Kapitel 2
Es ist wie in einem schlechten Film: Sechzehn Uhr siebenundfünfzig, kurz vor dem Klingeln des Weckers, schrecke ich aus einem Alptraum hoch und liege mal wieder fix und fertig in meinem Bett. Ich habe die ganze Nacht oder vielmehr den ganzen Tag von diesem penetranten Mister Pullunder geträumt.
Ich saß in einem dunklen Raum an einem Holztisch mit einer kleinen Stehlampe, und vor mir lagen eine Krankenakte und ein Kugelschreiber. Eine Uhr tickte laut. In der Krankenakte lagen der Aufnahmebogen des Patienten, der anscheinend wegen einer Magen-Darm-Grippe aufgenommen worden war, und eine Menge Laborwerte.
Mister Pullunder trat mit seinen zornig funkelnden Rehaugen in den Lichtschein und sagte: »Die Anordnungen bitte, Frau Doktor. Sie haben noch fünf Minuten.« Tatsächlich, der Anordnungsbogen war noch leer. Also machte ich mich wohl oder übel daran, ihn auszufüllen. Immer wenn ich nach meinen Berechnungen die Menge und Zusammensetzung der Infusion aufschrieb, verschwand diese, und es erschien in leuchtendem Rot das Wort FALSCH. »Sie sind zu vorschnell«, fuhr Mister Pullunder mich an. So ein Quatsch, ich war mir absolut sicher. FALSCH. Ich rechnete noch einmal. FALSCH. »Sie verstehen doch gar nicht, worum es hier geht.« FALSCH. Verzweifelt versuchte ich ihn anzuschreien, ihm zu sagen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Doch ich bekam keinen Ton heraus.
Das hasse ich an Nachtdiensten: Ich träume wirres Zeug und verpasse durch das Schlafen am Tag wertvolle Lebenszeit. Ich bin so unglaublich müde. Aber während ich so langsam wacher werde, realisiere ich plötzlich, dass ich jetzt eine eigene Ambulanz habe. Das ändert alles. Heute ist ein guter Tag, äh, Abend.
Schon etwas motivierter, schlurfe ich in die Küche und stelle die Kaffeemaschine an. Neben der Maschine liegt ein Stapel meiner Lieblings-Ratgeber. Ich greife das oberste Buch und blättere es langsam durch, während die Maschine warm wird. »Positives Denken – Das Optimismustraining«. Das ist für heute genau die richtige Lektüre. Die Maschine piept, ich stelle eine Tasse bereit und drücke den Knopf für einen doppelten Espresso. So ein Kaffeeautomat ist doch was Herrliches! Ich rühre drei Stücke Zucker in meinen Kaffee und mustere die restlichen Bücher. »Denke positiv und Dein Leben wird sich vervollkommnen« und »Abnehmen durch positives Denken« klingt auch gut. O ja, ich liebe Ratgeber! Ratgeber für ein glückliches, positives, optimistisches, schlankes, perfektes Leben. Sie füllen neben Medizinbüchern und einigen Frauenromanen fast mein gesamtes Bücherregal aus. Es ist vielleicht übertrieben, ständig die aktuellen Neuerscheinungen zu kaufen, aber im Geschäft bin ich immer absolut überzeugt davon, ohne eben diesen Ratgeber nicht vernünftig weiterleben zu können.
Ich arbeite auch, mit einigen Unterbrechungen, fleißig an mir. Neben den Ratgebern besitze ich ein Arsenal von Notizbüchern, um das Wichtigste für ein besseres, ausgeglichenes Leben festzuhalten. Da in jedem meiner Selbstverwirklichungs-Notizbücher nur jeweils die ersten ein bis zwei Seiten beschrieben sind, könnte man den Eindruck bekommen, es mangele mir an Disziplin. Dem ist nicht ganz so. Ich habe eben viel zu tun. Ich versuche zum Beispiel fast regelmäßig eine Art Meditation, um mich selbst schönzudenken. Nicht dass ich völlig unzufrieden mit mir selbst wäre. Wirklich dick bin ich nicht. Aber auch nicht richtig dünn. Unperfekt eben. Ein Blick in eine Frauenzeitschrift, und ich entdecke wieder einen Haufen kleiner, aber hartnäckiger Makel an mir. Meine aktuelle Hauptproblemzone sind kleine Röllchen an Hüfte und Bauch, die sich beim Sitzen über den Hosenbund wölben. Oder meine wabbeligen Oberarme. Oder das leidige Thema Cellulite. Bei unserem Arbeitspensum kann ich gar nicht so viel Sport treiben, dass die Schokolade, Gummibärchen und Kekse, die zum Dienst gehören wie das Stethoskop, sich nicht negativ auswirken würden.
Da fällt mir auch gleich eine weitere akute und äußerst unangenehme Problemzone ein: das Ehepaar Dietrich! Darum sollte ich mich zuerst kümmern. Bevor ich ins Bett gegangen bin, habe ich Vera eine Nachricht geschickt, in der ich ihr kurz mein Dietrich’sches Problem mitgeteilt und sie gebeten habe, die Pinnwand zu überwachen. Einem potentiellen Skandal, der mich betreffen könnte, werde ich mit allen Mitteln entgegenwirken. Ich greife zu meinem Telefon.
»Na, schon ausgeschlafen?«, begrüßt Vera mich.
»Nicht wirklich. Ich habe völligen Unsinn geträumt.«
»Von dem liebestollen Dietrich?«
»Nein, nein, von so ’nem Irren, der mich heute Morgen blöd angemacht hat. Aber jetzt sag mal, gibt’s was Neues aus der Klinik?«
»An der Pinnwand hängt ein grellgrüner Zettel, auf dem steht, dass Dr. Mösli seine Frau betrügt. Sonst nichts.«
»Hmm, Fr. Mösli war wohl wütend genug, einen neuen Zettel anzubringen. Dann hätte der Quatschkopf von heute Morgen es sich ja sparen können, den alten abzureißen.«
»Von wem redest du eigentlich?«
»Ach, von so ’nem moralisch überreagierenden Kerl, der mich heute Morgen angeschnauzt hat, weil ich den Mösli-Zettel gelesen habe, anstatt ihn abzunehmen. Als ob ich der Pinnwandwärter wäre.«
»Nee, der bin ich ja jetzt.«
»Der Typ ist etwa einen Kopf größer als ich, braune Haare, braune Augen, blauer Pullunder. Hast du den schon mal gesehen? Der benahm sich so, als würde er bei uns in der Klinik arbeiten. Er kommt mir auch irgendwie bekannt vor.«
»Lass mich mal überlegen, braune Haare, braune Augen und durchschnittlich groß. Das ist ja mal eine eindeutige Beschreibung. Gibt es denn irgendein besonderes Merkmal?«
»So genau habe ich ihn mir nun auch wieder nicht angeschaut.«
»Ist gut. Ich halte die Augen offen. Was dein Dietrich-Problem betrifft, werde ich versuchen herauszubekommen, wer wirklich das heimliche Liebchen ist. Ich kenne da jemanden in der Verwaltung, der für sämtliche Telefonverbindungen der Klinik zuständig ist, vielleicht kann der weiterhelfen. Ich wünsche dir einen ruhigen Dienst.« Vera legt auf.
Ich muss unbedingt mit unserem liebestollen Doktor sprechen und das Missverständnis aufklären. Leider geht das erst morgen früh. Ich muss mich also noch ein wenig gedulden, und das ist so gar nicht meine Stärke. Vielleicht beruhigt sich Frau Doktor Dietrich ja wieder, wenn sich ihr Mann mal um sie kümmert. Oder besser gesagt, falls sich ihr Mann überhaupt mal um sie kümmert.
So, Schluss mit der Grübelei. Der Gedanke, dass moi, wie der frankophile Dietrich sagen würde, in einen Klinikskandal verwickelt sein könnte, lässt zwar eine gewisse Panik in mir aufsteigen, aber heute ist ein guter Tag. Heute muss ein guter Tag sein! Die Sonne scheint, die Blumen auf meiner Terrasse blühen so schön wie nie zuvor, der Anrufbeantworter zeigt keine unbeantworteten Anrufe meiner Mutter, und mein Magen fängt langsam, aber unmissverständlich an zu knurren. Als ich den Kühlschrank öffne, um nach etwas Essbarem zu suchen, das sich als abendliches Frühstück eignet, klingelt es an der Tür. Hoffentlich ist das nicht die blöde Beier. Misstrauisch schaue ich durch den Spion, und mir fällt ein Stein vom Herzen. Es ist mein bester Freund Till.
Erleichtert reiße ich die Tür auf und falle ihm erst mal um den Hals: »Till! Schön, dich zu sehen … Komm rein …«
»Na, ich dachte, ich schaue mal vorbei, damit du während deiner Nachtdienstwoche nicht total vereinsamst.«
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Lass nur, ich mach mir selber einen. Ich habe frische Brötchen mitgebracht. Du hast doch bestimmt noch nicht gegessen, oder?« Till schwenkt stolz die prall gefüllte Papiertüte, aus der es verführerisch duftet.
Mein Magen knurrt noch lauter als zuvor. Till mustert mich kurz: »Dachte ich’s mir doch. Mach du dich in Ruhe fertig. Ich kümmere mich um alles.«
Till wohnt nur einen Block weiter und kommt gerne mal spontan vorbei. Als bester Freund ist er einfach unschlagbar. Während ich mich ins Bad verziehe, um zu duschen, deckt er den Frühstücks-Abendbrottisch auf der Terrasse. Dabei sieht er wieder aus wie aus dem Ei gepellt. Seine Garderobe ist stets auf dem neuesten Stand, und er hat eine Vorliebe für handgenähte italienische Schuhe. Da er einen lässigen Kleidungsstil bevorzugt, wirkt es meist so, als habe er ganz zufällig einen perfekten Griff in den Kleiderschrank getan. Aber ich weiß genau, dass bei der Wahl seiner Outfits alles durchdacht ist. In seinem Kleiderschrank findet sich hundertprozentig kein einziges Teil aus der vergangenen Saison.
Ich ziehe mir schnell eine Jogginghose und ein altes T-Shirt an, wickele mir ein Handtuch um die nassen Haare und setze mich an den Tisch. Mhmm, das sieht aber gut aus! Till stellt einen Milchkaffee und frisch gepressten Orangensaft vor mich hin. Irgendwas ist da im Busch. Till ist zwar fast wie ein Bruder für mich und pflegt diese Freundschaft auch rührend, aber frisch gepresster Orangensaft? Das ist dann doch ein bisschen dick aufgetragen. Na, ich bin ja mal gespannt.
»Und, hast du gut geschlafen?«, fragt er, während er mir gegenüber Platz nimmt. Oh, oh, der Busch wächst langsam zu einem Baum. Ich platze gleich vor Spannung.
»Ging so. Vielen Dank für das tolle Frühstück.«
Ich darf mir jetzt bloß nichts anmerken lassen, sonst rückt er nie damit raus. Till rührt und rührt in seinem Espresso herum. Das Zuckerstückchen, das er hineingeworfen hat, hat sich sicher schon vor Minuten aufgelöst. Dann hält er inne und sieht mich prüfend an. »Meinst du, ich könnte in nächster Zeit ab und zu mal bei dir übernachten?«
Überrascht reiße ich die Augen auf und verschlucke mich an meinem Milchkaffee.
»… auf deinem Sofa, meine ich. Während deiner Nachtdienste störe ich dich doch eh nicht.«
»Du störst mich nie, aber was ist denn los? Hast du einen Wasserrohrbruch, oder was?«
Die wichtige Frage ist dabei »oder was?«. Wegen irgendwelcher Schäden in seiner Designerwohnung würde Till nicht so herumdrucksen. Außerdem würde er sich dann von seiner Versicherung ein schönes Hotel bezahlen lassen.
»Nein, nein, mit der Wohnung ist alles in Ordnung. Das Problem ist Theresa.«
Till hat also mal wieder Probleme mit dem anderen Geschlecht. Wer hat die nicht? Till hat fast täglich wechselnde Affären, On-off-Beziehungen und One-Night-Stands, die regelmäßig zu unschönen Verwicklungen führen. Erstaunlicherweise wundert er sich immer wieder darüber. Ich nicht.
Wer ist nun schon wieder Theresa? Ratlos schaue ich Till an, während ich verzweifelt versuche, mich an all die Frauennamen zu erinnern, die er in den letzten Wochen so nebenbei in den Raum geworfen hat.
»Die Brünette, die ein Praktikum in deiner Firma gemacht hat?«
»Nein, das war Jana. Mensch, Anna, du hast manchmal echt ein Gedächtnis wie ein Sieb. Ich hab dir doch von Theresa erzählt.«
Das mag sein, aber Till spricht ja ständig von irgendwelchen Eroberungen. Nicht wenige von ihnen sind tatsächlich Praktikantinnen in der Werbeagentur, in der er arbeitet. Er verdreht die Augen.
»Theresa ist die, die ich auf der Messe in München kennengelernt habe.«
»Ach die, wohnt die nicht in München?«
»Jetzt nicht mehr. Sie leitet neuerdings hier ein Projekt und hat erst mal im Grandhotel eingecheckt.«
Das liegt fast direkt gegenüber von Tills Wohnung. Das ist ja scharf!
»Und was ist das Problem? Sie wird doch nicht ewig hier sein. Amüsier dich doch ein bisschen.«
»Das geht nicht. Sie will mehr. Solange wir beide nur Spaß wollten, war ja alles gut.«
»Hat sie dir gesagt, dass sie mehr will?«
»Nein. Aber sie stand gestern Abend plötzlich mit einer Flasche Wein vor meiner Wohnungstür.«
»Das ist doch nett.«
»Ich hatte gerade Besuch.«
»Von?«
»Carla.«
»Carla?« Wer ist das nun schon wieder?
»Ist auch nicht so wichtig. Der Punkt ist, dass ich mich nicht einengen lassen möchte. Es war doch nur Spaß. Ich habe das gleich zu Beginn klargestellt, und sie war damit einverstanden.«
»Vielleicht wollte sie auch nur Spaß mit dir und einer Flasche Wein. Wie schlimm war’s denn?«
»Gar nicht. Das ist ja das Seltsame. Sie hat nur gelächelt und gesagt: Na dann, ein andermal vielleicht. Die lässt einfach nicht locker.«
»Na und? Sie wohnt doch im Hotel, also scheint sie nicht ewig zu bleiben. Wie schon gesagt. Wo ist dann das Problem?«
»Sie möchte erst mal schauen, wie es hier so läuft.«
»Ach, und daraus schließt du, dass es von dir abhängt, wie es hier so läuft? Bisschen eingebildet bist du manchmal schon.«
Das ist Till tatsächlich, und ein wenig kann ich das sogar nachvollziehen. Er hat ein schönes, mir etwas zu androgynes Gesicht mit den blauesten Augen, die ich jemals bei einem Erwachsenen gesehen habe. Selbst dass er seine dunkelblonden Haare mit dem gleichen Rasierer schneidet wie seinen pedantisch gepflegten Dreitagebart sieht unverschämt gut aus.
»Theresa hat mich heute Morgen im Büro angerufen und gefragt, ob ich mit ihr mittagessen möchte.«
»Vielleicht wollte sie etwas Spaß mit dir bei einem Mittagessen?«
»Anna, das ist nicht witzig. Die Frau ist bestimmt ’ne Stalkerin.«
»Vielleicht ist sie verliebt? Wenn du dich mal verlieben würdest, fändest du es bestimmt toll, so hartnäckig umworben zu werden. Sie scheint sich vorgenommen zu haben, um dich zu kämpfen.«
Verstehen kann ich so was ja nicht. Wenn ich was mit einem Mann anfange, dann hat der sich gefälligst nur für mich zu interessieren. Sollte das nicht der Fall sein, ist der Typ schnell Geschichte.
»Verliebt …«, Till verzieht angeekelt das Gesicht.
»Na, wie auch immer. Natürlich kannst du gerne ab und zu hier schlafen. Aber, keine Frauengeschichten auf meinem Sofa. Überhaupt gar keine Frauengeschichten in meiner Wohnung. Ist das klar?«
»Ja, du alte Spießerin. Ich hab übrigens die Post mitgebracht. Liegt auf der Anrichte.«
Man mag es kaum glauben, aber Till ist auch ein hervorragender Freund, um meine Blumen zu gießen und nach dem Rechten zu schauen, wenn ich im Urlaub bin. Und natürlich um mich zu retten, wenn ich mich mal wieder ausgeschlossen habe. Deshalb habe ich ihm auch einen meiner beiden Ersatzschlüssel anvertraut. Den anderen hat Vera bekommen. Sicher ist sicher.
»Vielen Dank, damit hast du dich ja schon mal gut als neuer Teilzeit-Mitbewohner eingeführt. Sind bestimmt wieder nur Rechnungen und Werbung.«
»Tja, dann bist du wohl überführt.«
»Wobei?«
Till macht mir noch einen Kaffee und drückt mir einen Stapel Briefe in die Hand. Wie ich gesagt habe, Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen, Werbung und ein Schreiben von einer renommierten Schönheitsklinik. Komisch.
»Na los, sag schon: Was hast du machen lassen?« Till mustert mich neugierig, »deine Möpse waren’s ja wohl schon mal nicht.«
»Du bist echt so was von oberflächlich.«
Um weiteren Spekulationen vorzubeugen, öffne ich rasch den Umschlag.
»Oh, das ist ein Brief von Ben. Er arbeitet in dieser Klinik.«
Till ahmt einen Kussmund nach und wirft schmatzend Küsse in die Luft: »Na fein. Dann geht das ja schon wieder los … Ben … Ben … Ben … Ben …«
Ach ja, Ben. Ben habe ich vor etwa sechs Wochen auf der Kostümparty einer Freundin kennengelernt. Er sieht fast aus wie einem Werbekatalog entsprungen – ungelogen! Das liegt nicht nur an seiner Größe von etwa einem Meter achtzig und seinen gut definierten Muskeln, auch seine markanten Gesichtszüge tragen dazu bei. Ben ist dreißig und plastischer Chirurg. Weil er direkt aus der Klinik auf die Party gekommen war, hatte er keine Zeit, sich um ein richtiges Kostüm zu kümmern. Stattdessen kam er in einem Aufzug, der in der Tat nicht einfallsloser hätte sein können: OP-Kleidung! Der Chirurg geht als Chirurg zur Party! Dabei lautete das Motto Cartoon. Till, meine Freundin Caro, ihr Mann Ralf und ich waren dagegen als die Ehepaare Feuerstein und Geröllheimer in Steinzeit-Fellimitaten erschienen. Als besonderen Gag hatten wir aus Pappe das Feuerstein-Auto nachgebaut, in dem wir als Fred, Wilma, Barney und Betty auf der Party auftauchten. Bens liebloses Kostüm war Grund genug für mich, ihn erst mal zu ignorieren. Phantasielose Männer kommen für mich nicht in Frage.
Mit einem simplen, aber wirkungsvollen Trick schaffte er es zu später Stunde dann doch noch, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Er besorgte sich von der Gastgeberin Papier, Schere und Filzstifte, bastelte sich ein Superman-Abzeichen und heftete es mit einer Wäscheklammer vorne auf seinen OP-Kasack. Einen dunkelblauen Schal der Gastgeberin funktionierte er zu einem Umhang um. Dann brachte er mir mit den Worten: »Darf ich mich Ihnen vorstellen? Ich bin Superchirurg, gekommen, um die Welt zu retten und alle einschlägigen Vorurteile gnadenlos zu erfüllen«, einen Cocktail. Ich konnte nur überrascht wispern: »Oh, Superchirurg, ich muss gestehen, noch nie von Ihnen gehört zu haben.«
Er konterte mit: »Das heißt nicht, dass es mich nicht gibt. Viele wahre Helden werden von der Öffentlichkeit verkannt. Auch ich trete lieber inkognito auf. Aber Sie, die schönste aller Steinzeitfrauen, haben mir keine andere Wahl gelassen, als mich zu outen.«
Ich gab mich geschlagen. Eigentlich stehe ich nicht auf Chirurgen und erst recht nicht auf plastische. Diese personifizierten Götter in Weiß halten sich meist ernsthaft für Superman. Sie können alles, sie wissen alles, und ohne sie würde die Welt zugrunde gehen. Niedere Arbeiten und Mitgefühl sind unter ihrem Niveau. Die meisten von ihnen sind borniert, und fast die gesamte Frauenwelt liegt ihnen zu Füßen. Ben ist der Erste, der das mit einem simplen Kostüm so selbstironisch auf den Punkt gebracht hat. Am Ende der Party hatte er mich mit seinem Charme völlig um den Finger gewickelt und konnte schließlich auch noch seine Heldenqualitäten unter Beweis stellen: Als Caro, Ralf, Till und ich bereit für den Heimweg wieder in unserem Feuerstein-Mobil standen, hatten wir ein Koordinationsproblem. Till wollte nach rechts, um sich noch von einer heißen Daisy Duck zu verabschieden, Caro und ich zogen nach links, weil wir endlich nach Hause wollten. In dem nachfolgenden Durcheinander brach das in stundenlanger Arbeit liebevoll zusammengeleimte Feuerstein-Mobil auseinander. Caro stolperte über ihre Autotür, ich fiel über Caro und verstauchte mir den Fuß.
Zum Glück kam Ben mir gleich zu Hilfe. Nachdem er mir liebevoll den Fuß gekühlt und bandagiert hatte, trug er mich ganze zwei Kilometer nach Hause. Ben ist passionierter Leichtathlet und tatsächlich stark genug, jemanden wie mich durch die Gegend zu schleppen. Es war wie in einem meiner Lieblings-Schnulzen-Filme. Es sind eben nicht alle plastischen Chirurgen gleich.
Ein Klischee erfüllt Ben leider doch. Er fährt eine typische Schwanzverlängerung, in seinem Fall einen Porsche. Aber im Vergleich mit seinen guten Eigenschaften fällt das gar nicht weiter ins Gewicht. Ich brauche einen Mann, der gut aussieht, intelligent ist und mich versteht, ohne dabei unmännlich zu wirken. Ben ist so einer.
Außer ein paar romantischen Abendessen zu zweit und den jeweiligen Abschiedsknutschereien ist aber zwischen uns noch nichts gelaufen. Ich möchte es langsam angehen lassen. Eines ist aber schon mal äußerst vielversprechend: Ben kann richtig gut küssen! Das ist mir bei einem Mann sehr wichtig. Wenn einer nicht küssen kann, dann ist der Sex meistens auch eine Katastrophe.
»Hallo, Erde an Anna! Was schreibt er denn nun, dein Ben?«
Till greift über den Tisch und schnappt sich den Brief. Dabei zerreißt das dünne Klinikbriefpapier fast.
»Liebe Anna … Also jetzt mal im Ernst, was ist das denn für ein Weichspüler … Liebe Anna …«
»Das ist mein Brief, gib ihn her.«
Wir springen fast gleichzeitig von unseren Stühlen auf. Till hält mit der rechten Hand den Brief hoch über seinen Kopf, während er mich mit der linken auf Abstand hält. Selbst wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und hüpfe, da komme ich nie dran. Ich gebe auf und setze mich wieder. Till fährt, an das Terrassengeländer gelehnt, fort: »Liebe Anna, ich wünsche Dir eine ruhige und angenehme Dienstwoche und hoffe, dass Du nicht zu viel zu tun hast. Wenn der Stress vorbei ist und Du ausgeschlafen hast, meld Dich einfach. Ich freu mich auf Dich. Lieben Gruß, Ben.«
Er schüttelt sich, wirft den Brief auf den Tisch und setzt sich wieder. »Gott, ist das schmierig. Steht ihr Frauen echt auf so ’n Zeug?«
»Na klar. Vorausgesetzt, es kommt vom Richtigen. Sonst wird’s peinlich.«
»Jetzt mal im Ernst. Wie könnt ihr denn auf so was reinfallen? Wenn ein Typ dir das hier schreibt, dann will er nur eins, mit dir in die Kiste.«
»Nicht alle Männer sind so wie du.«
»Der hier schon. Statt liebe Anna, blablabla könnte da genauso gut stehen: Hey, lass uns endlich mal vögeln, diese harmlosen Dates gehen mir auf die Nerven.«
»Du kennst ihn überhaupt nicht.«
»Da hast du recht, aber das heißt nichts. Dann erzähl doch mal: Wie läuft’s denn gerade mit deinem Porsche-Ben?«
»Nenn ihn nicht so. Er ist wirklich ein toller Mann und hat, wie du gerade bemerkt haben könntest, weitaus interessantere Eigenschaften als sein Auto.«
»Na, wenn du meinst. Und wie läuft’s, abgesehen von schmalzigen Briefen?«
»Ich möchte nichts überstürzen, aber ich habe ein sehr gutes Gefühl.«
»Das heißt also, du malst dir bereits eure gemeinsame Zukunft mit Haus, Garten, Hund und drei Kindern aus.«
»Ach komm, so habe ich das doch gar nicht gemeint.«
»Aber genau so ist es. Ich kenne dich. Wenn du den Kerl toll findest, dann wünsche ich dir nur das Beste. Aber du hasst es, Single zu sein, und wenn eine Frau schon Schnuller in den Augen hat, kann sie einen Mann ganz rasch vergraulen.«
»Was heißt hier Schnuller in den Augen? So bin ich gar nicht. Ich liebe meine Unabhängigkeit, und meiner biologischen Uhr geht es ganz hervorragend.«
»Mag sein, dass ich gerade etwas übertrieben habe, aber denkst du wirklich, dein Ben ist bereit für eine ernsthafte Beziehung mit einer reifen Frau wie dir?«
»Reife Frau? Ich hab mich wohl verhört. Lass deine miese Hilfe-jemand-hat-sich-in-mich-verliebt-Laune bloß nicht an mir aus.«
Till setzt seinen Oberlehrerblick auf.
»Seit wann kennst du den Kerl?«
»Seit sechs Wochen.«
»Und wie oft habt ihr euch gesehen?«
»Dreimal.«
»Oh, ganze drei Mal?«
»Drei Dates, und die waren sehr schön. Till, du hörst dich an wie meine Mutter. Ben und ich arbeiten beide viel, und ich möchte nichts übereilen. Außerdem telefonieren wir zwei-, dreimal die Woche.«
»Zwei-, dreimal die Woche.«
»Das reicht. Falls es dich wirklich interessiert, wir fahren in zwei Wochen für ein Wochenende zusammen zu einer Fortbildung nach Sylt.«
»Zu einer Fortbildung«, echot Till.
»Ich habe keine Lust, mich weiter mit dir zu unterhalten, wenn du zum Papageien mutierst und versuchst, mir Ben zu vermiesen. Außerdem muss ich gleich zur Arbeit, die Patientenakten stapeln sich schon. Um die muss ich mich heute noch vor dem Dienst kümmern.«
»Ist ja gut. Ich möchte einfach nicht, dass du dich in irgendwas verrennst.«
Als ob ich so etwas je tun würde. Ob ich Ben gleich mal anrufen sollte, um mich für den Brief zu bedanken?
Nein, ich melde mich lieber morgen bei ihm. Schließlich möchte ich nicht zu aufdringlich wirken. Nachher glaubt er noch, ich würde ihm hinterherlaufen.
Till steht auf und reckt sich. »Na, dann mach dich mal fertig. Ich decke solange den Tisch ab – du arme gestresste liebestolle Mitbewohnerin.«
»Danke, beziehungsphobischer selbstgefälliger Mitbewohner. Was hast du denn heute Abend noch vor? Willst du dich gleich hier verstecken?«
»Ich gehe noch auf eine Party ins Carlssons. Schade, dass du nicht mitkommen kannst.«
Das finde ich auch. Ich liebe das Carlssons! Phantastische Cocktails, spannende Leute, dazu super Musik! Sprich, ein Club für heiße, durchtanzte und manchmal auch durchflirtete Nächte.
»Nein, heute kann ich unmöglich, ich habe ja Nachtdienst.«
»Macht ja nichts!«, meint Till, »halt dir doch schon mal den dritten Samstag nächsten Monat frei. Da wird ein neuer Club eingeweiht. Einer meiner Kunden managt den, und ich habe VIP-Karten bekommen. Das wird der absolute In-Laden!«
Ein kurzer Blick auf den Dienstplan klärt alles.
»Nein, da kann ich nicht, da habe ich Nachtdienst.«
»Du hast halt ein schlechtes Zeitmanagement. Du musst dein Party- und dein Arbeitsleben besser koordinieren.«
Wenn das mal so einfach wäre.
Heute muss ich leider wirklich früher los, denn die Sache mit den Akten war keine Ausrede. Ich hätte nie gedacht, dass man als Ärztin mehr und mehr zur Schreibkraft wird. Auf knapp drei Minuten Patientenkontakt folgen fast zwanzig Minuten Schreibarbeit.
Während ich die Treppenstufen hinunterhopse, begegne ich Frau Beier, die wie immer »ganz zufällig« im Hausflur herumlungert. Ich grüße sie mit einem glockenhellen »Guten Morgen, Frau Beier!«.
Frau Beiers mühsam aufgesetztes Lächeln gefriert. Gut, es ist zwanzig Uhr, aber im Nachtdienst kann man sich doch mal vertun, oder? Außerdem tratscht Frau Beier sowieso hinter meinem Rücken – vorzugsweise mit meiner Mutter und ansonsten mit dem Rest der gelangweilten Nachbarschaft. »Haben Sie schon gehört? Das Fräulein Plüm arbeitet nachts! Nein, so etwas! Was die wohl macht?«
Als ob sie das von meiner Mutter nicht genau wüsste.
Mit dem Auto bin ich in knapp zehn Minuten in der Klinik und vertiefe mich dort im Arztzimmer der Notaufnahme grummelnd in meine Akten. Schreibarbeit nervt, und eigene Büros haben wir nicht, weshalb wir uns immer irgendwo ein freies Plätzchen suchen müssen. Moment mal! Mit meiner eigenen Ambulanz werde ich auch mein erstes eigenes Arztzimmer bekommen. Ein eigenes Zimmer mit meinem Namen an der Tür, toll!
In etwa stündlichen Abständen schlendere ich mit möglichst unbeteiligtem Gesicht an der Pinnwand vorbei, an der zum Glück noch keine mich betreffenden Nachrichten hängen. Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass der zweite Zettel über Dr. Mösli auch schon wieder entfernt wurde. Das war bestimmt dieser Pullunder-Spaßverderber. Wenn ich bloß wüsste, wer der Kerl ist.
Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr treffe ich mich mit dem Kollegen vom Tagdienst in einem Behandlungszimmer der Notaufnahme, um ihn abzulösen.
Während der Übergabe klingelt das Diensthandy, und ich werde auf die Kleinkindstation gerufen. Dort liegt ein Mädchen, das einen Fieberkrampf hatte. Eine Art epileptischer Anfall, ausgelöst durch schnell ansteigendes, hohes Fieber. In der Hoffnung, weitere Anfälle vermeiden zu können, senken wir dann das Fieber eher frühzeitig. Kurz vor Mitternacht liegt das Mädchen hoch fiebernd, schlapp und mit glasigem Blick in ihrem Bettchen. Frau M., die Mutter, sitzt davor mit einem Glas Wasser in der Hand, das sie über das Bettchen hält. Die Schwestern sind verzweifelt. Seit mehr als einer Stunde verweigert Frau M. die Gabe eines Fieberzäpfchens. Auf mein Nachfragen hin erklärt sie mir: »Wissen Sie, ich halte nichts von Schulmedizin. Ich schwinge das Fieber lieber mit Wasser weg.«
»Wenn Sie so gar nichts von der Schulmedizin halten, warum sind Sie denn dann in unsere Klinik gekommen?«, möchte ich wissen.
»Na, wenn die Schwingungen doch nicht helfen sollten und meine Tochter wieder einen Anfall bekommt, dann können Sie sie ja retten.«
Dass so ein Anfall für ein Kind nicht gerade spaßig ist und die Medikamente zur Anfallsunterbrechung weitaus beeinträchtigender sind als ein Fieberzäpfchen, interessiert sie leider nicht.
Da schreitet Dr. Kruppa, der diensthabende Oberarzt, der gerade seine abendliche Kontrollrunde durch die Stationen macht, ein. Dr. Kruppa ist kein Freund vieler, dafür aber sehr deutlicher Worte. Mit dem Ausspruch »Wir sind die behandelnden Ärzte, und zum Wohle des Kindes liegen die Rechte bei uns«, verabreicht er dem Mädchen das Fieberzäpfchen.
Resultat dieser Aktion: Das Fieber sinkt, dem Kind geht es besser, und Frau M. will uns verklagen. In diesem Moment kommt Herr M. dazu, und nach wenigen Minuten verstehe ich, warum dieses Ehepaar in Trennung lebt.
»Meine Frau ist völlig verrückt. Wenn Sie meiner Tochter nicht genug Fieberzäpfchen geben, verklage ich Sie!«, poltert er durch die Nachtruhe. Diese Handlungskette beginnt meinen nachtdienstlichen Horizont zu überschreiten, und ich bin heilfroh, als ich in die Notaufnahme gerufen werde. So etwas ist eindeutig Oberarztaufgabe. Ob es noch arbeitslose Anwälte gibt? Kann ich mir gar nicht vorstellen.
Den Rest der Nacht verbringe ich mit Ohrenschmerzen, Zecken, Verstopfung, Trotzphasen, Durchfall, Läusen, Erbrechen, Fieber, Blähungen, Bandwürmern, eben mit allem, was die Notaufnahme so bereithält.
Gegen Morgen wird dieser erfreulich unspektakulär verlaufende Dienst jedoch durch einen Zwischenfall gestört.
Ich setze gerade frischen Kaffee auf – weil wir Frauen nicht so hierarchisch denken, sehen wir uns auch als Ärztinnen dazu in der Lage, für Krankenschwestern, Schwesternschülerinnen, Zivis und Praktikanten Kaffee zu kochen, ohne dass uns dabei ein Zacken aus dem Krönchen bricht –, da klingelt plötzlich das Notfalltelefon. Das Notfalltelefon ist rot, hat eine eigene Telefonleitung in die Klinik, um stets erreichbar zu sein, und seine Nummer wird nur im absoluten Notfall gewählt. Da klingelt es, laut und unmissverständlich! Das gesamte Personal der Notaufnahme erstarrt schlagartig zur kollektiven Salzsäule und stiert das Notfalltelefon an. Der Dienstarzt muss an dieses Telefon gehen. Es klingelt … Der Dienstarzt bin ich, verdammt!
Ich sprinte los und gehe in Gedanken schon alle erdenklichen Horrorszenarien durch. Was wird es sein? Eine Massenkarambolage? Ein Busunglück? Ein Hausbrand? Eine Gasexplosion? Ein Blitzeinschlag? Wie viele Einsatzkräfte werden wir brauchen? Es klingelt weiter. Endlich erreiche ich das Telefon. Mit zittrigen Knien, völlig außer Atem stehe ich da und nehme den Hörer ab: »Notaufnahme, Kinderklinik, Dr. Plüm am Apparat!«
»Ja, einen herrlichen guten Morgen wünsche ich Ihnen, hier ist Frau Melzer von der Meinungsumfragegesellschaft Luks. Hätten Sie vielleicht Zeit für eine kleine Umfrage?«, flötet mir eine geschult freundliche Frauenstimme ins Ohr. Meine Gesichtszüge entgleiten mir von fassungslos hin zu fuchsteufelswild. Das Notaufnahmepersonal entspannt sich.
Am Ende unseres Gespräches schwört mir Frau Melzer bei ihrem Leben, nie aber auch nie, nie wieder diese Nummer zu wählen und sie aus ihrer Umfrageliste zu streichen. Mensch, was für ein Stress am frühen Morgen! Ich bin eindeutig kein Adrenalinjunkie. Ob noch Schokokekse da sind?
Nachdem ich mich von diesem Schreck erholt habe, warte ich pünktlich zur Übergabezeit auf den Kollegen, der die Notaufnahme tagsüber besetzen wird: Dr. Dietrich.
Die halbe Nacht war ich damit beschäftigt, mir die passenden Worte für diesen, meinen Ruf gefährdenden Schwerenöter zurechtzulegen. Eine halbe Stunde später warte ich immer noch auf ihn. Mist! Das bedeutet, dass ich bei ihm zu Hause anrufen muss, um zu fragen, wo er bleibt. Das geht auf gar keinen Fall. Schließlich hoffe ich verzweifelt darauf, dass Frau Dietrich ihre Wut auf mich inzwischen vergessen hat. Vera, die ebenfalls Frühdienst hat, erledigt das glücklicherweise für mich, und ich höre über den Lautsprecher mit. Frau Dietrich geht natürlich sofort ran.
»Guten Morgen, Frau Dietrich, Weber hier, Kinderklinik. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich hätte gerne Ihren Mann gesprochen.«
»Wieso meinen Mann? Der hatte doch letzte Nacht Dienst und muss heute mal wieder länger bleiben. Diese Arbeitsbedingungen sind eine Schande! Aber warum fragen Sie nach ihm? Stimmt etwas nicht?«
Allerdings, das könnte man so sagen.
»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich habe ihn vermutlich nur übersehen. Schönen Tag noch, Frau Dietrich«, antwortet Vera und legt schnell auf.
Übersehen? Die Ausrede ist so schlecht, dass sie von mir stammen könnte. Wir schauen uns ratlos an. Was nun? Unseren abtrünnigen Kollegen können wir nicht erreichen, und langsam muss mich jemand ablösen. Da klingelt das Diensthandy, es ist Dietrich: »Entschuldige bitte, ich stehe im Stau und komme etwa eine halbe Stunde später …« Die Verbindung bricht ab.
Der ist ja mutig. Die halbe Stunde ist schon fast dreimal vorbei. Langsam, aber sicher steigt neben meiner Wut auch meine Neugierde: Wo hat der sich bloß rumgetrieben und vor allem mit wem? Vera konnte bislang leider noch nichts über die ominöse Geliebte herausbekommen, aber vielleicht schafft sie es ja heute. Erst mal nimmt sie mir jedoch Diensthandy und -pieper ab, damit ich endlich nach Hause gehen kann. Heute habe ich absolut keine Lust mehr, noch länger zu warten, um mich mit unserem liebestollen Kollegen anzulegen.
Während meines ungefähr hundertzweiunddreißigsten Kontrollgangs zur Pinnwand, die zum Glück auf meinem Weg zum Auto liegt, spricht mich der Pförtner plötzlich von hinten an: »Frau Plüm, kann ich Ihnen behilflich sein? Ich sehe Sie schon die ganze Nacht immer wieder hier vorbeikommen. Haben Sie etwas verloren?«
Ertappt fahre ich herum: »Meine Güte, haben Sie mich erschreckt. Ich dachte, Sie sitzen hinter Ihrem Tresen!«
»Raucherpause«, er grinst und weist mit dem Kopf Richtung Ausgang. Dann hakt er nach: »Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?«
Der Mann ist einfach zu neugierig.
»Ähm, ja, nun … meinen Stift.«
»Wie sieht er denn aus?«, fragt er, offensichtlich enttäuscht über meine banale Antwort. Ob er irgendetwas mitbekommen hat?
»Es ist ein rosafarbener Kuli mit kleinen Swarovski-Steinchen.«
Ich habe keine Ahnung, ob so ein Kugelschreiber überhaupt existiert, aber falls es ihn gibt und die Besitzerin ihn in unserer Klinik verlieren sollte, ist das meine Chance. Einen solchen Stift wünsche ich mir schon, seit ich denken kann.
»Frau Plüm, ich werde für Sie die Augen offen halten. Aber Sie sollten zusätzlich hier noch eine Suchmeldung aushängen.«
»Vielen Dank, das mache ich.«
»Guten Morgen, die Dame. Wieso wundert es mich nicht, Sie mal wieder hier anzutreffen?« Es ist Mister Pullunder. Diesmal in Beige. Beige Cordhose, beigeweiß kariertes Hemd und beiger Pullunder. Sieht aus wie aus einem dieser gelblich verfärbten alten Schwarzweißfotos.
»Guten Morgen, Herr Doktor. Wissen Sie, Frau Plüm hat ihren Stift verloren …«, eilt mir der Pförtner ahnungslos zu Hilfe.
»So, sie hat also ihren Stift verloren«, blickt der Herr Doktor mich zweifelnd an und zieht dabei die linke Augenbraue hoch.
»So etwas mag bisweilen vorkommen«, kontere ich schnippisch und mache mich aus dem Staub, um endlich nach Hause zu fahren.
Während ich Richtung Ausgang eile, bekomme ich noch mit, wie der bemühte Pförtner dem Herrn Doktor eine ausführliche Beschreibung meines imaginären Kugelschreibers gibt, und würde am liebsten im Erdboden versinken.
»Dann frag doch den Pförtner, wer deine unbekannte Nervensäge ist«, schlägt Vera vor.
Übermüdet und aufgedreht zugleich liege ich gute drei Stunden nach Feierabend oder, besser gesagt, »Feiermorgen« in meinem Bett und telefoniere, anstatt zu schlafen, mit meiner besten Freundin, die eigentlich gerade arbeiten sollte.
»Das geht nicht, du weißt doch, dass der überall herumschnüffelt und alles herumtratscht.«
»Es wäre dir also peinlich, wenn er herausfinden würde, dass der Unbekannte dir keine Ruhe lässt?«
»Was unser Pförtner denkt, ist mir im Grunde ganz egal. Schlimmer fände ich es, wenn er Mister Pullunder stecken würde, dass er mich beschäftigt. Dann findet sich der Kerl ja noch wichtiger. Es nervt mich so schon, dass er mir den Schlaf raubt. Auf unangenehme Weise. Ich sollte lieber was Schönes von Ben träumen.«
»Das klingt ja nach Verliebtheitsalarm. Malst du dir etwa schon deine Zukunft zusammen mit Ben aus?«
»Ganz ehrlich? Ein bisschen schon.« Das würde ich Till gegenüber natürlich niemals zugeben. Bester Freund hin oder her. Ich weiß ja, wie er auf so was reagiert.
»Und wie rosarot sieht die Zukunft aus?«
»Ich hoffe ziemlich rosa, aber so genau weiß ich das noch nicht. Das wird sich mit Sicherheit bei unserem Sylt-Trip herausstellen.«
»Ach ja, genau, eure Fortbildung. Du, ich muss Schluss machen. Die Arbeit ruft. Na ja, eigentlich ruft Oberschwester Marie, die ständig ins Arztzimmer kommt und grimmig aus der Wäsche guckt, weil ich so lange telefoniere. Du solltest jetzt dringend mal schlafen, es ist schon fast Mittag.«
Dass Vera mir immer sagen muss, was ich tun soll, ärgert mich ungemein. Schlimmer ist, dass sie damit meistens recht hat. So wie jetzt gerade. Ich sollte dringend schlafen. Das geht aber nicht.
Nach dem erneuten Pinnwand-Desaster habe ich mit Till, der heute Morgen gegen halb zehn gerade aus dem Carlssons kam, auf meiner Terrasse noch einen Prosecco getrunken und geschlafen wie ein Baby. Bis Tills Schnarchen mich vom Wohnzimmer aus unsanft geweckt hat. Das war so etwa gegen Viertel vor zwölf. Das Sonnenlicht, das durch die Bambusrollos ins Schlafzimmer strömt, wirkt auch nicht gerade schlaffördernd. Jetzt liege ich da und lausche den Grunzgeräuschen von meinem auf dem Sofa schlafenden besten Freund. Will ich Till glauben, so war die Party einmalig gut, und das sogar obwohl diese Theresa dort aufgekreuzt ist. Immerhin hat er es geschafft, nicht wieder mit ihr im Bett zu landen. Bevor er einschlief, murmelte er was von »… diese chaotischen On-off-Affären habe ich hinter mir gelassen.« Na, wenn er meint.
Tills Schnarchen ist leider unerträglich. Rasch husche ich Richtung Wohnzimmer, um die Tür zu schließen. Till schläft tief und fest und … igitt, er sabbert auf mein rosafarbenes Seidensofakissen. Im Bett lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. Ich kann einfach nicht schlafen. Aber das ist inzwischen auch egal, vor mir liegt meine letzte Arbeitsnacht, und das Leben könnte nicht schöner sein. Ich liebe meinen Beruf und würde ihn jederzeit trotz aller Einschränkungen durch diese ewigen Dienste immer wieder wählen. Vor allem jetzt, wo ich eine eigene Ambulanz bekomme. Aber mal ehrlich. Arbeit, Dienste, Visiten, Schreibarbeit … Soll das etwa alles gewesen sein? Ich brauche definitiv mehr Freizeit. Gut, dass ich ein paar Tage nachtdienstfrei habe. Wunderbare Tage voller Spaß liegen vor mir: Joggen, Schwimmen, Fitness-Studio, Sonnen am See, Mädelsabende, Kino, Shoppen, vielleicht ein Date mit Ben …
Den werde ich heute Abend erst mal anrufen, um mich für den lieben Brief zu bedanken. Langsam fallen mir die Augen zu. Doch der Traum, der dann folgt, ist nicht viel besser als in der Nacht zuvor.
Ich sitze in einem dunklen Raum an einem Holztisch mit einer kleinen Stehlampe. Vor mir liegen eine Patientenakte und ein Kugelschreiber. Eine Uhr tickt laut. Mister Pullunder tritt mit seinen zornig funkelnden Rehaugen in den Lichtschein und sagt: »Sie haben noch fünf Minuten.«