Kapitel 18
Während ich unter der Dusche versuche, langsam wach zu werden, klingelt es an der Tür. Es ist zehn Uhr morgens, das muss die Post sein. Frau Beier macht bestimmt schon auf. Ich bin so froh, dass ich heute Spätdienst habe und, nachdem ich mit Vera noch lange auf meiner Terrasse gesessen habe, ausschlafen konnte. Till ist auch wieder nüchtern. Es klingelt wieder, diesmal an der Wohnungstür. Vielleicht hat der Briefträger heute ein Paket für mich.
»Soll ich aufmachen?«, ruft Till aus dem Wohnzimmer.
»Nein, ich geh schon. Du kannst jetzt ins Bad.« Ich trockne mich flüchtig ab und binde mir ein Handtuch um. Das muss reichen. In der Tür steht allerdings nicht der Briefträger, sondern Nils. Ich glaube, ich habe Halluzinationen. Aber es ist tatsächlich Nils mit einer Brötchentüte und zwei Kaffeepappbechern in den Händen. »Nils?«
»Guten Morgen. Tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Ich hätte ja vorher angerufen, aber ich hatte deine Nummer nicht. Einer meiner Ambulanzpatienten hat kurzfristig abgesagt, und da dachte ich, wir trinken vielleicht einen Kaffee und reden einfach mal in Ruhe …«, druckst er herum.
Genau in diesem Moment kommt Till, nur mit einem Handtuch um die Hüften, aus dem Bad.
»Hast du noch neues Shampoo?«
Nils’ Miene verfinstert sich.
»Neues Shampoo ist im Badezimmerschränkchen … Nils, komm doch …«
Ich trete zur Seite, um Nils reinzulassen.
»Ach, hallo«, grüßt Till Nils mit einem angedeuteten Winken und verschwindet wieder im Bad.
»Weißt du, Anna, ich glaube, wir lassen das lieber. Entschuldige die Störung.«
Nils dreht sich auf dem Absatz um und stürmt die Treppe hinunter.
»Nils!«
Mist! Nur mit einem Handtuch bekleidet, kann ich ihm schlecht hinterherlaufen. »Nils! Du störst doch gar nicht«, rufe ich ihm verzweifelt hinterher.
So ein Mist. Schon klar, was er sich jetzt denkt. Oje, ich hoffe, ich kann das irgendwie mit Nils klären, sonst stehen mir harte Zeiten in der Ambulanz bevor. Vielleicht sollte ich besser gar nicht mehr hingehen.
Nachdem Till zur Arbeit gegangen ist, verbringe ich den Rest des Vormittags damit, mir Sorgen zu machen und Horrorszenarien über Nils und meine weitere Zusammenarbeit auszumalen. Gegen Mittag klingelt das Telefon mit dem penetranten Warnsignal für Anrufe aus der Klinik. Die oberste Regel für überarbeitete und ausgebeutete Assistenzärzte lautet: Geh niemals ans Telefon, wenn die Klinik anruft. Da die Personalleiter nämlich lieber Geld sparen, anstatt alle offenen Stellen zu besetzen, musst du noch mehr arbeiten, weil entweder jemand krank ist oder sie schlicht vergessen haben, dass sie die Schichten nicht mehr alle besetzen können.
Aber dann nehme ich doch den Hörer ab – vielleicht ist es ja Nils, der sich wieder beruhigt hat – oder schlimmer, mich aus der Ambulanz rauswerfen wird.
»Frau Plüm, Astrup hier.«
»Guten Tag, Professor Astrup«, grüße ich ihn überrascht und weiß sofort, dass es ein riesiger Fehler war, ans Telefon zu gehen. Wenn der schon persönlich anruft, waren alle außer mir so schlau, nicht erreichbar zu sein.
»Frau Plüm, wir haben einen kleinen Notfall. Der Kollege vom Nachtdienst ist krank geworden. Sie wissen ja, wie eng wir personaltechnisch aufgestellt sind.«
Ich kann es nicht mehr hören.
»Ja, Herr Professor, das weiß ich.«
»Ich habe mir diesbezüglich schon eine Lösung ausgedacht. Sie arbeiten ab heute einfach in Zwölf-Stunden-Schichten. Ihre Kollegin vom Frühdienst, die Frau Weber …«, also die arme Vera, »… ist so nett, bis zwanzig Uhr zu arbeiten. Sie lösen sie dann ab und arbeiten bis morgen früh. Sozusagen als verlängerte Nachtschicht. Sind Sie damit einverstanden?«
Was für eine rhetorische Frage! Als ob ich eine Wahl hätte! Vielleicht sollte ich nur zum Spaß mal nein sagen?
»Natürlich, Herr Professor.«
»Dann machen Sie’s gut. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Dienst.«
Immerhin bleibt mir so eine erneute Konfrontation mit Nils fürs Erste erspart. Ich versuche noch ein bisschen zu schlafen, um heute Nacht fit zu sein. Vor Nachtdiensten muss ich mich immer ausruhen. Das ist so eine Kopfsache. Mit weit aufgerissenen Augen und rasendem Herzschlag liege ich auf meinem Sofa und versuche krampfhaft, mich zu entspannen. Das Teufelchen in mir will aber nicht. Es will raus in den Sommer, zum See, in einen Biergarten und Spaß haben. Das Engelchen mahnt: »Nein, du musst dich ausruhen, sonst kannst du heute Nacht nicht vernünftig arbeiten.«
Mein Körper liegt völlig gestresst vor lauter Entspannungsversuchen auf dem Sofa rum.
Till rettet mich schließlich am späten Nachmittag, diesmal nüchtern, aus meinem Schlaflosigkeits-Dilemma. Er schleppt ein riesiges Paket auf meine Terrasse.
»Ich dachte, ich bedanke mich mal dafür, dass du mich hin und wieder als schnarchenden Mitbewohner erträgst.«
»Was ist das? Ein Gästebett?«
»Jetzt, wo du es sagst, wäre das bestimmt auch eine gute Idee gewesen.«
Till reißt den Karton auf. »Tataaa!« Stolz präsentiert er sein Geschenk. Es ist eine Hängematte für meine Terrasse. Eine von den bunten Stoffhängematten, die in einem Holzgestell aufgehängt werden.
»O Till, die ist wunderschön. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Danke, bester Mitbewohner der Welt, würde vorerst reichen. Die Füße kannst du mir später küssen.«
Die Hängematte ist der Kracher! Till hat sie erstaunlich schnell aufgebaut und probiert sie gleich mal selbst aus.
»Ab sofort werde ich diesen Sommer jede freie Minute hier verbringen. Ich kann die Hängematte tatsächlich als Gästebett benutzen.«
Ich setze mich in meinen Klapp-Liegestuhl und gebe zu bedenken: »Es könnte sein, dass Vera und ich dir den Platz ab und zu mal streitig machen.«
Till schaukelt munter hin und her. »Ich würde vielleicht mit euch teilen. Hier ist Platz genug für zwei. Vor allem für Vera.« Till grinst anzüglich.
»Na vielen Dank. Eines sag ich dir: Keine Sexspielchen in meiner Hängematte! Denk nicht mal dran.«
»Ist ja gut. Ich glaube auch nicht, dass sie mich ein zweites Mal ranlassen würde.«
»Na, das hast du ja liebevoll gesagt. Vielleicht wirst du dir erst mal selbst über deine Gefühle klar.«
»Gefühle!«, Till atmet schnaubend aus. »Echte Männer brauchen keine Gefühle.« Ach so!
»Na, falls du doch mal welche entdecken solltest, klärst du das am besten mit der, die es betrifft.«
Till schaukelt weiter. »Hat sich dein Weichei-Psychologe eigentlich wieder beruhigt?«
»Keine Ahnung. Ich habe langsam aber auch keine Lust mehr, mir ständig Gedanken darüber zu machen, wo ihn jetzt schon wieder der Schuh drückt.«
»Ich habe es jedenfalls noch nie geschafft, einen anderen Mann so schnell in die Flucht zu schlagen. Scheint ein bisschen empfindlich zu sein, der Gute. Schade eigentlich. Hat sonst ’nen netten Eindruck gemacht.«
»Der Typ ist total kompliziert.«
»Das sind wir beide auch. Du quatschst doch die ganze Zeit rum, dass man miteinander reden soll. Dann fang du doch mal damit an.«
»Vergiss es.«
»Feigling, Feigling.« Till streckt mir die Zunge raus.
»Also gut. Vielleicht schaue ich morgen früh kurz in der Ambulanz vorbei und spreche noch mal mit Nils. Aber nur vielleicht. Außerdem wird das schwierig, weil die blöde Studentin ihn keine fünf Sekunden aus den Augen lässt.«
»Wie auch immer.« Till klettert aus der Hängematte. »Ich muss wieder los. Ich wünsch dir einen ruhigen Dienst.«
»Was machst du denn heute noch?«
»Ach, alles Mögliche. Hab noch was zu erledigen. Bleib ruhig sitzen. Ich finde selber raus.«
Till klemmt sich den Verpackungsmüll unter den Arm und verschwindet. Ich bin ein bisschen neidisch. Auch wenn ich den ganzen Tag freihatte, Feierabend hätte ich jetzt auch gerne.
Kurz vor zwanzig Uhr wartet Vera in der Klinik bereits ungeduldig auf ihre Ablösung.
»Schön, dass du kommst. Ich hab’s ein bisschen eilig. Till hat mich vorhin angerufen. Ich bin mit ihm zum Essen verabredet«, berichtet sie, während sie sich in der Umkleide bereits ausgehfein macht.
»Mit Till?« Da falle ich wirklich aus allen Wolken.
»War so ’ne spontane Idee. Ist nur ein Essen. Nichts Wildes. Wir wollen unser Verhältnis zueinander wieder normalisieren.«
»Ihr hattet nie ein normales Verhältnis zueinander. Entweder habt ihr euch bis aufs Blut gestritten oder … nun ja.«
»Vielleicht können wir ja jetzt so was wie Freunde werden.«
»Warum habt ihr mir denn nichts gesagt? Ich hätte dich doch früher ablösen können.«
»Ach, wir treffen uns eh erst in einer halben Stunde, aber ich wollte mich noch zurechtmachen.«
Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen enttäuscht bin, weil Till mir nichts davon erzählt hat. Gut, die beiden sind mir keine Rechenschaft schuldig. Trotzdem hätte er ja mal was sagen können. Der alte Heimlichtuer. Das ist mal wieder typisch!
»Du siehst umwerfend aus. Und das sogar nach einem so langen Arbeitstag«, versuche ich Vera aufzumuntern.
Das ist noch nicht einmal gelogen. Vera ist eine der wenigen Frauen, die nach einem Dienst noch wie das blühende Leben aussehen.
»Danke, auch wenn ich mich nicht so fühle. Ich bin total genervt von den vielen jugendlichen Alkoholleichen. Vier Stück hatte ich heute schon vor sieben Uhr. Alle hatten sich schön vollgekotzt oder in die Hose gepinkelt. Ich werde den Geruch schon gar nicht mehr los. Deshalb müsste ich eigentlich noch mal schnell nach Hause, um zu duschen.«
»Na, dann beeil dich. Viel Spaß euch beiden«, wünsche ich ihr, obwohl ich ein bisschen traurig bin, dass sich alle anderen vergnügen können, während ich heute Nacht arbeiten muss. Aber so ist das eben.
Schwester Petra hat heute leider frei, sie
kann ja schließlich nicht immer im Dienst sein. Dafür werde ich von
Pfleger Johannes unterstützt. Einen Meter achtzig groß, schlank,
aber muskulös, mit braunen Locken und eisblauen Augen ist er der
Poolboy-Traum aller Frauen. Er jedoch träumt lieber von jemandem
wie Till oder Nils. Johannes ist ein guter Ersatz für Petra. Er
schafft es, mich trotz meiner Müdigkeit bei Laune zu halten, was
nicht leicht ist. Ohrenschmerzen, Husten, Fieber, geprellte
Knöchel, in die Nase gestopfte Murmeln und Schürfwunden behandeln
wir in
Rekordzeit.
Kurz vor Mitternacht stapft eine kleine vierjährige Dame in das Behandlungszimmer. Rosa Kleidchen, rosa Lackschühchen, rosa Söckchen und rosa Handtasche. Das könnte glatt mein Kind sein! Sie lässt sich von ihrem Papa auf die Untersuchungsliege heben und packt erst mal sorgfältig ihr Handtäschchen aus. Ein Nuckelfläschchen mit Wasser, eine kleine Puppe, ein Schnuller und ein Schnuffeltuch werden von ihr auf der Liege ausgebreitet.
»Sie hatte solche Bauchschmerzen und wollte unbedingt zum Arzt, damit der mal guckt. Wir glauben, die Schmerzen sind nicht so schlimm, aber sie hat keine Ruhe gegeben«, erzählt die Mutter.
Ein Kind, das freiwillig zum Arzt möchte. Das haben wir nicht oft. Problematisch wird es erst, als ich die junge Dame untersuchen möchte. Ich soll nämlich nur gucken. Von weitem. Das reicht ihr völlig.
»Die Bauchschmerzen hat sie schon seit ein paar Tagen, vor allem nachts, so um diese Zeit«, fährt die Mutter fort, »außerdem sagt sie jetzt öfter, dass ihr Po juckt.«
Ich untersuche die junge Dame, die nur aus der Ferne beguckt werden möchte, unter einigem Protest. Sie kommt nicht umhin, sich auch eine rektale Untersuchung gefallen zu lassen. Als ich meinen behandschuhten kleinen Finger aus ihrem Po herausziehe, sehe ich die Ursache ihrer Bauchschmerzen klar und deutlich vor mir: Sie hat Würmer, und einer von ihnen sitzt auf meinem Finger. Das ist zwar nicht so ungewöhnlich, aber trotzdem eklig! Zur Sicherheit in drei Abfalltüten verpackt, fliegt das fiese Kerlchen in den Müll. Bah! Eltern und Kind sind auch nicht erfreut. Ich verschreibe allen ein Entwurmungsmittel und bitte sie, auch den Familienhund behandeln zu lassen.
Eigentlich wollte ich jetzt mal was essen. Das Würmchen hat mir aber den Appetit verdorben.
Im Aufenthaltsraum trinken Johannes und ich erst mal einen Kaffee. Ein kleiner Schokokeks dazu geht immer! Unsere Pause wird nach zwei Minuten von panischen Schreien jäh unterbrochen.
»Hilfe! Wir brauchen einen Arzt! Wir brauchen sofort einen Arzt!«, stürmt ein Ehepaar, den Säugling im Arm des Vaters, in die Notaufnahme.
Pfleger Johannes gibt mir ein Zeichen sitzen zu bleiben und eilt ihnen zu Hilfe.
»Unserem Kind kommen Blasen aus der Nase! Wir brauchen einen Arzt!« Die Mutter ist außer sich. Johannes wirft einen prüfenden Blick auf den Säugling und bewahrt Ruhe.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ihrem Kind geht es gut. Es hat einen Schnupfen. Darum kümmern wir uns gleich.« Er drückt ihr das Anmeldeformular in die Hand. »Sie können dort im Wartezimmer Platz nehmen. Füllen Sie bitte die Anmeldung aus, und bringen Sie sie mir dann zusammen mit der Versicherungskarte wieder.«
»Einen Arzt! Wir brauchen sofort einen Arzt!« Die Stimme der Mutter wird schrill.
Johannes bleibt professionell und ruhig:
»Füllen Sie bitte zuerst das Formular aus. Wenn Sie dran sind, kommt die Ärztin zu Ihnen. Ihrem Kind geht es gut.«
Er hat recht. Das Problem des neun Monate alten Babys ist ein leichter Schnupfen, der ab und zu kleine Bläschen aus der Nase wirft. Wir putzen die Nase – Patient geheilt!
Um zwei Uhr wird ein verspäteter Betrunkener eingeliefert. So lange halten die Flatrate-Säufer in der Regel nicht durch.
Der Dreizehnjährige war auf einer Pyjamaparty seiner katholischen Jugendgruppe im Gemeindehaus und hat den Messwein entdeckt. Hat ihm nicht gutgetan.
»Weißt du, wo du bist?«, brülle ich ihn an.
»Auf der Party im Gemeindehaus«, murmelt er im Halbschlaf.
»Na, dann feier mal schön weiter«, lautet Pfleger Johannes’ nüchterne Antwort.
Die Eltern des Jungen wurden bereits vom Priester informiert und werden ihn morgen abholen.
Leider können wir seine Daten nicht aufnehmen. Mit dem Computer stimmt etwas nicht. Ohne seine erfassten Daten existiert ein Patient bei uns praktisch nicht. Es gibt kein Zimmer, kein Labor, kein Nichts. Der dumme PC hat sich aufgehängt. Er gibt uns nur noch eine Meldung: Die italienischen Autokorrektureinträge müssen installiert werden. Wozu? So ein Mist! Doch auch dafür gibt es eine Lösung. Den Notdienst unserer EDV-Abteilung. Ich rufe den Fachmann an. Er muss in die Klinik kommen und das Problem beheben. Das ist sein Job. Er ist dafür eingeteilt und wird dafür bezahlt. Geschlagene zwölf Mal wähle ich die Notfallnummer, bis ich den EDV-Notdienst endlich erreiche. Er ist betrunken!
»Schonschd ischd ja nie wasch losch im Noddienschd«, lallt er ins Telefon, »isch hab nisch damid gereschned, dasch mal wasch paschierd.«
Das ist für jemanden, der in einem Krankenhaus arbeitet und einen Notdienst übernimmt, mal eine mutige Einstellung!
Den Rest der Nacht arbeiten wir offiziell gar nicht mehr. Keine Daten gleich keine Patienten gleich keine Arbeit.
Auch dem zähesten Nachtdienst folgt ein Freizeitausgleich, und ich bin heilfroh, dass ich bald nach Hause kann. Ich bin hundemüde! Ich könnte gleich nach der Übergabe nach Hause fahren, wenn ich nicht in der Ambulanz vorbeigehen müsste, um nachzusehen, ob Frau Goldstein meine heutigen Termine verlegt hat und um herauszufinden, wie Denner inzwischen so drauf ist.
»Guten Morgen«, begrüßt Frau Goldstein mich mit ihrem strahlenden Lächeln, »Kaffee ist gleich fertig.«
»Das ist klasse. Den kann ich gut gebrauchen, auch wenn ich fürchte, dass das ganze Koffein gar nicht mehr wirkt. Ich wollte eigentlich nur kurz schauen, was meine Termine machen.«
»Ihre Patiententermine konnte ich verschieben, aber Herr Denner hat für heute Mittag eine Ambulanzbesprechung angesetzt. Am besten klären Sie selbst mit ihm, ob er Sie dabei dringend braucht.«
Klingt nicht so, als ob er heute gut drauf wäre. Am liebsten würde ich gar nicht mit ihm sprechen und ihn auch gar nie mehr sehen müssen. Aber es hilft ja nichts. Außerdem habe ich ja gar nichts gemacht. Nervös wie vor einer Prüfung betrete ich unser Büro. Nils sitzt an seinem Schreibtisch und wühlt mal wieder in irgendwelchen Zetteln.
»Guten Morgen. Tut mir leid, dass ich wegen des Nachtdienstes heute ausfalle.«
Er dreht sich zu mir um und mustert mich kühl. O Mann, ich dachte bislang, nur Bösewichte mit eisblauen Augen aus irgendwelchen Horrorfilmen können einen so ansehen. Jetzt werde ich eines Besseren belehrt.
»Morgen, jetzt bist du ja hier.«
»Ich wollte nur kurz fragen, was ansteht.«
»Setz dich doch.«
Das tue ich nur äußerst ungern. Alle meine Fluchtreflexe sind unter Nils’ Killerblick aktiviert. Seufzend lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen und versuche dabei vergeblich, noch einen Rest von Haltung zu bewahren.
»Was gibt’s denn?«
»Wir werden hier einiges umstrukturieren müssen. Ich habe deshalb für heute Mittag eine Teambesprechung angesetzt und erwarte, dass du daran teilnimmst.«
Seinem Tonfall nach zu urteilen, duldet er in diesem Punkt keine Widerrede. Ich versuche es trotzdem: »Sei mir bitte nicht böse, aber ich muss irgendwann auch mal schlafen. Reicht es nicht, wenn ich ein Protokoll der Besprechung bekomme?«
Plötzlich steht Frau Goldstein in der Tür und kommt mir zu Hilfe: »Ach Herr Denner, seien Sie doch nicht so hart. Sie sehen doch, dass Frau Plüm fast schon im Sitzen einschläft.«
Sie reicht mir einen Kaffee.
»Vielen Dank«, murmele ich, trinke einen großen Schluck und beobachte Denner ängstlich. Auch Frau Goldstein sieht ihn erwartungsvoll an.
»Danke für Ihr Engagement, Frau Goldstein, aber ich glaube, Frau Plüm kommt gut ohne Ihre mütterliche Unterstützung zurecht.«
Frau Goldstein zieht sich empört zurück. Nun wendet Nils sich leider wieder mir zu: »Und du solltest dich fragen, ob dein Engagement für die Ambulanz ausreichend ist, wenn du es noch nicht einmal zu einer essentiellen Besprechung schaffst. Wenn du keine Lust hast, musst du natürlich nicht daran teilnehmen. Dann solltest du dich allerdings fragen, ob du überhaupt noch hier arbeiten möchtest.«
»Warum findet die Besprechung denn nicht am Nachmittag statt, wie sonst auch?«
»Da habe ich einen wichtigen Termin.«
Klar, bestimmt im Café mit Schleim-Katharina, bei irgendwelchen Pseudo-Nachhilfestunden.
»Du weißt schon, dass ich offiziell eine Ruhepause einlegen muss?«
»Wie gesagt, du solltest deine Motivation zur Arbeit in dieser Ambulanz noch mal überprüfen. Es dreht sich nicht immer nur alles um dich.«
»Darum geht es hier doch gar nicht. Ich hatte Nachtdienst und bin dementsprechend fertig.«
»Es dreht sich also doch wieder um dich.«
»Du hast dir ja nicht die ganze Nacht in der Klinik um die Ohren geschlagen.«
Wenn ich genauer hinschaue, könnte das allerdings doch der Fall gewesen sein. Nils’ Augenringe können es mit meinen locker aufnehmen. Das sollte allerdings nicht mein Problem sein.
»Und immer noch geht es nur um deine Befindlichkeiten.«
So langsam weicht meine Aufregung einer bleiernen Müdigkeit. »Pass auf, Nils. Zum einen tut es mir leid, dass du die Situation gestern Morgen bei mir zu Hause missverstanden hast. Zum anderen habe ich aber auch keine Lust mehr, mich ständig vor dir rechtfertigen zu müssen. Wenn du nicht sofort weggelaufen wärst …«
Nils hebt abwehrend die Hand: »Dein Privatleben ist deine Sache. Hier geht es um die Ambulanz, und da sollten wir einige Arbeitsabläufe ändern und optimieren.«
»Okay. Dann werde ich jetzt mal nach Hause fahren und mich ein paar Stunden aufs Ohr legen. Wann genau ist die Besprechung?«
»Um zwei.«
»Gut, dann bis nachher.«
Ich verlasse das Büro und bringe Frau Goldstein die leere Kaffeetasse.
»Und?«, sie schaut mich mitfühlend an.
»Wir sehen uns heute Mittag wieder.« Auf ihrer Stirn bildet sich eine Sorgenfalte: »Also nein, das kann er doch nicht machen. Das verstehe ich gar nicht. Sonst ist der Herr Denner doch immer so ein verständnisvoller Mann.«
Unter dem Goldstein’schen Mitleidsblick fühle ich mich gleich noch viel schrecklicher. Ich versuche mich zusammenzureißen: »Ach, das wird schon gehen. Es scheint ja wichtig zu sein.«
»Hmm, aber Sie sehen ganz schön blass aus.«
Wenn sie so weitermacht, fange ich gleich an zu heulen. Ich finde eigentlich, es geht heute. Schließlich habe ich gestern Abend eine ganze Menge Make-up und Rouge aufgelegt. Ich möchte gar nicht wissen, wie es unter dieser Schicht aussieht.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Nach ein, zwei Stunden Schlaf bin ich wieder topfit«, versuche ich mich eigentlich mehr selbst aufzumuntern.
Frau Goldstein wühlt in ihrer riesigen Handtasche: »Warten Sie, da muss man doch unbedingt was machen … Ich hab da noch … Ach, hier ist sie ja.« Ihre Miene hellt sich auf, und sie drückt mir eine kleine Plastiktube in die Hand: »Hier, probieren Sie die mal aus. Mit einer getönten Tagescreme werden Sie gleich viel frischer aussehen.«
»Ja super, vielen Dank.«
Jetzt, wo ich weiß, wie schrecklich ich aussehe, fühle ich mich noch viel, viel schlechter. Ich verabschiede mich mit zitternder Stimme und schleppe mich, gefühlt kurz vor einem Schwächeanfall, aus der Klinik.
Auf dem Heimweg fange ich langsam an, mir wegen der anstehenden Ambulanzbesprechung Sorgen zu machen. Was meint Nils denn bloß mit Arbeitsabläufe ändern? Ich muss bloß aufpassen, dass er mich nicht ausbootet und mir nur noch Deppenaufgaben zuschustert. Hoffentlich will er mich nicht durch seine blöde Studentin ersetzen. So ein Mist! Konnte er nicht unangemeldet bei irgendjemand anderem vor der Tür stehen? Wie soll ich mich bei dem Stress bloß ausruhen? Na ja, vielleicht ist es ganz gut, wenn ich heute nicht so lange schlafen kann. Zwei, drei Stündchen müssen wohl reichen … Nach einem einzelnen oder dem letzten Dienst einer Nachtdienstwoche muss ich mich ohnehin immer wach halten. Sonst kann ich heute Nacht nicht schlafen und leide unter einer Art Jetlag. Das ist das Schlimmste: der Jetlag nach dem Nachtdienst. Nach der letzten Nachtdienstwoche konnte ich ab meinem zweiten freien Tag nicht mehr schlafen. Als ich morgens um vier immer noch kein Auge zugemacht hatte, beschloss ich, die ohnehin schlaflose Zeit zu nutzen. Gegen zehn Uhr hatte ich bereits meine Wohnung geputzt, das Bett neu bezogen, die Wäsche gewaschen, das Silber poliert, diverse Näharbeiten zumindest versucht und meine Einkäufe erledigt. Wenn das Frau Beier gesehen hätte! So ein anständiges Fräulein, das Fräulein Plüm. Danach war ich völlig fertig. Apropos Frau Beier. Die fängt mich vor der Haustür, mal wieder außer sich vor Aufregung, ab. Was hab ich denn diesmal verbrochen?
»Frau Plüm! Frau Plüm! Die Fahrräder! Das geht so nicht!« Sie ist völlig außer Atem. »Frau Plüm! Das geht nicht, dass die jungen Männer ihre Fahrräder in den Hausflur stellen!«
In der Tat. Das Mountainbike eines meiner Nachbarn steht neben Frau Beiers Hollandrad in der Nische.
»Frau Plüm! Das geht so nicht! Sie, die Frau Kramer, die Frau Mayer und ich, wir haben eine Genehmigung. Die jungen Männer nicht!«, ereifert sich Frau Beier. »Frau Plüm! Wir müssen etwas tun!«
Hab ich richtig gehört? Wir? Seit wann sind die Beier-Ziege und ich bitte schön ein Team?
»Wissen Sie, Frau Beier, ich komme gerade vom Nachtdienst und bin sehr müde. Ich gehe jetzt in meine Wohnung und werde erst mal ein paar Stunden schlafen«, wimmele ich sie ab und schleppe mich die Treppen hoch.
Als ich an der Wohnungstür meines Nachbarn vorbeikomme, öffnet sich diese kurz, und er zwinkert mir grinsend zu. Da hat er sich ja auf was eingelassen. Frau Beier wird ihm das Leben zur Hölle machen. Hmm, aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Dann hat sie weniger Zeit, mich zu piesacken.
Oben ziehe ich mir schnell meinen Pyjama an, um mich endlich ins Bett zu legen. Daraus wird nichts. An der Haustür klingelt es Sturm. Es ist Frau Beier. Widerwillig öffne ich die Tür: »Frau Beier, ich kann in der Fahrradsache leider nichts für Sie tun.«
»Das ist wirklich bedauerlich. Ihre Frau Mutter legt doch immer so viel Wert auf gute Nachbarschaft.«
»Sie legt sicher ebenso viel Wert darauf, dass ich mich nach der Arbeit erholen kann …« Das tut sie zwar nicht, aber vielleicht weiß die Beier-Ziege das nicht. »Regeln Sie das bitte selbst.«
»Das ist wirklich überaus bedauerlich.« Sie funkelt mich bedrohlich an. Die soll sich gefälligst an meinem Nachbarn austoben. »Guten Tag noch.«
Ich schlage Frau Beier die Tür vor der Nase zu und möchte endlich ins Bett. Noch bevor ich die Schlafzimmertür erreicht habe, klingelt es erneut Sturm. Es ist Frau Beier. Wer sonst. »Frau Beier, Sie hier, schon wieder.«
»Denken Sie daran, dass Sie nach der neuen Hausordnung den Müll streng in Bio-, Verpackungs- und Restmüll trennen müssen?«
»Ich würde jetzt gerne schlafen.«
»Als ältestes Mitglied dieser Mietergemeinschaft ist es meine Pflicht …«
»Schon gut. Natürlich trenne ich meinen Müll vorschriftsmäßig.«
Natürlich mache ich das nicht. Ich sortiere ihn so über den Daumen gepeilt. Der Sinn des Ganzen hat sich mir noch nicht erschlossen. Wird doch eh fast alles verbrannt. Ich knalle die Tür zu, flitze ins Schlafzimmer und kuschele mich in mein Bett. Endlich schlafen. Doch das soll wohl einfach nicht sein. Es klingelt. Das könnte schon wieder die Beier sein, also stelle ich mich lieber tot, beziehungsweise schlafend. Es klingelt und klingelt. Ich traue mich kaum zu atmen, bis es endlich ruhig wird.
Durch den Beier-Terror hat sich meine Schlafzeit von satten drei auf knapp zwei Stunden reduziert. Auch eine kalte Dusche bringt mich nicht wieder in Form. Mit bleischweren Gliedern schleppe ich mich kurz vor zwei aus dem Haus, um halbwegs pünktlich zu der blöden Ambulanzbesprechung zu kommen. Mühsam versuche ich mein altes, klappriges Auto aus der viel zu kleinen Parklücke zu bugsieren. Das ist ohne Servolenkung gar nicht so einfach, aber nach etwa zwanzig Minuten schweißtreibenden Rangierens kann ich, sobald die Straße frei ist, endlich losfahren. Beim Blick über die Schulter entdecke ich einen überaus attraktiven jungen Mann, der aus dem Haus gegenüber kommt. Sollte dieses heiße Schnittchen etwa ein neuer Nachbar sein? Das heiße Schnittchen deutet mir winkend an, dass ich losfahren kann. Hochmotiviert drücke ich den Fuß aufs Gaspedal, um ihm mit meiner schnittigen Fahrweise zu imponieren. Äußerst schwungvoll rast der Wagen los, allerdings nicht nach vorn, sondern nach hinten, direkt in den nächsten Pfeiler, der den Parkplatz begrenzt. Ich habe vergessen, dass der Rückwärtsgang noch eingelegt war. Noch bevor ich die Lage vollends erfasse, steht der hübsche junge Mann an meinem Fenster: »Geht es Ihnen gut? Ist Ihnen was passiert?«
»Nein, danke, geht schon.«
Ich fühle, wie mein Gesicht hochrot anläuft. Es war eindeutig eine blöde Idee, mit dem Auto zur Arbeit fahren zu wollen. Zitternd steige ich aus dem Wagen und begutachte den Schaden. Ich habe Glück gehabt. Auto und Pfeiler haben nur einen kleinen Kratzer. Allerdings spüre ich langsam, dass ich mir wohl ein Schleudertrauma zugezogen habe. Meine Nackenmuskulatur zieht sich schmerzhaft zusammen. Immerhin ist der Wagen noch fahrtüchtig, und so fahre ich langsam zur Klinik. Ich komme mir vor, wie ein verunsicherter Fahranfänger.
Nachdem ich Frau Goldstein telefonisch kurz über meinen Unfall informiert habe, stelle ich mich erst mal in unserer chirurgischen Notaufnahme vor. Meinen Hals kann ich genau null Grad in gar keine Richtung bewegen. Die Schmerzen sind unerträglich. Es ist mir zwar furchtbar peinlich, aber ich werde mich wohl oder übel schon wieder von einem meiner Kollegen behandeln lassen müssen. Noch schlimmer: Klemme hat Dienst und, oh Wunder, gerade nichts zu tun.
»Na, ich möchte ja gar nicht wissen, wer Sie heute Nacht so zugerichtet hat, Plümchen«, lästert Dr. Klemme, während er mir eine Halskrause verpasst.
»Das war ein Autounfall«, widerspreche ich ihm vehement. Hätte ich ihn mal lieber nicht um Hilfe gebeten.
»Wie auch immer. Sie haben Glück, dass Sie jedes Mal bei einem Profi wie mir landen.« Nachdenklich sieht er mich von der Seite an: »Ich sehe ja jetzt erst, dass Sie da ein Grübchen auf Ihrer Wange haben. Niedlich, Plümchen.«
»War’s das jetzt?«
»Ich hole Ihnen noch ein paar Schmerzmittel.«
Das Grübchen in meiner rechten Wange ist kein Grübchen. Es ist eine Narbe. Während ich auf Klemme warte, betrachte ich sie ausführlich im Spiegel über dem Waschbecken. Vor vielen Jahren habe ich mir von meinem Hautarzt an der Stelle ein Muttermal entfernen lassen. Klemme hat recht. Sieht wirklich ein bisschen wie ein Grübchen aus. Ich weiß nur nicht, ob ich das gut finden soll. Niedliche Grübchen werden nicht zwingend ernst genommen.
Klemme kommt wieder rein und drückt mir ein paar Pillen in die Hand: »Hier, Sie wissen ja, wie Sie die einnehmen müssen. Ich werde Ihnen zur Sicherheit noch ein Rezept ausstellen. Nur für alle Fälle.« Wir gehen gemeinsam zum Empfangstresen der Notaufnahme, wo die Rezeptblöcke verwahrt werden. Beim Ausfüllen des Rezeptes hält Klemme inne und beobachtet nachdenklich unsere neue OP-Schwester Doris, die gerade frische Nahtsets bringt. Das Gerücht, dass sie lesbisch sei, hat sie ihm vor einiger Zeit frank und frei bestätigt. Ausgerechnet ihm, Dr. Klemme, der sie alle haben kann.
»Wissen Sie, Plümchen«, murmelt er mit einem verstohlenen Blick in ihre Richtung, »das ist doch unmöglich. Zwei Frauen im Bett ohne einen Mann. Wie soll das denn gehen? So sexuell gesehen, meine ich. Die haben doch keinen … Sie wissen schon.«
Oje, Dr. Klemme! Wenn er wirklich denkt, Frauen könnten nur mit einem Penis guten Sex haben, lebt er wirklich hinter dem Mond. Das bestätigt allerdings, was man sich im OP erzählt.
Dr. Klemme soll im Bett eine egomanische Niete sein. Ich werde ihm die Geheimnisse des weiblichen Körpers sicherlich nicht näherbringen.
»Wissen Sie, ich glaube, ich bin für dieses Thema die falsche Ansprechpartnerin.«
»Hmm, ja … Hier Ihr Rezept. Gute Besserung wünsche ich Ihnen. Die Halskrause steht Ihnen übrigens gut.«
»Haha, sehr witzig.«
»Ach ja, der Unfall ist doch auf dem Weg zur Arbeit passiert. Dann müssen Sie noch …«
»… das Unfallprotokoll ausfüllen.«
Klemme grinst, greift über den Tresen und reicht mir eins. Da fällt mir siedend heiß ein: Wir haben ein riesiges Problem.
»Ähm, Dr. Klemme«, raune ich ihm leise zu und deute ihm an, doch etwas näher zu kommen. Das tut er gern. »Das geht nicht. Ich meine das Protokoll. Ich hatte bis neun Uhr Nachtdienst. Jetzt ist es halb drei.«
»Sie haben die Ruhezeiten nicht eingehalten.« Ich nicke schuldbewusst. »Mensch, Plümchen! Wie kann man denn so bescheuert sein und dann einen Unfall bauen.«
»Das hätte jedem passieren können.«
»Ganz ehrlich? Nein. Niemand hier kann sich an die Ruhezeiten halten, aber Sie sind die Einzige, die dann so etwas veranstaltet.«
»Und jetzt?«
»Ihre Medikamente kaufen Sie privat. Alles andere erledige ich. Wagen Sie es bloß nicht, mit irgendwelchen Komplikationen anzukommen.«
Ich nicke schuldbewusst und gehe ziemlich geknickt zur Ambulanz.
»Tach, Gottfried Wendehals!«, grüßt mich unterwegs der stets gutgelaunte Pförtner, der gerade auf dem Weg zu seiner Raucherpause ist. Witzig, witzig.
Nachdem ich die zulässige Höchstdosis sämtlicher, nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegender Schmerzmittel voll ausgereizt habe, fühle ich mich weitgehend arbeitsfähig. Die Moby-Fit-Ambulanz-Besprechung habe ich zwar verpasst, aber ich habe noch eine Menge Papierkram zu erledigen.
In unserem Büro sitzt Nils an seinem Schreibtisch. Von der Studentin ist weit und breit nichts zu sehen.
»Nils, tut mir leid, dass ich die Besprechung verpasst habe, aber ich …«
»Ich weiß Bescheid. Frau Goldstein hat mich bereits informiert. Ich schreibe gerade das Protokoll der Besprechung und maile es dir dann.«
»Danke, muss ich noch was wissen?«
»Nein, ich habe bereits alles mit Katharina geklärt.«
Na super, dann bin ich jetzt anscheinend völlig raus aus dem Ambulanzgeschehen.
»Wo ist Katharina überhaupt?«, möchte ich wissen.
»In der Bibliothek. Sie unterstützt mich bei einer Recherche.«
Das hätte ich mir ja denken können, dass die ach so engagierte Katharina solche Hiwi-Jobs auch übernimmt. Ich schiebe die Akten, die sie auf meinem Schreibtisch ausgebreitet hat, zur Seite und fahre meinen Computer hoch.
»Sind die Anträge für die Ausweitung des Sportunterrichts fertig?«, möchte Nils wissen.
»Mach ich sofort. Die können heute noch raus.«
»Das wird auch Zeit. Das hättest du bereits gestern erledigen sollen.«
»Weiß ich. Ich hatte Nachtdienst. Schon vergessen?«
»Ja klar, du, du, du. Immer nur du.« Nils tippt laut klappernd auf seiner Tastatur herum.
»Nils …«
»Anna, ich muss mich konzentrieren. Ich habe bei der Krankenhausleitung nachgefragt, ob wir irgendeine Chance haben, ein zweites Büro zu bekommen. Dann kannst du dein eigenes Reich haben. Ich halte es sowieso für besser, wenn wir unsere Arbeitsbereiche strenger trennen.«
Das klingt nicht so, als würde sich die Lage bald entspannen.
Es klopft.
»Ja, herein!«, ruft Nils entnervt eine Spur zu laut.
Frau Goldstein bringt mir einen Kaffee mit den üblichen Schokokeksen: »Frau Plüm, wie geht es Ihnen denn? Sie sind ja noch blasser als heute Morgen.«
»Danke, es geht schon. Aber diese Nackenschmerzen sind nicht gerade angenehm.«
Wenn ich könnte, würde ich mich jetzt demonstrativ zu Nils umdrehen und ihm einen bösen Blick zuwenden.
»Dr. Denner, vielleicht sollte Frau Plüm heute freibekommen, meinen Sie nicht?«
»Wenn sie sich nicht gut fühlt, kann sie jederzeit gehen. Ich zwinge niemanden dazu, hierzubleiben«, gibt Nils patzig zurück.
»Nein, das ist hier heute mal wieder eine Stimmung. Das wird ja schon zur Gewohnheit«, seufzt Frau Goldstein, »vielleicht heitert Sie ein wenig Musik auf?«
Nils schaltet kommentarlos das Radio ein, und Frau Goldstein verlässt achselzuckend das Büro. Die Musik heitert mich leider gar nicht auf, sondern verschlimmert nur meine Kopfschmerzen.
»Nils, es tut mir leid …«
»Du brauchst dich nicht bei mir zu entschuldigen. Du kannst in deiner Freizeit machen, was du willst. Jetzt lass mich bitte arbeiten.«
»Ich meine die Musik. Meine Kopfschmerzen werden dadurch schlimmer.«
Nils schaltet das Radio so heftig aus, dass der Schalter abbricht. Davon wird die Stimmung auch nicht besser. Vielleicht sollte ich wirklich nach Hause gehen. Diese emotionale Anspannung ist kaum auszuhalten. Lange hört man nichts, außer dem leisen Klappern der Computertastaturen.
Meine Halskrause fängt an zu jucken. Ausgiebiges Kratzen hilft da auch nicht. Ich mache noch die Anschreiben für den Sportunterricht fertig und schicke sie per Mail ab. Konzentrieren kann ich mich auf gar nichts. Weiter hierzubleiben hat keinen Wert. Nils und ich stehen beide gleichzeitig auf.
»Die Sportsachen sind raus. Ich hab’s dir CC geschickt.«
»Danke. Das Protokoll der Besprechung schicke ich dir morgen. Ich muss jetzt los.«
»Ich auch.«
Unschlüssig stehen wir voreinander und versuchen geflissentlich uns nicht direkt anzuschauen. Dabei ist mein Wegschauradius deutlich eingeschränkt. Ich kriege davon einen Krampf im Nacken und verziehe schmerzhaft das Gesicht. Reflektorisch greife ich nach dem Röhrchen mit den Pillen und einer kleinen Wasserflasche in meiner Tasche und nehme noch eine Ladung Schmerzmittel. Nils wirkt nachdenklich, während wir mit möglichst größtem Abstand nebeneinanderher Richtung Ausgang gehen.
»Was nimmst du da überhaupt?«
»Ibuprofen, Paracetamol, Tramadol … Aber es hilft nicht so richtig.«
»So schlimm?«
»So schlimm.«
»Lass dich doch heute Abend von deinem besten Freund pflegen.«
In der Auffahrt bleiben wir beide wie angewurzelt stehen. Vera und Till stehen eng umschlungen neben einem Rettungswagen und knutschen völlig selbstvergessen und ungeniert herum. Erstaunlich, wie schnell sich ihr Verhältnis normalisiert hat.
»Sieht aus, als hätte mein bester Freund im Moment Wichtigeres zu tun. Aber keine Sorge, ich komme schon klar.«
Nils beobachtet Till und Vera verblüfft. »Die beiden sind zusammen?«
»Sieht so aus, oder?«
»Seit wann?«
»Ich denke, du wühlst nicht in anderer Leute Privatleben herum! Aber wenn du es wirklich wissen willst: Das hat sich schon ’ne ganze Weile angebahnt.«
»Und Till und du?«
»Gute Freunde? So was soll’s geben.«
»Soll ich dich nach Hause bringen? Du kannst doch so nicht fahren.«
»Nein, danke. Ich kann ja auch zu Fuß gehen. Ist nicht weit.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Nils biegt zu den Parkplätzen ab und dreht sich noch einmal zu mir um: »Es gibt da eine gute Therapie, um die Muskulatur zu entspannen. Nimm doch einfach mal Tetrazepam.«
»Ich habe so ein Beruhigungsmittel noch nie eingenommen. Da falle ich doch um wie ein Stein.«
»So stark ist das gar nicht. Du sollst es ja auch nur einmal vor dem Schlafengehen nehmen, damit sich die Muskulatur über Nacht wieder entspannt.«
»Ich weiß nicht.«
»Ich habe noch etwas davon zu Hause. Wenn du möchtest, bringe ich es dir heute Abend vorbei.«
»Oh, womit habe ich denn dein gnädiges Mitleid verdient?«
»Ich kann es auch lassen, aber ich wäre entzückt, wenn du hier rasch wieder voll arbeitsfähig wärst.«
Meine Schmerzen überwiegen eindeutig meine Abneigung, irgendwelche Almosen von Nils anzunehmen.
»Gut, dann bis nachher.«
Unschlüssig beobachte ich Vera und Till. Wenn die so weitermachen, kommt Vera doch noch zu spät zu ihrem Dienst. Schon ein bisschen komisch, dass sich meine beiden besten Freunde da gegenseitig abschlecken. Ob ich die beiden begrüßen soll? Ich überlasse sie lieber sich selbst und gehe nach Hause. Nachher fühlen sie sich noch ertappt. Immerhin habe ich keine Ahnung, was das zwischen den beiden wirklich ist. Außerdem wäre mir selbst diese Situation am allerpeinlichsten.
»Hey, Anna, warte mal. Was schleichst du dich denn hier hinter meinem Rücken vorbei!«, ruft Till. Ich muss mich einmal komplett umdrehen, bis er in mein Gesichtsfeld rückt und ich sehe, dass er mir nachläuft. Vera ist bereits in der Klinik verschwunden. Jetzt fühle ich mich ertappt. Ich weiß doch noch gar nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Soll ich die beiden beglückwünschen oder es ignorieren oder … Keine Ahnung.
Till bleibt wie angewurzelt stehen: »Was ist denn mit dir passiert?«
»Ach, nur ein kleiner Autounfall.«
»Das sieht aber ziemlich heftig aus. Was hast du angestellt?«
»Hey, woher willst du wissen, dass ich zwingend Schuld habe?«
Till grinst. »Weil ich dich kenne. Also?«
»Ach, nichts Besonderes. Ich bin beim Ausparken gegen einen Pfeiler gefahren und habe ein Schleudertrauma.«
Till lacht schallend: »O Mann. Sei mir nicht böse, aber Menschen wie du sind einfach zum Busfahren geboren.«
»Haha.«
»Schon gut«, Till wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Soll ich dich nach Hause fahren? Brauchst du irgendwas?«
»Wär toll, wenn du mich mitnehmen könntest.«
»Na, dann komm mal mit, aber lauf nicht irgendwo gegen.«
Er hakt mich unter und schiebt mich Richtung Parkplatz:
»Ich muss gleich wieder in die Agentur. Aber zuerst bringe ich dich nach Hause, und wir trinken einen Schnaps. So viel Zeit muss sein. Du wirst sehen, dann geht es dir gleich viel besser.«
»Na, wenn du meinst.«
Schnaps klingt ausnahmsweise mal ganz gut, und zwar aus drei Gründen: Erstens stehe ich von dem Unfall bestimmt noch unter Schock, zweitens stresst Nils mich mit seinen ständig wechselnden Launen total, und drittens schläft mein bester Freund mit meiner besten Freundin. Letzteres beunruhigt mich irgendwie.
Da fällt mir ein: »Till, so was habe ich gar nicht.«
Er grinst. »Doch, wir haben eine Flasche Wodka im Eisfach.«
»Wir?«
»Na, als Teilzeit-Mitbewohner fühle ich mich dazu verpflichtet, auch meinen Anteil am Haushalt beizutragen.«
»Da habe ich ja Glück gehabt.«
»Ich weiß. Du kannst mir ruhig sagen, wie toll ich bin.«
»Das scheint ja jetzt Vera übernommen zu haben. Muss ich damit rechnen, dass du bald ausziehst?«
Tills Grinsen wird breiter. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Hallo?! Wildes, absolut nicht jugendfreies Rumgeknutsche vor der Klinik? Also bitte!«
»Neidisch? Ich habe Vera nur zur Arbeit gebracht. Nach einer, zugegeben, ziemlich wilden langen Nacht.«
»Ihr seid eben fast übereinander hergefallen. Direkt vor der Klinik!«
»Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
»Mir ist schon klar, dass du das nicht verstehst, aber in manchen Berufen ist es wichtig, Arbeit und Privatleben zu trennen. Bei uns ist es nicht gerade angesagt, während der Weihnachtsfeier möglichst viele Praktikantinnen auf der Damentoilette zu vögeln.«
»Na, bei den ganzen Geschichten von diesem Mösli oder … wie heißt der noch? Und diesem Chirurgen … Ich bitte dich. Die lassen’s doch ordentlich krachen.«
Ich wusste ja, dass Till das nicht versteht. Das sind alles Männer. Wir Frauen würden bei solchen Aktionen gleich als inkompetente Schlampen abgestempelt.
»Ach, komm schon, jetzt guck nicht so. Hinter dem Krankenwagen hat uns doch keiner gesehen.«
»Das glaubst du. Was ist denn eigentlich mit euch beiden? Seid ihr jetzt zusammen?«
»Wir lernen uns besser kennen. Das ist für den Moment alles.«
Noch breiter kann Till gar nicht mehr grinsen. Wenn das möglich wäre, dann würde sein Grinsen einmal ganz um seinen Kopf herum reichen.