Kapitel 6
Ein leichtes Kratzen in meinem Hals weckt mich schon am frühen Morgen. Vera und ich haben gestern Abend noch bis weit nach Mitternacht bei dem einen oder anderen Glas Wein die Probleme der Welt gelöst und dabei sämtliche Schokoladenvorräte vernichtet. Schade, dass niemand während unseres teilweise richtig philosophischen Gespräches Protokoll geführt hat. Dann könnte ich jetzt vermutlich ein sorgenfreies Leben führen. Ich hasse es, am Wochenende, wenn ich endlich mal ausschlafen kann, früh aufzuwachen. Was unternehme ich denn nun Schönes an meinem freien Samstag?
Da fällt mir schlagartig etwas ein, was ich zu gerne verdrängen würde: Ich muss diesen dämlichen Vortrag vorbereiten! Aber nicht heute. Das kann ich auch morgen noch. Mehr als ein, zwei Stunden dürfte das ja nicht in Anspruch nehmen. Echt jammerschade, dass Ben heute arbeiten muss.
Was ist das? Ist das echt ein Kratzen in meinem Hals?
Ja, es ist eindeutig ein Kratzen in meinem Hals. Das kann nicht sein. Nicht jetzt!
Putzen müsste ich auch mal wieder. Erst mal aber werde ich meine schöne Wohnung genießen, einen Espresso trinken und dann vielleicht ein bisschen aufräumen. Ich liebe meine Wohnung. Eigentlich war sie mal für zwei Personen gedacht, aber die Zeiten ändern sich eben. Eine Wohnung, die zu groß für eine Person ist, gibt es für mich nicht. Ich liege zu gerne auf meinem Sofa und genieße die Aussicht auf mein weitläufiges Wohnzimmer. Vor zwei Jahren bin ich mit Felix, dem Optiker, hier eingezogen. In eine wunderbare neunzig Quadratmeter große Dachgeschosswohnung mit einer riesigen Terrasse in Südwestlage, die man von Küche und Schlafzimmer aus betreten kann. Eine Terrasse zu haben war mir immer wichtig, ebenso Dielenböden, viele hohe Fenster, eine Badewanne, eine große Wohnküche und noch einiges mehr.
Danach haben wir lange gesucht. Na ja, eigentlich habe ich monatelang gesucht, und Felix hat zustimmend genickt, als ich ihm das Goldstück endlich präsentiert habe. Felix, der Töchter- und Schwiegermüttertraum. Zumindest von außen. Ein blendend aussehender und erfolgreicher Optiker mit eigenem Geschäft in der Hauptgeschäftsstraße. Eigentlich ein Volltreffer, wie man meinen könnte. Felix ist ein sehr liebevoller Mensch. Nur verteilt er seine Liebe dummerweise allzu großzügig. So an alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Beuteschema: Hauptsache, irgendwie mit zwei X-Chromosomen ausgestattet. Es ist aber auch zu leicht, seine Freundin, die ständig im Schichtdienst und drei von vier Wochenenden eines Monats arbeitet, zu betrügen. Die kriegt ja nichts mit. Eine Zeitlang zumindest. So musste ich vor knapp neun Monaten, nach fünfjähriger Beziehung, einsehen, dass diese nicht mehr als eine Seifenblase war. Ich entfernte Felix aus meinem Leben und versuche, manchmal erfolgreich, manchmal nicht, den Mistkerl, der mir fünf Jahre meines Lebens geraubt hat, zu vergessen. Das Einzige, was von dieser Beziehung übrig geblieben ist, ist eine gehörige Portion Misstrauen, die ich nun gegenüber Männern hege.
Das Halskratzen wird immer schlimmer, ich beginne zu frieren, und meine Glieder schmerzen. Das ist nur die Müdigkeit! Ich bin einfach zu früh aufgewacht!
Nach Felix’ Auszug habe ich mich ganz nach meinen Wünschen eingerichtet. Das bedeutet zum einen viele Weiß- und Beigetöne, aber auch eine Menge Rosa. So allein kostet mich die Wohnung zwar einen Großteil meines Assistentengehaltes, aber sie ist es wert. Allein schon wegen der Lage am Stadtrand. Mit dem Auto sind es maximal zehn Minuten zur Klinik, zum Badesee, zur idyllischen Altstadt und auch zu den meisten Clubs und Bars. Die wichtigsten Supermärkte sind sogar zu Fuß gut zu erreichen.
Ich gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Vielleicht bringt der mich etwas in Schwung. Sobald ich die Maschine einschalte, blinkt das Warnlicht – der Kaffee ist alle. In meinen Vorratsschränken herrscht gähnende Leere. Es hilft alles nichts, ich muss einkaufen gehen.
Allerdings fühle ich mich wirklich nicht besonders gut und so ziehe ich, ohne vorher zu duschen, nur schnell meinen alten Jogginganzug an, binde mir rasch die strubbeligen Haare zusammen und gehe einkaufen.
Im Supermarkt stehe ich, trotz akribischer Einkaufsliste, absolut planlos zwischen den Regalen und kann nichts finden. Mein Kopf schmerzt, und meine Nase ist inzwischen völlig verstopft, was meine Leistungsfähigkeit in keiner Weise steigert.
Jetzt bloß nicht krank werden. Das ist mein erstes wirklich freies Wochenende seit Monaten, abgesehen vom Nachtdienstfrei. Ich habe keine Zeit krank zu werden!
Während ich ziellos durch die Regalreihen irre, entdecke ich einen Lichtblick. Etwa einen Meter fünfundneunzig groß, schlank, durchtrainiert, schwarze Haare, glutbraune Augen und leicht gebräunte Haut. So steht er da, mein Adonis, allein mit seinem Einkaufswagen. Einen reumütigen Gedanken an Ben schiebe ich gleich beiseite: Man wird ja wohl noch mal gucken dürfen. Schnell habe ich gecheckt, was in dem Einkaufswagen liegt. Gut, Männerdeo, Tiefkühlpizza, ein Fertigsalat, ein Sixpack und Cola light. Das sieht nach Singlemännerhaushalt aus. War ja klar, dass mir ausgerechnet dann so jemand begegnen muss, wenn ich gerade besonders grauenvoll aussehe.
Meine Nase tropft.
Ich folge ihm. Dabei schiebe ich mein noch leeres Wägelchen möglichst unauffällig hinter ihm her und packe, um nicht sofort aufzufliegen, so dies und das hinein.
Ich brauche ein Taschentuch! Nicht jetzt!
Vor der Fleischtheke findet meine Supermann-Verfolgungsjagd ein jähes Ende. Adonis Nummer zwei, gleiche Ausstattung nur in Mittelblond, biegt in den Gang ein, und die beiden umarmen und küssen sich leidenschaftlich. Na toll! Die einzigen beiden Traummänner in diesem Laden sind natürlich ein Paar. Dafür stapeln sich in meinem Einkaufswagen jetzt: ein Glas schlesische Gurkenhappen, eine Dose Leberknödelsuppe, eine Packung Tena Lady, Jelly Beans, ein Kilo Bauchspeck und ein Kohlkopf. Taschentücher habe ich immer noch nicht.
Plötzlich höre ich hinter mir eine wohlbekannte Stimme: »Guten Tag, Frau Plüm, ich wusste gar nicht, dass Sie auch hier einkaufen.«
Es ist Denner. Verdammt, warum habe ich mich bloß nicht wenigstens ein bisschen zurechtgemacht? Kann ich nicht einmal plötzlich unsichtbar werden?
»Äh, guten Tag«, schniefe ich.
»Sie haben sich doch hoffentlich nichts eingefangen?«, erkundigt sich Denner und reicht mir ein Taschentuch. Er hat offensichtlich auch nette Momente.
»Danke. Ich war gerade auf der Suche nach Taschentüchern.«
»Die stehen gleich hinter Ihnen.« Er mustert den Inhalt meines Einkaufskorbs: »Jelly Beans! Diese Sorte ist die beste. Ich bin süchtig nach Jelly Beans! Hätte nicht gedacht, dass Sie die auch mögen. Wir sehen uns am Montag. Schönes Wochenende noch!«
Ich hasse Jelly Beans. Mann, ist das oberpeinlich. Denners Blick auf mich und meine Einkäufe sprach Bände. Er ist zwar viel zu korrekt, um etwas dazu zu sagen, aber bei der Mischung hält er mich jetzt bestimmt für einen Freak.
Es kostet mich über eine halbe Stunde, meinen Verlegenheitseinkauf wieder in die richtigen Regale zu verstauen und die Sachen zu suchen, die ich wirklich brauche.
Auf dem Nachhauseweg decke ich mich in der Apotheke doch vorsichtshalber mit dem Nötigsten ein. Ich werde natürlich nicht krank, beschließe ich! Aber falls doch, möchte ich wenigstens vorbereitet sein.
Zwei Stunden später liege ich von Schüttelfrost gebeutelt unter zwei dicken Daunendecken und mit meiner Winnie-Pooh-Wärmflasche im Bett und fluche. Das kann ja wohl nicht sein!
Mit tränenden Augen und dumpf dröhnendem Kopf kämpfe ich mich durch den Ratgeber »Gesünder durch positives Denken«. Ich werde diese Erkältung, die ich ja nicht habe, einfach wegdenken und heute Abend frisch und in Topform mit Vera tanzen gehen. Jawohl, ich werde mich gesund denken! Ich bin stark! Ich werde Erfolg haben, wo Nasentropfen, Schleimlöser und Kopfschmerztabletten bisher versagt haben. Ich bin stark, ich bin stark, es geht mir gut, ich bin gesund!
Gott, geht’s mir schlecht! Ich habe neununddreißig Komma drei Grad Fieber. Ich kapituliere und sage Vera ab.
»Gräm dich nicht. Schlaf erst mal eine Runde. Morgen sieht die Welt schon ganz anders aus«, versucht sie mich zu trösten.
Umgehend verstärke ich alle möglichen ErkältungsBekämpfungsmaßnahmen. Ich nehme literweise Nasentropfen, alle Schleimlöser, die ich finden kann, noch etwas zum Fiebersenken und gegen die Schmerzen, Vitamin C, Vitamin A-Z, Biotin, Coenzym Q 10, Vitamin B6 und noch mal Vitamin C ein.
Die Antibiotikareste aus meinem Arzneischränkchen bleiben erst mal unangetastet. Ich versuche, mich möglichst optimistisch davon zu überzeugen, dass ich morgen wieder gesund sein werde. Ich muss morgen wieder gesund sein!
Nachdem ich mehrere Stunden als virenbeladener Fleischkloß im Bett gelegen habe, muss ich mir eingestehen: Das wird wohl so schnell nichts. »Hochfieberhafter grippaler Infekt der oberen Luftwege mit Beteiligung der Nasennebenhöhlen und beginnender Bronchitis«, das wäre wohl die offizielle Diagnose. Was absolut nervt, ist der Husten, der die Macht über mich ergriffen hat. Die erste Packung Hustenbonbons ist schon leer, die zweite und damit letzte halb. Wann bekomme ich wohl endlich den auf der Verpackung angedrohten Süßstoff-Durchfall? Da ich dank des Hustens eh nicht schlafen kann, beschließe ich, meinen dämlichen Vortrag, Dr. Klemmes Vortrag, vorzubereiten. Zwei Stunden später habe ich, von etlichen Hustenanfällen gebeutelt, gerade mal vier Powerpoint-Folien fertig. Ich werde etwa dreißig brauchen. So geht das nicht. Aber was hilft’s? Missmutig mache ich mich an die nächste Folie und bin heilfroh, als ein Anruf von einem völlig überdrehten Ben mich ablenkt:
»Das glaubst du mir nie! Die OP war total geil. Ich durfte alles alleine machen. Erst habe ich die Hautschnitte vom Haaransatz zum Ohr und um das Ohr herum wieder hinten an die Haargrenze gelegt. Dann habe ich die Wangen- und Stirnhaut abgelöst und …« Urrgh! Bei solchen ausführlichen OP-Szenarien wird mir heute echt übel. Also halte ich das Telefon weiter weg und warte, bis Ben ausgeredet hat.
»Mensch, das ist ja toll. Total spannend«, krächze ich, als ich seine Stimme nicht mehr hören kann. Ich hoffe bloß, dass er schon alles erzählt hat.
»Sag mal. Wie hörst du dich denn an? Hast du gestern noch gesoffen?«
Gesoffen? Ich doch nicht. Also bitte.
»Nein. Ich bin …«, das Wort kommt mir kaum über die Lippen, »… krank.«
»Oje, du Arme. Hast du denn alles, was du brauchst?«
»Ja, ja, keine Sorge. Zur Apotheke habe ich es noch geschafft.«
Ich höre Ben erleichtert aufatmen. Wieso atmet er erleichtert auf? Hat er etwa keine Lust, sich um mich zu kümmern? Ich hätte ihm sagen sollen, dass ich völlig hilflos bin.
»Das ist schön zu hören. Versteh mich jetzt bitte nicht falsch. Ich würde dich ja total gerne besuchen und dich gesund pflegen, aber ich darf mich unmöglich anstecken. Verstehst du? Das kann ich mir einfach nicht leisten.«
»Natürlich nicht.« Ich bin enttäuscht. Ben lässt mich hier einfach so vor mich hin siechen. Ein Arzt sollte keine Angst vor Krankheiten haben. Schon gar nicht bei seiner Liebsten. So grauenvoll, wie ich im Moment aussehe, hätte ich Ben zwar mit allen Mitteln davon abgehalten vorbeizukommen, aber er hätte es wenigstens anbieten sollen. Unser Schweigen zieht sich unangenehm in die Länge. Vielleicht hat Ben ein schlechtes Gewissen. Geschieht ihm recht. Schweigen. Er könnte jetzt langsam mal was sagen. Tut er auch: »Was ist denn das für ein Geräusch in der Leitung?« Jetzt höre ich das nervige Klacken auch. Mist! »Da klopft jemand an.«
»Na, dann möchte ich dich nicht weiter aufhalten. Gute Besserung. Wir telefonieren einfach, wenn du wieder gesund bist.«
Weg ist er, und in der Leitung ist meine Mutter. Dafür dass sie ständig versucht, mich mit einem für sie passenden Mann zu verkuppeln, schafft sie es doch immer wieder erstaunlich sicher, in den unpassendsten Momenten reinzuplatzen. So verdarb sie mir schon erfolgreich mein erstes Date mit dem pickeligen Nachbarsjungen, meinen ersten Kuss in meinem Zimmer, das dann doch nicht stattfindende erste Mal in der Gartenlaube … Die Liste ist endlos.
»Hallo, Anna, hallo, kannst du mich hören?«
»Schrei nicht so. Mir fallen gleich die Ohren ab.«
»Ich habe jetzt ein Handy«, brüllt meine Mutter ins Telefon.
»Schrei trotzdem nicht so. Was gibt’s denn?«
»Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht. Du meldest dich ja nie. In der Klinik bist du auch nicht erreichbar.«
»Ich arbeite in der Klinik. Und abgesehen von einer Erkältung geht es mir gut.«
»Oh, du bist erkältet? Dein Vater und ich haben schon überlegt, ob wir morgen mal vorbeikommen. Aber wenn du krank bist, lassen wir das lieber. Du willst uns doch nicht anstecken.« Wäre mir ehrlich gesagt egal. Sogar meine eigene Mutter hat Angst vor meinen Killerkeimen. Das ist ja reizend.
»Nee, bleibt mal lieber zu Hause und unternehmt was Schönes. Ich komme schon klar. Wieso hast du denn jetzt ein Handy?«
»Na ja, eigentlich halte ich das für neumodischen Schnickschnack, aber alle haben ja inzwischen eins. Hallo … Hallo … Anna, kannst du mich hören?«
Im Hörer rauscht es, als stünde meine Mutter in einem Orkan.
»Geh aus dem Wind raus. Dann wird’s besser«, brülle ich, so laut ich das mit meiner heiseren Stimme kann.
»Was soll das denn wieder heißen? Ich sitze gerade beim Friseur. Ich ruf dich später noch mal an.«
Telefonieren unter der Trockenhaube ist wohl doch nicht empfehlenswert. O Mann! Wenn meine Mutter jetzt, nachdem sie sich jahrzehntelang gegen die Fortschritte der Technik gewehrt hat, ein Handy hat, dann kann sie mich ja immer und von überall her anrufen. Das kann ja heiter werden.