Kapitel 14
Eine gute Woche später habe ich endlich wieder meine eigene Moby-Fit-Sprechstunde und muss mich nicht bei Denners Gequatsche krampfhaft wach halten. Auf dem Weg von der Notaufnahme in die Ambulanz mache ich mir so meine Gedanken über Moby Fit: Till macht sich mittlerweile immer darüber lustig.
»Na, wie war’s heute mit den Fettis?«
Fettis! Also bitte! Gut, hundertzweiundzwanzig Kilo auf hundertvierzig Zentimeter, das ist schon moppelig. Adipös halt. Aber Fettis, das ist gemein. Übergewicht bei Jugendlichen ist ein großes Problem. Viele unserer Moby Dickies leiden schon unter Folgeerkrankungen wie Altersdiabetes, erhöhten Blutfettwerten, Bluthochdruck, Arterienverkalkung oder Gicht. Die Gelenke sind überlastet, die Gefahr eines Herzinfarktes hoch, die Lebenserwartung gesenkt und die Kosten für das Gesundheitssystem immens. Weil das sogar die Krankenkassen eingesehen haben, unterstützen sie die Adipositas-Schulungsprogramme. Dumm nur, dass in den aktuellen Gruppen im letzten halben Jahr kein einziger Teilnehmer so richtig abgenommen hat.
»Guten Morgen, Frau Plüm«, unterbricht Frau Goldstein meine leicht deprimierende Grübelei, »hier sind Ihre Post und ein Kaffee.« Sie strahlt wie immer.
»Vielen Dank.«
Ich klemme mir die Post unter den Arm und öffne, in der einen Hand den Kaffee, in der anderen meine Tasche, vorsichtig die Tür zu meinem bzw. unserem Büro. Dort wartet eine Überraschung auf mich. Das Zimmer ist ordentlich aufgeräumt. Ich kann das gar nicht glauben und befürchte schon, mich im Raum geirrt zu haben, zumal Denner nicht da ist. Keine einzige Teetasse steht mehr herum, die Oma-Pflanzen sind verschwunden, man kann die Platte von Denners Schreibtisch sehen, und die Aktenstapel sind geschrumpft und stehen auf einem Rollwagen. Auf meinem Schreibtisch liegt eine Packung Jelly Beans. Ratlos nehme ich sie in die Hand und drehe sie hin und her. Was soll das? Wer hat die dahin gelegt? Es ist die gleiche Sorte, mit der Denner mich bei meinem peinlichen Chaoseinkauf erwischt hat. Frau Goldstein kommt herein und bringt mir ein paar Schokokekse.
»Die sind von Dr. Denner«, erklärt sie mit einem Blick auf die Jelly Beans. »Das ist seine Art, sich zu entschuldigen. Auch wenn er seine Eigenheiten hat, im Grunde ist er doch ein wirklich netter Kerl.«
»Entschuldigen wofür?«
»Nun, ich denke für die Unordnung hier und dafür, dass er Ihnen gegenüber zu Beginn etwas skeptisch war und Sie in letzter Zeit zum Hospitieren verdonnert hat.«
»Und dass das nicht die feine englische Art war, ist ihm einfach so von selbst aufgegangen?«
»Natürlich«, sie zwinkert mir verschwörerisch zu, »hier ist übrigens die Liste mit den Patienten, die heute für Ihre Ambulanz anstehen.«
Ich werfe einen flüchtigen Blick darauf. Zwölf kleine Mobys warten darauf, gewogen zu werden und mir zu erzählen, wie ihre Woche so war. Einige müssen danach zu Denner, dann zur Ernährungsberatung, dann wird gesportet, und schließlich kochen sie alle zusammen. Ich mag diese Sprechstunde. Erwachsene sind ab einem Body-Mass-Index über fünfundzwanzig übergewichtig, ab einem Index von dreißig richtig fettleibig. Bei Kindern gibt es dafür altersabhängige Normwerte. Mein Body-Mass-Index beträgt seit Jahren genau zweiundzwanzig. Das ist super. Trotzdem habe ich dank unzureichender sportlicher Aktivität, schlechter Veranlagung, was mein Bindegewebe betrifft, und häufigen Konsums von Süßigkeiten, Chips und anderem Junk-Food meine Problemzonen. Im Vergleich zu dem, was mich gleich erwartet, bin ich jedoch eine asketisch lebende Heilige. Ich sag’s ja, ich mag diese Sprechstunde. Sie tut mir gut!
Kevins Mutter, mit einem geschätzten Body-Mass-Index von weit über vierzig, zieht sich in der Wartezone innerhalb von fünf Minuten drei Snickers rein. Ihre einleuchtende Erklärung für das Übergewicht ihres Sohnes: »Dat sin de Drüsen.«
Schon klar.
Pascal kommt, noch mit der leeren Burger-Tüte und einer Super-Size-Cola in den Händen, in die Sprechstunde.
»Nee, ist nicht meins. Gehört ’nem Kumpel. Ich esse nur Salat, gedämpftes Gemüse und Pute und so.«
Sicher. Gewichtsstillstand auf der Waage. Wenigstens hat er nicht weiter zugenommen. So geht es in einem fort. Im Grunde sind wir momentan froh, wenn unsere kleinen Mobys nicht noch schwerer werden. Was nützt die beste Schulung, wenn der Patient eigentlich keine Lust dazu hat und das Umfeld, vor allem die Familie, ihn nicht ernsthaft unterstützt?
In der Mittagspause kommt Vera mit Kaffee und Brötchen vorbei. Weil das Wetter so schön ist, gehen wir in den Park und setzen uns dort auf eine Bank. Vera wirkt etwas bedrückt.
»Was ist los? Hast du Stress auf deiner Station?«
»Nee, das nicht. Eigentlich muss ich ja heute erst zum Spätdienst kommen, aber ich habe noch so viele Arztbriefe zu schreiben. Jetzt wühle ich mich seit heute Morgen um acht durch die Akten, um wenigstens die eiligsten Briefe irgendwie mal zu bearbeiten.«
»Dann bist du ja bis spätabends in der Klinik. Das kann’s ja auch nicht sein.«
»Ja, aber die Briefe sind wichtig. Wenn ich die nicht rausschicke, weiß kein Mensch, was ich mit den Patienten gemacht habe. Das Problem ist, dass zwei Sekretärinnen aus dem Schreibbüro krank sind. Jetzt muss ich die Briefe alle selber tippen.«
»Oje, mit Zweifinger-Suchsystem dauert das natürlich Stunden.«
»Aber das ist nicht das Einzige, was mich nervt.«
»Was ist denn los?«
Vera atmet tief durch.
»Ach, ich wollte dir schon die ganze Zeit davon erzählen, weiß aber nicht so ganz, wie ich damit anfangen soll.« Sie kaut nervös auf ihrer Unterlippe.
»Was? Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst.«
»Ja schon, aber ich musste erst mal selbst drüber nachdenken, und jetzt habe ich fast schon Angst, dass du sauer bist, weil ich es dir nicht eher gesagt habe. Aber es kam auch so überraschend.«
Na, wenn sie sich deshalb so sehr quält, kann ich mich darüber ja gar nicht mehr aufregen. Es sei denn …
»Okay. Das Einzige, was mich ehrlich gesagt extrem aufregen würde, wäre, wenn du mir jetzt gestehst, mit meinem Ex im Bett gewesen zu sein, was du nie tun würdest, oder mit …«
»… mit Till.«
»Mit Till? Nee, das würde mich eher schocken. Das wäre auch echt zu abgefahren. Ich meine, du und Till, ihr kennt euch schon ewig und liegt euch bei jeder Gelegenheit in den Haaren.«
Vera schaut angestrengt auf ihre Schuhe.
»Das war kein Scherz. Ich war wirklich mit Till im Bett.«
»Oh.«
Vera malt mit ihrer rechten Schuhspitze wirklich spannende Kringel in den Kiesweg. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich weiß noch nicht mal, was ich davon halten soll. In meinem Gehirn breitet sich ein ratloses Vakuum aus. Krass! Meine beste Freundin war mit meinem besten Freund im Bett! Vera beobachtet mich von der Seite.
»Und, bist du jetzt sauer?«
»Ich bin … überrascht.«
»Das war ich auch.«
Meine beste Freundin, Verfechterin der Frauenrechte, war mit meinem besten Freund, einem Super-Macho, im Bett.
»O Mann.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Hey, ich war an der Aktion nicht beteiligt. Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen?«
»Ist halt passiert.«
»Wie, ist halt passiert? Wann? Wo? Wieso?«
»An dem Abend, an dem du aus Sylt wiedergekommen bist. Wir sind doch noch zusammen weitergezogen, nachdem ihr alle gegangen seid. Da ist es halt passiert.«
»Da lässt man euch einmal allein. Jetzt sag bitte nicht, auf der Toilette in der Disko.«
»Nein. Bei Till zu Hause.«
»Du hast dich in Tills Sex-Paradies von ihm vernaschen lassen? Hat er dir was ins Glas getan, oder was?«
»Jetzt spiel hier mal nicht den Moralapostel. Es ist halt passiert und gut ist. Du hast kein Recht, über mich zu urteilen.«
»Das will ich auch gar nicht. Ich glaube, ich habe eher Angst um unser aller Freundschaft. Wie soll das denn jetzt weitergehen?«
Vera verdreht die Augen.
»Mach dir nicht ständig so viele Sorgen. Nicht jeder ist so hyper-romantisch veranlagt wie du und wittert hinter ein bisschen Sex gleich die große Liebe. Es war nur eine Nacht, mehr nicht … Okay, es war eine tolle Nacht. Ich hätte nie gedacht, dass Till so ein einfühlsamer Liebhaber ist.«
»Echt jetzt?«
»Ja, aber es war eben nur eine Nacht. Nichts weiter. Till und ich sind erwachsen und können damit umgehen.«
Na hoffentlich. Ich möchte mich nicht zwischen meinen besten Freunden zerteilen müssen, nur weil die ihre Hormone nicht im Griff haben.
Am späten Nachmittag treffe ich mich wie immer mit Denner zur Nachbesprechung im Büro. Der wühlt in seinen Aktenstapeln. »Hallo, Anna, hast du die Akten M. K. und T. P. gesehen? Ich verstehe das nicht. Ich kann sie einfach nicht finden. Wo sind die bloß?«
Bei mir macht sich ein leises schlechtes Gewissen breit. Wenn Denner etwas kann, dann Akten in seinem undurchschaubaren Ablagesystem finden. Vermutlich sucht er jetzt die, die ich einfach querbeet irgendwo reingestopft habe. Dazu sage ich lieber nichts, sondern hole mir schnell noch einen Kaffee.
Eine halbe Stunde später hat er die Akten gefunden, und wir können mit der Besprechung beginnen.
»Anna, ich möchte dir noch etwas Wichtiges sagen. Ich bin darin nicht so gut, aber … Also, ich versuche gerade, mich bei dir zu entschuldigen. Ich habe dir wohl in einigen Punkten unrecht getan. Frau Goldstein hat bemerkt, dass uns eine straffere Arbeitsorganisation ganz guttäte, und ich glaube, sie hat recht. Was hältst du davon, wenn wir die sehr komplexen Patienten gesondert besprechen und du mir die anderen mit einer kurzen Notiz weiterleitest?«
Frau Goldstein, die gute Seele, ist also für diesen Wandel hier verantwortlich.
»Das klingt gut.«
»Fein, dann hätten wir das ja geklärt.«
Denner atmet tief durch. Er wirkt erleichtert.
»Gut, das ist geklärt. Wie kommst du denn mit der Auswertung der Patienten für deinen Vortrag für das Science Training voran?«
»Damit wollte ich heute anfangen. Ich habe ja noch ein paar Tage Zeit, um den Entwurf zu schreiben.«
Denner hebt eine Augenbraue.
»Na, wenn du meinst, dass das reicht.«
»Klar. Die Akten habe ich mir schon alle besorgt. Ich setze mich gleich dran.«
»Gut. Ich bin noch eine Weile hier. Ich muss ein paar Berichte fertig schreiben. Frag einfach, wenn du etwas brauchst.«
Wir setzen uns an unsere Schreibtische und fangen an zu arbeiten. Doch irgendetwas ist heute komisch. Es ist so ruhig. Ich werfe einen verstohlenen Blick nach hinten und kann mir kaum das Lachen verkneifen. Nils hat sich selbst ein Handtuch unter seine rechte Hand gelegt und trommelt leise darauf herum. Von meinem unterdrückten Kichern aufgeschreckt, dreht er sich um.
»Ist was?«
»Nö, alles gut.«
Ich wende mich wieder meinen Akten zu. Zwei Stunden später bin ich massiv frustriert. Die Ergebnisse meiner Recherche gefallen mir gar nicht. Das darf doch alles nicht wahr sein.
Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen und seufze tief. »So schlimm?«
Nils steht neben mir und hat eine Hand auf meine Schulter gelegt. Ich nicke.
»Lass mal sehen. So furchtbar kann es doch nicht sein.«
»Doch«, ich setze mich wieder auf und zeige Nils meine Ergebnisse. »Das ist eine einzige Katastrophe. Viel zu wenige Patienten nehmen ab, wir haben zu viele, die das Programm abbrechen und eine lückenhafte Datenerfassung. Ich weiß gar nicht, wie ich dieses Desaster auswerten soll.«
»Geh doch noch die vorherigen Jahrgänge durch. Vielleicht ergibt sich dann ein klareres Bild.«
»Dafür bleibt mir keine Zeit mehr. Ich weiß einfach nicht, wie das gehen soll! Am besten sage ich das Training ab.«
Ich bin geliefert. Das Thema für meinen Vortrag soll lauten: Einfluss eines Adipositas-Schulungsprogrammes auf die Gewichtsentwicklung im Jugendalter. Aber, wie schon gesagt, darauf haben wir, so hat es jedenfalls den Anschein, gar keinen so großen Einfluss.
»Mach dir keine Sorgen. Du bist doch sonst eine Kämpfernatur. Das schaffst du schon.«
»Ich kann mir ja keine Ergebnisse aus der Nase ziehen.«
»Das sollst du ja auch gar nicht. Wann genau ist Abgabeschluss für den Vortrag?«
»In drei Tagen.«
»Das ist wirklich nicht viel Zeit. Aber unter Druck arbeitet es sich ja bekanntlich am besten. Wenn du magst, helfe ich dir. Ich habe solche Auswertungen schon öfter gemacht, man kann das sicher noch retten.«
Ich kann es gar nicht fassen, dass Nils so nett sein kann! Caro hatte wohl doch recht damit, dass wir einfach einen schlechten Start hatten. Gegen neunzehn Uhr ist Nils mit einer Kiste voller Akten und Fachzeitschriften unter dem Arm bei mir zu Hause aufgelaufen, und wir haben es innerhalb von knapp drei Stunden geschafft, die Daten so auszuwerten, dass man daraus einen annehmbaren Vortrag zusammenstellen kann. Da die Ergebnisse tatsächlich nicht so berauschend sind, haben wir uns auf Verbesserungsvorschläge konzentriert. Auch aus negativen Ergebnissen kann man schließlich einen Nutzen ziehen. Der Entwurf für den Vortrag ist so gut wie fertig. Ich muss ihn nur noch einmal in Ruhe auf Rechtschreibfehler überprüfen.
Sehr zufrieden mit unserer Arbeit sitzen wir auf meinem Sofa und trinken zum Abschluss noch ein Glas Rotwein.
»Wie ich sehe, hattest du inzwischen Zeit, dir eine neue Brille zu besorgen. Steht dir wirklich gut«, bemerkt Nils mit einem Blick auf meine hellblaue Brille.
»Ehrlich gesagt, ist das meine alte Ersatzbrille. Du hattest schon recht. Ich habe im Moment einfach keine Lust, zu diesem blöden Optiker zu gehen, auch wenn er der Beste ist.«
»Das hat man gemerkt. Du bist ja ganz schön in die Luft gegangen, als ich dich darauf angesprochen habe.«
»Das ist ja wohl normal. Das war ganz schön fies von dir. Es ist wirklich unangenehm, von Fremden auf solche persönlichen Dinge angesprochen zu werden.«
»Ich bin also ein Fremder für dich?« Nils lächelt amüsiert.
»Na, teilweise schon. Wir sind schließlich Kollegen und keine besten Freunde. Außerdem scheinst du jedenfalls wesentlich mehr über mich zu wissen als ich über dich.«
»Und deshalb bin ich als Nur-Kollege ein Fremder?«
»Hab ich doch gesagt, teilweise. Es herrscht einfach ein ungleiches Verhältnis.«
»Weil Wissen angeblich Macht bedeutet? Oder worauf willst du hinaus?«
»Nein, weil es mich interessieren würde, was du in deinem Leben außerhalb der Arbeit so machst.«
»Wo soll ich da anfangen? Bei meiner Zeugung oder meiner Geburt?«
»Ich meine nicht deine ganze Lebensgeschichte, sondern dein jetziges Leben. Du weißt immerhin schon eine ganze Menge über mich. Da könntest du ruhig ein wenig von dir preisgeben.«
»Ach Anna, so spannend ist das alles gar nicht. Ich arbeite viel. Was ich da mache, weißt du ja. Und in meiner Freizeit treffe ich mich mit meinen Freunden zum Fußballspielen oder auf ein Bierchen oder gehe mit ihnen ins Kino. Nichts Besonderes.«
Ich bin fest davon überzeugt, dass gerade die Menschen, die von sich behaupten, nichts Besonderes zu machen, noch irgendetwas zu bieten haben. Eine Frau scheint es in seinem Leben jedenfalls nicht zu geben.
»Sag mal, was sind das eigentlich für Ratgeber? Hast du die ernsthaft alle gelesen?« Nils mustert mein Bücherregal. Oh, Mist. Ich hätte die Dinger in Anbetracht eines Psychologenhausbesuches im Schlafzimmer verstecken sollen. »Ach die. Tja, die haben mir wohlmeinende Freunde und Bekannte geschenkt.«
»Und sind sie hilfreich?«
»Keine Ahnung. Ich habe mich nicht so richtig damit beschäftigt.«
»Dafür kleben aber ganz schön viele Post-its in den Büchern.«
Psychologen können echt penetrant sein.
»Na, reingeschaut habe ich schon. Aber eigentlich wollte ich die Dinger schon längst entsorgen.«
»Und, was hält dich davon ab?«
»Schlechtes Gewissen. Es sind ja schließlich Geschenke.«
Darüber, dass ich mir die Ratgeber zu achtundneunzig Prozent selbst gekauft und sie natürlich akribisch durchgelesen habe, erwähne ich lieber kein Wort. Gerade hatte ich das Gefühl, zu Nils ein normales Verhältnis aufbauen zu können. Jetzt hält er mich bestimmt für eine labile Persönlichkeit.
»Das brave wohlerzogene Mädchen in dir verbietet dir also, dich von Sachen zu trennen, die du nicht haben möchtest?«
»Ein wenig vielleicht. Wirfst du immer alle schrecklichen Geschenke weg?«
»Ehrlich gesagt, nein. Nicht alle. Kommt darauf an, von wem das Geschenk ist.«
»Na, siehst du.«
»Aber jetzt mal ehrlich. Du brauchst solche Ratgeber nicht. Das hast du doch nicht nötig. Also musst du auch gar kein schlechtes Gewissen haben, wenn du sie weggibst.«
Das schmeichelt mir natürlich, und ich spüre zu meinem Ärger, dass sich meine Wangen mal wieder verdächtig röten.
Nils beobachtet mich: »Wie du mit der Baby-Krise bei Ralf und Caro umgegangen bist, war übrigens toll. Das hast du super gemacht.«
Mist. Mein Gesicht wird immer heißer.
»Ach, das war doch halb so wild.«
»Doch, das war klasse. Ich muss zugeben, für eine oberflächliche arrogante Mediziner-Tussi hast du einen erstaunlich sensiblen Kern.«
»Was soll das denn schon wieder heißen?«
Ich muss schleunigst meine Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle bringen. Nils schmunzelt.
»Das soll heißen, dass ich mich in meinem ersten Urteil über dich anscheinend gehörig getäuscht habe. Ich bin positiv überrascht.«
»Ist das deine Art, dich dafür zu entschuldigen, dass du mich bei unserem ersten Zusammentreffen so übel beschimpft hast?«
»Vielleicht.«
»Mir tut’s auch leid, dass unsere erste Begegnung gleich so verlaufen ist und ich so patzig war. Aber du warst auch echt fies, und außerdem kam ich gerade aus dem Nachtdienst.«
»Kannst du eigentlich eine Entschuldigung von dir geben, ohne sie gleich durch ein Aber einzuschränken?«
»Klar, ab… in diesem Fall nicht.«
Wir müssen beide lachen. Nils stellt sein leeres Glas ab. »Der Wein ist wirklich hervorragend.«
»Echt? Findest du? Ist mein Lieblingswein. Ich kaufe ihn immer in dem kleinen Weinladen an der Ecke.«
»Das ist ja witzig. Da gehe ich auch immer hin. Ist der netteste Weinhändler, den ich kenne.«
»Möchtest du noch einen Schluck?«
Ich greife nach der Flasche. Nils winkt ab.
»Vielen Dank, aber ich muss langsam mal los. Meine Unterlagen kannst du gerne noch eine Weile behalten.«
Ich bringe Nils zur Tür.
»Vielen Dank für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich den Vortrag nicht hinbekommen.«
»Natürlich hättest du das. Danke für den schönen Abend.«
Nils beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf die rechte Wange und dann einen halb auf die linke Wange und halb auf meinen Mund. Seine Lippen fühlen sich ganz weich und warm an und scheinen ewig auf meinen zu verweilen. Dann dreht er sich um und geht ohne ein weiteres Wort.
O mein Gott!! Was gibt es bitte schön Peinlicheres als ein verrutschtes Bussibussi? Nichts! Gar nichts! Noch dazu von einem Arbeitskollegen. Langsam löse ich mich aus meiner Schockstarre und gerate in Panik. War das meine Schuld? Vielleicht hätte ich den Kopf mehr zur Seite drehen müssen, ich Dummkopf. Tief durchatmen. Jetzt mal ganz rational gesehen: Wir sind erwachsene Menschen, und so etwas kann schon mal passieren. Das ist doch kein Beinbruch, oder?
Um mich abzureagieren, mache ich mich tatsächlich daran, meine Sammlung an Ratgebern auszumisten. Das wird mein nächster Schritt in Richtung selbstbewusst und Erwachsenwerden. Diätratgeber, Ernährungsratgeber, Fitnessratgeber, Besser-Leben-Ratgeber, Harmonischer-Leben-Ratgeber, Positiv-Denken-Ratgeber, So-finden-Sie-den-Mann-fürs-Leben-Ratgeber und Beziehungsratgeber landen in einem alten Umzugskarton. Den Frauen-Karriereratgeber behalte ich. Der ist eindeutig wichtig, da wir alle keinen richtigen Mentor haben, der uns beruflich Tipps geben kann.
Da morgen Sperrmüll abgeholt wird, schleppe ich den schweren Karton mit den Ratgebern nach unten und gehe noch schnell in den Keller, um Felix’ Überbleibsel auf die Straße zu stellen und aus meinem Leben zu schaffen. Als ich mit der letzten Kiste aus dem Keller komme, bemerke ich an meinem Fahrrad im Kellervorraum einen Zettel:
Ihr Fahrad muss hier weg.
Wenn ich mein Rad nicht oben abstelle
dann ist das hier mein Platz!!!
Frau Beier
Die spinnt ja wohl total! Dieses alte Biest! Mit der Rechtschreibung hat sie’s auch nicht gerade. Was glaubt sie, wer sie ist? Die allmächtige Herrscherin über dieses Haus? Ich stelle mein Fahrrad wieder zurück in die Nische im Hausflur. Wenn Frau Beier Krieg will, dann kann sie den locker haben.
Nach diesem anstrengenden Tag mit seinen ärgerlichen und verwirrenden Ereignissen gehe ich hundemüde ins Bett. Und kann nicht einschlafen. Wie soll ich Nils bloß jemals wieder in die Augen schauen, ohne Schnappatmung und hektische Flecken zu bekommen? Ich rufe Vera an.
»Hmm. Was ’n los?«, begrüßt sie mich verschlafen.
»Oh, tut mir leid. Habe ich dich geweckt?« Blöde Frage.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Ich habe morgen Frühdienst.«
»Ich auch. Aber ich brauche dringend deinen Rat.«
»Was ’n passiert?«
Vera klingt alles andere als interessiert.
»Nils war heute Abend bei mir und hat mir bei dem Vortrag geholfen.«
»Ist doch nett von ihm.«
»Ja, das ist auch nicht das Problem. Also, eigentlich verlief der Abend ganz gut, aber dann, als er gegangen ist, hat er mich aus Versehen geküsst.«
»Was meinst du mit aus Versehen geküsst? Entweder küsst man jemanden oder nicht.«
»Na ja, er hat mir ein Küsschen rechts und dann eins halb auf die linke Wange und halb auf den Mund gegeben. Eigentlich so zu achtzig Prozent auf den Mund, wenn ich genauer darüber nachdenke.«
»Und, war es schön?«
»Spinnst du? Ich spreche hier von Nervtöt-Mister Pullunder-Denner. Außerdem küsse ich keine Kollegen.«
»Warum nicht?«
»Das ist ’ne ernste Sache. Ich stehe immer noch unter Schock. Mein ganzer Körper fühlt sich an wie elektrisiert, wenn ich nur daran denke.«
»Also war es gut, ja?«
»War es nicht.«
»Ist doch ganz süß, dein Pullunderträger. Was ist denn jetzt das Problem?«
»Dass ich weiter mit ihm zusammenarbeiten muss? Außerdem war dieser halbe Kuss bestimmt nur ein Versehen.«
»Klar, wer’s glaubt … Mach doch mal die Augen auf. Versehen! Dass ich nicht lache!«
»Natürlich war es das. Hoffentlich. Es ist nur so … so schrecklich peinlich.«
»Na, wenn du meinst. Dann ist doch alles in Ordnung. Du hast schon peinlichere Sachen erlebt. Du, sei mir nicht böse, aber …«
»Schon gut, gute Nacht.«
Dieses Gespräch hat mir überhaupt nicht weitergeholfen. Vera muss sich irren! Nils würde mich doch niemals absichtlich … Oder doch? Das darf einfach nicht sein! Vielleicht hat mein Frauen-Karriereratgeber eine Lösung für so eine verzwickte Situation? Ich schaue gleich mal nach. Hat er natürlich nicht! Ich werde mich wohl auf einen anderen Tipp konzentrieren müssen. Das lenkt mich bestimmt ab. Mein neues Erfolgsziel für morgen: Frauen neigen dazu, zu viel zu arbeiten. Gönnen Sie sich eine Pause! Das klingt gar nicht so schwierig.