13
Die Ankunft des Kaisers
021
Der Regen schien nicht aufhören zu wollen. Blätter hingen tropfend an den Bäumen und lagen in durchweichten Haufen am Boden. Die Stadt schien immer tiefer in Trostlosigkeit zu versinken; selbst die Böschungen des Wallgrabens sackten ein und rutschten ins Wasser ab. Niemand hätte erraten, was für eine prächtige Stadt Edo noch vor ein paar Monaten gewesen war.
Dann stahlen sich eines Tages Sonnenstrahlen durch die Ritzen der hölzernen Regentüren. Die Luft war frisch und kühl. Vom Inneren der düsteren Residenz hörte Sachi Schritte über die Steine des Hofes knirschen.
Ihr Herz machte einen Satz. Kurz redete sie sich ein, dass es ein Bote war, einer der »Fliegenden Füße«, der einen Brief aus dem Norden brachte. Sie stellte ihn sich vor, dünn und drahtig, wie er da in seiner schwarzen Uniform und dem flachen Strohhut an der Tür stand, keuchend und schweißüberströmt. Er würde sich verbeugen, den verzierten Lackkasten öffnen und ihr eine Schriftrolle überreichen. Beim Aufrollen würde sie die Handschrift erkennen. Es wären die letzten beiden Zeilen des Gedichtes, das sie Shinzaemon geschickt hatte. Sie seufzte. Alles war so chaotisch, dass es vermutlich nicht mal mehr ein Kuriersystem gab.
Seit Tatsuemon aufgebrochen war und das Gedicht mitgenommen hatte, war eine lange Zeit vergangen. Nun wusste Shinzaemon wenigstens, wo sie sich befand. Täglich redete sie sich wieder ein, dass ein Brief von ihm kommen würde, doch jeden Tag wurde sie aufs Neue enttäuscht.
Tatsuemon hatte so jung und tapfer ausgesehen, als er sich verabschiedete. Seine Wangen waren wieder rund und rosig, gerötet von der Aufregung, sich allein auf den Weg zu machen.
»Ich kann es kaum erwarten, Tora und Shin wiederzusehen«, hatte er gesagt.
Auf seiner Oberlippe wuchs nur ein Flaum, und sein Schädel war noch nicht rasiert. Er hatte immer noch die lange Stirnlocke eines Kindes. Dennoch war er mit fünfzehn alt genug, zu töten und getötet zu werden wie jeder Samurai. Umso schwerer war ihr das Herz gewesen.
Jetzt fragte sie sich voller Furcht, was wohl mit ihm geschehen war. Damals, genauso wie heute, waren die Straßen voll gewesen mit Soldaten der Südarmee, und die Chancen, dass er ihnen entgangen war, erschienen ihr äußerst gering.
Und selbst wenn es ihm gelungen war, Shinzaemon und Toranosuké zu finden, hatten sie sich sicherlich in irgendeiner Burg verschanzt und standen unter Belagerung. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, dass er verwundet oder tot sein könnte, doch das schob sie von sich. Auch nur daran zu denken, forderte das Schicksal heraus.
Aber es war nur ein Tagtraum. Die Schritte auf dem Kies gehörten keinem Boten. Boten huschten auf Strohsandalen oder klapperten in Holzpantinen. Nur eine Person stapfte auf diese entschlossene, feste Weise: Edwards mit seinen langen Beinen und den Stiefeln aus Tierhäuten. Die Dielenbretter der Eingangshalle knarrten, als er eintrat.
Sachi hatte angenommen, dass sie Edwards nach Tatsuemons Fortgang nicht wiedersehen würden. Er würde ihnen die Kutsche nicht mehr schicken, und das Fenster, das er ihnen zur Außenwelt geöffnet hatte, würde zuschlagen. Aber das war nicht passiert. Edwards besuchte sie auch weiterhin.
Als Sachi ihn zum ersten Mal empfangen hatte, war Taki entsetzt gewesen. Doch er war, wie Sachi sie erinnerte, ein Ausländer und deswegen kein echter Mensch, daher bestand kein Grund zur Anstößigkeit. Außerdem standen sie tief in seiner Schuld. Er hatte sie auf dem Ueno-Hügel gerettet und war unendlich freundlich zu Tatsuemon gewesen. Er gehörte praktisch zur Familie. Außerdem brauchten sie ihn. Da er in der britischen Gesandtschaft arbeitete, war er stets auf dem Laufenden und informierte sie über die neuesten Entwicklungen an der Kriegsfront.
Sie eilte in die große Halle. Edwards hockte bereits mit aufragenden Knien, die sie an die Haarnadeln in der Frisur einer Kurtisane erinnerten, auf der Tatami. Sachi war sich seiner breiten Brust in dem groben Leinenjackett bewusst, der Art, wie er den Raum auszufüllen schien. Er blickte auf, als sie eintrat, sah betroffen und besorgt aus; sie erkannte, dass er schlechte Nachrichten brachte. Ausländer sind so seltsam, dachte sie. Er war ein erwachsener Mann, aber er wusste nicht, wie er seine Gefühle verbergen sollte. Was auch immer er im jeweiligen Moment empfand - Wut, Furcht, Besorgnis -, war ihm ins Gesicht geschrieben wie bei einem Kind.
Sie beschleunigte die Begrüßung und Höflichkeiten und faltete die Hände im Schoß. In der Halle wurde es still.
»Sie bringen Neuigkeiten«, sagte sie ruhig. »Es ist etwas passiert.«
Sie spürte, wie sich ihr Magen vor Furcht zusammenkrampfte. Im letzten Monat hatte es nichts als schlechte Nachrichten für alle gegeben, die sich nach der Rückkehr des Shogun sehnten. Die Südarmee trieb alle vor sich her. Zuerst hatte sie die Stadt Nagaoka gestürmt. Die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht, die Burg zerstört, und die meisten der Verteidiger waren getötet worden. Fünf Wochen später war Yonezawa verloren gegangen. Jetzt befand sich Aizu Wakamatsu unter Belagerung. Wakamatsu war die nördliche Zitadelle, die Hauptstadt des Widerstands, die älteste und mächtigste Festung des Nordens. Alle, die dem Shogun und der Sache des Nordens treu ergeben blieben, hatten sich dorthin zurückgezogen, und den ganzen letzten Monat über hatte es heftige Kämpfe gegeben. Jedes Mal, wenn Edwards Bericht erstattete, ging es darum, dass die Angreifer weiter in die Stadt vorgedrungen waren, einen Wallgraben nach dem nächsten eingenommen hatten. Sein letzter Bericht hatte besagt, dass sie vor den Außenmauern der Burg standen. Sie sei stark befestigt, hatte er gesagt, und sollte in der Lage sein, zumindest eine Weile standzuhalten.
Wakamatsu war die letzte Verteidigungslinie. Wenn sie eingenommen wurde, mochte es noch ein paar unbeugsame Samurai geben, die in den fernen Norden fliehen und dort ausharren würden, aber grundsätzlich war dann alles vorbei.
Die Falten auf Edwards’ Stirn vertieften sich. Die struppigen Haare seiner strohfarbenen Augenbrauen zogen sich über seiner vorspringenden Nase zusammen.
Taki zündete eine Pfeife an und reichte sie ihm. Er nahm ein paar Züge.
»Aizu Wakamatsu ist gefallen«, sagte er. Seine Stimme war rau. »Es tut mir leid.« Schweigen erfüllte die Halle.
Aizu Wakamatsu.
Sachi schloss die Augen. Sie hatte sich gegen das Schlimmste gewappnet, gleichwohl war die Nachricht ein Schock. Sie hatte gehofft, Wakamatsu würde durchhalten und so zumindest der Norden unbesetzt bleiben. Für Edwards war es nur eine Nachricht, und dann würden wenigstens die Kämpfe aufhören. Aber sie betraf es persönlich.
Shinzaemon war bestimmt dort gewesen, auch Toranosuké und Tatsuemon. Sie wusste, eine Samurai sollte stolz darauf sein, dass ihre Krieger so tapfer gekämpft hatten und in der Schlacht gefallen waren, statt besiegt heimzukehren. Sie vermutete, dass Taki stolz sein würde, wenn sie bis auf den letzten Mann gefallen waren. Aber seit Sachi auf dem Hügel gewesen war, sah sie das alles mit anderen Augen. Sie stellte sich vor, wie sie um ein Lagerfeuer kauerten, unter den dünnen Decken zitterten, als die Tage kälter wurden. Vielleicht hatten sie nicht mal ein Feuer oder Decken oder auch nur zu essen. Die ganze Zeit hatte sie gehofft und geglaubt, dass der Norden gewinnen und Shinzaemon zurückkehren würde. Aber nun erschienen diese Aussichten hohle Träume zu sein.
»Ich hörte es von Doktor Willis.« Sachi wusste, dass Doktor Willis auf Verlangen des Oberkommandos der Südarmee nach Norden gegangen war, um ihre Verwundeten zu versorgen. »Er sagte, die Schlacht sei sehr heftig gewesen. Beide Seiten hätten tapfer gekämpft, aber die Kaiserliche Armee verfügte über mehr Männer und bessere Waffen.«
»Die Kaiserliche Armee!«, schnaubte Taki, stach mit ihrer Nadel so heftig in ihre Näherei, als teile sie einen Todesstoß aus. Die »Kaiserliche Armee« war nichts als ein großspuriger Name für die Südprovinzler.
»Der Norden hat kaum eine Chance. Die Kämpfer haben nur französische Waffen.« Edwards’ Lippen verzogen sich verächtlich, als er die Franzosen erwähnte. »Die Kaiserliche Armee hat …«
Er brauchte es nicht auszusprechen. Sie war von den Engländern ausgerüstet worden - von seinen Leuten.
»Doktor Willis hat also keinen unserer Männer gesehen«, sagte Sachi.
Das war eine Feststellung, keine Frage. Edwards verzog entschuldigend das Gesicht und schüttelte den Kopf. Sachi wusste sehr wohl, dass es keine Verwundeten aus dem Norden gab, weil die Südarmee sie stets enthauptete. Unter diesen Umständen die Hoffnung aufrechtzuerhalten, fiel ihr sehr schwer.
»Die Truppen des Nordens erlitten schwere Verluste«, fuhr Edwards fort. »Und die Toten erwartet dieselbe Bestrafung wie … bei den Männern auf dem Ueno-Hügel. Das kaiserliche Oberkommando hat angeordnet, dass sie nicht bestattet werden dürfen.«
Sachi dachte an diese Männer, die so fern von zu Hause gestorben waren, und an ihre Witwen und Mütter, die nie erfahren würden, was mit ihnen geschehen war. Einige würden monatelang warten, andere jahrelang, bevor sie hinnahmen, dass ihr Ehemann oder Geliebter oder Sohn nie mehr heimkehren würde. Schlagartig wurde Sachi klar, dass sie eine von ihnen sein könnte.
Angenommen, Shinzaemon kehrte nie zurück? Es war ein halbes Jahr her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Würde sie den Rest ihres Lebens in Trauer und mit ewigem Warten verbringen? Sie versuchte sich ein Leben ohne ihn vorzustellen. Es würde trüber und grauer sein, aber es würde trotzdem weitergehen. Das musste es. Es war schwer, sich die Zukunft auszumalen. All die Bande, die Menschen in der Gesellschaft verankerten - die Bande von Familie, Clan, Lehen -, schienen für sie nicht vorhanden. Ihr Vater Daisuké war letztlich kein Teil ihres Lebens; er war in Osaka. Sie war in das Dorf zurückgekehrt und hatte gemerkt, dass sie auch dort nicht hingehörte. Sie hatte erwartet, ihr Leben im Palast zu verbringen, war aber zum Flüchtling erniedrigt worden, der im Haus eines anderen Unterschlupf suchen musste. Sie würde ihr Leben von Neuem beginnen müssen.
»Und für diejenigen Männer, die zurückkehren«, sagte Edwards leise, »wird es schwer werden. Es gibt für sie keine Aufgaben, keine Arbeit, kein Geld. Sie werden mit Herrn Yoshinobu nach Suruga in die Verbannung gehen müssen.«
Sachi fühlte sich von Traurigkeit erdrückt, als könnte nichts sie je wieder zum Lächeln bringen. Der Krieg war vorbei; sie waren besiegt. Jetzt blieb nichts anderes mehr übrig, als durchzuhalten. Hinzunehmen, durchzuhalten, zu überleben. Nichts, auf das man noch hoffen konnte.
Mit Mühe hob sie den Kopf. »Und Tatsuemon?«, fragte sie.
»Ich habe nichts gehört«, erwiderte er. »Wie soll er denn auch eine Nachricht schicken?«
»Selbst Sie scheinen traurig zu sein«, meinte sie, »und doch unterstützen Ihre Leute den Süden. Das weiß ich.«
»Mir liegt dieses Land am Herzen«, sagte er. »Ich kann es nicht ertragen, es zerrissen zu sehen.«
Sie war erstaunt über die Heftigkeit in seiner Stimme.
»Und Sie. Sie liegen mir auch am Herzen«, sagte er. Seine laute Stimme war plötzlich sanft geworden. Ein Blick aus seinen Augen, groß und rund, glitt über ihr Gesicht. »Sie alle«, fügte er hastig hinzu. Aber es war zu spät. Sie hatte bemerkt, wie er sie anschaute, hatte die Sehnsucht in seiner Stimme vernommen. Er war nicht mehr der Ausländer mit der andersfarbigen Haut und dem hellen Haar und den anders geformten Augen. Er war ein Mann. Bei dieser Erkenntnis lief ihr ein Schauer über den Rücken, und in ihrem Bauch kribbelte es. Sie senkte den Blick.
»Wenigstens wird endlich Frieden herrschen«, sagte er und brach damit das Schweigen. »Die Menschen werden ihr Leben neu aufbauen.«
Die Frauen nickten benommen.
»Ich habe auch noch weitere Nachrichten für Sie. Gute Nachrichten.«
Gute Nachrichten. Man konnte sich unmöglich vorstellen, dass Nachrichten gut sein konnten.
»Die neue Regierung wird Edo zu ihrer Hauptstadt machen. Sie wird umbenannt werden. Sie wird To-kyo heißen - die östliche Hauptstadt.«
Aber Edo war Edo. Die Stadt des Shogun. Ihr einen neuen Namen zu geben und sie zur Hauptstadt der Südclans zu machen, war, als wollte man sie … nicht nur besetzen, sondern zerstören, sie in etwas verwandeln, was sie nicht war, die Stadt und ihre Einwohner mit Gewalt unterjochen. Ein neuer Name würde der Stadt die Seele rauben.
»Wie kann ein Land eine neue Hauptstadt bekommen?«, wollte Sachi wissen. »Kyoto ist die Hauptstadt.«
»Es wird zwei Hauptstädte geben«, erwiderte Edwards. »Kyoto wird die westliche Hauptstadt, die Hauptstadt des Kaisers. Edo wird die östliche Hauptstadt sein. Regierung und Handel verbleiben in Edo, wie es immer war. Alle werden zurückkommen, mehr Menschen als je zuvor. Die Stadt wird wieder zum Leben erwachen. Sie wird neu aufgebaut. Sie müssen sich daran gewöhnen, sie Tokyo zu nennen. Das sind aufregende Nachrichten für Edo. Alles wird sich zum Guten wenden.«
Also würde auch Daisuké zurückkommen. Er hatte hin und wieder aus Osaka geschrieben, ihr von seinem dortigen Leben erzählt, vom Wetter, dass er gesund sei und viel zu tun hätte, aber er schrieb nie vom Krieg oder den großen Veränderungen, die ihr Land verwandelten. Das hatte sie auch nicht von ihm erwartet.
»Der Krieg ist noch nicht vorbei«, schnaubte Taki. »Alle hier hassen die Südprovinzler. Sie werden diese Stadt nie beherrschen.«
»Nein, der Krieg ist noch nicht vorbei. Doch er wird es bald sein«, erwiderte Edwards schonungslos.
Er rutschte unbeholfen zurück, streckte erst das eine, dann das andere seiner langen Beine aus. Seine engen Ausländerhosen strichen über die Tatami, raschelten laut in der Stille.
»Die Uhr lässt sich nicht zurückstellen, aber alles wird besser werden, so viel ist sicher. Der Kaiser steht über dem Norden oder dem Süden. Er wird das Land vereinen. Es wird keine unterschiedlichen Provinzen mehr geben, nur noch ein Land.«
»Sie sind Ausländer«, murmelte Taki. »Was wissen Sie denn schon von unserem Land?«
Diesen Streit hatten sie schon oft gehabt. Jeder wusste, dass der Kaiser kaum mehr als ein Junge war und dass die Männer, die hinter ihm standen und ihn beeinflussten, aus dem Süden stammten. Sie waren es, die regieren würden, und nicht der Kaiser. Finster runzelte Taki die Stirn und wandte sich wieder ihrer Näherei zu. Sie war dabei, die Ärmelöffnung eines in Stoff und Farbe für eine Städterin passenden Winterkimonos zu vollenden.
Edwards beugte sich vor. Seine blauen Augen schimmerten. »Ich habe auch Neuigkeiten, die Sie interessieren werden, Dame Takiko. Soll ich sie Ihnen erzählen? Der Kaiser …«
»Was ist mit Seiner Erhabenheit?«, blaffte Taki.
»… kommt nach Edo.«
»Seine Erhabenheit? Hierher?«, fiepste Taki. Edwards war es endlich gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Ihre Augen strahlten, ihre schmalen Wangen röteten sich vor Aufregung.
»Er hat Kyoto bereits verlassen«, sagte Edwards. »Er wird bald hier sein, sehr bald. In ein paar Tagen. Ich nehme Sie mit, um seinen großartigen Einzug zu erleben. Es wird eine prächtige Prozession geben, die prächtigste, die Sie je gesehen haben. Wohnen wird er …«
Die Frauen murmelten die Worte in verblüfftem Unglauben: »In der Burg Edo?«
Ein Schatten fiel über die Halle. Der Shogun war zusammen mit der Prinzessin, Sachi und all seinen Tausenden von Hofdamen und Höflingen aus der Burg vertrieben worden. Nun waren es der Kaiser und sein Hofstaat - seine Gemahlin, seine Konkubinen, Hofdamen, Höflinge, Wachen, Köche, Dienstboten, Dienerinnen, Dienerinnen von Dienerinnen, Dienerinnen von Dienerinnen der Dienerinnen -, welche die herrlichen Gemächer mit den vergoldeten Wänden, geschnitzten Querbalken und lackierten Kassettendecken in Besitz nehmen würden. Sie waren es, die Theateraufführungen und Musikdarbietungen und Gedichtwettstreite in den opulenten Hallen genießen würden; sie, die durch die Lustgärten schlendern und auf den Teichen Boot fahren, die Kirschblüten im Frühling und die Ahornblätter im Herbst bewundern würden. Sie würden das Leben führen, von dem die Prinzessin und Sachi und Haru und Taki - und selbst die arme Fuyu - geglaubt hatten, es wäre für immer ihres. Das war der bitterste Tiefschlag von allen.
Edwards schien zu glauben, dass eine glorreiche neue Welt entstehen würde. Doch sie würde nicht für alle glorreich sein.
Aber trotzdem … er war der Kaiser. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass Seine Erhabenheit überhaupt ein menschliches Wesen war, ganz zu schweigen davon, jemand zu sein, der in einem Palast lebte oder in einem Garten spazieren ging. Er war der Neffe der Prinzessin, das wusste Sachi, also war er eindeutig menschlich, zumindest in einem Sinne. Doch er kommunizierte ebenfalls mit den Göttern. Nur durch ihn existierte das Land, wandelten sich die Jahreszeiten und konnte Jahr für Jahr der Reis geerntet werden. Die Priester kümmerten sich um die Menschen, hielten sie bei Gesundheit, schützten sie vor Unfällen und versorgten sie mit Segnungen. Seine Erhabenheit kümmerte sich um die gesamte Welt.
»Die Burg wird in ›Kaiserlicher Palast von Tokyo‹ umbenannt«, sagte Edwards leise. »Sie ist repariert und renoviert worden.«
Taki stopfte Edwards’ Pfeife neu, zündete sie an und reichte sie ihm, zündete dann die Pfeifen der Frauen an.
Sachi fiel es schwer, das Ende von allem hinzunehmen, das sie gekannt und geliebt hatte. Sie hatte verdrängt, dass alles in dieser fließenden Welt vergänglich ist. Wohlstand, Glück, Gesundheit, Schönheit - am einen Tag mochte man das alles besitzen, am nächsten war es fort. Alles änderte sich, alle Dinge vergingen. Das war eine Lektion, an die sie sich stets entsinnen sollte.
Rauchschwaden füllten langsam die große Halle, durchsetzt mit dem erdigen Duft des Tabaks. Edwards schaute in die versteinerten Gesichter um ihn herum.
»Wie ich hörte, pflegten diese Paläste und Residenzen wunderschöne Gärten zu haben«, sagte er freundlich. »Ihrer müsste doch noch relativ unberührt sein.«
»Die Gärtner sind schon seit Langem fort«, flüsterte Sachi. »Er ist furchtbar überwuchert.«
»Könnten Sie ihn mir zeigen?«, fragte Edwards. »Es täte gut, sich ein wenig die Beine zu vertreten.«
Die drei Frauen schürzten ihre Kimonoröcke und schlüpften in ihre Getas.
Das Laub verfärbte sich, und die Gärten loderten in Schattierungen von Kupfer, Gold, Orange und Rot. Edwards ging voran, schob das tropfende Gras und die Farne beiseite und hielt sie aus dem Weg, damit die Frauen vorbeikonnten. Sachi folgte, balancierte in ihren hohen Getas vorsichtig von Stein zu Stein, bemühte sich, nicht in den Schlamm oder die modernden Blätterhaufen zu treten. Als sie auf einem durchweichten Moosfleck ausrutschte, war sofort seine Hand bereit, sie zu stützen. Es war verwirrend, dass ein Mann so eifrig um ihr Wohlergehen besorgt war. Sie wusste sehr wohl, dass Männer die Herren waren und Frauen Dienerinnen. Das war der Lauf der Dinge. Männer gingen voraus, Frauen folgten ihnen in drei Schritten Abstand. Den Männern war sicherlich egal, ob die Kleider der Frauen nass oder schmutzig wurden. Anfänglich war es ihr unangenehm und peinlich, dass ein Mann sich auf so unmännliche Art benahm, aber dann empfand sie allmählich etwas Tröstliches an Edwards’ Aufmerksamkeit.
Nach einer Weile kamen sie zum Teich. In der Mitte befand sich eine Insel mit einer Steinlaterne, halb verborgen unter Bäumen. Ein Reiher stand wie ein weißer Farbtupfen auf einem Fels, zwei Schildkröten hockten wie Steine aufeinander, Enten schwammen herum, und es gab sogar einen Steg, an dem Boote vertäut lagen. Kurz fühlte sich Sachi in den Frauenpalast zurückversetzt, glitt in einer der rot lackierten Lustbarken über den See, tauchte ihre Finger ins Wasser, während Musikerinnen sangen und spielten. Aber die Boote hier schwammen in übel riechendem grünem Wasser, und ihr Anstrich war verblichen und abgeblättert.
Sie blickte sich um. Taki und Haru waren zurückgefallen. Sie war allein mit einem Mann, einem ausländischen Mann - mit Edwards. Abrupt blieb sie stehen, war sich der Unziemlichkeit der Situation bewusst. Sie wollte den Frauen zurufen, sich zu beeilen, spürte aber plötzlich, wie eine verrückte Unbekümmertheit sie überkam. Alles war vorbei: Der Krieg war zu Ende, das Land war zerstört. Alles, was für sie selbstverständlich gewesen war, hatte sich als so substanzlos erwiesen wie der Flaum des Chinaschilfs, der von Wind verweht wurde. Nichts spielte mehr eine Rolle, nur noch die Gegenwart. Sie war jetzt nicht mehr die Konkubine des verstorbenen Shogun. Sie war bloß noch sie selbst. Und Shinzaemon … Vielleicht war es Zeit, die grausame Wahrheit zu akzeptieren. Er war höchstwahrscheinlich tot.
Edwards war ebenfalls stehen geblieben. Langsam nahm er seinen hohen, schwarzen und ein wenig zerknautschten Hut ab. An dessen Schäbigkeit war etwas Liebenswertes. Menschen aus ihrem Land mit ihren schmalen, halb geschlossenen Augen behielten ihre Regungen für sich. Aber ihm mit seinen großen runden Augen - ihm konnte man direkt in die Seele schauen. Als sich ihre Blicke trafen, nahm sie unwillkürlich die Farbe seiner Augen wahr - strahlend blau, so blau wie der Sommerhimmel. Sein Haar war überhaupt nicht strohfarben, sondern golden, wie fein gesponnenes Gold. Im Sonnenlicht stand es wie eine Aureole um seinen Kopf. Seine große Nase und das Kinn, seine tief im Kopf liegenden Augen, seine buschigen Augenbrauen … Sie sah ihn an, wie gebannt von diesem Wesen aus einer anderen Welt.
Er streckte die Hand aus, und sie zuckte zusammen, als seine Finger ihre Handfläche berührten. Es ließ sie erschaudern. Er legte seinen Daumen über ihre Finger und hielt sie fest. Sie blickte hinab auf ihre kleine weiße Hand, die in seiner großen bleichen ruhte. Auf seinen Fingern und dem Daumenrücken waren goldene Härchen.
Bevor sie die Hand zurückziehen konnte, hob er sie an die Lippen. Sachi versteifte sich, befürchtete, er wolle sie beißen. Dann spürte sie Feuchtigkeit und die Weichheit seiner Lippen auf ihren Fingern. Sein Schnurrbart kitzelte ihre Haut.
Einen Moment lang standen sie wie erstarrt da, seine Lippen auf ihre Hand gedrückt. Dann zog Sachi sie weg. Irgendwo in den Tiefen ihres Wesens wusste sie, dass sie schockiert und entsetzt sein sollte. Aber sie war es nicht. Das war so intim und doch so sanft. Nie zuvor hatte sie geahnt, dass sich ein Mann so benehmen könnte. Es war wie eine frische Brise, wehte die Spinnweben fort und machte Sachi wieder lebendig.
Als sie die Hand an ihren Obi legte, fühlte sie dort den Knebel und merkte erschrocken, dass sie Shinzaemon betrogen hatte. Er brauchte sie. Es war ihre Pflicht, auf ihn zu warten, da zu sein, falls er je zurückkehrte.
Sie blickte zu Boden. Ihre nackten Füße standen ordentlich nebeneinander auf einem Trittstein, die Zehen berührten sich, überkreuzt von den seidenen Bändern der Getas. Die zarten Füße einer Hofdame. Aber sie waren nicht mehr so rein und weiß wie Porzellan, sondern braun, verschmutzt und mit Schlamm bespritzt. Das kam ihr wie ein Omen vor. Äste hingen tief herab, Wolken jagten über den Himmel, und ein Schauer eisiger Tropfen fiel ihr wie Nadeln auf Haare und Schultern.
»Sie sind so wunderschön«, sagte Edwards. Er sprach hastig, leise, blickte sich über die Schulter nach Taki und Haru um. »Wenn Sie mich ließen … Wenn Sie mich nehmen würden … Ich könnte für Sie sorgen. Ich weiß, dass ich ein Ausländer bin, aber Sie könnten sich an mich gewöhnen. Ich würde Sie in Ehren halten. Sie wären meine Königin. Ich würde Sie mit in mein Land nehmen. Wir würden die Welt zusammen sehen.
Ich … mag Sie. Ich wünschte, ich wüsste, wie man das in Ihrer Sprache sagt, aber es gibt kein Wort dafür. Es ist keine Zuneigung, wie ein Mann sie für seine Eltern empfindet, oder Respekt, wie ihn ein Mann aus Ihrem Land für seine Frau empfindet, oder Begierde, wie ein Mann sie für eine Kurtisane empfindet. Es ist mehr als das, viel mehr. Es ist ein Gefühl, das einen Mann für immer an eine Frau bindet. In meiner Sprache nennen wir es ribu - ›Liebe‹. Das empfinde ich für Sie.«
Sachi blickte ihn bestürzt an. Sie lachte verunsichert. Dieses ganze aufgeregte Gerede war zu absurd. Männer sprachen vielleicht so mit Kurtisanen, aber es gehörte sich nicht, in dieser Art mit einer anständigen Frau zu reden, ganz zu schweigen von einer von hohem Stand. Einen Augenblick lang hatte sie ihre Fassade fallen lassen, hatte erlaubt, dass er ihre Hand berührte - und jetzt redete er, als würden sie den Rest ihres Lebens zusammen verbringen. Sicherlich war er schon lange genug in ihrem Land, um zu wissen, dass solche Dinge nichts mit Gefühlen zu tun hatten.
Trotzdem machte es sie nachdenklich - mit wem würde sie denn ihr Leben verbringen? Sie war eine Witwe, und Witwen lebten für gewöhnlich bei ihren Eltern. Niemand konnte außerhalb seines Standes heiraten, doch sie war eine Bäuerin gewesen und dann die Konkubine des Shogun; sie wusste nicht mehr, zu welchem Stand sie gehörte. Aber ein Ausländer befand sich außerhalb all der Regeln und Konventionen, die das normale Leben beherrschten. Und sie musste zugeben, dass sie sich an ihn gewöhnt hatte. Sie freute sich immer auf seine Besuche.
Scheu spähte sie zu Edwards auf. Ihre Blicke trafen sich und verweilten. Sie versuchte, die Stirn zu runzeln, um ihren Unmut zu zeigen - konnte aber nicht anders, als stattdessen zu lächeln.
Er öffnete den Mund, wollte noch mehr sagen, aber sie hob die Hand. Hinter ihnen ertönten Stimmen. Taki und Haru trippelten den Pfad entlang.
Am folgenden Tag waren Schritte im Hof zu hören, das Schlurfen von Strohsandalen. Taki rannte in die Eingangshalle. Als sie zurückkehrte, lächelte sie so strahlend, dass es aussah, als sei die Sonne in das schummrige Gemach eingedrungen und erleuchtete die dunkelsten Ecken. An der Tür blieb sie stehen, hielt eine Schriftrolle mit beiden Händen hoch.
Sachi entrollte sie. Da standen in seiner männlichen Schrift die letzten beiden Zeilen des Gedichts, das sie ihm geschickt hatte:
Akatsuki shirade Doch ich gab mich dir hin,
Hito o kokeri Die kommende Morgenröte vergessend.
Und dann ein einzelnes Wort: »Nantonaku … Irgendwie …«
»Die kommende Morgenröte vergessend …« In der Morgenröte waren Liebende gezwungen, sich zu trennen, das war es, was der Dichter gemeint hatte. Aber »vergessend« - das passte so sehr zu Shinzaemon. Es kümmerte ihn nicht, was andere dachten oder erwarteten. Er ignorierte es, ging seinen eigenen Weg. Sachi war von Freude erfüllt. Die Morgenröte kam tatsächlich, die Morgenröte eines neuen Zeitalters. Vielleicht würde es, wie Daisuké es immer wieder verhieß, ein Zeitalter sein, in dem Menschen wie sie zusammen sein konnten. Vielleicht gab es für sie doch noch eine Zukunft. Irgendwie.
Sachi las seine Worte immer wieder. Shinzaemon lebte und dachte an sie. Ihre Geduld war belohnt worden.
Aber selbst bei dem Gedanken an Shinzaemon verspürte sie Traurigkeit und Beschämung, als ihr die gestrige Begegnung mit Edwards einfiel. Trotz all seiner Offenheit würde sie niemals wissen, was er wirklich dachte oder empfand, niemals in seine fremde Seele blicken können. Vermutlich spielte er nur mit ihr, redete sie sich ein. Sie hatte gehört, dass Ausländer gern mit Frauen spielten. Und doch war er so sanft, so rücksichtsvoll gewesen. Niemand hatte sie je so behandelt. Sie hatte überlegt, ob sie Taki von dem Geschehenen erzählen sollte, merkte aber nun, dass sie es nicht konnte.
Ein wenig später hörte sie das Knirschen von Tierhautstiefeln im Hof. Sie verschloss ihr Herz. »Sag ihm, ich fühle mich unwohl«, bat sie Taki.
 
Nantonaku. Irgendwie. Aber »irgendwie« konnte eine sehr lange Zeit sein.
Anfangs schrak Sachi jedes Mal zusammen, wenn sie auch nur das leiseste Geräusch auf dem Hof hörte, und schickte Taki los, um nachzusehen, was es war. Aber die Tage vergingen, und es kam keine weitere Nachricht, kein Anzeichen eines Kriegers mit ungebärdigem Haarschopf und katzenartigen Augen. Sie merkte, dass sie vergessen hatte, wie er aussah. Das Haar, die Augen - an die erinnerte sie sich, hatte sie sich immer wieder ins Gedächtnis gerufen -, doch abgesehen davon war sie nicht sicher, ob sie ihn überhaupt wiedererkennen würde. Vielleicht würde Shinzaemon den leeren Blick haben wie der junge Tatsuemon, als sähe er Entsetzliches, blicke in einen Abgrund. Er hatte Monate in einem Kampf verbracht, von dem er wusste, dass er verloren war. Er würde erschöpft sein, halb verhungert, sich elend fühlen, vielleicht ernüchtert und verbittert sein.
So viel Zeit war vergangen. Sie hatte so viel gelernt, so viele Dinge gesehen. Edwards hatte ihr von anderen Möglichkeiten erzählt, die Welt zu sehen, von anderen Arten, zu leben …
Edwards. Da stammten all diese Zweifel her. So wie die Feinde aus dem Süden Edo übernommen hatten, so hatte er ihr Wesen unterwandert, hatte sie mit Unsicherheit und Zweifel erfüllt.
Sie hatte angenommen, Edwards wäre so beschämt über die Dreistigkeit seines Verhaltens, dass sie nichts mehr von ihm hören würde. Ein paar Abfuhren, dann wäre es vorbei. Am ersten Tag hatte sie ihm ausrichten lassen, sie fühle sich unwohl. Am zweiten dasselbe. Aber ganz gleich, wie unnachgiebig sie sich weigerte, ihn zu empfangen, sie konnte nicht anders, als ihre Begegnung im Kopf immer wieder durchzuspielen, wobei derselbe köstliche Schauder über ihren Rücken lief wie in dem Moment, als er mit seinen Lippen ihre Hand berührte. Dann kam Taki zurück. In ihren Armen hielt sie einen riesigen Strauß Herbstblumen und Blätter - Kamelien, wilde Chrysanthemen, Zweige mit funkelnd roten, orangefarbenen und gelben Ahornblättern. Sachi juchzte vor Entzücken. Taki lief, um eine Vase zu holen, in der sie alles zu einem schönen Gesteck ordnete.
Am dritten Tag schickte er ihr einen mysteriösen Gegenstand. Er war klein und rund und aus Metall. Sie drehte ihn hin und her und versuchte dann, ihn über ihren Finger zu schieben. Er passte genau. Rasch zog sie ihn wieder ab. Es kam ihr nicht richtig vor, ihn zu tragen.
So ein Verhalten war ihr noch nie begegnet. Sie redete sich ein, dass sie verärgert sein sollte, empfand es aber eher als schmeichelhaft, ja beglückend. Shinzaemon war schon so lange fort. Wenn - falls - er zurückkehrte, wäre es, als würde ein Fremder wieder in ihr Leben treten. Und Edwards war hier. Es konnte nicht schaden, seine Besuche wieder zuzulassen, und wenn auch nur um Takis und Harus willen. Sie genossen seine Gesellschaft.
Also nahm der Ausländer seine Besuche wieder auf.
 
Inzwischen näherte sich der Einzug des Kaisers in die Stadt.
»Wir brauchen neue Kleider, wenn wir zu seiner Begrüßung gehen«, sagte Taki. Sie befand sich in einem Zustand großer Aufregung. Schwer zu sagen, was man tragen sollte. Sie konnten sich nicht in die Gewänder der Damen aus dem Hofstaat des Shogun kleiden, das war offensichtlich. Der Shogun und sein Haushalt waren Staatsfeinde, und Sachi befürchtete, wenn sie drei erkannt würden, könnte man sie in Gefangenenkäfige sperren und nach Suruga verfrachten. Am Ende beschlossen sie, sich wie wohlhabende Städterinnen zu kleiden. Als die Händler kamen, bestellte Haru Seidenballen in den für Städterinnen angemessenen Farben und Mustern, und sie und Taki machten sich mit ihren Nadeln an die Arbeit.
Es war genauso offensichtlich, dass sich Sachi nicht von Edwards begleiten lassen konnte. In der Öffentlichkeit mit einem hoch aufragenden, großnasigen Ausländer und seinem Trupp Leibwächter zu erscheinen, wäre Wahnsinn. Sie würden allein hingehen.
Am Tag, bevor die Prozession eintreffen sollte, kam eine Nachricht von Daisuké: Er würde nach Edo zurückkehren und sie begleiten.
 
Früh am nächsten Morgen half Taki Sachi, sich vorzubereiten. Sie schwärzte ihr die Zähne, rasierte ihre Augenbrauen und frisierte ihr Haar in einem kunstvollen Städterinnenstil, steckte es zu einem glänzenden Knoten auf, den sie mit Haarnadeln und Kämmen befestigte. Dann half sie ihr in die Kimonos. Die neue Seide fühlte sich kühl und frisch am Körper an. Der oberste Kimono, warm gefüttert, war in einem modischen Rotton gehalten, mit einem Ahornblattmuster entlang des Saumes. Taki hatte ihn über Nacht über eine Räucherpfanne gebreitet, und er verströmte einen eleganten, moschusartigen Duft. Taki und Haru trugen aus Anlass des festlichen Ereignisses ebenfalls prächtige neue Kleider.
Daisuké wartete im Hof. Im bleichen Morgensonnenlicht strahlte er Würde und Macht aus. Er war formell gekleidet in eine schwarze, gefältelte Hakama-Hose und eine Überjacke mit gestärkten Schultern, die wie Flügel abstanden. Er war schwerer geworden, bemerkte Sachi, und sein Bauch wölbte sich beeindruckend über seinem Obi. In seinem Gürtel steckten sogar zwei Schwerter. Er war ein Mann von Rang und Einfluss.
Er hatte gesagt, er wolle ihr ein Vater sein, auf den sie stolz sein könne. Das war ihm gelungen. Sie begrüßte ihn mit stiller Freude. Sie spürte, wie sie es immer tat, wenn er sie anschaute, dass er in ihr auch noch jemand anderen sah.
»Tochter«, sagte er lächelnd.
»Vater«, erwiderte sie und verneigte sich.
Als sie die Residenz verließen, bemerkte Sachi, dass überall aufgeräumt worden war. Die Böschungen des Wallgrabens waren abgestützt, die vermoderten Balken der Brücke erneuert worden. Auch die Straßen hatte man vom Unkraut befreit, gefegt und mit Wasser besprengt, damit der Staub sich legte. In der Luft hing der Geruch feuchter Erde, wie der saubere, frische Duft nach dem Regen.
Die großen Alleen, die zwischen den Palästen der Daimyo hindurchführten, waren nicht mehr still und leer. Sie waren voller Menschen, die sich in einem nicht enden wollenden Strom auf die Burg zubewegten. Der Platz vor der Burg war bereits angefüllt mit Männern und Frauen in ihren Festgewändern, seidenen Kimonos in leuchtenden Rot- und Goldtönen.
Daisuké ging durch die Menge auf das Wadakura-Tor zu, durch das der Kaiser einziehen würde. Sachi folgte ihm dicht auf den Fersen, schob sich an unzähligen Leibern vorbei, an hochgewachsenen und kurzen, an reichen und armen, an Leibern, die nicht ausweichen wollten, und anderen, die ihr Platz machten. Da waren Männer, Frauen, Alte, Junge, Kinder und Menschen mit Säuglingen auf dem Rücken. Sachis Blicke glitten über ein Meer von Gesichtern. Sie überlegte flüchtig, ob sie wohl ein vertrautes Gesicht, umrahmt von ungebärdigem Haar, mit schrägen Katzenaugen sehen würde. Hin und wieder erblickte sie ein Gesicht, dass sie kurz für seines hielt, doch wenn sie noch einmal hinschaute, erkannte sie enttäuscht, dass er es nicht war.
Sie hatten eine Postenkette erreicht, als Sachi eine Frau in der Menge auffiel. Ihre farbenprächtigen Kimonos gaben am Nacken ein gewagtes Stück ungeschminkter Haut frei, wie bei einer Geisha oder Prostituierten. Alle spähten aufmerksam in die Richtung, aus welcher der Kaiser kommen sollte, aber sie schaute in die andere Richtung, kaute auf ihrer Lippe. Nachdenklich blickte sie zur Burg, starrte mit einem Ausdruck versteinerten Unglaubens auf die Brustwehren und Türmchen und aufragenden weißen Mauern. Eine Träne lief ihr über das geschminkte Gesicht.
»Fuyu!«, rief Sachi. Fuyus Gesicht drückte alles aus, was Sachi selbst empfand. An den zusammengedrückten Leibern vorbei griff sie nach Fuyus Ärmel. Ein Hauch billigen Parfüms stieg ihr in die Nase, während sie Fuyu sanft aus der Menge zog.
»Jene Zeiten waren nicht so wunderbar«, sagte Sachi leise. Aber noch während sie sprach, wusste sie, dass es eine Lüge war. Die Tore dort blieben auch ihr verschlossen. Diese fragile, wunderschöne Welt war für immer zerbrochen.
Daisuké hatte für einen Platz in der Nähe des Tores gesorgt, in einem inneren, für Regierungsbeamte reservierten Areal, wo sie vor dem Andrang der Massen geschützt waren. Sachi betrachtete die Menschenmenge vor sich. Sie hätte nie geahnt, dass so viele Menschen an einem Ort zusammenfinden konnten.
»Schau sie dir an«, sagte Fuyu, tupfte sich Augen und Nase mit ihrem Ärmel ab. »Zuerst sind sie bereit, für den Shogun zu sterben. Als Nächstes verbeugen sie sich vor dem Kaiser. Dann werden sie wieder dem Shogun zujubeln, wenn die Jungs aus Wakamatsu zurückkehren.«
Sachi spürte, wie ihr Herz aussetzte, und ihr Mund war plötzlich trocken. Die Jungs. Shinzaemon würde bestimmt unter ihnen sein.
»Sie kommen zurück?«, flüsterte sie.
»Diejenigen, die es geschafft haben. Marschieren hier herunter. Werden in ein paar Tagen da sein. Wir wissen, wer die wahren Helden sind. Wir werden ihnen einen großartigen Empfang bereiten.«
Die Stunde des Pferdes näherte sich, in der für gewöhnlich Tausende von Kochfeuern für das Mittagsmahl brannten. Doch heute waren alle Feuer verboten worden. Weit in der Ferne waren die ersten Geräusche zu hören. Alles verfiel in Schweigen, versuchte die fließenden Harmonien aufzufangen. Musik, uralte, jenseitige Musik. Sachi erschauderte. Es war, als würden die Götter auf die Erde herabsteigen.
Über den Köpfen, klein in der Entfernung, tauchten Banner auf, schlängelten sich sehr langsam durch die Menge. Sie schwankten hin und her, flatterten im Wind, alle in dunklem Scharlachrot mit einem goldenen Medaillon - dem Chrysanthemenwappen des Kaisers. Sonnenlicht brach sich in den Spitzen der Piken und Speere und Schwertlanzen, sandte blendende Lichtblitze aus. Mit zusammengekniffenen Augen konnte Sachi eine Masse dunkler Formen erkennen, die sich in würdevollem Schritt bewegten - die aufragenden, schwarz lackierten Hüte endloser Reihen von Höflingen. Flache Helme, spitze Helme, gehörnte Helme, Helme in allen möglichen Formen und Farben bewegten sich in großen Blöcken voran. In der Ferne schimmerten die lackierten Dächer der Palankine in der Sonne.
Sachi dachte an die Daimyo-Prozessionen, die durch ihr Dorf gekommen waren, und an die prächtige Prozession der Prinzessin, die sie unterwegs aufgelesen und mit in die Burg gebracht hatte. All das hier war noch viel prächtiger. Aber etwas war anders. Bei jeder Prozession, die Sachi je gesehen hatte, waren immer Wächter vorausgegangen, die ununterbrochen riefen: »Shita ni iyo! Shita ni iyo! Auf die Knie! Auf die Knie!« Diese Prozession marschierte schweigend.
Allmählich kam sie aus der Menge heraus. Von dort, wo Sachi stand, konnte sie die Musiker erkennen, die Trommeln schlugen und Shinto-Melodien auf ihren Flöten bliesen. Hinter ihnen kamen die Piken- und Standartenträger, über deren Köpfen große Banner flatterten. Soldaten folgten, Regiment um Regiment, gekleidet in ausländische Uniformen, als wollte man die eroberte Bevölkerung daran erinnern, dass die Epoche - die der Shogune und der Samurai - zu Ende war und eine neue begann. Einige trugen Gewehre über der Schulter, andere stolzierten mit Schwertern an ihren Hüften dahin. Träger schleppten lackierte Truhen, begleitet von Bediensteten.
Dann kamen die Herren und Adligen. Manche verbargen sich in Palankinen, andere saßen auf Pferden oder gingen zu Fuß, gekleidet in voluminöse Gewänder und schwarze hohe Hüte, wie Sachi sie zuvor nur auf Holzblockdrucken gesehen hatte - die uralte Mode des kaiserlichen Hofes. Vor und hinter ihnen marschierten Reihen von Höflingen und Wachen in leuchtend bunten Hofkostümen. Es gab hunderte Pferdeknechte, die hunderte Pferde führten, Sonnenschirmträger, Schuhträger, Träger der kaiserlichen Badezuber, endlose Bedienstete jeder Art. Der gesamte Hof, so schien es, genug, um die riesige Burg zu füllen, hatte sich zur Begleitung des Kaisers aufgemacht.
Alles war seltsam und fremdartig - Soldaten in ausländischen Uniformen, Höflinge in uralten Gewändern, die niemand in Edo je zuvor gesehen hatte. Selbst ihre Gesichter unterschieden sich von denen aus Edo, von den zerfurchten der Soldaten aus dem Süden bis zu den blassen, aristokratischen mit ihren langen Nasen, kleinen Mündern und hohen Stirnen.
Eine Armee von Shinto-Priestern folgte, schlurfte durch die Menge, ließ Stäbe aus Maulbeerpapier durch die Luft schwirren. Der Kaiser war auf dem Weg. Die Menschen, die Gebäude, die Bäume, der Boden, die Luft - alles musste geläutert werden.
Sehr langsam näherte sich ein Palankin aus Ebenholz und Gold, größer und prächtiger, als Sachi je einen gesehen hatte. Er war mit Draperien behängt, mit roten Seidenkordeln an jeder Ecke, und das Dach glänzte in der Sonne. Getragen wurde er von einer großen Anzahl Träger, alle in ausladenden Gewändern aus gelber Seide mit schwarzen Hüten auf dem Kopf.
Auf dem Dach des Palankins befand sich ein goldener Phönix in äußerst zarter Filigranarbeit. Er schimmerte und glitzerte, während er dahinschwankte.
Als der Phönix-Palankin näher kam, senkte sich absolute Stille über die Menge. Das Murmeln und Schieben, das Zischeln und Wispern hörten vollständig auf. Kein Kind sprach, kein Säugling schrie. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln der Ärmel und Röcke der Träger und das Klappern ihrer schwarz lackierten Pantinen.
Sachis Knie schienen sich aus eigenem Antrieb zu beugen. Sich kaum etwas anderem bewusst als einer überwältigenden Ehrfurcht, kniete sie am Boden mit dem Gesicht auf den Händen. Ein Geruch erfüllte die Luft, ein uralter, geweihter Duft, der nicht von Buddhismus oder Shinto kündete, nicht von Dunkelheit, sondern Licht, nicht von Tod, sondern Leben.
In Sachis Geist gab es keinen Zweifel daran, dass das Wesen in dem Palankin ein Kind der Götter war, der Sohn der Sonnengöttin. Mit dem goldenen Phönix, der über ihm glitzerte, und den gelb gekleideten Trägern, die ihn wie eine Aureole aus Sonnenstrahlen umgaben, war es, als wäre die Sonne selbst zur Erde herabgestiegen.
Erst lange, nachdem der Palankin an ihnen vorüber war, wagten die Ersten, den Kopf wieder zu heben. Sachi blickte sich um. Taki und Haru hatten ihre Nasen immer noch im Staub, während die Leute um sie herum allmählich auf die Füße kamen und verwirrt schauten, als fragten sie sich, was da über sie gekommen war. Nüchterne Bewohner Edos, die sie waren, schienen sie verärgert zu sein, dass sie sich so leicht hatten verführen lassen. Das Grummeln über die Barbaren aus dem Süden würde weitergehen, doch etwas hatte sich verändert. Wie Edwards es ausgedrückt hatte: Die Uhr ließ sich nicht zurückstellen.
Die Palankine, die Adligen, die Beamten, die Höflinge, die Pferde, die Pferdeknechte, die Soldaten, die Träger mit ihren Truhen, die Diener, die Frauen, die Bediensteten und alle anderen verschwanden in der Burg Edo, bis auch der Letzte eingetreten war. Nur war es nicht mehr die Burg Edo, der Sitz Seiner Majestät, des Shogun, rief sich Sachi ins Gedächtnis. Es war der Kaiserliche Palast von Tokyo, Residenz Seiner Erhabenheit, des Himmelssohnes.
Schließlich begannen sich die gewaltigen Zedernholztore zu bewegen. Sachi war wie gebannt, wollte unbedingt noch einen letzten Blick auf die Burg erhaschen. Ein schreckliches Gefühl von Verhängnis und Endgültigkeit überkam sie. Angestrengt spähte sie zwischen den Köpfen der Menge und den Reihen der wachhabenden Soldaten hindurch, richtete den Blick auf den schmaler werdenden Spalt, konnte aber nur das Wachhaus innerhalb der ersten Einfriedung ausmachen. Über die massiven Steinmauern dahinter breitete sich Schatten, während die Tore immer weiter in demselben gemessenen Tempo rumpelten, bis sie zusammendonnerten. Die mächtigen Mauern erbebten. Das Dröhnen hallte über den Platz.
Ein kalter Wind pfiff durch die Menge, brachte Kimonoröcke zum Flattern. Er hob die welken Blätter an und wirbelte den Staub auf. Sachi fröstelte und zog ihre Haori-Jacke enger um sich.
Daisukés Augen leuchteten. Für ihn waren die Tore nicht verschlossen. Die Soldaten aus dem Süden, die bleichen Aristokraten, die Höflinge in ihren gelben Seidengewändern waren seine Leute; er teilte ihren Ruhm. Der Triumph des Kaisers war auch der seine.
»Die Burg können sie haben«, fauchte Fuyu. Die weiße Schminke auf ihrem Gesicht war fleckig und verschmiert von Tränen. »Die Straßen gehören uns. Sollen sie es doch nennen, wie sie wollen. Es ist immer noch Edo.«
Menschen schüttelten sich, als erwachten sie aus einer kollektiven Trance, blickten sich um, grinsten einander verlegen an. Stimmen erhoben sich, aber leise, als wagte niemand, über das zu reden, was sie gesehen hatten. Ein Kind begann zu plappern, während die Leute sich allmählich zerstreuten. Die meisten trappelten in ihren Pantinen oder Strohsandalen auf den östlichen Teil der Stadt zu.
Auch Fuyu hob ihre Röcke, verabschiedete sich mit einem brüsken Nicken und eilte hastig ostwärts, als befürchte sie, Mitleid zu erregen, wenn sie noch länger blieb, schwankte auf ihren hohen Getas davon. Sachi sah ihr nach, während der grelle, bunt gemusterte Kimonorücken in der Menge verschwand. Fuyu wirkte klein und verloren, aber stolz. Sachi konnte sich in ihr erkennen, in der Haltung von Fuyus Schultern: Diese Wut, diese Weigerung, die Vergangenheit aufzugeben, dieser Stolz - vielleicht war ihnen das allen eigen, all den Palastfrauen. Vielleicht würden sie es für den Rest ihres Lebens mit sich tragen.
Daisuké begleitete Sachi, Taki und Haru vom Platz vor der Burg, um den Rand des Wallgrabens bis zur Brücke, die zur Residenz führte. Dort blieb er stehen.
»Ich muss gehen«, sagte er. »Ich habe noch zu tun. Ich richte mir ein Haus hier in Tokyo ein. Dort wird Platz für uns alle sein. Ich werde dafür sorgen, dass ihr alle das Leben bekommt, das ihr verdient.«
Sachi verbeugte sich, fühlte sich plötzlich furchtbar traurig und allein. Wenn »die Jungs aus Wakamatsu« zurückkehrten, würde Shinzaemon dann unter ihnen sein? Aber Daisuké wusste nicht mal, dass es ihn gab. Es war schwer vorstellbar, wie Shinzaemon in dieses idyllische Leben passen sollte, das ihr Vater für sie plante. Und Edwards, dachte sie, würde nicht besser dazu passen.
Niemand hielt Wache am äußeren Tor der Residenz. Sachi, Taki und Haru gingen schweigend durch die Gärten auf das massive innere Tor zu, bahnten sich den Weg um die verdorrten Blätterhaufen.
Auf der anderen Seite des Hofes saßen zwei Männer im Schneidersitz in einem Flecken Sonnenlicht auf der Veranda vor der großen Eingangshalle. Sie waren ins Gespräch vertieft, die Köpfe zusammengesteckt. Ein Sonnenstrahl erleuchtete den Rauch, der aus ihren Pfeifen aufstieg, und beschien die frisch rasierte Schädeldecke und den geölten Haarknoten des einen. Der Kopf des anderen war mit struppigem schwarzem Haar bedeckt, kurz geschnitten wie das eines Ausländers.
Der Mann mit dem rasierten Kopf blickte auf, als die Frauen näher kamen. Er sprang auf die Füße und huschte zu ihnen, verneigte sich entschuldigend. Es war der alte Mann, der das äußere Tor bewachte.
»Verzeihung«, murmelte er und deutete auf den anderen Mann. »Ein Besucher. Gerade aus Wakamatsu zurückgekehrt.«
Sachi nickte. Einer der Jungs, zurück von der Front, der Nachrichten brachte. Das reichte als Grund für den alten Mann, seinen Posten zu verlassen. Sie wandte sich ab, um den Neuankömmling zu begrüßen. Er trat von der Veranda, schlüpfte leise in Strohsandalen. Er hielt den Kopf gesenkt, aber noch bevor er aufschaute, wusste sie Bescheid.
Es war Shinzaemon.