochter«, sagte er feierlich. Dann entspannte sich
sein Gesicht. Ein Lächeln breitete sich darüber aus.
Sachi verbeugte sie. Es fiel ihr schwer, nicht
zurückzulächeln.
»Willkommen«, erwiderte sie steif. Sie wusste, er
wollte, dass sie ihn mit »Vater« anredete, aber sie konnte nicht.
Noch nicht.
»Verzeihung«, sagte sie, mochte sich nicht mit dem
üblichen Austausch von Plattitüden und Komplimenten aufhalten. »Es
ist sehr unhöflich, aber … Ich konnte nicht anders, als mitzuhören,
was ihr gesagt habt.«
Haru lag auf den Knien, das Gesicht auf die Hände
gedrückt. Die schimmernden Locken und Rollen ihrer Frisur zitterten
leicht.
»Haru«, forderte Sachi sie sanft auf. »Bitte erzähl
es uns. Ich flehe dich an. Meine Mutter …«
Ein langes Schweigen trat ein. Haru blickte auf.
Ihr rundliches Gesicht hatte alle Farbe verloren, und ihre Lippen
bebten.
»Wenn sie tot ist«, flehte Sachi, »muss ich es
wissen. Ich bin ihr Kind. Ich muss Opfergaben darbringen und beten.
Wenn niemand für sie betet, bleibt sie ein hungriger Geist. Ich
muss sichergehen, dass sie die nächste Welt gefahrlos
erreicht.«
Harus Gesicht verzerrte sich vor Qual. Sie schloss
die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schien sie in eine
Vergangenheit zu blicken, die sie sich nach Kräften zu vergessen
bemüht hatte.
»Herrin, ich habe es dir erzählt«, flüsterte sie.
Aber welche »Herrin« meinte sie? Und was hatte sie erzählt?
»Du hast mir erzählt, dass meine Mutter, nachdem
ich geboren wurde, in den Palast zurückkehrte«, sagte Sachi. »Dann
erhielt sie die Aufforderung, nach Hause zu kommen …«
Sie erinnerte sich genau an Harus Erzählung. Sachis
Mutter war aufgefordert worden, nach Hause zurückzukehren, weil ihr
Bruder, Herr Mizuno, schwer erkrankt sei und im Sterben liege. Das
hatte Haru gesagt. Und doch … Sachi hatte Herrn
Mizuno mit eigenen Augen gesehen. Niemals würde sie dieses Furcht
erregende, habichtartige, von Pockennarben entstellte Gesicht
vergessen oder diese muskulösen Schwertkämpferhände. Er mochte vor
all diesen Jahren auf dem Totenbett gelegen haben, aber er war
gewiss nicht gestorben.
»Sie wurde in die Residenz ihrer Familie gerufen«,
sagte Sachi langsam. »Es hieß … ihr Bruder liege im Sterben. Sie
müsse sofort nach Hause. Ich half ihr beim Packen. Ich war noch nie
von ihrer Seite gewichen, nie, aber sie sagte, ich müsse
zurückbleiben. Ich müsse zum Tempel gehen und Daisuké-sama sagen
…«
»Ich habe gewartet, Haru, aber du kamst nicht.«
Seine Stimme war rau vor Qual.
»Ich wollte eine Ausrede erfinden und mich
wegschleichen. Doch dann … dann kam eine Nachricht.«
Tränen liefen Haru über die Wangen. Sie wischte sie
mit dem Handrücken fort.
Daisuké beugte sich vor. Seine buschigen Brauen
waren zusammengezogen. Er starrte Haru an, als wollte er sich mit
seinen Augen in ihre Seele bohren.
Haru öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
Heftig schüttelte sie den Kopf, holte zitternd Luft, dann noch
einmal. Sachi legte Haru die Hand auf den Arm. Haru kniff die Augen
so fest zu, das sie fast in ihren rundlichen Wangen
verschwanden.
Sie murmelte ein paar Worte. Sachi rutschte näher,
um mitzubekommen, was sie sagte. Taki war direkt hinter ihr.
Daisuké war so nahe, dass sie die von seinem großen Körper
ausströmende Wärme spürte. Sie hörte seinen rasselnden Atem, roch
seinen mit irgendeinem fremdländischen Duft vermischten
Schweiß.
Haru sprach erneut im leisesten Flüsterton. Diesmal
verstand
Sachi die Worte. »Es hieß darin … dass sie verschieden sei. Sie
sei krank geworden und entschlafen. Ganz plötzlich. Das stand
darin.«
Sachi schnappte nach Luft. Im ersten Moment begriff
sie den Sinn der Worte nicht. Dann wurde ihr klar, was Haru gesagt
hatte. Sie spürte, wie aus ihrem Inneren eine Kälte aufstieg, bis
ihre Fingerspitzen und Zehen ganz taub waren. Sie erzitterte.
»Das hast du mir nicht gesagt, Große Schwester«,
krächzte sie.
Daisuké schlug mit seiner großen Faust auf die
Tatami.
»Am Tag nach …?«, brüllte er. »Das ist unmöglich.
Wie konnte sie so plötzlich sterben?«
Harus Schultern sackten nach vorn, ihr rundliches
Gesicht fiel in sich zusammen. »Vielleicht überkam sie eine
plötzliche Krankheit«, sagte sie, wich seinem Blick aus. Es war,
als würden die Worte aus ihr herausgepresst, als wiederholte sie
etwas, was sie sich Millionen Male eingeredet hatte, um sich von
dessen Wahrheit zu überzeugen, wie einen Zauberspruch, der Unglück
vertreiben soll. »Sie hatte gerade ein Kind geboren. Frauen sterben
im Kindbett. Es ist sehr gefährlich, gleich nach der Geburt
herumzulaufen. Man darf sieben Tage lang nur aufgerichtet sitzen,
damit einem das Blut nicht in den Kopf läuft. Das muss es wohl
gewesen sein.«
Daisuké sah sie anklagend an.
»Glaubst du das wirklich, Haru? Glaubst du, dass
das geschehen ist? Wir waren zusammen. Ich habe sie unmittelbar
nach der Geburt gesehen. Es ging ihr gut.«
Haru wich zurück. »Wie dem auch sei«, murmelte sie.
»Die Familie entschuldigte sich beim Shogun, ihn seiner Konkubine
beraubt zu haben. Sie schickte Geld, viel Geld. Schließlich war sie
ein wertvoller Besitz. Die Dame Honju-in sah den Brief
und berichtete uns davon. Ich glaube, wir sollten das als Warnung
auffassen, nicht zu vergessen, dass … es ein Verbrechen war, was
meine Herrin begangen hatte. Um nicht den gleichen Fehler zu
begehen.«
Die Falte zwischen Daisukés Augenbrauen war noch
tiefer geworden. Er ballte seine großen Fäuste so fest, dass die
Adern hervortraten. »Sie ist also innerhalb eines einzigen Tages
einfach so gestorben. Und du gingst zur Bestattung in die
Familienresidenz?«
»Es gab keine Nachricht über eine Bestattung, nur
über den Todesfall. Uns Frauen war nicht erlaubt, den Palast für
Privatangelegenheiten zu verlassen. Aber es gelang mir, mich
hinauszuschleichen. Nicht für die Bestattung. Ich ging zum Tempel.
Doch du warst fort. Und hattest … dein Kind, meine Herrin,
mitgenommen.«
»Und du glaubst wirklich, dass sie tot ist?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Haru. Dann öffnete
sie die Augen und blickte Daisuké direkt an. »Ich selbst habe es
nie geglaubt. Wenn Frauen ein Verbrechen begehen, wie sie es getan
hatte, unternehmen Familien sehr seltsame Dinge. Manchmal sperren
sie eine Frau für immer ein. Manchmal richten sie sie hin. Aber oft
können sie das nicht ertragen, daher haben sie sich die Geschichte
vielleicht ausgedacht und die Dame Okoto irgendwo versteckt.
Vielleicht in einem Kloster. Ich bin nicht bei ihrer Bestattung
gewesen, ich habe ihren Leichnam nicht gesehen, ich habe keine
religiösen Bräuche eingehalten. Ich habe den siebten Tag und den
vierzehnten Tag und all die anderen zeremoniellen Tage nach ihrem
Tod nicht eingehalten. Soweit es mich betrifft, ist sie noch am
Leben.«
Im Kerzenlicht wirkte Daisuké müde und alt. Mit
leerem Blick starrte er auf die Tatami. Sein Mund war vor Qual
verzerrt. Er hob den Brokat hoch und verbarg das Gesicht darin.
Als er ihn wieder hinlegte, war die kunstvolle Stickerei mit
Tränen benetzt.
»Nach all dem wart ihr beide tot für mich, und
jetzt bist du hier«, sagte Haru leise.
Sie saßen schweigend da, wagten nicht, einander in
die Augen zu sehen, bis die Holzkohle im Tabakbecken von Rot zu
Grau überzugehen begann. Taki füllte eine Pfeife und drückte den
Tabak fest. Sie griff nach einer Zange, harkte durch die Holzkohle,
bis sie ein glühendes Stück fand, entzündete die Pfeife und reichte
sie Daisuké. Er nahm den zarten Stil zwischen seine großen Finger
und führte ihn langsam an die Lippen. Taki bereitete eine Pfeife
für Sachi, Haru und schließlich sich selbst vor.
»Die Nachtigall ist gestorben«, sagte Sachi und
blickte in die ersterbende Glut. Plötzlich fühlte sie sich wie ein
Kind. Tränen brannten ihr in den Augen. »Vater, ich wünschte, du
hättest mich eher besucht.«
Vater. Sie war erstaunt, wie leicht ihr das Wort
jetzt über die Lippen kam und wie natürlich es ihr erschien.
Sachi konnte sich kaum mehr erinnern, wie es war,
einen Vater zu haben. Seit sie das Dorf verlassen und den Palast
betreten hatte, war sie von Frauen umgeben gewesen. Dann war sie
plötzlich in die Kälte hinausgestoßen worden, musste Entscheidungen
treffen und Verantwortung übernehmen. Nun wusste sie, dass jemand
über sie wachte.
Sie begriff jetzt so viele Dinge - wie schwierig es
für Daisuké, einen Beamten der kaiserlichen Regierung, gewesen war,
auch nur diesen einen Besuch in ihrem Haus zu machen, gesehen zu
werden, wie er das Anwesen von Frauen betrat, die dem besiegten
Tokugawa-Clan nicht nur nahe standen, sondern dessen
Familienmitglieder waren. Wie gefährlich es für ihn gewesen sein
musste, dafür zu sorgen, dass sie beschützt wurde,
denn es war sicherlich ein Verbrechen, die Familie des Feindes zu
versorgen. Und doch hatte er das monatelang getan, ohne Anerkennung
oder Dankbarkeit zu erwarten und ohne dass sie auch nur davon etwas
ahnte. Nun wusste sie, wie es war, einen Vater zu haben. Das war
es, was ein Vater tat.
Er nickte ernst. Ihre Blicke trafen sich. Seine
Augen hatten die Form von Bittermandeln, genau wie die Augen, die
sie sah, wenn sie in den Spiegel schaute.
Er nahm ihre kleinen Hände in seine großen.
»Tochter«, sagte er, »es lag nicht in meiner Absicht, dass du diese
schrecklichen Dinge zu hören bekommst. Ich kam, um dir zu sagen,
dass ich nach Osaka zurückkehren werde. Man redet davon, dass Osaka
die neue Hauptstadt werden könnte.«
Sie versteifte sich. Hauptstadt wovon?, wollte sie
fragen. Wessen Hauptstadt? Der Krieg ist noch nicht gewonnen. Aber
sie schwieg. Sie wollte dieses neu entstandene Band zwischen ihnen
nicht zerreißen. Dazu war es zu kostbar.
»Ich werde sicherstellen, dass du beschützt und
versorgt wirst«, sagte er. »Es wird keine Besuche von Soldaten der
Südarmee geben, keine Probleme mit Plünderern oder Räubern. Die
Residenz wird nicht beschlagnahmt werden, und keiner wird dich
daraus vertreiben. Ich hoffe … ich glaube, dass deine Mutter am
Leben ist. Sobald ich kann, sobald die Kämpfe vorüber sind, sobald
Frieden im Land herrscht, werde ich sie finden. Das verspreche ich
dir.«