Kapitel 20
Nils bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Seit seinem Verschwinden sind nur vier Tage vergangen, aber die kommen mir vor wie eine Ewigkeit. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich bin so verwirrt, dass ich nicht mal Vera erzählen kann, wie es mir geht. Und mit Vera teile ich sonst alles. Wir sitzen zusammen in unserer Lieblings-Sushibar und ich stochere lustlos in meinem Algensalat herum, während Vera mir von Till vorschwärmt. Eines teilen wir seit einigen Tagen nämlich nicht mehr: das elende Singledasein. Vera ist total glücklich mit Till. Die beiden sind soooo verliebt ineinander, und eigentlich sollte ich mich soooo sehr für sie freuen! Doch das fällt mir im Moment ziemlich schwer, obwohl ich nicht egoistisch wirken möchte. Das merkt Vera trotz meines bemüht glücklichen Lächelns auch sofort. Ich konnte ihr noch nie was vormachen.
»… und nächsten Monat werden Till und ich zusammen einen Porno drehen!«
»Hmmm, ja, wie schön. Ihr macht was?!«
»Ich hatte schon die Befürchtung, du hörst mir überhaupt nicht mehr zu! Was ist denn los? Hat Nils sich immer noch nicht gemeldet?«
»Ach, der ist mir doch völlig egal.«
»Du hast fast nichts von deinem Essen angerührt. Also mach mir nichts vor.«
»Nein, Nils hat sich noch nicht gemeldet.«
»Der taucht bestimmt bald wieder auf.«
»Der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst und sich mit seiner blöden Freundin in England amüsieren. Mir macht was anderes Sorgen: Irgendetwas stimmt nicht mit mir.«
»Inwiefern?«
»Ich mache mir ernsthaft Sorgen, ob ich nicht einen Hirntumor habe oder an verfrühter Demenz leiden könnte.«
»Okay«, Vera mustert mich prüfend, »hast du etwa vor lauter Männerfrust ein Fachbuch gelesen?«
»Nein, nichts Besonderes.«
»Ich glaub dir kein Wort. Du bist mal wieder in dieser Hilfe-ich-bin-todkrank-Stimmung.«
Während unseres Studiums war ich der klassische Hypochonder. Ich hatte alle Erkrankungen, die gerade in den Vorlesungen dran waren oder geprüft wurden. Alle. Bei dem, was ich alles überlebt habe, habe ich schon längst einen Weltrekord aufgestellt.
»Mit mir stimmt wirklich was nicht.«
»Okay, du erzählst mir jetzt in Ruhe, was los ist.« Tja, wo soll ich da bloß anfangen? Ich entscheide mich für eine Zusammenfassung. Die wird auch Vera reichen, um bei mir etwas Ernstes zu diagnostizieren.
»Also, wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich bin ein durchgeknallter Schrank mit zersprungenen Tassen auf einem Boot in einem ganz, ganz schweren Sturm, einem Orkan …«
Das trifft es ziemlich genau. Vera scheint darüber nachzudenken, mich in eine psychiatrische Abteilung einweisen zu lassen.
»Könntest du dich etwas deutlicher ausdrücken?«
»Im Grunde stand ich die letzten Tage völlig neben mir.
Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, konnte nichts essen, hatte ständig Herzrasen, konnte deshalb nicht schlafen und war völlig wirr im Kopf. Einmal habe ich zum Beispiel morgens meine Unterwäsche anstatt in den Wäschekorb ins Klo geworfen und meine Lieblings-La-Perla-Garnitur in die Kloake gespült.«
»O nein, die schöne champagnerfarbene, die wir zusammen im letzten Urlaub gekauft haben?«
Ich nicke bedeutungsschwer, und Vera scheint der Ernst der Lage allmählich klarer zu werden: »O du Arme, das ist bitter.«
»Das war noch nicht alles. Ich habe meine rosa Brille überfahren.«
»Du hast was?«
»Du hast richtig gehört. Ich habe meine Brille überfahren.«
»Na, wenigstens war die sowieso schon kaputt, aber wie hast du das bloß angestellt?«
»Als ich gestern ins Fitness-Studio gefahren bin, hatte ich Kontaktlinsen an. Die Brille muss mir aus meiner Sporttasche gerutscht sein. Als ich sie vor meinem Spätdienst panikartig suchte, klingelte Frau Beier mal wieder an der Tür und übergab mir mit einem hämischen Grinsen die Überreste. Der Reifenabdruck war deutlich zu erkennen.«
»Vielleicht hat sie sie ja überfahren?«
»Nein, sie hat kein Auto, und sie hat es wohl beobachtet.«
»Oh, wow. Dann kennt deine Mutter die Geschichte bestimmt auch schon.«
»Darauf kannst du wetten. Aber das war immer noch nicht alles. Vorgestern musste ich dreimal den Pannendienst rufen, weil ich ständig meinen Autoschlüssel im Wagen vergessen hatte und sich die Autotür wie von selbst verschloss. Es kam jedes Mal der gleiche Mechaniker vorbei. So ein junger lederhäutiger Muskelprotz, der testosterongesteuert anscheinend dachte, dass ich das natürlich nur mache, um an ihn ranzukommen. Mit einem eklig anzüglichen Lächeln hat er mir beim letzten Mal seine Telefonnummer gegeben.«
»Igitt!« Vera verzieht das Gesicht.
»Das kannst du laut sagen. Kurz danach wehte ein kräftiger Windstoß die Autotür zu, als ich gerade mit dem Schlüssel in der Hand ausstieg. Dabei wurde der Schlüssel in der Tür eingeklemmt und ist jetzt völlig verbogen. Da ich immer noch keine Ahnung habe, wo sich der Ersatzschlüssel befindet, muss ich jetzt überall hin mit dem Fahrrad fahren. Und heute Morgen stand plötzlich das Honigglas auf der Ablage im Bad, neben der Gesichtscreme. Wenigstens bei der Arbeit sind mir keine komischen Sachen passiert. Das ist schon mal was.«
Vera neigt grübelnd den Kopf zur Seite, dann fängt sie an zu grinsen.
»Das ist nicht witzig.«
»Doch ist es. Du bist offensichtlich verliebt! Das ist ja wunderbar!«, jubelt sie strahlend.
»Ist es nicht.«
»Doch, das ist toll!«
»Nein, das ist ganz und gar nicht toll. Denn wenn ich tatsächlich verliebt sein sollte, dann hat mich der Kerl, in den ich verliebt bin, nach einer nur im Rausch zustande gekommenen Nacht sitzengelassen.«
»Oh, da hast du leider recht«, muss jetzt auch Vera zugeben, »aber du darfst jetzt nicht den Kopf hängen lassen. Es gibt bestimmt für alles eine Erklärung.«
»Ach bitte. Das glaubst du doch selbst nicht. Der lässt sich nicht blicken und auch nichts von sich hören. Er hat mit mir eine andere betrogen. Er hat mich einfach benutzt, so sieht es aus.«
»Weißt du denn sicher, dass er eine andere hat?«
»Nein, aber es spricht alles dafür.«
»Jetzt warte es doch mal ab.«
»Bis wann? Bis ich achtzig bin? Es ist wie ein Fluch. Immer verliebe ich mich in Typen, die nicht gut für mich sind. Jetzt mal ehrlich: Wäre ich nach unserer Knutscherei neben Nils aufgewacht und der hätte mich dann verliebt angeschaut, hätte ich vermutlich alles darangesetzt, ihn möglichst schnell loszuwerden. Jetzt lässt er mich hängen, und schon ist er der aufregendste Mann unter der Sonne.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ja. Warum fühle ich mich immer von solchen Typen angezogen? Kann ich mich nicht mal in die netten verlieben? Nein! Die finde ich langweilig! Ich lasse mir lieber von den anderen das Herz brechen.«
»Jetzt gehst du aber echt hart mit dir ins Gericht. Du siehst das viel zu negativ!«, flötet Vera und hat schon wieder ihr Dauer-Verliebtheits-Grinsen drauf.
»Bei aller Liebe, dieser Situation kann ich nun gar nichts Gutes abgewinnen. Ich sollte mir Nils ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen.«
Nils, Nils, Nils, Nils, Nils, Nils, ständig nur Nils! Nein! Ich darf nicht an ihn denken, wenn ich nicht an ihn denken will! Denke nicht an den rosa Elefanten! Denke nicht an den rosa Elefanten! Denke nicht an den rosa Elefanten! Rosa Elefanten sind viel besser als Nils. Mist! Nils, Nils, Nils …
Mürrisch probiere ich etwas von dem Sashimi, aber heute will es mir einfach nicht schmecken.
»Weißt du, was dein Problem ist?«, fragt Vera.
»Nils?«
»Den benutzt du gerade nur als Ventil. Ich glaube, du musst einfach mal lernen, Verantwortung für dich zu übernehmen.«
»Ich übernehme jeden Tag Verantwortung, wenn ich das nicht könnte, hätte ich einen anderen Job.«
»Das meine ich nicht. Ich meine für dich.«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Gut, nach der unseligen Geschichte mit Felix ist es kein Wunder, dass du Angst vor einer neuen Beziehung hast. Aber es wird Zeit, die zu überwinden. Dann kannst du dich auch in Typen verlieben, die gut für dich sind. Trau dich einfach, und steh wieder zu dir selbst.«
»Das klingt einfacher, als es ist.«
»Glaub mir, das weiß ich nur zu gut. Meinst du, mir ist es leichtgefallen, mir meine wahren Gefühle für Till einzugestehen?«
»Aber mit euch läuft es doch auch super.«
»Das wusste ich ja vorher nicht.«
»Das mit Till und dir ist so etwas wie ein Weltwunder. Das gibt es nicht ein zweites Mal und schon gar nicht für mich.«
»Ach so ein Quatsch. Jetzt hör auf so pessimistisch zu sein. Das ist echt ein Stimmungskiller.«
»Du hast ja recht. Tut mir leid, dass ich mich gerade nicht so doll mit dir freuen kann.«
»Ich weiß ja, dass du das normalerweise tun würdest. Also Schwamm drüber. Wie läuft es denn derzeit in der Ambulanz, so ohne Nils?«
»Ich komme ganz gut zurecht. Schleim-Katharina ist ohne ihren Götzen sogar einigermaßen erträglich. Im Moment verbringt sie sowieso die meiste Zeit in der Bibliothek, um für ihre Arbeit zu recherchieren.«
»Das klingt doch gut.«
»Hm, schon. Allerdings muss ich demnächst zu einem Überstundengespräch zu Professor Astrup.«
»Autsch. Dann drücke ich dir mal die Daumen.«
»Er wird mich ordentlich in die Mangel nehmen.«
»Wie schlimm ist es denn?«
»Weit über hundert Überstunden. Eher fast zweihundert.«
»Das ist mal ein Wort. Aber nimm ihn doch einfach als Übungsobjekt. Steh zu dir selbst, und lass dich nicht runterziehen. Und lass dir die Überstunden auszahlen.«
»Du bist ein alter Schlauberger.«
»Ich weiß.« Vera klaut mir ein Stück Sushi und grinst.
Mit dem Fahrrad brauche ich volle zwanzig Minuten nach Hause. Gefühlt sind das etwa vierzig, weil Vera und ich zum Sushi noch diverse Gläser Wein getrunken haben. Es war ein schöner Abend, und ich fühle mich jetzt wirklich besser. Erschöpft steige ich vom Fahrrad und schiebe es die letzten Meter Richtung Hauseingang. Die Tür geht auf, und Frau Beier schießt heraus. Na, so ein Zufall.
»Sie sollten sich schämen! Wie konnten Sie nur!«
»Wie konnte ich was?«
»Dem unverschämten Bengel mit seinem komischen Fahrrad die Nische überlassen.« Ich trage mein Fahrrad in den Hausflur und erkenne Frau Beiers Problem: Das Mountainbike unseres Nachbarn steht schon wieder in der Nische. »Wieso? Passt doch.«
»Aber wir hatten eine Sondergenehmigung«, zischelt Frau Beier bedrohlich.
»Und?«
»Dieser unverschämte Kerl jetzt auch!«
Sie funkelt mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Na, dann ist doch alles geregelt.«
»Geregelt? Nichts ist geregelt, nichts. Sie werden schon sehen.«
Frau Beiers Stimme überschlägt sich vor Wut, und kleine Spucketropfen fliegen mir entgegen. Ich schließe mein Rad ab.
»Wenn die Hausverwaltung das so beschlossen hat, wird es schon seinen Grund haben. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Vorsichtig zwänge ich mich an der geifernden Beier vorbei. Ihre Augen sind blutunterlaufen. Das ist echt unheimlich.
»Nichts ist geregelt, nichts«, höre ich sie zischeln, während ich die Treppe zu meiner Wohnung hinaufgehe.
Ich bilde mir ein, das Zischeln immer noch zu hören, als ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zur Arbeit machen will. Vor meiner Wohnungstür stapeln sich Tüten mit … Müll? Was soll das denn? Hey, den Müll kenne ich! Das ist meiner. Aber wie hat er den Weg zurück zum Mutterschiff gefunden? Kleine beschriftete Zettel, die nur so vor Rechtschreibfehlern strotzen, erklären alles. Es war, natürlich, die Beier-Ziege. Mann, hat die eine Ausdauer. Es ist echt ungünstig, dass ältere Menschen nur noch so wenig Schlaf brauchen. Auf einem Stapel Papier steht: Die Fenster der Briefumschläge sind Plastick!!! Kein Papier!!! Und auf einer besonders stinkenden Tüte: Die Zettel an den Teebeutel sind Papier!! Also bitte. Ich schneide doch nicht die Fenster der Briefumschläge aus und die Teebeutelschilder ab. So weit kommt’s noch. Ich wasche ja nicht mal meine Joghurtbecher aus, und die Hüllen von Tampons und Kontaktlinsen sortiere ich auch nicht extra zum Plastik – das hat sie auch gemerkt. Fluchend raffe ich den Müllberg zusammen und ertaste schrittweise mit den Füßen den Weg die Treppe hinunter. Der Müll versperrt mir die Sicht. An der Haustür stoße ich auf ein Problem: Ich habe keine Hand mehr frei, um die Tür zu öffnen. Ich traue mich auch nicht, den Müllberg abzusetzen. Nachher fällt noch alles auseinander, und ich muss das blöde Treppenhaus putzen.
»Warte, ich helfe dir«, ertönt es hinter mir. Es ist der Fahrradnachbar.
»Oh, der Querulant«, begrüße ich ihn über die stinkenden Mülltüten hinweg.
»Gib mal her, das ist ja nicht mit anzusehen.« Er nimmt mir einen Großteil meiner Mülltrennungssünden ab und hält mir die Tür auf. »Hast wohl den Müll nicht ordentlich getrennt, was? Ich bin übrigens Arne«, stellt er sich vor, während er die Mülltonne öffnet.
»Anna«, ich werfe den Müllhaufen in die Restmülltonne, »vielen Dank für deine Hilfe.«
»Solltest du den Müll nicht auf die Tonnen verteilen?«
»Vergiss es. Ich trenne den ganzen Kram doch nicht noch mal.«
Wir gehen zurück zum Haus.
»Musstest du die arme Frau Beier so verärgern?«, frage ich ihn leicht vorwurfsvoll.
»Tut sie dir etwa leid?«
»Nein, ich tue mir leid. Weil ich sie nicht im Kampf gegen dich unterstützt habe, hat sie mich jetzt noch mehr auf dem Kieker als sonst.«
»Geht so was überhaupt?«
»Vermutlich nicht. Hat sie deinen Müll etwa auch schon mal durchwühlt?«
»Das macht sie jede Woche.«
»O Mann. Das ist echt krank. Wie hast du es überhaupt geschafft, deinen Anspruch auf die heilige Nische durchzusetzen?«
»Das war gar nicht so schwierig.« Arne grinst. »Ich habe mich dazu hinreißen lassen, der Hausverwaltung eine schriftliche Beschwerde wegen sexueller Diskriminierung zu schicken. Bislang durften ja nur Frauenräder im Hausflur stehen. Das Argument, dass auch Männer ein Recht darauf haben, hat sofort gezogen.«
»Und Frau Beier dreht jetzt völlig durch.«
»Ach was, die zetert vielleicht ein bisschen mehr als sonst. Das war’s dann auch schon. Du weißt doch, Hunde, die bellen …«
Auf dem Gehweg, direkt vor der Haustür liegt noch ein vergammelter Apfel. Rasch bücke ich mich danach, ich möchte die Situation ja nicht eskalieren lassen. Ein leises Rauschen lässt mich zusammenfahren.
»Vorsicht«, ruft Arne und zieht mich zur Seite. Hinter mir höre ich einen lauten Knall und zerberstendes Porzellan. Erschrocken drehe ich mich um. Genau an der Stelle, an der sich eben noch mein Kopf befand, ist ein Geranientopf zerschellt. Ich blicke nach oben und sehe gerade noch, wie eines der Fenster, die vom Hausflur zur Straße zeigen, geschlossen wird. Meine Knie werden weich.
»Alles in Ordnung?«, fragt Arne besorgt.
»Das war echt knapp. Vielen Dank.«
»Also, der Beier hätte ich ja viel zugetraut, aber so was! Ich hab mich wohl in ihr getäuscht.«
»Du meinst, sie war das?«
»Wer sonst? Das war ein richtiges Attentat.«
Mit wackligen Knien betrete ich den Hausflur. »Langsam fange ich an, den Gerüchten zu glauben, die behaupten, Frau Beier persönlich habe ihren unglücklich verstorbenen Mann die Kellertreppe hinunter gestoßen.«
»Echt? Ist ja krass.«
»Das ist unheimlich.«
»Wir sollten einen Nachbarschafts-Anti-Beier-Schutz aufstellen.«
»Gute Idee.« Ich schließe mein Fahrrad auf und schiebe es auf die Straße, wobei ich misstrauisch nach oben blicke.
»Vielen Dank noch mal und einen schönen Tag.«
Ich muss mich echt sputen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.
Völlig durchgeschwitzt, mit hochrotem Kopf und wild abstehenden Haaren betrete ich wenig später die Moby-Fit-Ambulanz. Alles ist wie immer. Frau Goldstein begrüßt mich strahlend mit einem Kaffee und bekundet ihr Mitgefühl dafür, dass ich mich so abhetzen musste. Katharina sitzt an Nils’ Platz und schreibt an ihrer Arbeit. Ich hänge meine Jacke auf und fahre den Computer hoch. Dann gehe ich die Post durch. Nichts Neues. Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich Nils mal wieder vermisse. Das ist auch nichts Neues. Leider. Dabei sollte ich stinksauer sein, weil er mich so einfach sitzengelassen hat und den Kerl abhaken. Mit der mir eigenen gehörigen Portion Naivität hoffe ich insgeheim immer noch, dass es sich um ein Missverständnis handelt und er mir nicht absichtlich aus dem Weg geht. Realistisch gesehen, entspricht aber die Version mit dem »einfach sitzengelassen« wohl eher der Wahrheit.
»Deine Mutter. Hier«, unterbricht Katharina plötzlich meine Gedanken.
»Bitte?«, verwirrt streiche ich mir eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Katharina hält mir mit fragendem Blick den Telefonhörer entgegen.
»Es ist das vierzehnte Mal, dass sie heute Morgen anruft. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert.«
»Vierzehn Mal? Es ist gerade erst Viertel nach acht.«
»Sie ruft seit halb acht ständig an.«
Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust nehme ich den Hörer. Hoffentlich ist nichts mit meinem Vater.
»Guten Morgen, Mutter, was gibt es?«
»Ich versuche seit halb acht, dich zu erreichen. Ich denke, du arbeitest so viel.«
»Ab acht. Was ist los?«
»Was los ist? Ich denke, das weißt du genau. Jetzt tu nicht so.« Ich habe keine Ahnung, aber ich bin sicher, sie wird’s mir gleich verraten.
»Frau Beier hat mir alles erzählt. Eine Schande ist das!«
»Schande ist gut. Sie hätte mich umbringen können. Aber bei den Fahrrädern ist mit ihr nicht zu spaßen.«
»Was redest du da? Lenk bloß nicht ab. Ich weiß alles über diese Männer, die bei dir ein und aus gehen und sogar bei dir übernachten.«
»Dann sei doch froh. Du willst doch immer, dass ich mich mit Männern treffe.«
»Aber nicht, dass du dich benimmst wie das letzte Flittchen. So findest du nie einen anständigen Mann, der dich in deinem Alter noch nimmt.«
»Jetzt komm mal runter. Nur weil ein Mann bei mir übernachtet hat, bin ich noch lange kein Flittchen.«
»Es war ja wohl nicht nur einer.«
»Ich bezweifle, dass Frau Beier das so genau mitbekommen kann, während sie meinen Müll durchwühlt.«
»Es ist einfach eine Schande. Wie kannst du mir das antun? Das nächste überregionale Kegelvereintreffen steht an, und du machst mich zum Gespött der Leute. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich habe doch immer alles für dich getan. Wie konntest du nur?«
»Falls es dich vielleicht interessiert: Ich hab gar nichts getan.«
»Immer diese Lügen. Hör auf damit. Du bist und bleibst eine einzige Enttäuschung für mich.«
»Dann sollten wir dieses Gespräch lieber beenden.« Wutschnaubend lege ich auf.
»Alles in Ordnung?«, fragt Katharina.
»Alles bestens«, antworte ich knapp, verlasse schnell den Raum und verstecke mich auf der Toilette, bevor ich noch vor irgendwem in Tränen ausbreche. Ich weiß doch, wie meine Mutter tickt. Aber trotzdem verletzt es mich jedes Mal, wenn sie mich mal wieder als Versagerin darstellt. Das ist so unfair. Vielleicht sollte ich einfach weit weg ziehen. Irgendwohin, wo mich keine Kegelschwestern meiner Mutter terrorisieren können. Dieser Ort muss definitiv weit weg sein, so vernetzt, wie die Damen sind. Ich atme noch mal tief durch. Langsam löst sich der Kloß in meiner Kehle. Jemand betritt die Toilette: »Anna?« Mist, es ist Katharina.
»Kann man hier nicht mal in Ruhe für zwei Minuten auf die Toilette gehen?«
»Entschuldige, aber die Sekretärin von Professor Astrup hat angerufen. Er erwartet dich zu einem Gespräch.«
»Wann?«
»Na ja, jetzt sofort.«
»Gut, vielen Dank.«
Das hat mir gerade noch gefehlt! Was für ein blöder Zeitpunkt! Jetzt, wo ich durch die Bösartigkeiten meiner Mutter angeschossen bin, bin ich für ihn leichte Beute. Wenn ich an so was glauben würde, könnte ich glatt meinen, die hätten sich alle gegen mich verschworen. Das Schicksal nervt manchmal echt. Mit Leichenbittermiene mache ich mich auf den Weg zu Professor Astrups Büro, um mein Urteil zu erwarten. Inzwischen habe ich meine zweihundertste Überstunde erarbeitet und auch noch aufgeschrieben, anstatt sie unter den Tisch fallen zu lassen. Dafür wird er mich nicht ungeschoren davonkommen lassen. Ich wünschte, Nils wäre hier, um mir ein paar Tipps für das nun anstehende Tribunal zu geben. Während ich das Chefbüro betrete, versuche ich krampfhaft, einen entspannteren Gesichtsausdruck aufzusetzen. Fühlt sich nicht so an, als ob es klappen würde.
Professor Astrup sieht aus, als wäre mit ihm heute gar nicht gut Kirschen essen.
»Frau Dr. Plüm. Sie wissen, warum ich Sie zu diesem Gespräch gebeten habe?«
Vielleicht, um meine großartige Arbeitsleistung zu würdigen? – Könnte ich nur so zum Spaß mal antworten. Ich würde zu gern nur ein einziges Mal von meinem Chef gelobt werden. Schließlich mache ich einen super Job. Hat denn in den oberen Etagen noch niemand was von positiver Verstärkung gehört? Anscheinend nicht. Um das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszuzögern, entscheide ich mich dafür, zu lügen: »Ehrlich gesagt, Professor Astrup, weiß ich es nicht.«
»Frau Plüm«, der Herr Professor atmet tief durch und streckt mir ein Papier entgegen, »was sehen Sie dort auf dem Papier?«
»Hmm, mal sehen. Sieht aus wie eine Zeiterfassungstabelle. Hmm. Oh, das ist ja meine Zeiterfassung.«
Professor Astrup verliert bei meiner schlecht gespielten Ahnungslosigkeit langsam die Geduld.
»Ganz richtig, es ist Ihre Zeiterfassung. Und was ist das bitte für eine Zahl, die rechts unten, am Ende der Tabelle steht?«
»Eine zweihundertvier.«
»Eine zweihundertvier, Sie sagen es«, Professor Astrup läuft rot an und fängt an, in seinem Zimmer auf und ab zu laufen: »Frau Plüm, wie konnte das passieren?«
»Wie? Was passieren?«
»Wie um alles in der Welt konnten Sie es wagen, so viele Überstunden anzusammeln?«
Nun, wenn ich es mir recht überlege, ist die Antwort auf diese Frage ganz einfach. Ich bezweifle nur, dass er sie hören möchte. Noch bevor ich den Mund öffnen kann, fährt er fort.
»Sie wissen, dass wir uns diese Überstunden nicht erlauben können.«
Langsam werde auch ich wütend: »Warum ich so viele Überstunden habe? Nun, das ist relativ einfach: Ich habe zu viele Extraschichten gemacht, für die, nebenbei bemerkt, Sie mich eingeteilt haben.«
»Was soll das heißen, zu viele Extraschichten? Damals, vor diesen ganzen Arbeitnehmerrechten, haben wir achtundvierzig Stunden am Stück gearbeitet.« Professor Astrups Stimme bebt. Ich wusste doch, dass er die Antwort nicht hören wollte. Vielleicht hätte ich einfach meine vorlaute Klappe halten können. Astrup redet sich in Rage: »Wir waren dankbar dafür, so viel arbeiten zu dürfen. Meine Frau habe ich teilweise wochenlang nicht gesehen.«
Gut, bei Professor Astrups Frau würde mir das auch nichts ausmachen.
»Wir haben gearbeitet und es genossen. Ich weiß gar nicht, was dieses neumodische Arbeitsrecht überhaupt soll.«
Ich nehme all meinen Mut zusammen. »Tja, dieses Arbeitsrecht gibt es aber nun mal, und wenn ich die Überstunden nicht mit Freizeit ausgleichen kann oder sie ausgezahlt werden, dann werden es immer mehr.«
Ich lege eine bedeutungsvolle Pause ein, um meinen nachfolgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen.
»Sie wissen doch, was passiert, wenn eine Kontrolle stattfindet und herauskommt, dass die Assistenten übermäßig viel Mehrarbeit leisten.«
Normalerweise bin ich nicht so mutig. Aber ich bin deprimiert. Wegen Nils. Und wegen der ganzen Deppen, die auf mir herumhacken. Was kann mir schon passieren? Dass Astrup mich rauswirft? Fein, dann gehe ich eben mit den Ärzten ohne Grenzen ans Ende der Welt in ein Land, in dem Kegeln verboten ist, und finde dort die Liebe meines Lebens in Form eines sozial engagierten Biologen oder Geologen oder so. Für den würde ich dann sogar den Müll ordentlich trennen. Alles ist besser, als weiter mit dem Mann, der mich so gedemütigt hat, arbeiten und Menschen wie meine Mutter und die Beier-Ziege ertragen zu müssen. Professor Astrup läuft hochrot an: »Wollen Sie mir etwa drohen?«
»Nein. Ich sage nur, wie es ist. Ich habe mir die Gesetze nicht ausgedacht.«
Und bin dabei heilfroh, dass ein anderer so engagiert war, das zu tun. Astrup setzt sich wieder an seinen Schreibtisch und beugt sich zu mir vor.
»Frau Dr. Plüm«, säuselt er, »Sie wissen doch, dass ich voll hinter Ihnen stehe. Sie profitieren doch von Ihrer Arbeit und dem, was Sie hier lernen.«
Am liebsten würde ich sagen: Na und! Dafür schmücken Sie sich ja auch mit dem Titel Lehrkrankenhaus. Diesmal halte ich feige den Mund. Ein säuselnder Professor Astrup ist mir viel unheimlicher als ein tobender.
Er säuselt weiter: »Frau Plüm, Sie wissen doch, dass wir es uns nicht leisten können, die Assistenten während der Regelarbeitszeit auszubilden. Ihre Überstunden dienen somit Ihrer Ausbildung, und dafür sollten Sie dankbar sein.«
»Oh, das bin ich. Ich bin sehr dankbar für die Ausbildung, die ich hier genieße, aber die Überstunden müssen trotzdem ausgeglichen werden. Sie haben meine Arbeitszeit gerne in Anspruch genommen und die sollte auch tarifgemäß bezahlt werden. Sie wissen, dass ich hier einen verdammt guten Job erledige!«
O mein Gott! Habe ich das gerade tatsächlich gesagt? Ich scheine derzeit eine ausgeprägte Neigung zur Selbstzerstörung zu haben. Professor Astrup lehnt sich seufzend in seinem riesigen Chefsessel zurück und schweigt nachdenklich. Die Stille zieht sich hin wie ein ausgelutschter Kaugummi. Während ich nervös mit meinem Fuß wippe, glätten sich die Zornesfalten auf seiner Stirn.
Nach einer gefühlten Ewigkeit seufzt Astrup erneut und fährt fort: »Ach Frau Plüm. Lassen wir dieses Theater für einen Augenblick. Sie haben ja recht. Ich wünschte, mehr Mitarbeiter hätten die Courage, die Dinge so auszusprechen, wie sie sind.«
Hä?
»Glauben Sie mir, es macht mir keinen Spaß, Sie und die anderen Assistenten ständig unter Druck zu setzen.«
Hä?
»Ich weiß sehr wohl, was ich an Ihnen habe.«
Das muss ein Traum sein!
»Aber die Verwaltung sitzt mir im Nacken. Ich muss sparen, sparen und nochmals sparen.«
Langsam bekomme ich fast schon Mitleid mit ihm. Mir macht Sparen auch keinen Spaß.
»Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir Ihnen die Überstunden auszahlen?«
»Hä? Äh, ja … also … Das wäre schon in Ordnung.« Jetzt hat Professor Astrup anscheinend endgültig den Verstand verloren.
»Gut«, er strafft sich wieder, »ich werde das in die Wege leiten. Gegen geltendes Arbeitsrecht kann ich schließlich nicht verstoßen. Ach und eines noch: Dieses Gespräch hat so nie stattgefunden.«
»Nein, natürlich nicht, Herr Professor.«
Sollte mein Chef tatsächlich eine menschliche Seite haben? Komische Vorstellung. Hoffentlich hält sie so lange an, bis das Geld auf meinem Konto ist.
Ich bin den restlichen Tag über mächtig stolz darauf, wie ich das Überstundengespräch gemeistert habe und versuche, nach der Arbeit sofort Vera anzurufen. Ich habe es tatsächlich geschafft, meinem Chef die Meinung zu sagen und mich durchzusetzen, und das sogar ohne eines dieser Ratgeberbücher. Das muss gefeiert werden. Doch bei Vera geht nur der Anrufbeantworter ran. Schade. Ich versuche es bei Till.
Er geht sofort ran: »Hallo, Till, hier …«
»Hey, Till, was machst …?«
»… oh, warte mal, es klingelt an der Tür …«
Ich warte wie auf heißen Kohlen. Dann höre ich ihn wieder.
»… Ach ja, was ich noch sagen wollte: Ich bin gerade nicht erreichbar. Also hinterlass mir doch ’ne Nachricht nach dem Piepton.«
Ich lege auf. Till immer mit seinen blöden Streichen. Ich bin doch tatsächlich mal wieder darauf reingefallen.
Okay, mit Vera und Till ist wohl heute Abend nicht mehr zu rechnen. Ich rufe Caro an.
»Hallo, Anna, wie geht es dir?«
»Gut, gut. Du, ich wollte mal fragen, ob du heute Abend spontan Lust hast, auf einen Wein vorbeizukommen.«
»Oh, sei mir nicht böse, aber wir fahren gleich zu Freunden von uns aus dem Geburtshilfekurs zum Grillen.«
»Na, dann wünsche ich euch viel Spaß.« Enttäuscht lege ich auf. Was will Caro denn auf einmal mit den Geburtshilfekurs-Tussis? Die fand sie doch immer total anstrengend. Meine Freunde machen sich also alle einen schönen Abend. Das kann ich auch. Ich kann mir was Schönes kochen, mir ein Glas guten Wein gönnen, einen schönen Film sehen oder ein gutes Buch lesen … Ich entscheide mich für einen kitschigen Liebesroman.