Kapitel 1

Geld regiert die Welt.

Die Schotten sagen, dass eine Geschichte interessanter wird, je öfter man sie erzählt. Und die Geschichte von Merrick MacLachlan war wohl schon tausendmal erzählt worden. In den Salons, in den Klubs und in den Hinterzimmern Londons war MacLachlan von Jahr zu Jahr reicher, rätselhafter und bösartiger geworden.

Jene, die Geschäfte mit Black MacLachlan machten, taten dies auf ehrliche Weise, wenn auch mit einem nicht zu leugnenden Maß an Beklommenheit. Einige von ihnen wurden bei diesen Geschäften reich - getreu dem Grundsatz, dass Geld nicht stinkt. Anderen erging es weniger gut, und deren Geschichte wurde meistens nur vor dem Insolvent Debtor's Court erörtert. Miss Kitty Coates hatte von solchen Dingen keine Ahnung, und sie konnte das Wort ›insolvent‹ nicht einmal buchstabieren. Aber das spielte auch keine Rolle. Denn vom Lohn der Geschäfte, die sie mit MacLachlan machte, gab sie einen reichlichen Teil an ihre Puffmutter ab.

Im Augenblick jedoch hatte Kitty Besseres zu tun, als über ihr Unvermögen beim Buchstabieren nachzudenken. Denn die Strahlen der tief stehenden Nachmittagssonne fielen durch die Fenster von MacLachlans Schlafkammer und warfen ihr grelles Licht auf die nackten Schultern des Gentleman. Und auch auf die Narben auf seinen Schultern und seinem Rücken, die sich kreuz und quer über die festen Muskeln zogen. Kitty war schon seit Langem an diesen Anblick gewöhnt. Sie spreizte ihre Finger weit in das weiche dunkle Haar, das seine Brust bedeckte und hielt sich daran fest, während sie auf ihm ritt.

Im Büro schlug eine Uhr fünf Mal. Mit drei, vier harten Stößen brachte MacLachlan die Sache zu Ende, schob Kitty von sich herunter und legte den muskulösen Arm über seine Augen. Die Botschaft war unmissverständlich.

»Wir müssen nicht sofort aufhören, Mr. MacLachlan, oder?« Kitty drehte sich zu ihm herum und fuhr mit der Fingerspitze leicht über die Narbe, die sich wie die Klinge eines Krummschwertes über seine Wange zog. »Ich könnte noch ein wenig bleiben - sagen wir, zwei Pfund für die ganze Nacht?« Ihre Fingerspitze strich wieder nach oben. »Wir hatten doch bisher eine schöne Zeit, Sie und ich.«

MacLachlan schlug die Decke zurück, drehte sich von Kitty weg und erhob sich aus dem schmalen Bett. »Zieh dich an, Kitty.« Seine Stimme klang emotionslos. »Nimm die Hintertreppe, wenn du gehst. Meine Leute sind noch im Büro.«

Ihr Gesicht erstarrte, aber sie sagte nichts. MacLachlan stand vor dem Bett und biss die Zähne zusammen, um dem Schmerz in seinem Bein zu trotzen. Er machte keinen Schritt, bis er sicher war, dass er nicht humpeln würde. Erst dann ging er in sein Ankleidezimmer und wusch sich sorgfältig.

Als er zu zurückkam, um sich anzuziehen - seine Kleider lagen sorgsam zusammengefaltet auf einem Stapel -, zwängte sich Kitty gerade in ihr zerknittertes rotes Kleid. Sie hatte die Augenbrauen eng zusammengezogen und machte eine finstere Miene. »Wie lange komm ich schon hierher, Mr. MacLachlan?«

MacLachlan unterdrückte einen Seufzer der Verzweiflung. »Ich habe keine Ahnung, Kitty.«

»Nun, ich weiß genau, wie lange schon«, sagte sie mürrisch. »Vier Monate und zwei Wochen, auf den Tag.«

»Ich habe dich bisher nicht für sentimental gehalten.« MacLachlan war damit beschäftigt, seine Unterhosen anzuziehen.

»Jeden Montag und jeden Donnerstag seit dem 1. Februar«, redete Kitty weiter. »Und in der ganzen Zeit haben Sie kaum ein Dutzend Worte mit mir geredet.«

»Mir war nicht bewusst, dass du den weiten Weg von Soho hierher machst, um Konversation zu betreiben«, entgegnete er und faltete seine Hose auseinander. »Ich dachte, du kämst wegen des Geldes.«

»Ja, nur weiter so!« Sie griff nach ihren Strümpfen, die auf Boden lagen. »Gebrauchen Sie nur feine große Wörter, um sich Ihren Spaß zu machen und mich herumzustoßen. Leg dich hin, Kitty! Bück dich, Kitty! Verschwinde, Kitty! Ich habe eine Verabredung, Kitty! Sie sind ein gemeiner, abscheulicher Mann, MacLachlan!«

»Ich schließe daraus, dass ich in deiner Achtung gesunken bin«, erwiderte er. »Sag Mrs. Farnham, dass sie mir Donnerstag eine andere schicken soll, wenn dir das lieber ist.« Eine, die nicht so verdammt viel redet, fügte er im Stillen hinzu, während er sich das Hemd in die Hose steckte.

»Nun, ich kann ja mal fragen, aber ich bin die einzige Rothaarige bei Farnies«, warnte Kitty ihn, während sie sich den ersten Strumpf anzog und mit geschickten Handbewegungen an ihrem Bein hochstreifte. »Und wegen meinem Haar werd ich oft verlangt, das kann ich Ihnen sagen.«

»Mir ist jede Farbe recht«, erwiderte er und betrachtete ihren Hintern, als sie sich vorbeugte, um den zweiten Strumpf vom Boden aufzuheben. »Es könnte mir wirklich nicht gleichgültiger sein.«

Kitty verlor die Fassung. Sie sprang auf, fuhr herum und schlug ihm den Strumpf ins Gesicht. »Warum fickst du nicht ein Astloch in irgendeinem morschen Zaun, du undankbarer hartherziger Schotte!«

Einen Moment lang starrte er sie finster an. »Nun, das wäre eine Möglichkeit - und zudem ein weitaus billigere.« Schließlich war er Geschäftsmann. Und Zäune schwatzten, bettelten und heulten schließlich nicht.

Unbarmherzig schob Kitty ihren nackten Fuß in den passenden Schuh. »Nun, ich hab genug von Ihrem Gegrunze und Ihrem Sich-auf-mich-wälzen-und-wieder-runter! Und hinterher gibt es nicht mal ein Auf Wiedersehen! Ich bin nur eine Hure vom Haymarket, MacLachlan, aber ich will verdammt sein, wenn ich mich ...«

Die Zehn-Pfund-Note, die er ihr in die Faust stopfte, brachte sie zum Schweigen. Einen Moment lang starrte sie ihn an und versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln.

Irgendwie brachte MacLachlan die Freundlichkeit auf, ihr leicht die Hand zu drücken. »Du hast dich bewundernswert gehalten, Kitty«, murmelte er. »Und ich bin nicht undankbar. Aber ich lege keinen Wert darauf, eine Freundschaft zu beginnen. Mrs. Farnham soll mir am Donnerstag jemand anders schicken. Wir brauchen eine Abwechslung, du und ich.«

Mit einem abschätzigen Schnaufen stopfte Kitty die Banknote in ihren großzügigen Ausschnitt. Davon würde Mrs. Farnham ganz sicher nichts abbekommen. Sie ließ ihren Blick über ihn gleiten, vom Scheitel bis zu seinen Lenden, und seufzte dann dramatisch. »Mein Herz wird sich bestimmt nicht nach Ihnen sehnen, MacLachlan«, fauchte sie dann. »Und so gut Sie auch sein mögen - Sie sind es einfach nicht wert.«

MacLachlan legte sich seine Halsbinde um. »Ja, damit hast du ohne Zweifel recht.«

Kitty räusperte sich missbilligend. »Also gut. Ich werde am Donnerstag Bess Bromley schicken, damit sie Sie für eine Weile erträgt. Sie ist grässlich gemein, diese katzenäugige Hexe. Ihr werdet gut zusammenpassen.« Nach dieser abschließenden Bemerkung rauschte Kitty durch das Schlafzimmer und riss die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, wo sie sofort im hellen Sonnenlicht verschwand.

Eine ganze Weile noch stand MacLachlan einfach da und starrte in die Schatten in seinem Arbeitszimmer. Er wusste, dass ein besserer Mann als er Reue empfinden würde, vielleicht sogar ein gewisses Maß an Schuldbewusstsein. Aber nicht er. Oh, Kitty hatte ihn gut bedient, erinnerte er sich, während er sich weiter ankleidete. Sie war sauber, höflich und pünktlich gewesen. Und ganz gewiss würde ihr breiter, runder Hintern ihm für immer in Erinnerung bleiben.

Aber das war vermutlich auch alles, woran er sich erinnern würde. Genau genommen war es April geworden, ehe er sich die Mühe gemacht hatte, sich ihren Namen zu merken. Bis dahin hatte er sie einfach aufgefordert, sich auszuziehen und sich auf das Bett zu legen. An besonders hektischen Tagen hatte er sich nicht einmal damit aufgehalten, sich zu entkleiden, erinnerte er sich, als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte. Er hatte einfach seinen Hosenstall geöffnet, das Mädchen angewiesen, sich über das Sofa in seinem Büro zu beugen, und hatte dann begonnen, eine irgendwie lästige Lust zu befriedigen.

Nein, mehr interessierte ihn nicht. Damals so wenig wie heute. Denn wenn es etwas gab, was MacLachlan erregender fand als den Anblick eines hübsch gerundeten breiten Hinterns, dann war das pure, unverfälschte Macht. Und Kittys Klagen, so tief empfunden sie auch sein mochten, würden ihn niemals die beiden unabänderlichsten Gesetze des Kapitalismus vergessen lassen. Zeit war Geld. Und Geld war Macht. Von Ersterem hatte er zurzeit nur sehr wenig, von Letzterem würde er niemals genug haben.

MacLachlan entrollte einige Bauzeichnungen und klingelte dann ungeduldig nach seinem Sekretär. Es war Zeit, seine Anwälte aus der Threadneedle Street herzubitten; es gab Arbeit, die getan werden musste. Binnen einer Woche wollte MacLachlan damit beginnen, drei neue Grundstücke zu erschließen, sechs zu verkaufen, einen wenig zahlungsfreudigen Ziegeleibesitzer als bankrott erklären zu lassen und ein benachbart liegendes Dorf dem Erdboden gleichmachen - alles in Vorbereitung auf die nächste Reihe eleganter Villen im georgianischen Stil, die er plante, und die ihm dabei helfen würden, die verschwenderischen Engländer von einer weiteren Wagenladung ihrer Pennies und Pfund Sterling zu trennen. Denn das war es, was ihm wirklich Lust bereitete.

Das Haus in der Mortimer Street sah eigentlich nicht so aus, als gehörte es einem reichen und einflussreichen Angehörigen des englischen Hochadels. Und es stand nicht in Mayfair, allerdings auch nicht weit davon entfernt. Es war kein imposantes Stadthaus, sondern eher schlicht mit zwei Fenstern, einer Tür und vier unscheinbaren Etagen darüber. Der schlichten Fassade nach zu urteilen vermutete man eher, dass es einen Bankier, einen Anwalt oder einen bescheidenen, aber wohlhabenden Kaufmann beherbergte.

Doch so war es nicht. Denn hier wohnte der mächtige Earl of Treyhern, einen Ausbund an Gediegenheit und Sachlichkeit, ein nüchtern denkender Bürger wie er im Buche stand. Er war ein bescheidener Mann, der, so sagte man, keine Narrheiten duldete und Falschheit zutiefst verabscheute. Und was es noch schlimmer machte: Die Komtesse of Bessett, die verzagt am Fuß der Treppe zu seinem Haus stand, war nicht hierhergekommen, um dem Earl einen Besuch abzustatten. Sie war gekommen, um seine Gouvernante aufzusuchen - oder genauer gesagt, um ihm seine Gouvernante zu stehlen. Wenn das auch nur im Geringsten möglich wäre, und was abzuwarten blieb.

Geld spielte keine Rolle. Ihre Nerven allerdings schon. Aber die Komtesse war verzweifelt, und deshalb klopfte sie auf die kleine Ausbuchtung in ihrem Ridikül, atmete noch einmal tief durch und stieg die Treppe hinauf, um anzuklopfen. Sie betete darum, dass die Gouvernante noch hier arbeitete. Erst als die Tür geöffnet wurde, kam es der Komtesse of Bessett in den Sinn, dass es möglicherweise nicht ganz der Etikette entsprach, am Vordereingang nach einer Angestellten zu fragen.

Nun, jetzt war es zu spät. Ein hochgewachsener, breitschultriger Diener starrte ihr direkt ins Gesicht. Lady Bessetts Hand zitterte leicht, als sie ihm ihre Karte reichte. »Die Komtesse of Bessett möchte Mademoiselle de Severs sprechen, wenn sie anwesend ist?«

Die Augenbrauen des Dieners hoben sich ein wenig indigniert, doch er führte die Komtesse die Treppe hinauf und bat sie, in einem kleinen, von Sonnenlicht durchfluteten Salon Platz zu nehmen.

Das Zimmer war mit erlesenen französischen Antiquitäten ausgestattet. Buttergelbe Seidentapeten bedeckten die Wände, und die gelben Seidenvorhänge passten perfekt zu dem kostbaren Aubusson-Teppich. Trotz ihrer Nervosität fand Lady Bessett das Zimmer angenehm und merkte sich im Geiste die Farben. Vorausgesetzt sie überlebte dieses Zusammentreffen, wollte sie morgen ein Haus kaufen. Ihr eigenes Haus - nicht das ihres Mannes oder ihres Vater oder ihres Stiefsohnes. Ihr Haus. Und dann würde sie auch einen gelben Salon haben. Darüber konnte sie ganz allein entscheiden, nicht wahr? Das würde sie dem Bauunternehmer morgen sagen.

Einige Augenblicke später betrat eine groß gewachsene, dunkelhaarige Frau das Zimmer. Sie sah ganz entschieden französisch aus, aber sie war vielleicht ein wenig eleganter gekleidet, als man es von einer Gouvernante erwartete. Ihr Benehmen war nicht besonders eilfertig, und ihr Gesichtsausdruck war der höflicher Neugier. Ehe sie es sich noch einmal anders überlegte, erhob Lady Bessett sich rasch vom Sofa und ging rasch auf die Frau zu.

»Sie sind Mademoiselle de Severs?«, fragte sie und ergriff die Hand der Frau.

Die Frau zögerte kurz. »Nun, ja, aber ...«

»Ich möchte Sie engagieren«, unterbrach Lady Bessett sie. »Sofort! Sie müssen mir nur sagen, welches Gehalt Sie erwarten.«

Mademoiselle de Severs zog sich einen Schritt weit zurück. »Oh, ich fürchte, Sie irren sich, aber ...«

»Nein, ich bin verzweifelt!« Lady Bessett drückte Mademoiselle de Severs' Hand etwas fester. »Ich habe ein Empfehlungsschreiben. Von der Gräfin von Hodenberg aus Passau. Sie hat mir alles erzählt. Über Ihre Arbeit. Ihre Tätigkeit in Wien. Mein Sohn ... Ich fürchte, er ist sehr krank. Ich möchte Sie engagieren, Mademoiselle de Severs. Ich muss! Ich weiß nicht, an wen sonst ich mich wenden soll!«

Die Frau drückte Lady Bessett tröstend die Hand. »Es tut mir leid«, sagte sie mit ihrem leichten französischen Akzent. »Die Gräfin ist falsch unterrichtet. Genau genommen habe ich sie seit zehn Jahren oder noch länger nicht mehr gesprochen.«

»Das hat sie mir gesagt«, erwiderte Lady Bessett.

»Bitte - woher kennen Sie die Gräfin?«

Lady Bessett senkte den Blick und schaute zu Boden. »Ich habe während meiner Ehe meistens im Ausland gelebt«, erklärte sie. »Ihr Gatte und der meine teilten das Interesse für antike Geschichte. Wir sind uns das erste Mal in Athen begegnet.«

»Wie freundlich von ihr, sich an mich zu erinnern.«

Lady Bessett lächelte schwach. »Sie wusste nur, dass Sie nach London gegangen sind, um für eine Familie namens Rutledge zu arbeiten, die ein kleines Mädchen hatte, das schrecklich krank war. Es war recht schwierig, diese Familie aufzuspüren. Und London - nun, es ist eine sehr große Stadt, nicht wahr? Ich war erst einmal in meinem Leben hier.«

Miss de Severs deutete auf zwei Sessel vor dem Kamin, der an diesem Spätfrühlingsnachmittag nicht brannte. »Bitte nehmen Sie doch Platz, Lady Bessett«, lud sie die Besucherin ein. »Ich werde mich bemühen, meine Stellung in diesem Haus zu erklären.«

Die Hoffnung in Lady Bessetts Herzen schwand. »Sie ... Sie können uns nicht helfen?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, erwiderte die Gouvernante. »Ich werde es gewiss versuchen. Ihr Sohn - wie alt ist er bitte und welcher Art ist seine Erkrankung?«

Lady Bessett unterdrückte ein Schluchzen. »Geoffrey ist zwölf«, antwortete sie. »Und er ... er hat ... nun, er bildet sich Dinge ein, Mademoiselle. Seltsame, erschreckende Dinge. Und er sagt Dinge, die keinen Sinn ergeben, und er kann nicht erklären, warum er das tut. Manchmal leidet er unter Schwermut. Er ist ein zutiefst verstörtes Kind.«

Miss de Severs nickte langsam. »In welcher Form treten diese Einbildungen auf? Als Träume? Halluzinationen? Hört das Kind Stimmen?«

»Träume, denke ich«, flüsterte Lady Bessett. »Aber auch Träume, wenn er wach ist, wenn das einen Sinn macht? Ich - ich bin nicht ganz sicher, verstehen Sie? Geoffrey spricht nicht mehr mit mir darüber. Genau genommen hat er sich sehr verschlossen.«

»Leidet er noch darunter?«, fragte die Gouvernante. »Kinder entwachsen solchen Dingen oft, müssen Sie wissen.«

Lady Bessett schüttelte den Kopf. »Es wird zunehmend schlimmer«, erklärte sie. »Ich weiß, dass er sehr beunruhigt ist. Ich habe sowohl einen Arzt als auch einen Phrenologen in der Harley Street aufgesucht. Sie sagen ... o Gott! ... sie sagen, er könnte eine Geisteskrankheit haben. Dass er vielleicht den Bezug zur Realität ganz und gar verlieren könnte und unter Aufsicht gehalten werden muss. Oder - oder eingesperrt

»Was für ein Unsinn!«, sagte die Gouvernante und verdrehte die Augen. »Nun, ich würde gar zu gern einige der Ärzte in der Harley Street fesseln und einsperren - ganz zu schweigen davon, was ich mit den Phrenologen machen würde.«

»Sie glauben ihnen nicht?«

»Aber ganz und gar nicht!«, nickte die Frau voller Nachdruck. »Und ganz besonders nicht in diesem Fall! Ein Kind von zwölf Jahren ist noch nicht ausreichend entwickelt, weder mental noch körperlich, dass solche schrecklichen Prognosen gestellt werden können. Vielleicht ist Ihr Sohn lediglich sehr empfindsam und sensibel?«

Lady Bessett schüttelte den Kopf. »So ist es nicht«, sagte sie entschieden. »Obwohl er ein ausgesprochen guter Zeichner ist. Er hat auch eine Begabung für Mathematik und alle wissenschaftlichen Dinge. Deshalb scheinen diese - diese Anfälle so gar nicht zu ihm zu passen.«

»Er ist also kein Kind, das eine zu lebhafte Fantasie hat?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Kommt er ansonsten gut mit seiner Umwelt zurecht? Lernt er? Versteht er alles?«

»Geoffs Lehrer sagt, er sei brillant.«

»Gab es in seiner Kindheit irgendwelche Traumata?«

Einen Augenblick lang zögerte Lady Bessett. »Nein, kein ... kein Trauma.«

Die Gouvernante zog wieder die Augenbrauen hoch und öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen. Aber in diesem Moment kam ein hübsches blondes Mädchen in den Salon gestürmt. Sie trug ein elegantes Abendkleid.

»Maman, es ist fertig!«, rief sie und schaute über die Schulter auf ihre Fersen. »Was sagst du? Ist der Saum so richtig? Oder sehe ich damit von hinten zu ...«

»Mein Liebes, wir haben einen Gast«, tadelte die Gouvernante - die, wie es jetzt schien, keine Gouvernante war. »Das ist Lady Bessett. Lady Bessett, meine Stieftochter, Lady Ariane Rutledge.«

Das Mädchen war rot geworden. »Oh! Ich bitte um Entschuldigung, Ma'am!« Sie knickste und zog sich sofort zurück.

»Es ist schon gut!«, murmelte Lady Bessett und spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Wer war - ich meine, war das ...?«

»Lord Treyherns armes kleines Mädchen, das so schrecklich krank war«, sagte ihre Gastgeberin. »Ja, das ist, was ich versucht habe, Ihnen zu sagen, Lady Bessett. Wir sind verheiratet, er und ich. Und Ariane, wie Sie sehen konnten, ist jetzt eine ganz normale junge Dame. Wir haben noch drei weitere Kinder, deshalb besteht meine Arbeit zurzeit in nur wenig mehr darin, als einer Freundin oder einer Verwandten von Zeit zu Zeit einen Rat zu geben.«

»Oh.« Lady Bessetts Schultern sackten herunter. »Ach du liebe Güte! Sie sind jetzt Lady Treyhern! Und ich - nun, ich weiß nicht, was ich jetzt noch tun kann.«

Ihre Gastgeberin beugte sich zu ihr und legte die Hand auf die Lady Bessetts. »Meine Liebe, Sie sind sehr jung«, sagte sie. »Sogar noch jünger als ich, nehme ich an?«

»Ich bin dreißig«, wisperte Lady Bessett. »Und ich fühle mich, als wäre ich doppelt so alt.« Und dann, zu ihrer größten Verlegenheit, rollte ihr eine Träne über die Wange.

Lady Treyhern reichte ihr ein frisch gestärktes Taschentuch. »Dreißig ist noch ziemlich jung«, sprach sie weiter. »Sie müssen mir vertrauen, wenn ich sage, dass Kinder solchen Dingen entwachsen.«

»Glauben Sie wirklich?«, schniefte Lady Bessett. »Ich wünschte, ich könnte mir dessen sicher sein! Geoffrey ist mein Leben! Wir haben nur noch uns.«

»Ich verstehe«, sagte Lady Treyhern. »Und wie lange werden Sie in London bleiben, meine Liebe?«

Lady Bessett hob den Kopf. »Für immer«, erwiderte sie. »Ich bin verwitwet, und mein Stiefsohn hat vor Kurzem geheiratet. Morgen werde ich den Kaufvertrag für ein Haus unterzeichnen. Es ist ganz in der Nähe.«

»Tatsächlich?«, lächelte Lady Treyhern. »Wie aufregend!«

Lady Bessett zuckte mit den Schultern. »Unser Dorfarzt hielt es für das Beste für Geoff, wenn wir in der Nähe von London wohnen. Er sagte, er habe keine Ahnung, was er für den Jungen tun könnte.«

Lady Treyhern drückte tröstend ihre Hand. »Sie müssen sich Zeit lassen und sich erst einmal eingewöhnen, meine Liebe«, sagte sie. »Und wenn Sie das getan haben, müssen Sie mit dem jungen Geoff zum Tee kommen. Wir werden damit anfangen, uns kennenzulernen.«

»Sie ... Sie werden uns also helfen?«

»Ich werde es versuchen«, sagte Lady Treyhern. »Seine Symptome sind in der Tat rätselhaft. Aber ich bin ganz und gar nicht überzeugt, dass es sich um eine Erkrankung handelt.«

»Glauben Sie nicht? Gott sei Dank!«

»Selbst wenn es so wäre, meine Liebe, so gibt es in London einige Mediziner, die die Entwicklungen verfolgen, die sich in Wien und Paris tun«, sagte die Gastgeberin. »Sie wagen sich auf das Feld der Geisteskrankheiten und der Erkrankungen der Seele. Psychologie nennen sie es. Nicht alle sind unwissende Schwachköpfe, Lady Bessett.«

»Geisteskrankheiten!« Lady Bessett zuckte zusammen. »Ich kann es nicht ertragen, auch nur daran zu denken!«

»Ich bezweifle, dass Sie das überhaupt müssen«, beruhigte Lady Treyhern sie. »Und jetzt werde ich nach Kaffee klingeln und Sie müssen mir alles über Ihr neues Haus erzählen. Wo steht es, bitte?«

»In der Nähe von Chelsea«, erwiderte Lady Bessett gefasst. »In einem Dorf namens Walham Green. Ich habe mir dort ein Cottage gemietet, bis das Haus fertig ist, aber das wird noch einige Wochen dauern.«

»Nun, dann wohnen Sie ja ganz nah bei der Stadt«, sagte Lady Treyhern, während sie aufstand und an der Klingelschnur zog. »Ich gestehe, dass ich nicht viele Leute in London kenne. Nichtsdestotrotz müssen Sie mir erlauben, Ihnen bei den Einführungen behilflich zu sein.«

Wieder spürte Lady Bessett, wie ihre Wangen sich röteten. »Ich fürchte, ich habe bisher kaum am gesellschaftlichen Leben teilgenommen«, gestand sie ein. »Ich kenne fast niemanden.«

»Nun, meine Liebe, jetzt kennen Sie mich«, erwiderte ihre Gastgeberin. »Also - was ist mit diesem neuen Haus? Ich nehme an, es verfügt über alle modernen Annehmlichkeiten. Und natürlich werden Sie eine Menge neuer Möbel kaufen müssen. Wie aufregend das sein wird!«