Kapitel 19
»Und du bist sicher, dass da nichts passieren kann?«, frage ich Nils zum x-ten Mal. Wir sitzen auf meinem Sofa, und ich halte die Beruhigungstablette seit einer guten halben Stunde in der Hand.
»Das Einzige, was passieren wird, wenn du die Tablette weiter festhältst, ist, dass sie sich irgendwann in deiner Hand auflöst.«
»Und wenn doch was ist?«
»Anna, jetzt mal ehrlich, was soll denn sein? Du bist doch Kinderärztin und kennst dich mit dem Zeug aus.«
»Aber wenn ich so was bei Patienten in der Klinik anwende, kann ich die zur Not überwachen.«
»Du weißt aber auch, dass eine Überwachung bei geringen Dosierungen nicht notwendig ist. Ich habe das auch schon genommen, und es geht mir gut. Wir Psychiater testen fast alle Medikamente, die wir unseren Patienten geben, erst einmal selbst aus.«
»Wir Kinderärzte lassen davon schön die Finger. Bei deinen Stimmungsschwankungen bin ich mir auch nicht so sicher, dass da nie was schiefgegangen ist.«
»Pass auf, das ist allein deine Entscheidung. Nimm die Tablette oder nicht. Ich möchte dich zu nichts überreden.«
Ich bin misstrauisch. Die zwei Wodka, die ich vorhin mit Till getrunken habe, haben mich zwar ein wenig entspannt, aber gut geht’s mir noch lange nicht. Schließlich überwiegen meine Nackenschmerzen meine Zweifel. Ich schlucke die Beruhigungstablette und spüle mit einem großen Glas Wasser nach. Das Schlimmste, was passieren kann, ist doch nur, dass ich auf der Stelle einschlafe. »Ich hätte nicht gedacht, dass du heute Abend tatsächlich vorbeikommst.«
»Warum?«
»Ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll, aber deine Launen sind mir ein Rätsel. Mal bist du total nett, dann wieder total distanziert …«
»Launen? Das aus dem Munde der Frau, die bei jeder Kleinigkeit sofort an die Decke geht!«
»Das stimmt doch gar nicht«, versuche ich zu protestieren.
»Du rastest ja schon aus, wenn deine Heftklammern nicht in Reih und Glied liegen.«
»Das ist ein bisschen übertrieben. Jedenfalls ein bisschen. Jetzt mal ehrlich, im Grunde kann ich ein sehr angenehmes Wesen sein.«
»Selten.«
»Öfter.«
»Wie auch immer. Wohnst du hier eigentlich alleine oder mit Till zusammen?«
»Letzteres ab und zu. Er wird manchmal von einer Ex-Affäre belästigt und versteckt sich dann hier.«
»Und wo ist dein sporadischer Mitbewohner heute Abend? Sollte er sich nicht um dich kümmern?«
»Er muss arbeiten und ist im Moment, wie du gesehen hast, anderweitig beschäftigt.«
»Das war allerdings nicht zu übersehen.« Nils schmunzelt gedankenverloren.
»Und jetzt, wo du kapiert hast, dass der Mann, der halbnackt in meinem Flur stand, tatsächlich nur mein bester Freund ist, machst du rein zufällig eine deiner Kehrtwendungen und hast wieder Lust mit mir zu sprechen. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man fast meinen, du wärst eifersüchtig auf ihn gewesen.«
»Was meinst du mit, wenn du es nicht besser wüsstest?«
Die Wirkung des Beruhigungsmittels setzt langsam ein, und ich spüre, wie meine Zunge schwer wird.
»So wie du mit mir umspringst, kannst du gar nichts von mir wollen.«
»Meinst du? Warum beschäftigt es dich denn überhaupt, ob ich Interesse an dir habe oder nicht?«, fragt Nils.
»Weil …« Tetrazepam ist echt ein geiles Zeug. Ich habe gar keine Schmerzen mehr. Ich bin die Königin des Universums. Nils ist der wunderschönste und unglaublichste Mann, den es jemals gab, und die ganze Welt ist herrlich bauschig rosa … und so leicht. »Weil du, wenn du mich nicht gerade missverstehen willst und einen auf Mimose machst, total süß sein kannst und dann der tollste und netteste Typ bist, den ich kenne.«
»Süß, nett und toll sind nicht unbedingt die Adjektive, die ein Mann über sich gern hört.«
Mir wird etwas schwummrig vor Augen. »O Nils, was ist, wenn ich doch zu viel von dem Tetrazepam eingenommen habe?«
»Keine Sorge, das hast du nicht. Ich passe auf dich auf.«
»Das ist gut. Ach ja … Mir fallen noch andere Adjektive ein: sexy zum Beispiel. Wenn du nicht gerade so psychologisch kompliziert tust, bist du echt ein sexy Typ … der sexieste Mann, den ich kenne. Und das, obwohl du oft Pullunder trägst.«
Nils nimmt meine Hand. Ich komme gerade so richtig in Fahrt: »Nils, ich muss dir noch was sagen. Ich war nicht immer ganz ehrlich zu dir.«
Er lässt meine Hand wieder los und sieht mich ernst an. Dann holt er tief Luft: »Okay, raus damit.«
Nun greife ich nach Nils’ Hand: »Bitte sei mir nicht böse, aber es sind die Jelly Beans. Ich mag gar keine Jelly Beans. Ich hasse die Dinger. Ich wollte dich nicht verletzen, deshalb habe ich es dir nicht gesagt, wenn du mir welche mitgebracht hast.«
»Die Jelly Beans?« Nils fängt an zu lachen. »Die Jelly Beans«, er schüttelt den Kopf. »Weißt du was? Wenn du nicht gerade so zickig und oberflächlich tust, bist du die liebenswerteste Person, die mein Leben jemals durcheinandergebracht hat.«
Nils nimmt mein Gesicht in seine Hände und sieht mir direkt in die Augen. In meinem Magen breitet sich ein lange nicht mehr da gewesenes Kribbeln aus. Dann beugt er sich vor und küsst mich. Seine weichen warmen Lippen machen mich noch kribbeliger. Ehe ich mich versehe, küsse ich ihn zurück, bis sich mein Verstand einmischt.
»Nils«, unterbreche ich ihn und schiebe ihn von mir weg, »Nils, wir können das nicht tun. Professor Astrup feuert mich, wenn er das rauskriegt.«
»Schsch. Es ist alles in Ordnung«, er küsst mich erneut. Zwei Paar wunderschöner rehbrauner Augen verschwimmen langsam im Dunkeln.
Nils’ Gesicht tanzt immer noch in doppelter Ausführung durch meine Träume, als ich am nächsten Tag vom Wecker aus einem komatösen Tiefschlaf gerissen werde. Völlig benebelt und mit bleischweren Gliedern versuche ich, mich zu orientieren. O mein Gott! Habe ich wirklich mit Nils geknutscht und ihm meine geheimen Wünsche offenbart, von denen ich bisher selbst nichts gewusst habe? Oder war das alles nur ein Traum? Laut meinem Wecker ist es zehn Uhr. So ein Mist. Ich bin viel zu spät dran. Panisch richte ich mich auf und falle sofort wieder in die Kissen. Mein Körper ist tatsächlich zu schwach, um aufzustehen. Die Kombination aus Schlafmangel, Wodka und dem Beruhigungsmittel hat mir gar nicht gutgetan. Neben dem Wecker liegt ein Zettel:
Guten Morgen, ich hoffe, es geht Dir besser.
Schlaf Dich aus. Ich sage Bescheid, dass Du heute später kommst.
Das ist Nils’ krakelige Schrift, eindeutig. Das ist ja lieb von ihm. Moment mal. Dass der Zettel hier liegt, heißt, er war in meinem Schlafzimmer. Wie bin ich überhaupt in mein Bett gekommen? Ich hebe die Bettdecke an und blicke an mir herunter. Bis auf Unterhose und T-Shirt habe ich nichts mehr an. Die Bettdecke und das Kopfkissen auf der anderen Seite meines Doppelbettes sind zerwühlt und auf dem Kissen finde ich kurze braune Haare. Kurze braune Haare, so wie Nils sie hat. Was ist bloß passiert? Wer hat mir wann die Klamotten ausgezogen? Wieso lag Nils in meinem Bett? Immerhin habe ich noch etwas an. Das spricht dagegen, dass wir Sex hatten, hoffe ich. Wäre auch eine Ironie des Schicksals, wenn ich mich an mein erstes Mal seit Monaten nicht mehr erinnern könnte. Bei meinem Glück wäre das aber glatt möglich!
Was für eine blöde Situation: Ich habe einen Blackout, Nils hat offensichtlich in meinem Bett gelegen, ich habe keine Ahnung, ob er mich ausgezogen hat und hoffe inständig, dass nichts weiter gelaufen ist. Immerhin habe ich keine Nackenschmerzen mehr. Das ist ein Punkt, der für diesen Tag spricht. Die juckende Halskrause liegt auf dem Boden neben meinem Bett. Ja, das ist schon mal gut. Erschöpft sinke ich zurück aufs Bett, und ehe ich etwas dagegen tun kann, fallen mir wieder die Augen zu. Tanzende Rehaugen im Nebel, wie schön. Ach Nils … Diese weichen Lippen …
Zwei Stunden später quäle ich mich wie in Zeitlupe schwankend vom Bett ins Bad, um mich fertigzumachen. Es hilft alles nichts. Ich sollte irgendwann in einigermaßen passablem Zustand bei der Arbeit erscheinen.
»Guten Tag, Frau Plüm, Sie sehen ja zum Glück wieder besser aus. Wie geht es Ihnen?«, begrüßt Frau Goldstein mich, als ich die Ambulanz betrete, und holt mir gleich einen Kaffee. Ich kann mich gar nicht richtig daran erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Dieses verflixte Beruhigungsmittel.
»Hier, bitte sehr. Ihre Patienten habe ich auf übermorgen verlegt, damit Sie sich erholen können. Da Dr. Denner sich für einige Tage abgemeldet hat, werden wir sowieso weniger Patienten einbestellen.«
»Wie, Herr Denner hat sich abgemeldet?«
»Ja, heute Morgen. Er kam, sagte dass Sie später kommen würden und war dann gleich wieder weg. Hat er Sie nicht informiert?«
»Nein. Sie wissen ja, dass die Kommunikation zwischen uns im Moment nicht so optimal ist.«
»Ja, das habe ich bemerkt. Ich finde das sehr schade.«
Ich nehme den Kaffee, den mir Frau Goldstein hinhält und gehe in unser Büro. Nils hat sich also einfach abgemeldet. Darüber bin ich erst mal erleichtert. Wäre mir schon peinlich gewesen, so ein Wiedersehen bei der Arbeit nach der letzten Nacht. Vor allem, weil ich keine Ahnung habe, was los war. Noch peinlicher wäre es mir allerdings, wenn es zu dem gekommen wäre, von dem ich glaube, dass es passiert sein könnte. In kleinen Schlucken trinke ich den starken Kaffee und denke nach. Es will mir einfach nicht mehr dazu einfallen, obwohl ich durch das Koffein endlich wieder einen klareren Kopf bekomme.
Lustlos erfasse ich die Patientendaten der letzten Woche und warte. Worauf, weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht darauf, dass Nils doch noch kommt. Er kommt aber nicht. Ich weiß auch gar nicht, wie ich ihm unter die Augen treten soll. Was, wenn Nils die letzte Nacht für einen fatalen Fehler hält und sich deshalb nicht blicken lässt? Aber einfach die Ambulanz abzusagen passt gar nicht zu ihm. Das ist schon komisch. Vielleicht hat er mir ja eine Nachricht hinterlassen? Ich fange an zu suchen, finde jedoch weder auf seinem noch auf meinem Schreibtisch irgendeinen Hinweis.
Während ich mich umschaue, stoße ich gegen einen der Aktenstapel, und ein dicker wattierter Umschlag fällt auf den Boden. Dabei rutscht eine Broschüre heraus. Es ist ein Hochzeits-Terminplaner, Tipps für Ihre Traumhochzeit – für den Bräutigam. So etwas zieht sich kein normaler Mann rein, es sei denn, er gedenkt zu heiraten und steht unter der Fuchtel seiner Zukünftigen. O mein Gott! Vielleicht hat Nils eine Freundin oder, noch schlimmer, er ist verlobt. Er hat zwar nie eine Frau in seinem Leben erwähnt, aber das heißt noch lange nicht, dass es keine gibt. Er könnte eine Fernbeziehung mit einer ehemaligen Studienfreundin aus England führen. Das würde passen. Wie konnte ich nur so naiv sein? Eine Frau zu verheimlichen ist gar nicht so schwer, vor allem wenn sie weit weg lebt, und für manch einen noch lange keine Lüge. Das sieht man doch an den Kegelclubfahrten, auf denen die Typen ihre Eheringe abnehmen, um auf Frischfleischjagd zu gehen. Vielleicht hat Nils wegen gestern Abend ein schlechtes Gewissen und ist sofort zu ihr gefahren. Ich hätte Caro ausfragen sollen, bevor ich mich auf ihn eingelassen habe. Aber bis gestern Abend wollte ich ja auch noch nichts von Nils. Das dachte ich zumindest. O mein Gott. Nils ist vergeben! Vielleicht wohnt seine Verlobte auch hier und war nur für ein paar Tage verreist, und er hat das gleich ausgenutzt. Ich bin nur seine kleine Flucht aus dem Alltag. Sein eifersüchtiges Verhalten war nur Platzhirsch-Gehabe. Dabei ging es gar nicht wirklich um mich. Jetzt weiß Nils nicht, wie er mir erklären soll, dass ich nur ein kleines Abenteuer für ihn war und hat sich deshalb aus dem Staub gemacht. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Was für eine Skrupellosigkeit, mich nach so einer Nacht – wenn ich bloß wüsste, nach was für einer – einfach sitzenzulassen. Dieses blöde Beruhigungsmittel. Vielleicht hat er mir das ja nur gegeben, um mich gefügig zu machen? Ist so etwas nicht strafbar? Verführung Schutzbefohlener oder so?
Während ich mir den Kopf zermartere, kommt Katharina rein, setzt sich an Nils’ Schreibtisch und fährt seinen Computer hoch.
»Ist wirklich supernett von Nils, dass ich seinen Computer benutzen darf, während er weg ist. Er hat mir sogar einen eigenen Benutzeraccount eingerichtet«, berichtet sie stolz, »ich gönne ihm die freien Tage ja, aber ich kann es gar nicht erwarten, wieder mit ihm zu arbeiten. Ich …«
»Katharina, er ist nicht da. Du kannst dir die Lobeshymnen also sparen«, unterbreche ich sie barsch.
Sogar die blöde Studentin scheint zu wissen, wo Nils sich rumtreibt. Wahrscheinlich auch mit wem. Fragen werde ich sie natürlich auf keinen Fall. Die Blöße gebe ich mir nicht.