Kapitel 21
Während einer unruhigen Nacht, in der ich kaum ein Auge zugetan habe, habe ich immerhin zwei Entschlüsse gefasst. Erstens: Ich werde ab sofort immer so mutig wie im Überstundengespräch sein und für mich selbst eintreten. Das Gespräch mit Professor Astrup war nur der Anfang.
Zweitens: Ich werde mich ganz rasch von Nils entlieben und frei und bereit für jemand anderen sein. Jemanden, der mir guttut. Arne macht zum Beispiel einen netten Eindruck. Er hat mir immerhin das Leben gerettet.
Da ich mich sowieso nur in meinem Bett hin und her gewälzt habe, bin ich früh aufgestanden und zur Arbeit gefahren. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass Streber-Katharina auch schon da war und an Denners Schreibtisch arbeitete.
Nun sitze ich vor meinem Computer und notiere mir, während der mal wieder eines seiner stundenlangen Updates fährt, Stichpunkte für meinen neuen Lebensplan. Frau Goldstein, die auch immer früh auf den Beinen ist, kommt mit zwei Tassen Kaffee herein und stellt sie uns auf den Schreibtisch.
»Ist der PC immer noch nicht fertig?«, erkundigt sie sich.
»Kann noch eine Weile dauern. Die IT sagte gestern, sie können nichts machen.«
»Ich habe Ihnen schon mal die Liste mit den Ambulanzpatienten für heute ausgedruckt. Der Erste wartet bereits vor der Tür.
Ich werfe einen Blick auf die Liste. Der erste Patient ist Connor mit der vorlauten kleinen Schwester. Das ist ja schön, dass er den Weg zu uns gefunden hat. Anschließend folgen noch sechsunddreißig weitere Patienten.
»Vielen Dank für den Kaffee. Das wird ja heute ein straffes Programm«, merke ich an und greife nach der Tasse.
»Ja, aber zum Glück ist Herr Denner ab heute wieder bei uns. Ach, da ist er ja schon.«
Katharina springt so heftig auf, dass ihr Schreibtischstuhl fast umkippt und fällt Nils, der gerade unser Büro betritt, völlig distanzlos um den Hals.
»O Nils, schön, dass du wieder da bist.«
Nils sucht über Katharinas Schulter hinweg meinen Blick. Mir fällt vor Schreck fast die Kaffeetasse aus der Hand. Eine kleine Kaffeepfütze ergießt sich über die schöne neue Ambulanzliste. Mit zitternden Händen suche ich in meinen Schreibtischschubladen nach einem Taschentuch. Mit Nils habe ich nicht gerechnet. Darauf bin ich nicht vorbereitet.
»Hier, bitte«, er hält mir ein altes, zerfleddertes, aber immerhin unbenutztes Taschentuch hin. Ich nehme es, ohne ihn dabei anzusehen, und tupfe umständlich den Kaffee vom Papier.
»Und wie lief es so während meiner Abwesenheit?«, möchte Nils wissen und bleibt hartnäckig neben mir stehen.
»Alles super. Viel zu tun heute«, versuche ich ihn abzuwimmeln.
»Ich habe, während du fort warst, die ganze Auswertung deiner Gesprächsprotokolle gemacht und total interessante Dinge herausgefunden«, mischt sich Katharina ein.
Nils dreht sich sichtlich unwillig zu ihr um: »Danke, hast du auch schon die alten Protokolle von neunundneunzig erfasst?«
Katharina wirkt verwirrt: »Nein, ich dachte, ich soll alles ab zweitausendeins auswerten.«
»Wir brauchen doch noch die ganz alten Berichte. Bist du so lieb und holst sie aus dem Archiv?«
Katharina flitzt los. Da Frau Goldstein wieder an ihren Schreibtisch verschwunden ist, sind Nils und ich jetzt allein. Ich stehe auf und versuche, mich an Nils vorbeizuzwängen. Er legt mir die Hand auf die Schulter und fragt kühl: »Kann ich kurz mit dir reden?«
»Du, das ist jetzt ganz schlecht. Der erste Patient sitzt schon draußen.«
Verzweifelt versuche ich Nils’ eisigem Blick auszuweichen.
»Setz dich kurz. Der Patient kann warten.«
Seine Hand drückt mich unbarmherzig in Richtung meines Stuhls. Ich gebe auf und setze mich. Nils nimmt ebenfalls Platz und beobachtet mich. Nach schier endlos langen Minuten atmet er tief durch und sagt: »Das, was zwischen uns passiert ist …«
Ich springe auf. »Was passiert ist, ist passiert«, falle ich ihm ins Wort, »du musst mir nichts erklären. Ich denke, die Sache ist eindeutig, und ich habe keine Lust, das jetzt auszudiskutieren.«
Nils stellt sich mir in den Weg: »Das hätte ich mir ja denken können, dass du lieber so tust, als wäre nichts gewesen.«
»Sei doch froh, dass es so ist.«
»Du bist echt die oberflächlichste Tussi, der ich je begegnet bin. Wie konnte ich nur so blöd sein, mich von dir täuschen zu lassen.«
»Ich bin oberflächlich?«
»Du bist genau wie all die anderen, die glauben, sie können sich einfach alles nehmen, was sie wollen, und dann wieder wegwerfen.«
»Na, das sagt der Richtige!«
»Ich wusste doch gleich, wie du tickst, als du mich beim Online-Dating einfach weggeklickt hast, so wie du es wahrscheinlich mit so vielen anderen auch getan hast. Du hattest nicht mal den Anstand zu antworten.«
»Wozu auch? Ich kannte dich gar nicht. Wie kommst du eigentlich dazu, mir Vorwürfe zu machen? Du hast mich unter Drogen gesetzt und wer weiß was mit mir angestellt, falls du dich daran erinnern solltest. Und dann bist du einfach so auf nimmer Wiedersehen verschwunden. Also mach jetzt bloß nicht einen auf verletztes Seelchen. Steh doch einfach zu dem Mist, den du gebaut hast.«
Für eine Sekunde wirkt Nils verwirrt, und ich schiebe mich an ihm vorbei aus dem Zimmer.
»Ich habe dich nicht unter Drogen gesetzt. Du hast den Muskelentspanner freiwillig genommen«, ruft er mir hinterher. Ich bleibe in der Tür stehen und drehe mich um.
»Das ist ja wohl das Allerletzte! Du hast meine Notsituation ausgenutzt. Wenn hier jemand jemanden benutzt hat, dann du mich. Ich bin nicht einfach abgehauen. Das warst du.«
Wütend rausche ich aus dem Büro, knalle Nils die Tür vor der Nase zu und gehe an der verdutzten Frau Goldstein vorbei in mein Ambulanzzimmer, um es für den ersten Patienten vorzubereiten. Nach zwei Minuten kommt Nils rein. Der soll bloß das Weite suchen.
»Geh weg und lass mich in Ruhe!«
»Ich habe gar nichts ausgenutzt, oder willst du jetzt auch noch behaupten, wir hätten uns unter anderen Umständen nicht geküsst?«
»Wenn ich gewusst hätte, dass du Heiratspläne mit einer anderen hast, niemals. Wie oft hintergehst du deine Freundin denn so, Mister Doppelmoral?«
»Heiratspläne? Was redest du da? Ich habe gar keine Freundin.« Nils geht einen Schritt auf mich zu.
»Bleib stehen! Und hör auf mich anzulügen. Wenn ihr eine offene Beziehung führt, ist das eure Sache. Aber halt mich da raus!«
»Wie kommst du darauf, dass ich eine Freundin habe?«
»Du hast den Hochzeits-Terminplaner im Büro liegen lassen. Ich bin nicht ganz so blöd, wie du vielleicht denkst. Eins und eins kann ich schon zusammenzählen.« Ich funkele ihn zornig an.
Nils seufzt. »O Mann, Anna. Ich bin Trauzeuge bei der Hochzeit meines besten Freundes. Deshalb der Terminplaner. Ich habe keine Freundin.«
»Na klar … Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Was hast du in meinem Bett gemacht?«
»Auf dich aufgepasst, und zwar die ganze Nacht. Ich bin so um sieben nach Hause, um zu duschen und dann in die Klinik gefahren.«
»Und dann bist du einfach so, ganz spontan, ohne eine Nachricht verschwunden. Und jetzt hast du auch noch die Frechheit, mir eine Szene zu machen und mich als oberflächliche Tussi zu beschimpfen? Du spinnst echt.«
Nils öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Ich hebe die Hand und würge ihn ab: »Lass es einfach. Spar dir irgendwelche dämlichen Ausreden. Ich muss mich jetzt um meinen Patienten kümmern.«
Nicht ohne Nils auch diese Tür vor der Nase zuzuschlagen, stapfe ich aus dem Zimmer und gehe zum Wartebereich, wo Familie Connor nun fast genauso erstaunt aus der Wäsche guckt wie Frau Goldstein.
Nils fängt mich ab: »Was heißt hier einfach so verschwunden? Ich habe dir eine Nachricht mit meiner Telefonnummer auf deinen Schreibtisch gelegt.«
»Hast du nicht.« Gott, ist der penetrant!
»Wir sind hier doch nicht im Kindergarten. Ich habe dir den Zettel extra oben auf dein kitschiges Glitzerfach gelegt.«
»Wann war das?«
»Na, so um acht. Dann musste ich ja gleich wieder los.«
»Das kitschige Glitzerfach, wie du es nennst, ist der Datenmüll. Deshalb steht auch Datenmüll drauf! Den leert die Putzfrau um neun.«
»Wir haben eine Putzfrau, die den Datenmüll leert?«
»Meinen Datenmüll. Deinen Tisch rührt sie nicht an.«
Nils wirkt erleichtert. »O Anna. Bitte … Es tut mir so leid … Dann wusstest du ja gar nicht … O Mann. Ich habe mich schon gewundert, warum du dich nicht meldest, aber dann dachte ich, du hast einfach kein Interesse. Das erklärt natürlich alles.«
»Nils, ich verstehe kein Wort.«
»Meine Schwester hat ihr drittes Kind bekommen, und weil ihr Mann für einige Monate im Ausland arbeitet und nur an den Wochenenden hier sein kann, hatte ich ihr versprochen, auf die beiden anderen Kinder aufzupassen, während sie im Krankenhaus ist. Als ich in die Klinik gefahren bin, bekam sie Wehen und rief mich an. Ich musste gleich los. Nachdem ich nichts von dir gehört habe, dachte ich, es hat dir einfach nichts bedeutet …«
Am liebsten würde ich sagen: Na und?
Nils sieht mich erwartungsvoll an. Ich bin gleichzeitig verblüfft und verwirrt.
»Anna, es tut mir leid.«
»Schon gut. Vielleicht soll es einfach so sein.«
»Was meinst du damit?«
»Das es wohl einfach so sein soll, dass du und ich Kollegen sind und nichts weiter. Ich muss mich jetzt endlich um meinen Patienten kümmern.«
Ich gehe auf Connors Familie zu.
»Hallo, Connor, schön, dich hier zu sehen«, begrüße ich ihn.
»Anna, warte mal. Wir müssen das klären.« Nils lässt sich einfach nicht abhängen und zieht mich ein paar Meter zur Seite. »Ich glaube dir kein Wort.«
»Was?« Irritiert blicke ich zum ersten Mal seit langem in die braunen Rehaugen.
»Das, was du eben gesagt hast. Ich kauf dir das nicht ab.«
»Herr Denner, jetzt nicht«, versuche ich ihn möglichst professionell zur Raison zu bringen, »ich bin gerade beschäftigt. Können wir das später …«
Nils ignoriert meinen Protest, zieht mich einfach an sich und küsst mich. Seine Arme schlingt er dabei so eng um mich, dass ich für einen kurzen Moment Angst habe, zerquetscht zu werden.
»Siehst du, Mama, ich hab doch gesagt, dass er sie liebt«, höre ich Charlenes piepsige Stimme.
»Charlene. Der Finger. Zeig nicht immer auf andere Leute … Und mach den Mund wieder zu«, weist ihre Mutter sie flüsternd zurecht.
»Bah, ist das eklig«, kommentiert Connor die Szene.
»Halt die Klappe, Connor!«, piepst Charlene.
Charlenes Kommentar ist das Letzte, was ich von meiner Umwelt bei halbwegs klarem Verstand wahrnehme. Meine Beine verwandeln sich in Wackelpudding, und in meinem Magen flattern mindestens tausend Schmetterlinge auf Speed herum. Ich geb’s zu, ich hatte mich noch kein bisschen entliebt. Nils lächelt mich sichtlich erleichtert an. Sein rechter Mundwinkel zuckt fast unmerklich. Das sieht irgendwie süß aus!
Verstohlen sehe ich mich um: Da stehen wir nun, Nils und ich, mitten in der Klinik. Charlenes Mund ist immer noch weit offen, Connor gibt demonstrativ Würgelaute von sich, Frau Goldstein stützt zufrieden lächelnd ihren Kopf auf die Hände, und mein Gehirn stellt jeglichen Dienst ein. Nach den finalen Fragen: »Anna, was tust du hier? Bist du völlig bekloppt?«, fährt es sich endgültig runter. Erstaunlicherweise macht mir das gar keine Angst. Es fühlt sich sogar gut an. So leicht. Meine Zurechnungsfähigkeit liegt objektiv gesehen unter null. Ich komme mir vor wie die Hauptdarstellerin in einer TV-Schnulze. Es fehlen nur noch die brandungsumtosten Klippen.
Nils löst sich von mir und flüstert mir ins Ohr: »Was hältst du davon, wenn wir heute so früh wie möglich Feierabend machen und den Nachmittag zusammen am See verbringen?« Ich bin zu allem bereit.