5. Der purpurne Lotos

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DER PURPURNE LOTOS

 

 

Der freundliche Tag offenbarte, daß das Glück die Rebellenarmee doch nicht ganz verlassen hatte. Die Nacht war stark bewölkt gewesen, und so hatten Amulius Procas' Krieger viele der verstreuten Verstecke der Rebellen nicht aufgespürt. Sobald die Sonne ihre Strahlen über das Land schickte, schleppten sich viele Haufen der niedergeschlagenen Löwenkrieger, die von den Suchtrupps entweder nicht entdeckt worden waren oder sie zurückgeworfen hatten, über die Rabirianischen Berge zurück.

Die Nacht war nicht mehr fern, als Conan und die Überreste seiner Armee sich dem Saxulapaß näherten. Der General schickte ein paar Mann als Kundschafter voraus, da er überzeugt war, daß sie sich ihren Weg würden hindurchkämpfen müssen. Er schüttelte ungläubig den Kopf, als die zurückkehrenden Späher ihm meldeten, daß keine Truppen der Grenzlegion in Paßnähe zu sehen waren. Es gab lediglich Spuren – die Asche von Lagerfeuern und andere Überreste –, die darauf hindeuteten, daß eine Abteilung von Procas' Männern im Paß gelagert hatte, doch sie selbst war verschwunden.

»Crom! Was bedeutet das?« murmelte Conan nachdenklich und starrte auf die mächtige Kerbe im Berg. »Könnte es sein, daß Procas seine Männer noch tiefer nach Argos hineingeschickt hat?«

»Das glaube ich nicht«, meinte Publius, »denn das würde einen offenen Krieg mit Milo heraufbeschwören. Viel wahrscheinlicher halte ich es, daß er seine Truppen über den Alimane zurückzog, ehe der Hof von Messantia von seiner Überschreitung hören würde. Erhöbe König Milos dann Protest dagegen, könnte Procas guten Gewissens behaupten, daß kein königlich aquilonischer Soldat sich mehr auf argossanischem Territorium aufhält.«

»Wir wollen hoffen, daß Ihr recht habt«, brummte Conan. »Vorwärts, Männer!«

Gegen Mittag hatte Conan weitere vollständige Kompanien um sich gesammelt, die vor dem Hinterhalt an der Mevanofurt unversehrt die Flucht hatten ergreifen können. Aber der größte Gewinn für die Rebellen war Graf Trocero persönlich, der mit zweihundert Mann Reiterei und Fußsoldaten auf einer Kuppe sein Lager aufgeschlagen und es mit Palisaden befestigt hatte. Der Graf von Poitain war bereit, sein kleines Fort gegen Procas und seine ganze eiserne Legion zu verteidigen. Zutiefst gerührt umarmte Trocero Conan und Prospero.

»Mitra sei Dank, daß Ihr noch lebt!« rief er. Er wandte sich dem Cimmerier zu. »Ich hörte, Ihr seid von einem Pfeil durchbohrt worden und Eure Division sei südwärts geflohen wie die Wildgänse.«

»Bei Gerüchten über eine Schlacht entspricht gewöhnlich nur ein Zehntel der Wahrheit«, sagte Conan lächelnd. Er berichtete von dem Hinterhalt bei Mevano und fragte: »Und wie erging es Euch bei der Tunaisfurt?«

»Nicht besser als Euch. Ich glaube, Procas persönlich hatte dort das Kommando übernommen. Seine Leute waren sowohl am Süd- als auch Nordufer versteckt und griffen uns von beiden Seiten an, als wir uns anschickten, den Fluß zu überqueren. Ich hätte nicht gedacht, daß er es wagen würde, in solcher Stärke die argossanische Grenze zu überschreiten.«

»Amulius Procas kennt keine Skrupel, wenn er sich etwas verspricht. Aber sagt, wie seid Ihr hierhergekommen? Durch den Saxulapaß?«

»Nein. Als wir uns ihm näherten, kampierte dort eine größere Abteilung von Procas' Männern. Glücklicherweise kannte einer meiner Reiter, ein ehemaliger Schmuggler, eine schmale Schlucht parallel zum Paß, durch die er uns führte. Es war ein schwindelerregender Aufstieg, aber wir schafften es mit einem Verlust von lediglich zwei Pferden. Jetzt, sagt Ihr, sei der Saxulapaß offen?«

»Zumindest war er es vergangene Nacht«, antwortete Conan. Er schaute sich um. »Wir wollen uns beeilen, zu unserem alten Lager auf der Ebene von Pallas zurückzukommen. Meine Männer zusammen mit Euren ergeben immer noch gut über tausend Krieger.«

»Tausend machen noch lange keine Armee«, brummte Publius. »Es ist nicht mehr als ein Bruchteil der zehntausend, die nordwärts mit uns marschierten.«

»Es ist ein neuer Anfang«, versicherte ihm Conan, dessen Pessimismus der vergangenen Nacht verflogen war. »Ich entsinne mich noch gut, wie alles mit nur fünf unverzagten Herzen begann.«

 

Als die Überreste der Rebellenarmee dahinmarschierten, schlossen sich ihnen weitere Trupps an, die dem Gemetzel entgangen waren, auch kleinere Gruppen und einzelne Überlebende. Immer wieder schaute Conan besorgt über die Schulter zurück und erwartete jeden Augenblick, Procas' gesamte Grenzlegion in wilder Verfolgung die Rabirianischen Berge herabstürmen zu sehen. Aber Publius teilte seine Befürchtung nicht.

»Überlegt doch, General«, sagte er. »König Milos hat uns nicht – zumindest noch nicht – verraten oder sich gegen uns gestellt, denn zweifellos wäre er uns sonst in den Rücken gefallen, während Procas uns angriff. Mir deucht, nicht einmal der wahnsinnige König von Aquilonien würde es wagen, einen offenen Krieg mit Argos zu riskieren, denn die Argossaner wären ein zäher Gegner. Amulius Procas weiß, wie weit er gehen darf. Hätte er unüberlegt benachbarte Reiche beleidigt, wäre er längst nicht mehr General in des Königs Gnaden. Wenn wir erst unsere Ausbildungslager erreicht und unsere Befestigungen verstärkt haben, sind wir für den Augenblick sicher. Die Reservevorräte und die Lagerbediensteten erwarten uns.«

Conan zog finster die Brauen zusammen. »Außer Numedides besticht oder erpreßt König Milo, daß er gegen uns vorgeht.«

 

In gewisser Weise waren Conans Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen. Denn nicht lange danach saßen aquilonische Agenten mit König Milos und seinen Ratgebern beisammen. Der Sprecher der Aquilonier war Quesado, der Zingarier, der Messantia mit einigen Begleitern nach einem langen, anstrengenden Ritt – in einem weiten Bogen um die sich bekriegenden Armeen – erreicht hatte.

Quesado, jetzt prunkvoll in schwarzem Samt und Stiefeln aus dem feinsten roten kordovanischen Leder ausstaffiert, hatte sich verändert, und diese Veränderung war nicht ausgesprochen zum Besten seines Auftraggebers. Als König Numedides von den Erfolgen des Spions in Vibius Latros Diensten hörte, war er sofort hocherfreut gewesen und hatte darauf bestanden, Quesado zu befördern und ins Diplomatische Corps aufzunehmen. Das stellte sich als Fehler heraus.

Der Zingarier war ein ausgezeichneter Spion gewesen, dessen Stärke in seiner Unauffälligkeit gelegen hatte. Jetzt plötzlich war er, was Sold und Prestige betraf, die Stufen hinaufgefallen, und nun legte er seine Fassade der Bescheidenheit ab und die Überheblichkeit eines zingaranischen Möchtegern-Herrn kam zum Vorschein. Er schaute über den scharfen Kamm seiner Nase hinab und versuchte mit kaum verschleierten Drohungen König Milo und seine Ratgeber zu überzeugen, daß es in ihrem eigenen Interesse besser wäre, sich der Gunst des Königs von Aquilonien zu versichern, als die Lumpenarmee seiner Feinde zu unterstützen.

»Mein Lord König und meine Herren«, sagte Quesado mit scharfer, belehrender Stimme, »ganz sicher dürfte es Euch doch klar sein, daß wir Euch, falls Ihr Euch nicht entschließt, Eure Freundschaft zu meinem Herrn zu beweisen, zu unseren Feinden zählen müssen. Und je länger Ihr unseren Feinden, den Rebellen, Unterschlupf gewährt, um so schlimmer wird der Makel des Verrats gegen meinen Herrn, den mächtigen König von Aquilonien, auf Euch lasten.«

König Milos breites Gesicht überzog sich mit dem Rot des Grimms. Er richtete sich scharf auf seinem thronähnlichen Sessel auf. Milo war ein vierschrötiger Mann mittleren Alters mit dichtem grauen Bart, der ihm weit über die Brust fiel. Er war wortkarg, schwerfällig wie es schien, und erweckte eher den Eindruck, ein ehrlicher Bauer zu sein, als der Herrscher eines wohlhabenden, kultivierten Reiches. Er brauchte eine Weile, sich zu etwas zu entschließen, doch hatte er eine Entscheidung getroffen, ließ er sich auch nicht mehr davon abbringen. Wütend funkelte er Quesado an und schnaubte:

»Argos ist ein freies, souveränes Reich und wird, so Mitra ihm wohlgesinnt bleibt, auch nie der Herrschaft des Königs von Aquilonien unterstehen. Verrat kann nur von einem Untertan gegen seinen Regenten begangen werden. Wollt Ihr vielleicht behaupten, werter Herr, daß der feiste Numedides der Oberlehnsherr von Argos ist?«

Quesado begann zu schwitzen. Seine knochige Stirn glitzerte feucht im sanften Licht, das in bläulich, grünlich und rötlich schimmernden Streifen durch das Buntglasfenster der Ratskammer fiel.

»Das war nicht meine Absicht, Eure Majestät«, entschuldigte er sich hastig. Etwas demütiger fügte er hinzu: »Aber bei allem Respekt, Sire, muß ich doch darauf hinweisen, daß mein Herr wohl kaum die Unterstützung übersehen kann, die ein benachbarter Monarch Rebellen gegen seinen Rubinthron von Göttergnaden gewährt.«

»Wir haben sie nicht unterstützt«, sagte Milo finster. »Ich bin überzeugt, Eure Spione haben Euch berichtet, daß die Überreste der Rebellenarmee auf der Ebene von Pallos ihr Lager aufgeschlagen habe, und da sie keinen Nachschub von Messantia erhalten, verzweifelt versuchen, sich von dem, was die Umgebung ihnen bietet, zu ernähren. Die berühmten bossonischen Bogenschützen nutzen ihre Geschicklichkeit, um Enten und Wild zu erlegen. Ihr sagt, General Procas' Sieg war ausschlaggebend? Nun, was hat das mächtige Aquilonien dann von einer Meute von Flüchtlingen zu befürchten, die der Hunger zu Banditen gemacht hat? Wir hörten, daß sie nur noch einen Bruchteil ihrer früheren Stärke haben, und daß ihre Zahl durch Desertion von Tag zu Tag abnimmt.«

»Das stimmt, mein Lord König«, sagte Quesado, der seine Haltung zurückgewonnen hatte. »Aber dann darf ich wohl auch fragen, was hat das kultivierte Argos zu gewinnen, wenn es dieser Bande Mordbrenner Unterschlupf gewährt? Da sie nicht fähig ist, gegen ihren rechtmäßigen Herrscher vorzugehen, muß sie sich gezwungenermaßen durch Raubzüge gegen Eure getreuen Untertanen am Leben erhalten.«

Mit finsterem Gesicht gab Milo sich dem Schweigen hin, denn er vermochte Quesado keine überzeugende Antwort zu geben. Schließlich konnte er ihm ja nicht sagen, daß er seinem alten Freund, dem Grafen Trocero, sein Wort gegeben hatte, den Rebellen zu erlauben, sein Land als Stützpunkt für einen Feldzug gegen einen benachbarten König zu benutzen. Außerdem verärgerte ihn der Versuch des aquilonischen Abgesandten, ihn zu einer übereilten Antwort zu drängen. Er war es gewohnt, sich für seine Entscheidungen Zeit zu lassen, und das ohne Belehrungen.

Schwerfällig erhob er sich und beendete die Sitzung. »Wir werden den Wunsch unseres Brudermonarchen in Erwägung ziehen, Gesandter Quesado. Unsere Herren werden Euch von Unserer Entscheidung zu einem Uns beliebigen Zeitpunkt unterrichten. Ihr habt Unsere Erlaubnis, Euch zurückzuziehen.«

Die Lippen zu einem falschen Lächeln verzogen, verbeugte sich Quesado tief und verließ rückwärtsgehend die Ratskammer. Die Wut fraß an ihm. Das Schicksal hatte diesmal den rebellischen Cimmerier begünstigt, aber das Glück war launenhaft, wie bald schon mochte es sich wieder von ihm abwenden. Denn auch wenn er es nicht wußte, nährte Conan eine Schlange an seiner Brust.

 

Die Löwenarmee war keineswegs so geschwächt und am Verhungern, wie Milo und Quesado annahmen. Sie zählte inzwischen wieder fünfzehnhundert Mann, baute von Tag zu Tag ihre Stärke weiter auf und sammelte Vorräte. Die mageren Pferde weideten im hohen Gras der Ebene; die weiblichen Bediensteten, die im Lager zurückgeblieben waren, als die Armee nordwärts marschierte, pflegten die Verwundeten. Ein großer Teil der Versorgungs- und Waffenwagen war dem Feind nicht in die Hände gefallen, und jeden Tag humpelten weitere Überlebende ins Lager, und so wuchsen die dünnen, aber entschlossenen Reihen der Rebellen. Die Wälder wisperten unter den Schritten der Jäger und hallten von den Axthieben der Holzfäller wider, während im Lager geschickte Hände Speere und Lanzenschäfte schnitzten, und die Ambosse der Schmiede unter dem Hämmern von Pfeil- und Lanzenspitzen und Schwertern dröhnten. Am ermutigendsten war das Gerücht, daß die Nachhut, etwa tausend Mann, unter dem aquilonischen Baron Groder, dem Gemetzel bei Tunais entgegen war und nun durch die Berge im Osten irren sollte. Um diesem Gerücht nachzugehen, schickte Conan Prospero mit einer Abteilung leichter Reiter aus, die, falls es sich als Tatsache herausstellte, die Kameraden zum Lager geleiten sollte. Dexitheus betete zu Mitra, daß es kein Gerücht war, denn mit Groders Truppe würden sie ihre Stärke fast verdoppeln können. Königreiche waren schon unter dem Ansturm von weniger als dreitausend entschlossenen Männern gefallen.

 

Der Vollmond funkelte wie das gelbe Auge eines erzürnten Gottes auf die Ebene von Pallos herab. Ein kalter, unruhiger Wind pfiff durch das hohe Gras und zerrte mit Geisterfingern an den Umhängen der Posten, die um das Rebellenlager Wache hielten.

In seinem mit Kerzen beleuchteten Zelt saß Conan noch spät über einem Krug Bier und hörte seinen Offizieren zu. Einige, die ihre kürzliche Niederlage noch nicht verkraftet hatten, zögerten, im Augenblick an weitere kriegerische Auseinandersetzungen auch nur zu denken. Andere, in denen der Rachedurst brannte, drängten auf einen baldigen Angriff, selbst mit ihren gegenwärtigen geringen Kräften.

»Hört doch, General!« sagte Graf Trocero. »Amulius Procas wird ganz sicher so kurz nach unserer Niederlage keinen Angriff erwarten, also haben wir schon einmal das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Sind wir erst über dem Alimane, schließen sich unsere poitanischen Freunde an, die für ihren Aufstand nur auf unser Kommen warten.«

Conans wildes Blut feuerte ihn an, den Rat seines Freundes zu befolgen. Jetzt über die Grenze zu schlagen, unmittelbar nach ihrem so großen Pech würde aus der Niederlage einen Sieg machen und ihren Vergeltungsdurst befriedigen. Er brauchte dringend etwas, das seine Männer aufrütteln würde, und ein siegreicher Ausfall wäre genau das Richtige, ihre Moral zu heben. Es gab schon viel zu viele, die sich aus dem Staub machten, weil sie ihre Lage für hoffnungslos hielten. Wenn er nicht die Deiche der Loyalität mit Hoffnung auf einen Sieg abdichten konnte, würde das Aussickern der Unzufriedenheit zur Flut werden, die seine Armee davonschwemmte.

Doch der mächtige Cimmerier war in seiner langjährigen Kampferprobung weise geworden, was den Krieg betraf. Die Erfahrung mahnte ihn, seinen Eifer zu zügeln und seine restliche Streitmacht nicht überstürzt einzusetzen – zumindest nicht, ehe Prospero mit Neuigkeiten über Baron Groder und seine Truppe zurückkehrte. Konnte er erst sichergehen, daß mit dieser mächtigen Verstärkung zu rechnen war, war immer noch Zeit, den günstigsten Augenblick für den Angriff zu beschließen.

 

Conan entließ seine Befehlshaber und suchte die warmen Arme und den weichen Busen Alcinas. Die goldhäutige Tänzerin hatte ihn mit ihrer geschickten Art, seine Leidenschaft zu stillen, betört. Doch an diesem Abend entzog sie sich lachend seiner Umarmung und bot ihm einen Kelch Wein an.

»Es wird Zeit, mein Lord, daß du das Getränk eines wahren Herrn genießt, statt wie ein Bauer bitteres Bier in die Kehle zu gießen«, sagte sie. »Ich brachte eine Flasche des besten Weines aus Messantia für dich.«

»Crom und Mitra, Mädchen, ich habe heute abend genug getrunken. Jetzt durste ich nach dem Wein deiner Lippen, nicht nach gegorenem Traubensaft.«

»Aber es ist ein sanftes Anregungsmittel, mein Lord, um dein Verlangen zu erhöhen – und meinen Genuß daran«, gurrte sie. Im Kerzenschein stand sie in einem durchsichtigen seidenen Nachtgewand vor ihm, das nicht dazu beitrug, ihre üppigen und doch grazilen Formen zu verbergen. Sie lächelte ihn verführerisch an und streckte ihm den Kelch entgegen. »Der Wein enthält Gewürze aus meiner Heimat, die deine Sinne erhöhen werden. Willst du ihn nicht doch trinken, mir zuliebe, mein Lord.«

Mit wallendem Blut schaute er auf das mondbleiche Oval ihres Gesichts und brummte: »Mein Verlangen nach dir ist groß genug, und allein der Duft deines Haares erhöht meine Sinne. Aber gib mir den Kelch, wenn ich dir damit einen Gefallen tu. Ich leere ihn auf die Freuden dieser Nacht.«

Mit drei tiefen Schlucken goß er den Wein hinunter. Er achtete nicht auf den leicht beißenden Geschmack der Gewürze. Dann stellte er den Kelch ab und griff nach dem bezaubernd schönen Mädchen, deren weite Augen auf ihn gerichtet waren.

Doch als er sie in seine Arme schließen wollte, drehte sich plötzlich das Zelt um ihn, und ein brennender Schmerz bohrte sich in seine Eingeweide. Er griff nach dem Zeltmast, verfehlte ihn jedoch, und stürzte schwer auf den Boden.

Alcina beugte sich über ihn. Ihre Züge schienen vor seinem getrübten Blick zu Dunst zu schmelzen, durch den ihre grünen Augen wie glühende Smaragde brannten.

»Croms Blut, Dirne!« keuchte Conan. »Du hast mich vergiftet!«

Er versuchte sich aufzurichten, aber sein Körper war wie zu Blei erstarrt. Obgleich die Adern in seinen Schläfen heftig pulsierten, sein Gesicht vor Anstrengung tiefrot anlief, und seine Sehnen sich wie Schiffstaue unter der Haut hoben, vermochte er nicht aufzustehen. Nach Luft schnappend fiel er zurück. Dann schoben sich immer dichtere Schleier vor seine Augen, bis er aus dem hellen Zelt in einen trancegleichen Wachtraum fiel. Er konnte weder sprechen, noch sich auch nur im geringsten bewegen.

»Conan!« murmelte das Mädchen und bückte sich noch tiefer zu ihm hinab, aber er antwortete nicht, vermochte es nicht. Mit seidenweicher Stimme flüsterte sie: »Das wäre es also, Barbarenschwein! Und bald werden die Überreste deiner Armee dir in die Hölle folgen, aus denen du und sie einst krochen!«

Völlig ruhig setzte sie sich und holte das Amulett zwischen ihren Brüsten hervor. Ein Blick auf die Zeitkerze auf einem Tischchen verriet ihr, daß noch eine halbe Stunde vergehen mußte, ehe sie Verbindung mit ihrem Herrn aufnehmen konnte. In sphinxgleichem Schweigen saß sie reglos, bis die Zeit gekommen war. Dann konzentrierte sie sich auf das kleine Bruchstück aus Obsidian.

Im fernen Tarantia kicherte Thulandra Thuu, der in seinen magischen Spiegel schaute, als er die stille, auf dem Boden liegende Gestalt des Cimmeriers sah. Gleich erhob er sich, gab den Spiegel in sein Schränkchen zurück, weckte seinen Diener und schickte ihn mit einer Botschaft zum König.

Hsiao fand Numedides, der gerade eine Massage durch vier schöne, nackte Mädchen genoß. Sittsam schlug der Khitan die Augen zu Boden, verbeugte sich und sagte:

»Mein Herr läßt Eure Majestät respektvoll unterrichten, daß der Banditenrebell Conan in Argos durch meines Herrn überweltliche Kräfte den Tod gefunden hat.«

Grunzend richtete der König sich auf und schob die Mädchen zur Seite. »Eh? Er ist tot, sagst du?«

»So ist es, mein Lord König.«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet.« Numedides schlug sich erfreut, laut klatschend auf den nackten Schenkel. »Wenn ich erst ... Genug davon! Was noch?«

»Mein Herr ersucht um Erlaubnis, eine Botschaft an General Amulius Procas schicken zu dürfen, um ihn von dieser Neuigkeit zu unterrichten und ihm zu gestatten in Argos einzudringen, damit er die Rebellen aufreiben kann, ehe sie einen neuen Führer gewählt haben.«

Numedides winkte herablassend. »Hebe dich hinweg, gelber Hund, und sag deinem Herrn, er soll tun, was er für richtig hält! Und jetzt wollen wir weitermachen, Mädchen!«

Und so brach noch in dieser Nacht ein Kurier zu General Procas' weit entferntem Hauptquartier an der argossanischen Grenze auf. Die Botschaft, die er trug, würde in weniger als vierzehn Tagen dafür sorgen, daß die Grenzlegion sich mit all ihrer Macht auf die führerlosen Männer unter dem Löwenbanner stürzte.

 

In Conans Zelt öffnete Alcina ihre Reisetruhe. Sie holte ein Pagenkostüm heraus und zog es an. Unter den Kleidungsstücken in der Truhe lag ein kleines Kupferkästchen, das sie durch ein Drehen des silbernen Drachens auf dem Deckel öffnete. Diese kleinere Truhe enthielt eine größere Zahl Ringe, Armreifen, Halsketten, Ohrringe und andere juwelenverzierte Schmuckstücke. Alcina kramte in diesen Kleinodien, bis sie ein rechteckiges Kupferstück fand, auf dem etwas in argossanischer Schrift eingraviert war. Dieses Kupferplättchen – eine von Quesado besorgte Fälschung – berechtigte den Träger, Pferde an den königlichen Posthaltereien zu wechseln. Sie nahm eine schnelle Auswahl unter ihren Pretiosen vor, steckte sie in ihr Mieder, dann füllte sie den kleinen Beutel, der von ihrem Gürtel baumelte, mit Gold- und Silbermünzen.

Schließlich löschte sie die Kerze und trat aus dem dunklen Zelt. Zu dem Posten davor sagte sie: »Der General schläft. Er hat mich gebeten, eine dringende Botschaft für ihn an den Hof von Argos zu bringen. Würdet Ihr die Güte haben, einen Burschen zu beauftragen, mir sofort ein Pferd zu satteln und es schnellstmöglich hierher zu bringen?«

Der Wachtposten rief einem Unteroffizier, der wiederum einen Soldaten schickte, um ein Pferd zu satteln, während das Mädchen ungerührt am Zelteingang wartete. Die Krieger, die daran gewöhnt waren, daß die Mätresse ihres Oberbefehlshabers nach Belieben kam und ging, und die sie ihrer Schönheit wegen bewunderten, beeilten sich, ihren Auftrag auszuführen.

Als das Pferd zu ihr gebracht worden war, stieg sie graziös in den Sattel und folgte dem Posten, den man ihr zugeteilt hatte, zum Palisadentor, dann verschwand sie im schnellsten Trott über die mondbeschienene Ebene.

Vier Tage später traf Alcina in Messantia ein. Sie eilte zu Quesados Versteck, wo sie seinen Nachfolger, Fadius, den Kothier, vorfand, der Quesados Brieftauben fütterte.

»Sagt mir bitte, wo finde ich Quesado?« erkundigte sie sich.

»Habt Ihr denn nicht davon gehört?« fragte er. »Er ist jetzt Gesandter des Königs von Aquilonien und zu stolz, Zeit mit unseresgleichen zu verschwenden. Er war erst ein einzigesmal hier, seit er in seiner diplomatischen Mission nach Messantia kam.«

»Nun, ob er jetzt ein großer Mann ist oder nicht, ich muß ihn sofort sprechen. Ich habe Neuigkeiten von der größten Wichtigkeit.«

Brummelnd führte Fadius Alcina zu der vornehmen Unterkunft, wo die Aquilonier untergebracht waren. Quesados Diener zog ihm gerade die Stiefel aus und richtete sein Nachtlager, als Alcina und Fadius unangemeldet hereinplatzten.

»Verflucht!« brüllte Quesado. »Was seid ihr für ein ungezogenes Lumpenpack, daß ihr einen Herrn überfallt, der sich zur Ruhe legen will?«

»Du weißt verdammt gut, wer wir sind«, fauchte Alcina. »Ich kam, um dir mitzuteilen, daß Conan tot ist.«

Quesado riß den Mund auf, dann schloß er ihn langsam wieder. »Das ändert die Sache ungemein«, sagte er schließlich. »Zieh mir die Stiefel wieder an, Narses! Ich muß mich sofort zum Palast begeben. Was ist geschehen, Lady Alcina?«

Eine kurze Weile später begehrte Quesado Einlaß in den Palast und verlangte von oben herab, zum König geführt zu werden. Der Zingarier beabsichtigte, den Monarchen aufzufordern, Conans geschrumpfte Armee durch die argossanischen Streitkräfte überfallen zu lassen. Er war sicher, daß die Rebellen, demoralisiert durch den Verlust ihres Führers, in einem Überraschungsangriff niedergemacht oder in alle Winde zerstreut werden konnten.

Das Schicksal bestimmte jedoch, daß die Ereignisse zu anderen Pfeifentönen marschieren sollten. Aus dem Schlummer geweckt, bekam König Milo einen Wutanfall über die Unverfrorenheit Quesados, auf einer Mitternachtsaudienz zu bestehen.

»Seine Majestät«, richtete der Oberpage dem ehemaligen Spion aus, »befiehlt, daß Ihr Euch sofort von hinnen hebt und zu einer dem König passenderen Zeit wiederkommt. Er schlägt Euch eine Stunde vor Mittag morgen vor.«

Quesado lief rot vor Ärger an. Er schaute von oben auf den Pagen herab und näselte: »Mein guter Mann, es scheint Euch nicht klar zu sein, wer und was ich bin.«

Der Page lachte und erwiderte Quesados Unverschämtheit mit gleicher Münze. »O doch, Sir, wir alle wissen nur zu genau, wer Ihr seid – und was Ihr wart!« Spöttisches Grinsen verbreitete sich auf den Gesichtern der Wachen zu beiden Seiten des Pagen, der fortfuhr: »Doch nun verlaßt den Palast. Und nehmt die Füße in die Hände, wenn Ihr nicht die Ungnade meines hohen Herrn auf Euch herabbeschwören wollt!«

»Diese Worte wirst du noch bereuen, Bube!« Quesado knirschte mit den Zähnen und drehte sich um. Er stapfte wütend über das Kopfsteinpflaster zu seinem früheren Quartier im Hafen, wo Fadius und Alcina seiner harrten. Dort kritzelte er eine von seinem Grimm diktierte Botschaft an den König von Aquilonien und berichtete von seiner Abfuhr auf dem Hof von Argos. Dann befestigte er sie am Bein einer der Brieftauben.

 

Ein paar Tage später erreichte der Bericht des ehemaligen Spions Vibius Latro, der ihn sofort dem König zur Kenntnis brachte. Numedides, der sich schon bei geringeren Anlässen nicht beherrschen konnte, las aus dem Bericht die Halsstarrigkeit des Königs von Argos gegenüber seinem mächtigen Nachbarn heraus und schickte sofort in größter Eile einen weiteren Kurier an General Amulius Procas. Der überbrachte eine Nachricht, die mehr als nur ein Betreten des Nachbarstaats erlaubte, wie die Botschaft zuvor. Sie befahl dem General ohne Verzögerung die Grenze nach Argos zu überschreiten und mit allen zur Verfügung stehenden Kräften auch die letzten Überreste der Rebellion zu zermalmen.

Procas, ein kampferprobter und gerissener alter Krieger, wand sich unter dem königlichen Befehl. Am Abend, der den siegreichen Kämpfen am Alimane gefolgt war, hatte er schleunigst die Abteilungen, die die fliehenden Rebellen gejagt hatten, aus argossanischem Territorium zurückgezogen. Diese Überschreitungen konnten gerade noch als schlecht abzubrechende Verfolgung entschuldigt werden. Wenn er sich aber jetzt einer neuen Übertretung schuldig machte, die schon fast einer Invasion nahe kam, würde König Milos' Einstellung von vorsichtiger Neutralität zweifellos zu offener Feindseligkeit umschlagen.

Aber der königliche Auftrag gestattete keine Widerrede und schon gar keine Befehlsverweigerung. Wenn er seinen Kopf behalten wollte, mußte Procas wohl oder übel angreifen, selbst wenn alles in dem alten Veteranen gegen diesen überstürzten Feldzug aufbegehrte.

Procas verzögerte den Aufbruch um mehrere Tage, in der Hoffnung, der König besänne sich doch noch und zöge den Befehl zurück. Aber keine neue Nachricht erreichte ihn, und Procas wagte nicht, noch länger zu zaudern. Und so überquerte seine ganze Legion an einem klaren Frühlingstag den Alimane. Der Fluß, dessen Hochwasser inzwischen zurückgegangen war, stellte für seine Schwadronen aus Rittern in glitzernden Rüstungen, vierschrötigen Speerkämpfern in Kettenhemden, und Bogenschützen in Lederharnischen, kein nennenswertes Hindernis dar. Sie wateten hindurch und marschierten unbeirrbar die sich dahinschlängelnde Straße weiter, die zum Saxulapaß durch die Rabirianischen Berge und von dort zum Rebellenlager auf der Ebene von Pallos führte.

 

Erst am Morgen nach Alcinas Ritt aus dem Lager erfuhren die Offiziere vom Geschick ihres Führers. Sie sammelten sich um ihn, legten ihn auf sein Lager und suchten ihn nach Wunden ab. Dexitheus, der noch immer auf einen Spazierstock gestützt humpelte, roch an den kärglichen Überresten in dem Kelch, aus dem Conan Alcinas Trunk geleert hatte.

»Dieser Trank«, sagte er, »war mit dem Saft des stygischen Purpurlotos' vermischt. Eigentlich müßte unser General jetzt so tot wie König Thutamon sein. Aber er lebt, obgleich nicht viel mehr als ein Leichnam mit offenen Augen.«

Publius schnippte mit den Fingern, wie er es manchmal tat, wenn er seine Zahlen zusammenrechnete, und meinte: »Vielleicht benutzte der Giftmischer nur soviel der Droge, wie für einen normalen Menschen ausreichen würde, ohne Conans übermenschliche Größe und Kraft in Betracht zu ziehen.«

»Es war sicher die grünäugige Hexe!« rief Trocero. »Ich habe ihr nie getraut, und ihr Verschwinden beweist eigentlich schon ihre Schuld. Hätte ich die Macht dazu, würde ich sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen!«

Dexitheus wandte sich dem Grafen zu. »Grünäugig, sagtet Ihr?«

»Ja, Augen so grün wie Smaragde. Aber was soll's? Ganz sicher kennt Ihr Conans Mätresse, die schöne Alcina?«

Dexitheus schüttelte mit ahnungsvollem Stirnrunzeln den Kopf. »Ich hörte zwar, daß unser General sich eine Tänzerin aus den Tavernen Messantias mitbrachte«, murmelte er, »aber ich versuche immer, die Hurerei bei meinen Söhnen zu übersehen, und Conan hielt die Frau voll Takt meinen Augen fern. Wehe unserer guten Sache! Denn der große Gott Mitra warnte mich in einem Traum vor einem grünäugigen Schatten im Rücken unseres Anführers. Allerdings wußte ich nicht, daß dieses Übel bereits unter uns weilte. Wehe mir, der ich versäumte, die Warnung an meine Kameraden weiterzugeben!«

»Macht Euch keine Vorwürfe«, versuchte Publius ihn zu beruhigen. »Conan lebt, und wir können unseren Göttern danken, daß die schöne Giftmischerin keine gute Rechnerin ist. Wir müssen dafür sorgen, daß niemand außer seinen Burschen ihn betreut, und es darf außer ihnen auch niemand das Zelt betreten. Wir müssen unseren Soldaten erklären, daß er an einer unbedeutenden Fußverletzung leidet, die ihm jedoch das Gehen verbietet. Inzwischen hat alles seinen normalen Gang zu gehen. Bis er gesundet, wenn er gesundet, übernehmt wohl Ihr das Kommando, Trocero.«

Der poitanische Graf nickte ernst. »Ich werde tun, was ich kann, als stellvertretender Oberbefehlshaber. Und Ihr, Publius, müßt zusehen, daß unser Spionagenetz wieder geflickt wird, damit wir uns über Procas' Schritte auf dem laufenden halten können. Es ist Zeit für den Morgenappell, also muß ich euch verlassen. Ich werde die Burschen so hart drillen wie Conan, ja und härter sogar!«

 

Bis Procas mit seiner Invasion begann, hatten die Löwen ihre beobachtenden Augen und lauschenden Ohren schon wieder ausgeschickt. Berichte über die Stärke des Invasors erreichten die Rebellenführer, die in Conans Zelt zusammengekommen waren. Trocero war in den letzten Tagen stärker ergraut, und die Erschöpfung hatte neue Linien in sein Gesicht gezeichnet. Trotzdem strahlte er Selbstsicherheit aus. Er fragte Publius:

»Was wissen wir über die Zahl des Feindes?«

Der Kämmerer beugte sich über seine Wachstafeln. Als er den Blick wieder hob, wirkte er beunruhigt. »Sie ist dreimal so hoch wie unsere«, antwortete er sorgenvoll. »Es verspricht ein schwarzer Tag zu werden, meine Freunde. Wir können nicht viel weiter tun, als uns zum Endkampf zu stellen.«

»Seid guten Mutes!« tröstete ihn der Graf und klopfte dem wohlbeleibten Kämmerer auf den Rücken. »Ihr würdet nie einen guten General abgeben, Publius. Ihr würdet den Soldaten versichern, daß sie geschlagen sind, ehe die Schlacht überhaupt beginnt.« Er wandte sich an Dexitheus. »Wie geht es unserem Patienten?«

»Er gewinnt nach und nach ein wenig seines Bewußtseins zurück, doch bis jetzt vermag er sich noch nicht zu bewegen. Ich glaube jetzt, daß er am Leben bleiben wird, Mitra sei gedankt!«

»Nun, wenn er nicht reiten kann, wenn die Fanfaren schallen, dann muß wohl ich mich für ihn aufs Pferd schwingen. Haben wir schon Nachricht von Prospero?«

Publius und Dexitheus schüttelten den Kopf. Trocero zuckte die Achseln und murmelte: »Dann müssen wir eben das Beste aus den vorhandenen Kräften machen. Der Feind wird bis morgen so nah sein, daß wir uns entschieden haben müssen, ob wir kämpfen oder fliehen werden.«

 

Vom Berg herab strömte die schwere Reiterei und die Infanterie der Grenzlegion. Ein Trupp galoppierender Späher ritt voraus, und in ihrer Mitte saß General Amulius Procas in seinem Streitwagen. Die Rebellen, die sich zum Kampf gesammelt hatten, bildeten ihre Schlachtformation mitten auf der Ebene.

Die stille Luft bot den Wartenden keinen Trost in ihren Ängsten und stummen Gebeten. Die breite Front der überlegenen aquilonischen Streitkräfte gestattete Graf Trocero keine Möglichkeit für geschickte Flanken- oder Umzingelungsmanöver. Doch sich jetzt zurückzuziehen, würde die sofortige Auflösung der Rebellenarmee bedeuten. Es war dem Grafen nur zu klar, daß ein zeitmäßig genau berechneter Rückzug mit Nachhutgeplänkel, um die Verfolgung zu verzögern, in diesem Fall nicht gegeben war. Ein solcher Rückzug mit gleichzeitigen Kampfmaßnahmen war lediglich mit erfahrenen, selbstsicheren Truppen möglich. Diese Männer hier, bereits durch ihre Niederlage am Alimane entmutigt, würden ganz einfach die Flucht ergreifen, jeder Mann für sich, und dann hätte die aquilonische Kavallerie ein leichtes Spiel mit ihnen und würde sie einen nach dem anderen niedermetzeln, bis die Nacht gnädig ihre dunklen Fittiche um sie breitete.

Trocero, der den näherkommenden Feind von seinem Befehlsstand auf einem Hügel entgegenblickte, winkte seinem Burschen zu, ihm sein Streitroß zu holen. Er schnallte einen Riemen seiner Rüstung enger und schwang sich in den Sattel. Er wandte sich an die paar hundert Reiter, die sich um ihn geschart hatten, und sagte:

»Ihr seid mit unserem Plan vertraut, meine Freunde. Es ist eine geringe Chance, aber unsere einzige.«

Denn Trocero hatte sich für einen selbstmörderischen Sturm direkt in die aquilonischen Reihen entschieden, um in einem Irrsinnsversuch an Amulius Procas heranzukommen. Er wußte, daß sich der gegnerische Oberbefehlshaber, ein stämmiger Mann mittleren Alters, durch frühere Verwundungen behindert und seiner alten Knochen wegen, schwer auf dem Pferderücken tat, und deshalb vorzog, in einem Streitwagen ins Gefecht zu ziehen. Er wußte auch, daß der Lenker dieses Streitwagens Schwierigkeiten haben würde, das plumpe Gefährt zu manövrieren. Wenn also die Rebellenreiterei durch ein Wunder an den aquilonischen General herankommen und ihn töten könnte, würden die ihres Oberbefehlshabers beraubten Truppen möglicherweise ihres Kampfgeistes verlustig gehen und die Reihen sich auflösen.

Die Aussicht, wie Trocero angedeutet hatte, war alles andere als rosig, aber dieser Plan war der beste, der ihm in den Sinn gekommen war. Er bemühte sich jedenfalls, seinen Untergebenen seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Er lachte und scherzte mit ihnen, als wäre ihnen der Sieg sicher und nicht die absolute Vernichtung durch der Welt beste Kampftruppe, noch dazu in dreifach größerer Stärke.

 

Wieder griff das Schicksal in Person König Milos, des Königs von Argos, zugunsten der Rebellen ein. Noch ehe die aquilonische Invasion begonnen hatte, unterrichtete ein Spion, der in seiner Eile Messantia zu erreichen, drei Pferde zuschanden geritten hatte, den König von Numedides' Befehl, argossanisches Gebiet zu betreten. Also erfuhr König Milo von dem beabsichtigten Angriff etwa zur gleichen Zeit wie die Rebellenführer. Schon zutiefst über die Arroganz des Gesandten Quesado empört, packte den üblicherweise sehr ausgeglichenen Monarchen die Wut. Sofort befahl er der nächsten Division seiner Armee, im Eilmarsch nach Norden aufzubrechen, um die Invasion aufzuhalten.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Milo es sich vielleicht noch einmal überlegt. Da er nicht annahm, daß Numedides beabsichtigte, sich eines Teiles seines Hoheitsgebiets zu bemächtigen, wie der frühere König Vilerus es getan hatte, hätte er eigentlich guten Grund, von nicht wiedergutzumachenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Aber bis sein Ärger abgekühlt war, waren seine Truppen bereits auf dem Marsch. Und in seiner üblichen Dickköpfigkeit weigerte der König sich, seine Entscheidung rückgängig zu machen.

Amulius Procas hatte seine Armee angehalten und formierte seine Truppen in ordentlicher Aufstellung zum Angriff, als ein atemloser Kundschafter herbeigaloppierte und neben seinem Streitwagen anhielt.

»General!« keuchte er und schnappte heftig nach Luft. »Eine gewaltige Staubwolke steigt von der Straße aus dem Süden auf. Es sieht aus, als nähere sich eine weitere Armee.«

Procas ließ den Späher seine Worte wiederholen. Dann zog er, heftige Flüche ausstoßend, seinen Helm vom Kopf und schmetterte ihn wütend auf den Boden seines Streitwagens. Es war genau, wie er es befürchtet hatte. König Milo hatte von der Invasion gehört und schickte seine Truppen aus, sie aufzuhalten. Er donnerte seine Adjutanten an:

»Sagt den Männern, sie dürfen sich einstweilen rühren, und seht zu, daß sie Wasser haben. Befehlt den Spähern, einen Bogen um die Rebellenarmee zu machen und südwärts vorzustoßen, um die Zahl und Zusammensetzung der sich nähernden Streitkräfte auszukundschaften. Laßt ein Zelt errichten und ruft meine Stabsoffiziere zu einer Besprechung zusammen.«

Als seine Späher eine Stunde später meldeten, daß tausend Mann Kavallerie im Anritt waren, sah Amulius Procas sich einem Dilemma ausgesetzt. Ohne ausdrücklichen Befehl seines Königs wagte er nicht, Argos zum offenen Kampf zu provozieren. Genausowenig konnte er es sich leisten, einen direkten Befehl Numedides' ohne ausschlaggebenden Grund zu mißachten.

Gewiß, Procas' Armee konnte zweifellos die Rebellen schlagen und Milos Reiterei nach Messantia zurückjagen. Aber eine solche Handlungsweise würde einen Krieg heraufbeschwören, auf den Aquilonien nicht vorbereitet war. Zwar war sein Land größer und hatte eine höhere Bevölkerungszahl, doch dafür war sein König, gelinde ausgedrückt, exzentrisch und seine Herrschaft hatte das mächtige Aquilonien ernsthaft geschwächt. Die Argossaner kämpften außerdem mit gerechter Empörung gegen einen Invasor auf ihrem Hoheitsgebiet, und mit der Unterstützung selbst der kleinen Rebellenstreitkraft, wie sie sich um das Löwenbanner geschart hatte, mochten sie leicht die Waagschale zu ihren Gunsten neigen.

Aber Procas durfte auch nicht den Rückzug antreten. Da die Zahl seiner Männer höher war, als die der Rebellenarmee und der argossanischen Kavallerie, würde König Numedides sehr wahrscheinlich einen Rückzug als Feigheit oder Verrat betrachten und ihn, Procas, einen Kopf kürzer machen.

Als die Sonne allmählich den Westhimmel hinabwanderte, war Procas immer noch in der Besprechung mit seinen Offizieren und hatte seine Entscheidung hinausgezögert. Schließlich sagte er:

»Es ist zu spät, heute noch mit der Schlacht zu beginnen. Wir werden uns ein Stück nordwärts zurückziehen, wo wir unseren Nachschub gelassen haben, und ein befestigtes Lager errichten. Schickt einen Mann, der den Pionieren sagen läßt, daß sie mit dem Graben beginnen sollen.«

 

Trocero, der die Königstreuen von seiner Erhebung aus schmalen Augen beobachtete, war lange schon wieder abgesessen. Neben ihm stand Publius und kaute an einem Rebhuhnschenkel. Schließlich brummte der Kämmerer:

»Was, in Mitras Namen, macht Procas denn jetzt? Er hatte uns doch, wo er uns haben wollte, und jetzt zieht er sich zurück und schlägt ein Lager auf. Hat er den Verstand verloren? Er sollte wirklich wissen, daß wir uns in der Nacht einfach verziehen oder in einem Bogen an ihm vorbei Aquilonien erreichen könnten.«

Trocero zuckte die Achseln. »Vielleicht hat die Nachricht, daß sich Argossaner nähern, etwas damit zu tun. Es muß sich natürlich noch herausstellen, ob Milos Kavallerie uns zu helfen oder gegen uns vorzugehen beabsichtigt. Wir würden zwischen den beiden Truppen wie zwischen zwei Mühlsteinen aufgerieben werden, außer Procas rechnet damit, daß die Argossaner die schmutzige Arbeit für ihn machen.«

Noch während der Graf sprach, lenkte das Donnern von Hufen seine Aufmerksamkeit südwärts über die Ebene. Bald darauf kanterte ein kleiner Trupp Berittener die Erhebung hoch – eine Gruppe Argossaner, von einem Rebellenkavalleristen geführt. Zwei der Neuankömmlinge stiegen mit einem Rasseln ihrer Rüstung von den Pferden und schritten vorwärts. Einer war hochgewachsen, hager, mit ledriger Gesichtshaut und dem Aussehen eines erfahrenen Haudegen. Sein Begleiter war jünger, klein, hatte breite Backenknochen, eine Stupsnase und klare, wache Augen. Er trug einen vergoldeten Harnisch und darüber einen purpurnen Umhang, der scharlachrot eingefaßt war. Der Federbusch auf seinem Helmkamm war purpurfarben und scharlachrot.

Der hagere Veteran sprach als erster: »Heil, Graf Trocero! Ich bin Hauptmann Arcadio, der Befehlshaber der königlichen Garde, und stehe zu Euren Diensten. Darf ich mir gestatten, Euch mit Prinz Cassio von Argos, dem Thronfolger, bekanntzumachen? Wir möchten uns mit Eurem General Conan, dem Cimmerier, besprechen.«

Trocero nickte dem Offizier zu und verbeugte sich leicht vor dem Prinzen von Argos, zu dem er sagte: »Ich entsinne mich Eurer gut, mein Prinz. Ihr wart ein recht ausgelassenes Kind und auch als junger Bursche noch ein echter Wildfang. Was General Conan betrifft, muß ich leider sagen, daß er unpäßlich ist. Aber ich bin sein Stellvertreter und Ihr dürft gern mich den Zweck Eures Besuches wissen lassen.«

»Unser Zweck, Graf Trocero«, sagte der Prinz, »ist, etwas gegen die Übertretung unseres Hoheitsgebiets durch die Aquilonier zu unternehmen. Aus diesem Grund sandte mein königlicher Vater mich mit einer rasch verfügbaren Streitmacht hierher. Ich nehme an, daß meine Offiziere und ich Euch und Euren Soldaten als Verbündete betrachten können?«

Trocero lächelte. »Ihr seid uns herzlichst willkommen, Prinz Cassio. Ihr habt einen langen und staubigen Ritt hinter Euch. Würdet Ihr und Hauptmann Arcadio mir die Ehre geben, mich in unser Zelt zu einer kleinen Erfrischung zu begleiten, während Eure Männer sich ein wenig ausruhen? Zwar ist unser Wein längst ausgegangen, aber wir haben noch einen kleinen Vorrat an Bier.«

Auf dem Weg zum Zelt sagte Trocero leise zu Publius: »Das erklärt Procas' Zaudern, als er uns schon so gut wie in der Zange hatte. Er wagt den Angriff nicht, aus Furcht, dadurch einen Krieg mit Argos heraufzubeschwören. Und er kann sich auch einen Rückzug nicht leisten, will er nicht als Feigling hingestellt werden. Also kampiert er, wo er ist, und wartet ab ...«

»Trocero!« rief eine polternde Stimme aus dem Zelt. »Mit wem sprecht Ihr da noch, außer Publius? Kommt herein!«

»Das ist General Conan«, wandte sich Trocero, sein Erstaunen unterdrückend, an die beiden Besucher. »Habt die Güte einzutreten, meine Herren.«

Sie fanden Conan in Hemd und Kniehose auf sein Fellager gestützt. Unter der Fürsorge Dexitheus' hatte er sein volles Bewußtsein wiedergewonnen. Seine eiserne körperliche Verfassung hatte ihm geholfen, zu einem großen Teil die Wirkung des Giftes zu überwinden, das einem normalen Menschen den Tod gebracht hätte. Er konnte jetzt wieder denken und sprechen, aber noch nicht viel mehr, denn das Gift lähmte immer noch seine mächtigen Muskeln. Es ergrimmte ihn natürlich sehr, daß er sich ohne Hilfe nicht zu bewegen vermochte.

»Götter und Teufel!« fluchte er. »Könnte ich nur aufstehen und ein Schwert schwingen, dann würde ich diesem Procas zeigen, wie man damit umgeht! Aber sagt, wer sind diese Argossaner?«

Trocero machte Prinz Cassio und Hauptmann Arcadio mit ihm bekannt und berichtete über Procas' letzten Schritt. Conan knurrte.

»Das muß ich selbst sehen. Burschen! Helft mir auf die Beine. Procas täuscht vielleicht den Rückzug nur vor, um uns des Nachts mit einem Überraschungsangriff zu beglücken.«

Mit je einem Arm um den Hals seiner beiden Burschen schleppte sich Conan zum Eingang. Die Sonne, durch die Gipfel der Rabirianischen Berge wie gepfählt, warf dunkle Schatten über die Hänge. In mittlerer Entfernung spiegelten sich ihre letzten Strahlen dunkelrot auf der Rüstung der Aquilonier, die sich mit der Errichtung eines Lagers plagten. Das Schlagen von Hämmern auf Zeltpflöcke klang dumpf durch die Abendluft.

»Glaubt Ihr, daß Procas verhandeln wird?« fragte Conan. Die anderen zuckten die Achseln.

»Er hat sich nicht mit uns in Verbindung gesetzt und wird es vielleicht auch nicht tun«, sagte Trocero. »Wir müssen eben abwarten.«

»Wir haben den ganzen Tag gewartet«, knurrte der Cimmerier, »und unsere Männer mußten derweilen im Harnisch in der glühenden Sonne stehen. Ich persönlich würde es begrüßen, wenn etwas geschähe – irgend etwas, um diese aufreibende Warterei zumindest zu unterbrechen.«

»Mir deucht, der Wunsch unseres Generals wird gleich erfüllt werden«, murmelte Dexitheus und beschattete die Augen mit der Rechten, als er zum fernen Lager der Königstreuen spähte. Die anderen starrten ihn an.

»Was jetzt, mein Herr Priester?« fragte Conan.

»Seht doch!« rief Dexitheus und deutete.

»Ischtar!« hauchte Hauptmann Arcadio. »Ich will verdammt sein, wenn sie sich nicht aus dem Staub machen!«

Und das taten sie ganz offensichtlich. Sie flohen nicht, machten sich jedoch zweifellos für einen geordneten Rückzug bereit. Trompeten hallten dünn aus der Ferne. Statt sich weiter mit der Befestigung ihres Lagers zu beschäftigen, brachen die Männer der Grenzlegion, die von hier aus nicht größer als Ameisen aussahen, die Zelte wieder ab, die sie eben erst errichtet hatten, beluden die Versorgungswagen und machten sich, Kompanie um Kompanie, auf den Weg zu den Rabirianischen Bergen. Conan und seine Kameraden schauten einander verblüfft an.

Der Grund des Rückzugs wurde jedoch bald offenbar. In schnellem Marsch rückte aus dem Osten eine vierte Streitmacht über die Hügel heran. Trocero schätzte sie auf gut fünfzehnhundert Mann stark, als sie sich in weiten Reihen in Schlachtformation zum Kampf bereitmachte.

Ein Späher der Rebellen spornte sein Pferd den Hang empor und sprang vor Conan aus dem Sattel. »Mein Lord General«, meldete er keuchend, »sie marschieren unter dem Leopardenbanner Poitains und der Standarte Baron Groders von Aquilonien!«

»Crom und Mitra!« wisperte Conan, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Es war tatsächlich Prospero mit der Rebellentruppe, die er im Osten gesucht hatte.

»Kein Wunder, daß Procas jetzt die Beine in die Hand nimmt. Nun, da wir in der Übermacht sind, kann er es tun, ohne sich die Ungnade seines hohen Herrn zuzuziehen. Er wird Numedides erzählen, daß drei Armeen ihn gleichzeitig umringt und zweifellos geschlagen hätten.«

»General Conan!« mahnte Dexitheus. »Ihr müßt auf Euer Lager zurückkehren und ruhen. Wir können es uns nicht leisten, daß Ihr einen Rückfall erleidet.«

Als seine Burschen ihm auf das Fellager zurückhalfen, flüsterte Conan: »Prospero, Prospero! Dafür schlage ich dich zum Ritter, wenn Aquilonien mein wird!«

 

In Fadius' armseligem Zimmer in Messantia saß Alcina allein, mit den Händen um ihr Obsidianamulett und behielt die abwechselnd schwarzen und weißen Schichten der Zeitkerze in den Augen. Fadius trieb sich irgendwo auf den nächtlichen Straßen oder in Kneipen herum. Alcina hatte ihn brüsk fortgeschickt, damit sie sich ohne Zeugen mit ihrem Herrn in Verbindung setzen konnte.

Die flackernde Flamme sank tiefer, als die Kerze eine schwarze Wachsschicht hinabbrannte. Als das Schwarz dem Weiß wich, hob die Tänzerin den Talisman und konzentrierte ihre Gedanken darauf. Schwach, wie gesprochene Worte in einem Traum, klang in ihrem aufnahmebereiten Geist der trockene Ton Thulandra Thuus, während vor ihr, in dem düsteren Gemach kaum erkennbar, ein Bild des Zauberers selbst zu sehen war, der auf seinem Eisenthron saß.

Thulandra Thuus Worte rauschten sanft durch Alcinas Geist, so daß es ihrer vollen Aufmerksamkeit bedurfte, während ihre Augen an den Lippen und Gesten ihres Meisters hingen, um seine Mitteilung richtig zu verstehen. »Ihr habt gute Arbeit geleistet, meine Tochter. Gibt es etwas Neues in Messantia?«

Alcina schüttelte den Kopf, und das geisterhafte Flüstern fuhr fort: »Dann habe ich eine neue Aufgabe für Euch. Schlüpft beim ersten Licht des neuen Tages in Eure Pagenlivree, nehmt ein Pferd und folgt der Straße in den Norden ...«

Alcina verzog das Gesicht und rief: »Muß ich denn unbedingt diese häßlichen Fetzen tragen und mich wieder in die Wildnis begeben, wo Ameisen und Käfer meine Schlafgefährten sind? Ich flehe Euch an, Meister, laßt mich eine Weile hierbleiben und wieder Frau sein!«

Der Zauberer hob spöttisch eine Braue. »Ihr zieht also die Fleischtöpfe Messantias vor?«

Sie nickte heftig.

»Das läßt sich aber leider im Augenblick nicht machen. Eure Mission dort ist beendet, und jetzt brauche ich Euch, um die Grenzlegion und ihren General im Auge zu behalten. Wenn es dort etwas unbequem für Euch ist, dann tröstet Euch mit den Reichtümern und Ehren, die ich Euch nach unserem Sieg versprochen habe.

Die Truppe, die der König von Argos ausgeschickt hat, müßte inzwischen die Ebene von Pallos erreicht haben. Ehe die Sonne zweimal aufgeht, wird Amulius Procas in aller Wahrscheinlichkeit den Rückzug über den Alimane nach Poitain angetreten haben. Er wird, so sehe ich es jedenfalls, die Nogarafurt nehmen. Also macht Euch auf den Weg, schlagt einen weiten Bogen um die Armeen und nähert Euch der Furt aus dem Norden auf der Straße von Culario. Dann berichtet mir bei der nächsten günstigen Konjunktion.«

Die Flüsterstimme schwieg, und die hauchfeine Vision schwand. Grübelnd blieb Alcina sitzen.

Ein heftiges Pochen erschallte an der Tür und Fadius torkelte herein. Der Kothier hatte mehr seiner Zeit und Vibius Latros Geld in einer messantinischen Taverne verbraucht als klug war. Mit ausgestreckten Armen wankte er auf Alcina zu und sagte mit schwerer Zunge:

»Komm, meine kleine Blume! Ich bin es müde, auf dem harten Boden zu schlafen. Es wird Zeit, daß du deinem Kameraden die gleiche Gunst schenkst wie den barbarischen Großköpfen ...«

Alcina sprang auf und wich vor ihm zurück. »Nimm dich zusammen, Fadius!« warnte sie. »Ich habe etwas gegen Anmaßungen von deinesgleichen!«

»Komm doch, meine Hübsche«, brummte Fadius. »Ich tu' dir doch nicht weh ...«

Alcina griff blitzschnell in das Mieder ihres Gewandes. Wie durch Zauber hatte sie plötzlich einen schmalen Dolch in ihren ringgeschmückten Fingern. »Bleib mir vom Leib!« warnte sie. »Der geringste Kratzer damit, und du warst ein Spion!«

Die Drohung drang in Fadius' benebelten Verstand, und er wich erschrocken vor der Klinge zurück. Er kannte die Flinkheit der Tänzerin. »Aber ... aber ... meine süße, kleine ...«

»Hinaus!« schrie Alcina. »Und wage es nicht, zurückzukommen, ehe du nüchtern bist!«

Vor sich hin fluchend wankte Fadius durch die Tür. Alcina trat an ihre Truhe zwischen den Taubenschlägen und wühlte darin nach dem Pagenkostüm, das sie in der Frühe tragen würde.

 

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