Kapitel 16

Vor besagtem Spätdienst schlafe ich erst mal aus. Schichtdienst ist wirklich der einzige Nachteil an meinem Job. Alle, die das nicht aus eigener Erfahrung kennen, behaupten ständig, wir würden so wenig arbeiten und hätten so viel frei. Das Problem ist dabei, zu welchen Zeiten man freihat. Immerhin zähle ich, dank meiner Moby-Fit-Ambulanztätigkeit, inzwischen zu den privilegierten Assistenten, die kaum noch Nachtdienste machen müssen. Habe ich Spätdienst, muss ich zu diesem Tag ab fünfzehn Uhr arbeiten. Das klingt im ersten Moment gut. Ist nur für das soziale Leben meist völlig unverträglich. Wer aus dem Freundeskreis hat denn da schon Zeit? Wie gut, dass ich genügend solcher Tagediebe kenne.

Am späten Vormittag gehe ich mit Vera, die heute einen freien Tag hat, nach Ewigkeiten mal wieder ins Fitness-Studio zum Rückentraining. Das wird normalerweise von Chrístos, einem äußerst ansehnlichen griechischen Fitnesstrainer geleitet. Der Kurs ist dementsprechend gut besucht. Sollte ich jemals ein Verhältnis mit einem Fitnesstrainer eingehen, dann mit Chrístos. Dummerweise ist Chrístos heute nicht da, und eine kleine zierliche, aber drahtige Brünette vertritt ihn. Sie bereitet Stepper und Hanteln vor. Nach Rückenkurs sieht das nicht aus. Schade! Na, dann machen wir halt einen Aerobic-Stepp-Kurs mit. Bei so etwas bin ich immer furchtbar unkoordiniert und stolpere ständig über meine eigenen Füße, aber es wird schon irgendwie gehen.

»Hi, I’m Bea, I’m from Canada and I teach Body-pump«, begrüßt uns die kleine drahtige Fitnesstrainerin.

Oha! Die Kanadier müssen Aerobic-Training mit einem Bootcamp verwechseln. Bereits beim ersten Versuch, auf Hanteln gestützt Liegestütze zu machen (als ob ich in meinem Leben je einen einzigen normalen Liegestütz geschafft hätte), gebe ich kläglich auf. Vera schafft immerhin zwei Stück. Was für eine Plackerei! Dieser Kurs macht mich so fertig, dass ich in Zukunft einen riesigen Bogen um Bea from Canada machen werde. Ich sollte es wohl lieber mal mit Yoga versuchen.

Nach diesem anstrengenden Training sind Vera und ich fast nicht mehr in der Lage, uns zu unterhalten. Das ist uns noch nie passiert. Völlig verschwitzt, mit hochroten Köpfen sitzen wir in der Umkleide.

»Machst du heute noch was Schönes?«, japse ich außer Atem.

»Lesen, ausruhen, in der Sonne rumliegen.«

Im Schneckentempo ziehen wir uns aus und schlurfen unter die Dusche.

»Klingt perfekt.«

»Und du?«

»Nicht viel, hab ja nachher Spätdienst. Ich gehe gleich noch mit Till mittagessen.«

»Ach so.«

»Willst du mitkommen?«

»Danke, nein. Ich bin sogar zu platt zum Essen.«

»Darf ich ihn auf … na ja, du weißt schon … darauf ansprechen?«

Vera schmunzelt: »Klar, warum denn nicht? Ist doch kein Geheimnis. Grüß ihn von mir.«

Nach einer ausgiebigen Dusche fühle ich mich wieder ein bisschen lebendiger. Mühsam quetsche ich meinen Hintern in eine Größe-achtunddreißig-Hose. Dann packe ich meine klitschnassen Sportklamotten ein und eile zum Mittagessen.

Im Schatten der Kirschbäume sitzen wir auf der Terrasse des besten Italieners unseres Viertels und genießen Salat, Spaghetti Vongole und, da wir beide noch arbeiten müssen, Wasser. Zu meinem Befremden ist Till mit Baseball-Kappe, Hawaiihemd und einem aufgeklebten Schnurrbart erschienen. Ich verschlucke mich vor lauter Lachen ständig an meinem Essen. »Hast du vor, eine zweite Karriere als Geheimagent zu starten?«, kichere ich.

»Das ist nicht lustig. Was soll ich denn machen? Theresa ist wieder hinter mir her.«

»Och, nicht schon wieder. So langsam glaube ich, du leidest unter Verfolgungswahn.«

»Ach ja? Ich treffe sie jeden Morgen in dem kleinen Bistro, in dem ich mir meinen Frühstückskaffee hole. Jeden Morgen. Egal, zu welcher Uhrzeit ich dort auftauche. Die wartet da auf mich. Das ist doch kein Zufall.«

»Vielleicht hast du recht. Aber bist du heute ernsthaft so in die Agentur gegangen?«

»Natürlich nicht. Ich wollte nur eine ruhige Mittagspause haben. Diese Geschmacksverirrung von einem Hemd und die Kappe habe ich mir von einem Kollegen geliehen.«

»Und der Bart? Wo kommt der her?«

»Der flog noch in meinem Schreibtisch rum. Von der letzten Miami-Vice-Party der Agentur.«

»Na, wie praktisch. Jetzt fehlt nur noch ein Blazer mit Schulterpolstern.«

»Haha, sehr witzig.«

»Willst du jetzt ewig vor dieser Theresa auf der Flucht sein? Rede doch mal Klartext mit ihr.«

»Das habe ich schon längst.«

»Du weißt aber schon, dass manches, das du einer Frau sagst, nicht zwingend so ankommt, wie du es gemeint hast?«

»Ich war deutlich.«

»Was hast du denn gesagt?«

»Na, das Übliche halt: dass die Zeit mit ihr sehr schön war, aber ich für eine Beziehung nicht geeignet bin und sie etwas Besseres als mich verdient hat.«

»Mann, Till. Damit hast du bloß das weibliche Helfersyndrom angestachelt. Jetzt will sie dir beweisen, dass du doch gut genug für sie bist.«

»Ach, und was hätte ich deiner Meinung nach sagen sollen?«

»Liebe Theresa, du bist eine tolle Frau, und ich bin ein sexsüchtiger Schuft, der dich nur ausgenutzt hat. Wie wär’s damit?«

»Vergiss es.«

Ich fische eine störrische Muschel aus meiner Pasta.

»Schöne Grüße von Vera, übrigens. Ich war eben mit ihr beim Sport.«

»Ach ja?«

»Ach ja.«

Ich beobachte Till prüfend. Sieht nicht so aus, als würde er freiwillig was zu der Nacht mit Vera sagen.

»Ich weiß Bescheid.«

»Du weißt was?« Till sieht mich entsetzt an.

»Na, dass ihr beide miteinander im Bett wart.«

Er atmet tief durch.

»Und was hat sie so gesagt?«

»Nichts weiter. Willst du ’ne Wertung haben?«

»Nein. Natürlich nicht. Es ist nur …«

»Hast du Angst, doch nicht so gut abzuschneiden?«

»Quatsch, ich weiß, was ich kann.«

»Da spricht die wahre Bescheidenheit.«

»Ich meine, was hat sie überhaupt gesagt?«

»Was soll sie dazu sagen? Ihr beide habt doch miteinander abgemacht, dass es nur eine einmalige Sache war. Ihr seid erwachsene Menschen, die damit umgehen können, oder nicht?«

»Klar, was denn sonst?«

»Dann ist ja gut.«

Till stochert in seiner Pasta herum und wird ungewöhnlich schweigsam. Langsam mache ich mir Sorgen: »Till? Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt, das macht ihr ja sowieso, aber bitte macht unsere Freundschaft nicht kaputt, okay? Das fände ich schrecklich.«

»Was du dir wieder für Gedanken machst. Alles cool.«

Eine Dreiviertelstunde vor Antritt meines Dienstes in der Notaufnahme betrete ich, zugegebenermaßen ziemlich lustlos, die Moby-Fit-Ambulanz. Es ist ein traumhafter Sommertag, und ich würde lieber an den Badesee fahren, als in der Klinik Spätdienst zu schieben. Nils sitzt an seinem Schreibtisch, auf dem sich schon wieder fünf Teetassen tummeln, und wirkt sehr beschäftigt.

»Hallo, Nils.«

»Hallo, hast du heute nicht Notaufnahmedienst?«

»Ja, ich habe Spätdienst. Ich muss noch ein paar Briefe diktieren und wollte dir die Unterlagen, die du mir für die Auswertung unserer Patientendaten geliehen hast, zurückgeben.«

Nils blickt angestrengt auf seinen Computer.

»Leg sie einfach auf den Stapel.«

Das mache ich, setze mich leise an meinen Schreibtisch, um Nils nicht unnötig zu stören und nehme mir die erste Akte vor. Weiter komme ich erst mal nicht. Das Telefon klingelt. Nils und ich teilen uns einen Apparat. Er hebt ab. Dann reicht er mir den Hörer: »Die Pforte, deine Mutter ist in der Leitung. Mach nicht so lange, ich erwarte einen wichtigen Anruf.«

Mir läuft es kalt den Rücken runter. Meine Mutter ist dabei, in mein letztes eigenes Refugium einzudringen. Die Klinik. Wie konnte das passieren? Stirnrunzelnd nehme ich das Gespräch an: »Hallo?«

»Anna-Isabella-Felicitas!«

Na klasse. Wenn sie mich mit allen Namen, die ihr bei meiner Geburt, nur um mich zu quälen, eingefallen sind, anredet, ist sie sauer. Warum auch immer. Eigentlich findet sie fast immer einen Grund.

»Was gibt’s?«

»Wie kannst du es wagen?!«

»Was?«

»Wie kannst du es wagen, Frau Beier so zu behandeln und mich vor meiner Kegelgruppe so zu blamieren.«

Denner wirft mir einen bösen Blick zu.

»Ich kann jetzt nicht telefonieren. Wir erwarten einen wichtigen Anruf.«

Das ist meiner Mutter egal.

»Wie konntest du nur so mit Frau Beier umgehen, ihr den Fahrradstellplatz wegnehmen und sie dann auch noch vor der Hausverwaltung bloßstellen?«

»Ich habe nichts von alledem getan und bloßgestellt hat sie sich selbst.«

»Jetzt lüg mich nicht an.«

Wie schön, dass meine Mutter immer den anderen glaubt. Das war schon im Kindergarten so. Wenn mir einer der Jungs die Sandschaufel klaute, war ich natürlich schuld, und der Bengel bekam von ihr noch ein Bonbon zugesteckt.

»Tu ich nicht.«

»Darüber reden wir später.«

Nur über meine Leiche. Sie lässt nicht locker: »Hast du Spätdienst? Dann rufe ich dich gegen sechs noch mal an.« Schwupps, ich bin eine Leiche – so schnell geht das. Denner räuspert sich.

»Ich muss jetzt wirklich aufhören. Mach’s gut. Frau Beier und deine Kegelfreundinnen beruhigen sich schon wieder.«

»Ach, was ich nicht alles ertragen muss! Womit habe ich so etwas verdient?« Ich lege auf.

»Wolltest du Beruf und Privates nicht trennen?«

»Du hättest sie ja gern für mich abwimmeln können.«

»Das ist nicht meine Aufgabe. Abgrenzen musst du dich schon selbst.«

Ich wende mich wieder der Akte zu. Das Diktiergerät piepst kurz schrill, als ich es anschalte, und Nils stöhnt entnervt. So leise wie möglich spreche ich meinen Text in das Gerät.

»Guten Tag, Diktat Plüm, es folgt der Entlassbrief von Marvin Eckert …«

Hinter mir ertönt ein weiteres schrilles Piepen. Das ist Nils’ Diktiergerät.

»Fortsetzung des Ambulanzberichtes von Klaus-Ole …«, brüllt er in den Apparat.

Oh, Mist. So wie der heute drauf ist, bitte ich ihn lieber nicht, seine Briefe erst zu diktieren, wenn ich in der Notaufnahme bin. Ich halte mir das linke Ohr zu, drehe mich so weit wie möglich von Nils weg und diktiere weiter: »Also, es geht um den Entlassbrief von Marvin Eckert, stationärer Aufenthalt vom sechzehnten achten bis zum dreiundzwanzigsten achten …«

Nils wird immer lauter: »ambulante Vorstellung am fünfundzwanzigsten achten …«

Ich fahre fort: »Diagnosen: Adipositas, aggressive Verhaltensstörung, Hypercholesterinämie …«

»Diagnosen – Adipositas, Störung des Sozialverhaltens …«, poltert Nils.

»… Störung des Sozialverhaltens …«, murmele ich.

Mist, das hat doch Denner gerade diktiert. Jetzt fange ich schon an, ihm alles nachzuquatschen. Sein Verhalten macht mich wahnsinnig. Ich kann mir ja schlecht beide Ohren zuhalten. Da fällt mir eine Lösung ein: Ohrstöpsel. Gut, dass ich davon immer ein paar in meiner Handtasche habe. Schnell stopfe ich mir die gelben Schaumstoffstöpsel in beide Ohren. Jetzt ist Nils schön leise. Meine Stimme hört sich auch seltsam gedämpft an, dafür ist mein Atem wahnsinnig laut.

»Die ausführliche Anamnese dürfen wir freundlicherweise als bekannt voraussetzen und verweisen hierfür auf …«, spreche ich nun ebenfalls ziemlich laut in mein Diktiergerät.

Ich kann meine Stimme nicht mehr richtig einschätzen.

Denner wird noch lauter: »Die Anamnese ist Ihnen bekannt, für unsere Unterlagen fassen wir …«

Ich nehme einen Ohrstöpsel heraus, um mir meinen zuletzt diktierten Satz anzuhören. Der ist kaum zu verstehen. Das ganze Diktat ist ein Mischmasch aus Denners und meinen Sätzen.

»Ignorieren Sie bitte einfach diese unverschämt laute Stimme aus dem Hintergrund«, diktiere ich weiter. Frau Goldstein kommt herein: »Was ist das denn für ein Lärm? Was ist denn hier los?«

»Nichts«, sagt Nils.

»Wir diktieren Briefe«, antworte ich.

Frau Goldstein seufzt tief und verlässt das Zimmer. Sie
sieht aus, als hielte sie uns für völlig bescheuert. Vermutlich hat sie recht. Das bringt doch nichts. Ich diktiere lieber ein andermal weiter. So langsam muss ich sowieso in die Notaufnahme. Ich schalte mein fiepsendes Diktiergerät wieder aus und lege die Akte weg. Auch Denner macht eine Pause. Wir sollten uns endlich wieder wie normale Menschen benehmen. Ich drehe mich auf meinem Schreibtischstuhl zu ihm um.

»Vielen Dank noch mal, dass du mir so großartig geholfen hast. Ohne dich hätte ich den Vortrag niemals so gut hinbekommen. Das war wirklich toll von dir.«

»Schon gut.«

»Du wirst nicht glauben, was mir kurz vor dem Abschicken des Vortrages passiert ist. Ich habe aus Versehen Kaffee auf mein Laptop gekippt und …«

»Anna, ich muss arbeiten. Hast du den Vortrag jetzt eingereicht?«

»Ja, und ich habe heute früh die Bestätigungsmail erhalten.«

»Dann ist ja alles in Ordnung. Würdest du bitte …«, er deutet unmissverständlich Richtung Tür.

Nils scheint einen miserablen Tag zu haben. Mich aus unserem Büro zu werfen ist schon frech.

»Was ist denn eigentlich mit dir los? Kann ich irgendetwas für dich tun?«

»Ja, geh, und lass mich arbeiten.«

Hinter seinem Rücken ziehe ich die fieseste Grimasse, die ich zustande bringe, stehe auf und gehe.

»Ich kann dein Spiegelbild in meinem Bildschirm sehen«, ruft er mir hinterher.

Ab neunzehn Uhr beginnt in der Notaufnahme die Polonaise der besoffenen Jugendlichen. Fünf an der Zahl sind es heute. Vollgekotzt und völlig desorientiert werden sie bei uns eingeliefert. Wir ziehen sie um, versorgen sie über eine Infusion mit Flüssigkeit, und sie pinkeln uns die Betten voll. Am nächsten Morgen werden die Eltern ihre saufwütigen Halbstarken frisch ausgeruht und, dank der Infusion, ohne Kater wieder abholen. So habe ich mir meine Arbeit als Kinderärztin nie vorgestellt. Der einen oder anderen Party bin ich ja auch nicht abgeneigt, aber das geht echt zu weit.

Einen vierzehnjährigen Austauschschüler aus England hat es besonders schlimm erwischt. Er glaubte, seine Männlichkeit mit dem Trinken einer ganzen Flasche Branntwein unter Beweis stellen zu müssen. Jetzt fällt er fast ins Koma. Immer wieder schreie ich ihn an und setze heftige Schmerzreize, um von ihm eine Reaktion zu erhalten. Nach einer halben Stunde öffnet er die Augen und haucht mir mit glasigem Blick seine Fahne entgegen: »You’ve got an annoying voice, fuck off!«

Das reicht! Und um den Burschen habe ich mir eben noch Sorgen gemacht! Plötzlich piept der Wecker meiner Armbanduhr. Die Parkuhr ist abgelaufen. Ich melde mich bei Schwester Petra kurz ab und renne mit fliegendem Stethoskop zum Parkplatz. Die Politesse steht bereits an meinem Auto und hat ihren Stift gezückt.

»Stopp! Halt! Warten Sie! Ich hab noch zwei Minuten.«

Völlig außer Atem erreiche ich meinen Wagen, schließe ihn auf und stelle die Parkuhr um.

»Da haben Sie ja noch mal Glück gehabt«, brummelt die Politesse und wendet sich dem nächsten Auto zu. Das ist Klemmes Auto.

»Stopp! Moment! Nicht!«, ruft eine Frauenstimme von der Klinik herüber. Eine der OP-Schwestern kommt angeflitzt und stellt sich schützend vor Klemmes Wagen.

»Bitte warten Sie. Der Herr Doktor ist gerade in einer wichtigen OP. Ich stelle die Parkuhr sofort um.«

Die Politesse steckt ihren kleinen fiesen Computer und ihren Stift ein und geht weiter. »Halt! Stopp!« Diesmal ist es eine Männerstimme. »Ich fahre sofort weg!«

Das ist Nils. Auch er hetzt zu seinem Auto und öffnet die Tür. Der hat aber lange gearbeitet.

»Was machst du denn hier? Du scheinst deinen Dienst ja sehr ernst zu nehmen«, pampt er mich an.

»Lass deine schlechte Laune nicht an mir aus. Du kannst ja nächstes Mal für mich die Uhr nachstellen«, fauche ich zurück.

In einem Punkt hat er allerdings recht. Ich muss so schnell wie möglich zurück in die Notaufnahme.

Am späten Abend stehe ich vor einem für mich unlösbaren Problem: Die Röntgenanlage ist überhitzt, kein Wunder bei den Temperaturen, und muss für ein paar Stunden ausgeschaltet werden. Solange müssen wir unsere Patienten mit dem kleinen fahrbaren Gerät selbst röntgen. Ich versuche, ein kleines Mädchen mit Verdacht auf eine Lungenentzündung zu röntgen. Die Einweisung in das Gerät ist schon eine Weile her, aber ich schaffe es, alles korrekt einzustellen. Nur geht das störrische Gerät nicht an! Egal, wie oft ich den Einschaltknopf drücke, es tut sich nichts. Ist die Maschine vielleicht auch überhitzt? Verzweifelt rufe ich meinen diensthabenden Oberarzt Dr. Kruppa an. Dr. Kruppa ist noch in der Klinik und von daher nicht ganz so genervt, weil er vorbeikommen muss.

In einer Zehntelsekunde hat Dr. Kruppa das Problem gelöst.

»Frau Plüm, wenn Sie den Stecker des Röntgengerätes in die Steckdose stecken würden, dann könnte das eventuell helfen.«

Jetzt ist er genervt! Das ist mir ehrlich unangenehm.

Den Rest meines Dienstes verbringe ich mit einer sinnlosen Diskussion mit einem Kiffer und seiner betrunkenen Mutter. Der Siebzehnjährige wurde uns von seiner Mutter gebracht, weil sie einen Drogentest haben möchte.

»Ich möchte wissen, ob mein Sohn Gras geraucht hat«, fordert sie leicht lallend.

»Klar hab ich gekifft«, gibt ihr Sohn zu. Folglich braucht er keinen Test.

»Ich werd damit auch nicht aufhören, das sag ich Ihnen gleich«, fährt er fort.

Also kommt für ihn auch kein Drogenentzug in Frage.

Seine eigene Logik zu dem Thema lautet: »So lange die Alte säuft, kann ich auch kiffen.«

Seine Mutter ist in der Tat ziemlich angetrunken. »Es waren nur zwei Flaschen Rotwein zum Abendessen«, wiegelt sie ab.

»Die hat sie ganz alleine getrunken. Papa ist auf Geschäftsreise in Hongkong«, merkt ihr Sohn an.

»Hören Sie. Nicht ich bin das Problem, sondern mein Sohn. Ich möchte wissen, ob er gekifft hat«, versucht die Mutter erneut, mir die Lage zu erklären.

»Hat er! Das hat er doch gerade selbst gesagt!«

Dieses Duo infernale treibt mich in den Wahnsinn. Ich melde die beiden dem Jugendamt und rufe ihnen ein Taxi.

Als ich gegen Mitternacht abgelöst werde, bin ich heilfroh, dass ich dieses Irrenhaus verlassen kann. Was für ein Abend!

Hinter dem Scheibenwischer meines Autos klemmt ein Knöllchen. Mist! Ich hatte keine Zeit, die Parkuhr noch einmal nachzustellen. Seufzend stopfe ich es zu den anderen ins Handschuhfach und fahre heim.

Zu Hause höre ich als Erstes meinen Anrufbeantworter ab. Vera und Caro wollen wissen, ob ich mich nach der Arbeit noch mit ihnen im Carlssons treffen möchte. Ich weiß nicht. Prinzipiell hätte ich schon Lust auszugehen. Die Jägermeister-, Wodka-Red-Bull-, Wodka-Grapefruit-, Asbach-Cola- und Kornfahnen, die mir heute im Dienst entgegenwehten, haben mir den Appetit auf Cocktails allerdings gründlich verdorben. Für heute reicht’s mir, und der Stress mit Nils schlaucht mich zusätzlich. Was ist bloß mit dem los? Irgendwie werde ich nicht schlau aus ihm. Mal ist er supernett und dann wieder total herablassend. Männer!