Kapitel 20

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Als Madeleine am darauf folgenden Morgen zum Frühstück hinunterging, traf sie im Esszimmer auf Sir Alasdair und seine Frau, die sie freundlich begrüßten. Madeleine entging jedoch nicht der seltsame, verstohlene Blick, mit dem Merricks Bruder sie ansah, als er glaubte, sie merke es nicht. Vermutlich bedauerte er seinen nächtlichen Spaziergang am Seeufer.

Vielleicht wäre es für sie alle besser gewesen, wenn sie und Merrick allein geblieben wären, dachte Madeleine, um das zu beenden, was sie begonnen hatten. Aber wie beenden? Mit welchem Ausgang? Madeleine wusste es nicht. Nichtsdestotrotz hatte irgendetwas gestern Nacht Merricks Meinung geändert. Ihr tat noch immer das Herz weh wegen des Verlustes ihrer Heiratsurkunde. Was um alles in der Welt hatte er damit beweisen wollen?

Natürlich hätte sie erleichtert sein sollen. Ohne dieses kleine Stück Papier hatte Merrick keinerlei Ansprüche mehr an sie, welcher Art auch immer. Warum also empfand sie dann diese unerklärliche Traurigkeit statt der großen Erleichterung, die sie verspüren sollte?

Esmée ging herum, um Kaffee nachzuschenken, und irgendwie zwang Madeleine sich, ihre Aufmerksamkeit dem Essen zuzuwenden. Die drei unterhielten sich freundlich über das Wetter, über ein Dorffest, das vierzehn Tage zurücklag, und über die unaufhörlichen Anforderungen, die es kostete, ein Anwesen zu unterhalten, das so alt war wie Castle Kerr.

»Ist Merrick deswegen unterwegs?«, fragte Esmée. »Schaut er sich die Trockenmauer an?«

»Aye.« Sir Alasdair stellte seine Kaffeetasse ab und betupfte sich den Mund mit seiner Serviette. »Wer immer auch gesagt hat, ›Müßiggang ist aller Laster Anfang‹ kann meinen Bruder damit nicht gemeint haben. Wir werden ihn vor dem Dinner vermutlich nicht zu Gesicht bekommen.«

Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, entschuldigte Madeleine sich und ging zu Geoff, um ihn zu Lady Annis' Räumen zu begleiten. Ein Hausmädchen war damit beschäftigt, das Frühstück aus dem provisorisch hergerichteten Schulzimmer abzutragen. Mr. Frost, dem der Vormittag freigegeben worden war, tat seine Absicht kund, ins Dorf zu gehen, das ungefähr drei Meilen entfernt lag.

Geoff war in einer seltsamen Stimmung, fast beschwingt. »Freust du dich darauf, heute Vormittag ein wenig Zeit mit Lady Annis zu verbringen?«, fragte Madeleine ihn, als sie das Schulzimmer verließen.

»Mummy, ich bin so aufgeregt«, sprudelte der Junge hervor. »Ich habe bestimmt hundert Fragen. Meinst du, Lady Annis wird etwas dagegen haben, sie zu beantworten?«

»Nun, vielleicht nicht mehr als ein Dutzend oder so pro Tag, mein Liebling«, erwiderte Madeleine mit einem Lachen. »Aber ich glaube, der Zweck unseres Besuches ist der, dass du deine Fragen stellen kannst - alle davon.«

An der Tür beugte sich Madeleine herunter, um die Jacke des Jungen zurechtzuziehen. »Nun, Geoff, siehst du aus wie ein sehr präsentabler Schüler.«

Er überraschte sie damit, dass er die Arme um ihren Hals schlang und sie so fest umarmte, wie er es nicht mehr getan hatte, seit er ein kleiner Junge gewesen war. »Oh, es wird ein wunderbarer Tag werden, Mummy!«, sagte er und strahlte vor Glück über das ganze Gesicht. »Ich weiß es ganz genau. Mein Leben wird sich ändern, für immer und ewig, und bald wird es vollkommen sein.«

Madeleine empfand einen Ansturm der Freude. Konnte es sein, dass sie nicht völlig verstanden hatte, wie viel diese Besuche bei seiner Urgroßmutter ihm bedeuteten? Gestern war er ganz angetan gewesen, aber nicht so euphorisch. Aber heute Morgen war ›euphorisch‹ ganz gewiss kein zu starkes Wort. Geoff schien wirklich ein ganz anderer zu sein. Sie sprach ein stilles Dankgebet für Merricks weise Entscheidung, sie hierherzubringen, dann küsste sie den Jungen und klopfte an.

Nachdem sie Geoff bei seiner Urgroßmutter abgeliefert hatte, wusste Madeleine nicht recht etwas mit sich anzufangen. Ihr Glücksgefühl wegen Geoff trübte sich nur ein wenig, nachdem der Junge fort war. Sie fühlte sich ein wenig niedergeschlagen und beschloss, einen Spaziergang um den See zu machen. Ihn bei Tageslicht zu sehen, könnte ihr vielleicht eine gewisse Klarheit über das verschaffen, was in der vergangenen Nacht geschehen war.

Am alten Bootshaus verweilte sie für einen Moment. Der seltsame Stocherkahn war immer noch dort festgemacht, und sein Anblick ließ Madeleines Herz schneller schlagen. Sie hatten so viel geteilt auf diesem Floß, sie und Merrick. Eine Nacht voller Ehrlichkeit hatte, so schien es, viele Jahre des Zweifels ungeschehen gemacht. Und eine Nacht der Liebe - nun, es hatte nur die Flammen eines Feuers angefacht, das niemals erloschen war und niemals verlöschen würde. Das wusste sie jetzt ganz sicher.

Zu ihrer Verlegenheit kamen ihr wieder die Tränen. Guter Gott, was für eine Heulsuse war nur aus ihr geworden! Hastig wischte sie sie fort und ging mit energischen Schritten weiter.

Ihre Stimmung hatte sich ein wenig aufgehellt, nachdem sie ein Stück um das untere Ende des Sees gegangen war und die kleine Steinbrücke überquerte, um auf die andere Seite zu gelangen. Den halben Weg herunter zum gegenüberliegenden Ufer wurde ihr Anfall von Selbstmitleid durch die Begegnung mit Sir Alasdair unterbrochen, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Er sah nicht so aus, als machte er einen müßigen Spaziergang.

»Guten Morgen, Lady Bessett«, begrüßte er Madeleine. »Sie schnappen ein wenig gesunde Highlandluft, wie ich sehe.«

Madeleine schniefte diskret. »Ja, Ihr Zuhause ist wunderschön, Sir Alasdair.«

Er wandte sich ihr zu und bot ihr seinen Arm an. »Darf ich Sie begleiten?«, fragte er. »Ich gestehe, dass ich Ihnen absichtlich aufgelauert habe.«

Madeleine blieb kaum eine Wahl, als den angebotenen Arm anzunehmen.

Sir Alasdair schlug einen gemächlichen Schritt an, blieb von Zeit zu Zeit stehen, um auf Besonderheiten der Flora oder Fauna hinzuweisen, von denen er annahm, sie seien interessant für seinen Gast. Entlang der Wiese wuchsen Wildblumen in Hülle und Fülle. Schmetterlinge und Schwärmer flatterten hier und da herum. In der Ferne standen Ginster und Heide kurz davor, ihre Blütenpracht zu entfalten. Alasdair plauderte unentwegt, aber Madeleine hörte nur mit halbem Ohr zu.

Schließlich schien ihm ihr Desinteresse aufzufallen. »Ich bemerke, Lady Bessett, dass ich Ihnen eine Entschuldigung schulde«, sagte er schließlich. »Meine Störung gestern Nacht war unwillkommen und unangebracht.«

Madeleine musterte ihn von der Seite. »Sie war nicht unwillkommen«, erwiderte sie. »Außerdem ist das jetzt kaum noch von Bedeutung.«

Er sah sie seltsam an. »Mein Bruder dachte, es wäre von Bedeutung«, murmelte er. »Dessen können Sie gewiss sein.«

»Hat er das gesagt?«

»Oh, das war nicht nötig«, sagte Alasdair. »Der Blick des Black MacLachlan hat Bände gesprochen.«

Sie bedachte ihn mit einem seltsamen kleinen Lächeln. »Er ist der Finstere, Verschlossene, und was sind Sie? Der Heitere?«

Er lachte. »Aye, etwas in der Art.«

Eine Weile gingen sie schweigend am Ufer des Sees entlang. »Sie mögen mich nicht besonders, nicht wahr, Sir Alasdair?«, fragte sie schließlich. »Es tut mir leid, dass ich herkommen musste und Ihren Frieden störe - und das auch noch während Ihrer Hochzeitsreise. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass Ihr Bruder darauf bestanden hat.«

»Ja, ich habe mich darüber gewundert«, gab er nachdenklich zu. »Und es ist keinesfalls so, dass ich Sie nicht mag, meine Liebe. Was ich nicht mag, ist das Leben, das mein Bruder seit vielen Jahren führt.«

»Und Sie denken, das ist meine Schuld«, bemerkte Madeleine.

Er überraschte sie damit, dass er die Hand auf ihre legte, die auf seinem Arm ruhte. »Ich denke, es gibt genug Schuld, um sie an alle verteilen zu können. Sie und Merrick haben einige schlechte Entscheidungen getroffen, das ist wohl wahr. Aber wenn ich zurückschaue, denke ich, dass vielleicht auch wir, seine Familie, untätig dabeigestanden haben. Möglicherweise hätten wir Druck auf Ihren Vater ausüben können, wenn wir es versucht hätten.«

Madeleine stieß ein bitteres Lachen aus. »Wie lautet doch dieses wunderbare schottische Sprichwort? ›Spar dir deinen Atem, um dein Porridge damit zu kühlen‹? Ja, das würde hier passen. Sie hätten Ihren Atem bei meinem Vater ganz gewiss verschwendet.«

Sir Alasdair zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich.«

»Jedenfalls«, sprach Madeleine weiter, »können Sie beruhigt sein. Merrick hat einen Weg gefunden, unserer Ehe ein für alle Mal ein Ende zu setzen.«

Sir Alasdair zog eine seiner perfekt geschwungenen Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? Ich würde gern wissen, wie.«

»Ich weiß nicht, ob er Ihnen erzählt hat, dass der Eintrag unserer Eheschließung in Gretna Green aus dem Register verschwunden ist«, begann sie. »Es ist wenige Tage nach der Heirat geschehen - das Werk meines Vaters, nehme ich an. Und dann, in der vergangenen Nacht, hat Merrick ...« Sie fand nicht die Worte.

»Ja? Nur weiter.« Sir Alasdair drückte ihre Hand.

»Letzte Nacht, nachdem ... nachdem Sie mich nach Hause gebracht hatten, ist er in mein Zimmer gekommen, und er ... nun, er hat unsere Heiratsurkunde verbrannt.«

»Tatsächlich?«, sagte Sir Alasdair noch einmal. »Er hat sie verbrannt?«

Madeleine begann zu weinen. »Er ... er hat die Urkunde in meine Lampe geworfen«, sagte sie. »Und ... und er wollte nicht, dass ich sie wieder heraushole!«

Sir Alasdair zog sie an sich und legte den Arm um ihre Schultern. »Nun, nun, meine Liebe!«, sagte er und zog mit einer Art Verbeugung ein Taschentuch hervor. »Trocknen Sie Ihre Tränen, bitte! Und jetzt erzählen Sie mir das Ganze noch einmal - und lassen Sie nichts aus.«

Madeleine hörte beschämt auf zu weinen und wiederholte die Geschichte, wobei sie auch vieles von dem hinzufügte, was Merrick gesagt hatte.

Sir Alasdair war wieder in einen Schlenderschritt gefallen, der sich jetzt sogar ein wenig beruhigend anfühlte. »Dies ist deine zweite Chance«, zitierte er die Worte seines Bruders. »Du bist eine ungebundene Frau.« Er sah sie aufmerksam an. »So frei, wie es jetzt auch mein Bruder ist. Nach all diesen Jahren. Wie außerordentlich bemerkenswert!«

Madeleine nickte. »Es gibt keinen Beweis, dass unsere Eheschließung je stattgefunden hat«, bekräftigte sie ein wenig traurig. »Jeder, der davon wusste, ist tot oder verschwunden. Alle Dokumente sind ebenfalls verschwunden. Die Gefahr eines peinlichen Skandals ist für Ihre Familie also vorüber. Ich hoffe, Sie sind erleichtert.«

»In der Tat, das bin ich.« Aber seltsamerweise grinste er dabei. »Den guten Namen meiner Familie aufrechtzuerhalten war immer mein vordringlichstes Anliegen. Fragen Sie nur irgendeinen von diesen Schurken und Schürzenjägern, mit denen ich herumgezogen bin.«

»Bitte machen Sie sich nicht über mich lustig, Sir Alasdair«, bat sie. »Ich meine es sehr ernst.«

Wieder neigte er den Kopf und sah sie seltsam an. »Und Sie wollen nicht versuchen, dem alten Knaben ein wenig den Boden unter den Füßen heiß zu machen, meine Liebe?«, schlug er vor. »Sie könnten damit Erfolg haben, wissen Sie.«

Madeleine wurde blass. »Nach allem, was Merrick durchmachen musste?«, sagte sie erschrocken. »Das würde ich ganz bestimmt nicht machen.«

Sir Alasdair nickte. »Also Ende gut, alles gut?«, sagte er. »Es sei denn ...« Er verstummte und seine Augenbraue hob sich wieder.

»Es sei denn was?«

Er blieb stehen und zuckte mit den Schultern. »Es sei denn, dass einer von euch es wünscht, noch verheiratet zu sein.«

Madeleine sah ihn stumm an.

»Oder ihr beide«, fuhr er fort. »Aber jetzt wären Sie in einer verflixt scheußlichen Lage, nicht wahr? Sie beide müssten aufhören, sich wie die Katzen anzufauchen, und einer von euch müsste ... nun, er müsste dem anderen nach allen Regeln der Kunst den Hof machen, nicht wahr? Genau genommen müsste einer von euch dem anderen einen Antrag machen.«

Madeleine blinzelte, als versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. »Einen Antrag?«

Er nickte, als wäre das die einfachste Sache der Welt. »Einen Heiratsantrag«, sagte er. »Einer von euch müsste zugeben, dass er sehr gern mit dem anderen verheiratet sein möchte. Ich persönlich kann den Ehestand nur empfehlen. Und schließlich, meine Liebe, sind Sie viel zu jung, um Witwe zu bleiben.«

»Aber ... aber ich bin keine Witwe«, flüsterte sie. »Oder doch?«

Alasdair zuckte lässig die Schultern. »Nun, mir kommt es so vor«, entgegnete er. »Und jetzt müssen Sie entscheiden, was Sie mit dem Rest Ihres Lebens anfangen wollen. Aber ich muss Sie warnen: Treffen Sie die richtige Entscheidung! Eine Ehe besteht für immer.«

Seine leichte Ironie entging ihr. Madeleine fühlte sich plötzlich, als bekäme sie keine Luft mehr. Alle Möglichkeiten, die das Leben bot - ihre Hoffnungen und ihre Träume -, sie alle konnten davonschwimmen. Und sie alle schlossen Merrick ein. So war es immer gewesen.

Sir Alasdair räusperte sich ein wenig rau. »Auf jeden Fall, meine Liebe«, fuhr er fort, »wäre es das Natürlichste von der Welt für meinen Bruder, seine Auserwählte nach Hause zu bringen, um bei einem besonderen Anlass in der Dorfkirche mit ihr getraut zu werden, oder nicht? Schließlich haben Esmée und ich alle um dieses Vergnügen betrogen. Die Hochzeitsglocken werden vermutlich zwei oder drei Tage lang läuten.«

Madeleine war noch immer ganz schwindelig. »Sir Alasdair! Das ist ein recht unglaublicher Gedanke ...«

»Nun, es ist nur eine Möglichkeit, die man überlegen könnte«, bemerkte er. »Aber Sie sollten sich zu sputen! Das Glück ist mit dem Tüchtigen, und der 22. Juli ist, so sagte man mir, ein sehr guter Tag zum Heiraten. Wenn Sie sich mit dieser Werbung ein bisschen beeilen und die entscheidende Frage möglichst schnell stellen - nun, ich würde meinen, dann sollte es Ihnen gelingen.«

Madeleine atmete tief durch. »Sir Alasdair, wo ...«

»Über die Hauptstraße«, fiel er ihr ins Wort und zeigte auf den Wald gegenüber dem Vorhof der Burg. »Dort gibt es einen kleinen Weg - eine Wagenspur, genauer gesagt -, der zu einer alten Scheune führt. Im Tal unterhalb dieser Scheune errichten wir zurzeit eine Trockenmauer, eine Art Zaun.«

»Ja. Dank. Vielen Dank.« Impulsiv stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die makellos rasierte Wange. »Ich sollte dann gleich gehen, meinen Sie nicht?«

»Oh, das Denken ist nicht meine Aufgabe, meine Liebe«, schmunzelte Sir Alasdair. »Ich bin nur das hübsche Gesicht. Fragen Sie jeden, der mich kennt.«

Aber Madeleine hörte das Letzte kaum noch. Schnellen Schrittes und damit höchst undamenhaft hatte sie sich auf den Weg gemacht, wobei ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Würde sie eine zweite Chance bekommen? Sie konnte sich dessen nicht sicher sein - nicht, bevor sie bereit war, all ihren Mut zusammenzunehmen und danach zu fragen.

Vielleicht war es wirklich noch nicht zu spät. Sie würde alles riskieren, alles außer ihrem Kind, für die noch so kleine Chance auf das Glück und die Ehe, die sie auf so dumme Weise aufgegeben hatte. Dieses Mal wusste sie nur zu gut, was auf dem Spiel stand. Dieses Mal würde sie sich weder beirren lassen noch an der Zuneigung ihres Ehemannes zweifeln. Sie würde stark sein, was auch immer daraus werden würde.

Sie erinnerte sich jetzt an etwas, was er einmal zu ihr gesagt hatte. »Nur das Herz kann einen Menschen binden, Maddie«, hatte er gesagt. »An ein Heim. Oder an irgendetwas anderes, was wirklich zählt. Ein Stück Papier ist bedeutungslos.«

Er hatte recht gehabt. Das Papier bedeutete gar nichts. Aber Merrick - er bedeutete alles!

Madeleine brauchte nicht länger als fünf Minuten, um in das Tal zu gelangen, das sich wie ein grüner Teppich ausbreitete und mit Schafen gesprenkelt war. Am Ende der Weide konnte sie eine halbhohe Mauer sehen und Steine, die entlang ihres künftigen Verlaufs aufgehäuft lagen. Und dahinter eine einsame Gestalt, dunkel und breitschultrig, ohne Weste, die einen Vorschlaghammer schwang, mit weit ausholenden wuchtigen Schlägen.

Sie lief den Hügel hinunter in das Tal.

Merrick stand halb von ihr abgewandt und spaltete Steine so ordentlich wie ein anderer Mann Holz spalten mochte. Sein Rücken sah breit aus und mächtig im Morgenlicht. Als er sich umwandte, um den Stein zur Hälfte in die Mauer einzufügen, musste er sie bemerkt haben. Madeleine verlangsamte ihre Schritte vom Laufen zu einem sich für ein Mädchen geziemenden Schritt und näherte sich atemlos der Mauer.

Er stand da und sah sie einen Moment lang an, seine Stirn bedeckt von Schweiß, dann legte er den Hammer aus der Hand. »Guten Morgen, Madeleine«, begrüßte er sie und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab. »Du hast es ja sehr eilig. Es ist doch nichts passiert, hoffe ich?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, zu Atem zu kommen. »Ich wollte nur fragen ...«, begann sie unbeholfen. »Ich wollte wissen, Merrick, ob ... ob ich dich ... nein, ob du gern ... Nein, ach, so geht es nicht.«

Mit einem Lächeln stützte er sich mit einem Ellbogen gegen die Mauer und lehnte seinen festen, großen Körper halb darüber. »Nun, ich habe nicht geahnt, dass du um Worte verlegen sein kannst, Maddie.«

Sie erwiderte sein Lächeln, und fühlte sich plötzlich fast so verlegen wie an dem Tag des Picknicks, als Merrick gekommen war, sie aus der Mitte ihrer streitsüchtigen Cousinen zu entführen. An jenem Tag hatte er ihr Herz gestohlen. »Merrick, ich möchte wissen, ob ich ... ob ich dir den Hof machen darf? Jetzt, da du doch ... ungebunden bist.«

Er lachte, richtete sich auf und kam um die Mauer herum auf ihre Seite. »Nun, ich weiß nicht, Mädchen«, sagte er, verschränkte die Arme vor der Brust und stellte einen Stiefelabsatz gegen die Mauer. »Sind deine Absichten denn ehrenhaft?«

Madeleine verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Nicht ... nicht besonders, nein«, gab sie zu. »Sie wären mehr oder weniger so wie in der letzten Nacht.«

Merricks Lächeln weitete sich zu einem Grinsen. Er sah atemberaubend attraktiv aus mit seinen Hosenträgern, die er von den Schultern gestreift hatte, und mit seinen Muskeln, die noch angespannt waren von der körperlichen Anstrengung. Sein Hemd hatte er über die Äste eines Busches in der Nähe geworfen, und die schwarzen Haare auf seiner Brust wanden sich herunter über seinen harten Bauch, um im Bund seiner Hose zu verschwinden. Er kniff die Augen zusammen und sah sie an.

»Nun, ich bin ein hart arbeitender Mann, Maddie«, sagte er, als wollte er sie warnen. »Ich bin kein schmucker Mann. Ich werde mein Leben lang raue Hände und eine sonnenverbrannte Haut haben.«

»Ich ... ich verlasse mich darauf«, erwiderte sie. »Sonst hätte ich deinem Bruder den Hof machen müssen.«

Bei diesen Worten lachte er laut auf. Dann wurde er unvermittelt ernst.

»Ach, Merrick!«, sprach sie weiter. »Ich wünschte - oh, ich wünschte, du hättest die Urkunde nicht verbrannt!«

Er schüttelte ein wenig traurig den Kopf. »Was wir hatten, war keine Ehe, Maddie«, erinnerte er sie. »Es hatte keinen Sinn, an etwas festzuhalten, was nie wirklich war.«

Sie biss sich auf die Lippen. »Merrick, ich habe gelogen«, gab sie zu. »Ich will dir nicht den Hof machen.«

Sein Gesicht wurde blass. »Willst du nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, obwohl ich es tun werde, wenn das nötig ist, um mich dir zu beweisen.«

Wieder kniff er die Augen zusammen, wieder dieser lange abwägende Blick. »Was ist es denn, was du willst, Maddie?«

»Ich will ... ich will dich heiraten«, wisperte sie. »Ich ... ich bitte dich, Merrick, mich zu heiraten. Mein Mann zu sein. Geoffs Vater. Ihn zu adoptieren und ihm den Namen zu geben, den er tragen sollte. Ich bitte dich, mit uns zu leben und unser Leben und unser Heim mit uns zu teilen - für immer. Und wenn du das willst, werde ich dir auch immer eine gute Frau sein. Ich werde niemals unsicher sein. Ich werde dich niemals verlassen.«

Er öffnete die Arme und sie lief hinein, warf sich gegen seine Brust. »Sei dir sicher, Maddie!«, flüsterte er in ihr Haar. »Wirf dich nicht weg an eine starrsinnigen, stolzen Mann wie ich es bin. Du bist eine zu wunderbare Frau. Lass dir Zeit und sei dir sicher, was du willst. Was immer es ist, ich werde dafür sorgen, dass es so geschieht.«

»Ich bin sicher!«, rief sie. »Ich bin seit dreizehn Jahren sicher! Ich habe nie jemanden außer dir geliebt, Merrick, und ich werde nie einen anderen lieben. Ich brauche dich. Und Geoffrey braucht dich auch. Wenn du warten willst, werde ich warten. Und ich würde noch mal dreizehn Jahre warten.«

»Schhh, Maddie.« Und dann küsste er sie. Es war ein langer Kuss, unendlich in seiner Süße. Unendlich in seinem Versprechen. »Und ich habe keine außer dir geliebt«, murmelte er, als er seine Lippen von ihren löste. »Ja, Maddie, ich werde dich heiraten. Du musst mir nur den Tag nennen. Morgen wäre mir noch zu spät.«

»Am 22. Juli«, entgegnete sie rasch. »In der Dorfkirche.«

Er zog die Augenbrauen hoch und schaute auf sie herunter, seine eisblauen Augen leuchteten. »Am 22., ja?«

Sie schaute bittend zu ihm hoch. »Wenn wir einen anderen Tag nehmen, Merrick, werde ich mir den nicht merken können. Denn das ist der Tag, der für mich immer mein Hochzeitstag war - und verbrannte Urkunde oder nicht. Und in Gedanken werde ich immer dreizehn Jahre zu diesem Hochzeitstag dazuzählen - jedes Mal, wenn wir ihn feiern.«

Er küsste sie wieder, rasch und hart. »Also dann der 22., Mädchen«, sagte er. »Aber das ist fast noch zwei Wochen hin. Was fangen wir beide bis dahin miteinander an?«

Madeleine lehnte sich zurück und ließ den Blick über seinen halbnackten Körper gleiten, dann schaute sie hinüber zu dem kleinen Wald. »Wie lautet dieses wunderbare alte schottische Sprichwort, Merrick? ›Sei glücklich, solange du lebst, denn du wirst sehr lange tot sein‹?«

»Ja, und das ist gut gesagt«, stimmte Merrick zu. »Es ist einer von Grannys Lieblingssprüchen.«

Madeleine sah ihm tief in die Augen. »Nun, ich fühle mich, als wäre ich lange Zeit tot gewesen«, lächelte sie. »Und jetzt, Merrick, solltest du mich in diesen schattigen kleinen Wald dort drüben tragen und mich sehr, sehr glücklich machen.«