Kapitel 14
Lügen haben kurze Beine.
Madeleine hatte die erste Kiste mit Dokumenten fast durchgesehen, als ein Klopfen an der Tür sie fast aus dem Stuhl aufspringen ließ. Grundgütiger Himmel, es war doch schon nach Mitternacht! Doch als das Mädchen vom Lande, das sie war, ging sie zur Tür und öffnete sie, ohne zu fragen, wer Einlass begehrte. Sie erkannte ihren Fehler sofort.
Merrick MacLachlan stand auf ihrer Türschwelle und sah aus, als wäre er soeben aus dem Schlund der Hölle zurückgekehrt. Sein Haar war zersaust, und seine blauen Augen waren dunkel vor Wut. Sein Hemd stand am Hals offen, die Hemdschöße hingen halb aus dem Hosenbund heraus, und seine Weste war nicht zugeknöpft. Einen Augenblick lang hielt Madeleine ihn für betrunken, doch seine Hand - er trug keine Handschuhe - war felsenfest, als er sie gegen die Tür schmetterte. Sie schwang weit auf, und er betrat ohne Aufforderung das Haus.
Madeleine konnte ihn nur anstarren. »Du meine Güte! Weißt du, wie spät es ist?«
Er erwiderte ihren Blick aus wutsprühenden Augen. »Aye, es ist die Geisterstunde«, sagte er. »Diese kurze Zeit zwischen Leben und Tod, dieser Spalt greifbarer Ungewissheit, wenn die Toten umherirren und die Gräber ihre Geheimnisse preisgeben.«
Madeleine sah ihn verständnislos an. »Du bist betrunken, Merrick«, sagte sie. »Bitte geh nach Hause.«
Er kam wie ein Raubtier auf sie zu. Er roch nach Whisky, aber sein Blick war klar. Ärgerlich wich sie einen Schritt zurück, aber er griff in ihr Haar, wickelte es um seine Hand und zog sie zu sich. Er presste seine Wange gegen ihre und flüsterte ihr ins Ohr. »Sag mir eines, Maddie - hast du auch Geheimnisse?«
Sie begann, sich zu fürchten. »Ich - ich weiß nicht, was du meinst.«
Er zog sie hart zu sich heran. »Versuch es noch einmal«, knurrte er, und seine Stimme klang beängstigend ruhig. »Nur heraus damit, meine kleines Frauchen! Zu beichten tut der Seele doch gut, nicht wahr?«
Am oberen Treppenabsatz tauchte ein Schatten auf, verharrte dort. »Ist etwas nicht in Ordnung, Mylady?«, fragte Madeleines Hausangestellte.
Merrick wandte den Kopf nicht um einen Zentimeter. »Verschwinden Sie und kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, fauchte er.
»Es ist alles in Ordnung, Eliza«, sagte Madeleine. Ihre Stimme klang überraschend fest.
»Gehen Sie wieder ins Bett. Ich werde auch gleich hinaufkommen.«
Der Schatten zögerte, dann verschwand er. Madeleine legte ihre Hand auf Merricks. »Bitte lass mein Haar los«, sagte sie kalt. »Dann setz dich hin und sag, was du zu sagen hast, um Himmels willen.«
»Oh, dafür würden uns nicht genug Jahre bleiben, Maddie, um dir alles zu sagen, was ich dir zu sagen habe.« Er stieß die Worte dicht an ihrem Ohr hervor. »Und nichts davon, meine Liebe, wird angenehm sein.« Aber zu ihrer Überraschung ließ er sie los.
Sie wich zurück, aber der Anblick seines wutverzerrten Gesichts war erschreckender als der Klang seiner Stimme. »Ist es wegen dem, was heute Abend geschehen ist?«
Er schnaubte verächtlich. Madeleine beschlich eine Ahnung, die ihr Übelkeit bereitete. Sie schluckte mühsam und machte noch einen Schritt rückwärts.
»Wann wolltest du es mir sagen, Maddie?« Zum ersten Mal konnte sie den Schmerz hören, der in seinen Worten mitschwang. »Nein, lass mich antworten. Niemals. Nie. Du wolltest mich unwissend in mein Grab fahren lassen, nicht wahr? Du wolltest mich sterben lassen, ohne mir zu sagen, dass der Junge von mir ist.«
Lieber Gott. Ihr schlimmster Albtraum war Wirklichkeit geworden, und es war nichts mehr zu tun, als es frei heraus zu sagen. »Du bist wahnsinnig!«, fauchte sie. »Was macht dich glauben, dass du mitten in der Nacht in mein Haus kommen kannst, um derart abscheuliche Dinge zu mir zu sagen?«
Sein Mund verzog sich bitter, während er eine kleine Ledertasche aus seiner Manteltasche zog. »Das hier«, sagte er und faltete ein Blatt Papier auseinander, dessen Ränder vergilbt und dessen Ecken vom vielen Herumtragen abgestoßen waren.
Er öffnete die obere Hälfte gerade so weit, dass Madeleine ihren Namen darauf geschrieben sah - in kühnen Buchstaben. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Das ist nichts als ein Stück Papier, Merrick.«
»Oh, wenn du das glaubst, meine Liebe, brauchst du eine Lektion in englischem Recht.«
Er meinte es tödlich ernst. Flüchtig dachte sie daran, nach dem Papier zu greifen und es an eine der Kerzen zu halten. Sie musste mit der Hand gezuckt haben.
Er riss das Papier fort und lachte grimmig. »Oh, nein, Maddie!« Er steckte das Papier zurück in das Etui und schob es zurück in seine Tasche. »Ich habe dieses kleine Dokument nicht fast dreizehn Jahre lang aufbewahrt, um es mir jetzt aus der Hand reißen zu lassen.«
»Es ist nur ein Stück Papier«, wiederholte sie. »Um Gottes willen, Merrick! Wir sind praktisch auf einem Amboss aneinandergeschmiedet worden! Es bedeutet nichts!«
»Bist du bereit, darauf zu wetten, meine Liebe?«, knurrte er. »Lass uns morgen zum Gericht gehen und hören, wie unsere gelehrten Juristen darüber denken. Und während wir dort sind, können wir vielleicht auch gleich herausfinden, welche Strafe auf Bigamie steht. Immer noch die Deportation, oder nicht? Wie ich hörte, soll es um diese Jahreszeit sehr schön in New South Wales sein.«
»Du Bastard!«, flüsterte sie. »Nur zu. Aber wenn es einen Gott im Himmel gibt, Merrick, dann wirst du verlieren.«
»Ich glaube, du verstehst nicht.« Seine Stimme klang tödlich sanft. »Ich habe nichts zu verlieren. Ich habe schon alles verloren, Madeleine. Du hast es mir genommen, gnadenlos und im wahrsten Sinne des Wortes.«
Sie presste die Lippen zu einem dünnen festen Strich zusammen und wappnete sich. »Unsere Ehe wurde annulliert, Merrick«, sagte sie.
»Aye, jetzt also wieder zurück zu diesem Punkt?« Mit einer weit ausholenden Geste wies er auf das Zimmer, in dem die Unterlagen und Dokumente verstreut lagen. »Hast du die Urkunde übrigens gefunden? Dieses ominöse Dokument, das dein Vater dir gezeigt hat? Ein Fälscher aus dem East End macht so etwas für fast umsonst, falls du das nicht gewusst haben solltest.«
»Sei still, Merrick!«, fauchte sie. »Sei einfach still und geh.«
Stattdessen hatte Merrick die Dreistigkeit, zu der kleinen Anrichte zu gehen und sich einen Drink einzuschenken. »Weißt du, was ich mich frage, Madeleine?« Seine Hand war ganz ruhig. »Ich frage mich, was dein Vater Lord Bessett erzählt hat. Wusste der arme Teufel, dass du noch verheiratet warst? Und wusste er, dass man ihm den Abkömmling eines anderen Mannes unterschieben wollte?«
Madeleine fuhr sich durchs Haar. »Du wirst erst zufrieden sein, wenn du mich in den Wahnsinn getrieben hast«, wisperte sie. »Ja, Besset wurden dieselben Papiere gezeigt wie mir. Und ja, Merrick, er wusste, dass ich ein Kind erwartete.«
Merrick schnaubte. »Und er hat dich trotzdem geheiratet?«
»Ja«, sagte sie ruhig. »Er hat mich trotzdem geheiratet. Weil ihm nicht egal war, was aus mir werden sollte, was mehr ist, als ich von dir sagen kann. Wo warst du, Merrick, als es mir drei Monate lang jeden Morgen schlecht ging? Wo warst du, als das Kind kam und ich zwei Tage in den Wehen gelegen habe? Oder als Geoffrey zu gehen gelernt hat? Oder als sein Pony ihn abgeworfen hat und er mit sechs Stichen genäht werden musste?«
»Du herzlose Hexe!«
Madeleine ignorierte seine Bemerkung. »Nein, Bessett war nicht der Ehemann meiner Träume«, zischte sie. »Aber bei Gott, er war da, und er tat sein Bestes. Und das war das, was ich eigentlich von dir hätte erwarten können.«
»Du hast mich verlassen, Maddie.«
»Ich wurde fortgebracht, Merrick!«, rief sie. »Das ist etwas anderes. Was sollte ich denn tun? Mein Vater sagte, du hättest das Geld genommen. Du hast es nie abgestritten. Du hast, um es deutlicher zu sagen, nicht einmal Lebewohl gesagt! Und doch habe ich zehn Wochen lang in Sheffield auf dich gewartet, habe darum gebetet, du würdest deine Meinung ändern und zu mir kommen. Aber du bist nicht gekommen, Merrick. Nie mehr. Und ich brauchte einen Ehemann. Ich hatte verdammtes Glück, dass Bessett mich nehmen wollte.«
Seine Augen wurden schmal. »Nun, das ist eine neue Wende in einer alten Geschichte«, sagte er. »Und ich konnte nicht zu dir kommen, Madeleine. Ich war verletzt. Ich habe dir geschrieben, kaum dass ich dazu in der Lage war.«
»Oh, jetzt blutet mir aber das Herz!«, erwiderte sie sarkastisch. »Ich habe keine Briefe von dir bekommen. Aber guter Gott, welchen Unterschied macht das jetzt noch, Merrick? Wir waren fast dreizehn Jahre getrennt. Im Grunde kannte wir einander doch überhaupt nicht.«
»Ich kannte mein Herz«, sagte er hohl. »Und ich dachte, ich würde auch deines kennen.«
»Nun, dem war nicht so«, fauchte sie. »Und jetzt sei so freundlich und verlass mein Haus, Merrick! Ich habe mein eigenes Leben zu leben. Ich habe ein Kind, dem es nicht gut geht und das mich verzweifelt braucht.«
Er stürzte die Hälfte des Brandys hinunter und stellte das Glas ab. »Was für ein Zufall!«, sagte er. »Das habe ich auch.«
Sie sah ihn entsetzt an, als sie zu begreifen begann. »Nein!«, flüsterte sie. »Nein, Merrick! Das hast du nicht! Das kannst du mir nicht antun. Ich - ich werde bald von hier fortgehen, hörst du? Ich werde weit weg gehen, wo niemand mich finden kann.«
»Ein großer Gedanke«, sagte er kalt. »Und einer, den ich zur Sprache bringen wollte. Du gehst am besten packen, meine Liebe. Geoff und ich werden morgen um zehn abreisen.«
»Abreisen?«, keuchte sie. »Guter Gott, du bist wirklich verrückt! Du bringst den Jungen nicht einen Schritt weit aus diesem Haus.«
»Aber, aber, Madeleine!«, erwiderte er spöttisch. »Hatte ich dir nicht schon einmal erklärt, dass dies mein Haus ist?«
»Fahr zur Hölle, du arroganter Mistkerl!«
Merrick zuckte mit den Schultern. »Wenn du mir nicht glaubst, meine Liebe, geh zu einem guten Anwalt. Und bitte vergiss nicht, ihm gegenüber die ärgerliche kleine Tatsache zu erwähnen, dass wir Mann und Frau sind. Wenn er sein Geld wert ist, wird er dir einige in der Tat schlechte Neuigkeiten unterbreiten. Nämlich, dass dein Haus mir gehört. Dass dein Kind mir gehört. Kurz gesagt, Madeleine, dass du mir gehörst, so sehr mich das auch bekümmern mag. Und wenn du ein sehr, sehr braves Mädchen bist, meine Liebe, vielleicht werde ich mich dann nicht daran erinnern, dass ich vor Gericht gehen wollte, um dich wegen Bigamie verurteilen zu lassen.«
Sie stürzte sich auf ihn. Der erste Schlag landete mitten auf seiner Wange. Sie schlug blindlings auf ihn ein, wieder und wieder, bis Merrick ihre Hände packte und sie an sich zog. »Du bist immer noch eine Wildkatze, nicht wahr, Maddie? Verborgen unter dieser sittsamen Maske«, sagte er und starrte auf sie herunter. »Vielleicht werde ich mich gar nicht weiter um diese Bigamie-Sache scheren. Vielleicht werde ich dich einfach festhalten und auf die Erfüllung meiner ehelichen Rechte bestehen. Was zu tun mir das Gesetz voll zugesteht.«
Noch immer nach Atem ringend, versuchte Madeleine, mit dem Knie nach ihm zu stoßen, aber er wehrte sie geschickt ab. Der arrogante Teufel zog lediglich seine Augenbrauen hoch. »Vielleicht ist es dir entgangen, meine Liebe, aber dein Körper reibt sich höchst herausfordernd an meinem - jedes Mal, wenn du ausholst«, murmelte er. »Aber ich werde dich jetzt nicht bedrängen und darauf bestehen, dass du mir ein Bett für die Nacht zurechtmachst. Stattdessen werde ich dir die Höflichkeit erweisen, zu gehen - für den Moment. Ich komme morgen um zehn Uhr, um den Jungen abzuholen. Du kannst mitkommen oder hierbleiben, ganz wie du willst.«
Jetzt kamen ihr die Tränen. »Oh, du bist wirklich so grausam, wie alle sagen!«, rief sie. »Guter Gott, Merrick! Denk doch an Geoff! Bedenke doch, was das bei ihm anrichten wird!«
Er ließ sie nicht los, sondern zog sie noch enger an sich, bis sie wieder Auge in Auge voreinander standen. »Ich denke an Geoff«, sagte er und betonte dabei jedes Wort. »Der Junge ist ein gottverdammtes emotionales Wrack, und das hat er seiner Mutter zu verdanken.«
»Wie kannst du es wagen zu behaupten, es wäre meine Schuld!«, erwiderte sie empört. »Und wohin gedenkst du ihn eigentlich zu bringen?«
»Nach Schottland«, beschied er sie knapp. »Wo seine Familie sich um ihn kümmern kann - sein Fleisch und Blut, Maddie. Glaubst du denn, du bist die einzige Frau mit einem Kind, das die Gabe hat?«
Sie sah ihn verständnislos an. »Die was?«
»Das zweite Gesicht«, stieß er hervor. »Die Gabe. Die Fähigkeit zu sehen, was geschehen wird. Nenn es, wie du willst.«
Sie versuchte, zurückzuweichen. »Oh, du - du bist wirklich wahnsinnig«, flüsterte sie. »Du kannst unmöglich glauben, was du da sagst. Um Gottes willen, Merrick, wir leben im neunzehnten Jahrhundert, nicht im Mittelalter.«
»Maddie, der Junge kann hellsehen, und jeder Narr kann das erkennen«, erklärte er ruhig. »Also - sei um zehn Uhr fertig, und wir drei können in relativem Frieden abreisen. Du kannst dich aber auch weiterhin so aufführen wie jetzt, aber dann wird um elf der Friedensrichter hier sein. Was willst du?«
Sie riss sich los. »Ich hoffe, du schmorst in der Hölle!«
Merrick zuckte mit den Schultern und füllte sein Glas ein weiteres Mal nach. »Dann also um zehn«, sagte er und ging zur Tür, das Brandyglas in der Hand. »Ich sehe dich morgen.«
Madeleine stand nur da und blinzelte. »Du bist ein Schwein«, sagte sie. »Und du ... du stiehlt gerade mein Glas! Das war ein Hochzeitsgeschenk!«
Er hob das Glas zu einem letzten Abschiedsgruß. »Nun, dann also auf dein Wohl, Maddie!«, sagte er und es hörte sich fast unbekümmert an. »Es ist an der Zeit, dass ich mich daran gewöhne, meinst du nicht auch?«
Er ist betrunken gewesen. Madeleine saß auf der Bettkante, als die Morgendämmerung den Himmel zu erhellen begann, ihn zu einer seltsamen Mischung aus Blau und Rosa verwandelte. Er ist betrunken gewesen und heute Morgen, wenn er mit schlimmem Kopfweh und brennenden Magenschmerzen aufwacht, wird er anders über diesen Unsinn denken. Ohne Zweifel würde er beschämt sein. Vielleicht würde er sich nicht einmal mehr daran erinnern. Er konnte sich unmöglich wünschen, ein Kind aufgebürdet zu bekommen.
Überhaupt - nach Schottland zu wollen! Nun, Merrick MacLachlan hatte gewiss nicht vor, das zu tun. Sie und Eliza hatten zusammengesessen bis - nun, mehr oder weniger bis eben, um diese Möglichkeit zu diskutieren. Es war Eliza gewesen, die den Nagel auf den Kopf getroffen hatte: Ein Perfektionist wie Merrick würde ebenso wenig seine Geschäfte unerledigt zurücklassen wie er auf den Mond fliegen würde. Er liebte das Geld und die Macht, die es ihm einbrachte, viel zu sehr.
Und deshalb hatte sie nicht gepackt. Deshalb hatte sie Geoff nichts gesagt. Hatte nichts getan, sich nicht einmal angekleidet. Stattdessen hatte Madeleine stocksteif auf der Kante ihres Bettes gesessen und auf die Geräusche des Hauses gelauscht, während es langsam zum Leben erwacht war. Sie hörte die Hintertür quietschen, als die Asche hinaus- und neue Kohlen hereingetragen wurden. Vorhänge wurden aufgezogen und Fenster geöffnet. Mülleimer klapperten und ein Straßenhändler zog vorbei, sein Karren rumpelte über das Kopfsteinpflaster. Bald drang unüberhörbar der Klang der Schritte Mr. Frosts an ihr Ohr, der in dem Zimmer über ihr hin und her ging. Er würde Geoff wecken und zusammen würden sie zum Frühstück herunterkommen.
Es war ein normaler Tag. Ein ganz normaler Tag. Und Merrick MacLachlan würde nicht kommen und ihr Leben noch einmal ruinieren.
Dann bemerkte sie, dass sie wieder weinte, und dachte, dass es vielleicht doch möglich wäre. Dass Merrick tun würde, was er gesagt hatte. Er würde es tun. Und dann war da das Gefühl der Scham über das, was sie gestern Abend getan hatten. Oh, mochte Gott ihr beistehen! Warum hatte sie nicht ihren Stolz heruntergeschluckt und sofort einen Anwalt aufgesucht? Oder hätte ihr das die schlechten Nachrichten nur früher beschert? Sie schaute auf ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten. Ihre Finger waren bläulich verfärbt, so fest hielt sie sie ineinander verschränkt.
Jetzt kam Eliza herein und runzelte die Stirn. »Sie müssen sich ankleiden, Mylady«, drängte sie sanft. »Sollte er kommen - und ich wage zu vermuten, dass er das nicht tun wird, dann würden Sie nicht wollen, dass er Sie so sieht.«
Madeleine nickte und begann, sich zu waschen und anzuziehen. Nach einer Weile hörte sie Geoff und Mr. Frost die Treppe zum behelfsmäßigen Schulzimmer in der Mansarde hinaufpoltern. Nach Frühstück stand ihr nicht der Sinn, deshalb schickte sie Clara nur nach Kaffee und ging zurück in das Wohnzimmer, um in den Unterlagen ihres Vaters ihre bis jetzt so erfolglose Suche fortzusetzen.
Im Licht der Morgensonne sah Madeleine sich in dem Zimmer um. Es sah nicht vielversprechend aus. Dennoch setzte sie sich und gab sich zumindest den Anschein, zu suchen, während sie auf das Ticken der Uhr lauschte.
Es war viertel vor zehn, als sie lauten Hufschlag die Straße herunterkommen hörte. Von vielen Pferden, nicht von einer nur vorüberfahrenden leichten Kutsche. Das Herz klopfte Madeleine bis zum Hals, als sie aufstand und zum Fenster hinausspähte. Sie wusste, was sie draußen sehen würde. Merrick MacLachlan stieg aus einer glänzenden roten Stadtkutsche, einem Gefährt, größer und eleganter als alles, was sie bisher gesehen hatte. Er hob seinen Spazierstock mit dem Goldknauf und klopfte laut an die Tür des Hauses.
Sie ging, ihm zu öffnen.
Er verschwendete keine Worte. »Bist du fertig? Du siehst nicht so aus.«
»Ich kann nicht glauben, dass du es ernst meinst«, sagte sie. »Du ... du warst betrunken, Merrick. Vielleicht haben wir beide Dinge gesagt, die wir nicht so gemeint haben. Aber das Geoff anzutun - oh, bitte nicht.«
Er schob sie zur Seite und trat ein. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, Madeleine«, sagte er und legte seinen eleganten Zylinder zur Seite, »und mir ist das verdammt egal. Ich denke dabei an Geoff.«
Sie folgte ihm ins Wohnzimmer. »Wie?«, wisperte sie. »Wie sollte ihm das helfen? Der Junge hält Bessett für seinen Vater. Er denkt, dass Alvin sein Bruder ist. Und jetzt, zu allem, was ihn bekümmert, hast du vor, ihm zu sagen, dass sein ganzes Leben eine Lüge ist? Bitte, Merrick, sag mir, wie ihm das helfen soll! Und falls es ihm helfen wird, dann ja, dann werde ich gehen und das bereitwillig.«
Er streifte seine Handschuhe ab und legte sie zur Seite. »Der Junge gehört mir, Madeleine.« Es lag kein Mitgefühl in seiner Stimme. »Er hat ein Recht, das zu erfahren. Er hat ein Recht, sein wahres Erbe zu kennen.«
»Ich denke, hier geht es mehr darum, was du willst«, sagte sie. »Und es geht darum, mich zu bestrafen.«
Er schlug den zweiten Handschuh glatt. »Verdammt, Maddie, was glaubst du denn, wie der Junge sich jetzt fühlt?«, fragte er herausfordernd. »Wie? Er kommt sich vor wie eine Art Ungeheuer - so fühlt er sich. Wie eine bizarre Laune der Natur, nicht wie ein normales Kind.«
Eine Missgeburt. Madeleine zuckte innerlich zusammen. Bei mehr als einer Gelegenheit hatte Geoff dieses Wort benutzt, um sich selbst zu beschreiben. »Und was wird sich in Schottland ändern, Merrick?«, wisperte sie. »Was? Sag mir das.«
Er hatte seine Handschuhe wieder aufgenommen und betrachtete eingehend deren Nähte. »In Schottland wird er nicht allein sein«, erwiderte Merrick schließlich. »Er wird sich nicht wie ein Ungeheuer fühlen. Er wird sich einfügen und sich zu Hause fühlen - zumindest ein wenig. Und für einen Jungen seines Alters ist das das Wichtigste auf der Welt. Warum, Maddie, glaubst du wohl, bin ich so sicher, dass der Junge von mir ist?«
»Ich ...« Sie verstummte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Es ist ein Fluch in meiner Familie«, sagte er ruhig. »Oder ein Segen, das hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Meine Großmutter. Ein Großonkel. Eine Cousine zweiten Grades. Und ein Dutzend mehr, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits, die inzwischen allerdings tot auf dem Friedhof liegen.«
»Das ist doch ... ein Scherz, nicht wahr?«
»Du glaubst mir nicht?« Seine Stimme klang tonlos.
»Nein, und ich kann nicht glauben, dass du es tust.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe eigentlich nie richtig darüber nachgedacht«, gestand er. »Gott weiß, dass es keine Fähigkeit ist, über die ich verfüge. Aber in Teilen Schottlands betrachtet man das als ... nun, vielleicht nicht als normal, das wohl nicht. Aber es wird im Allgemeinen von mehr als nur einigen akzeptiert - was mehr ist, als worauf man hoffen kann.«
»Ich wüsste nicht, wie ihm das helfen soll«, flüsterte sie. »Seine ganze Welt wird auf den Kopf gestellt!«
»Nein, deine ganze Welt wird auf den Kopf gestellt«, widersprach Merrick. »Es wird verdammt unbequem für dich, dass ein Ehemann und eine Ehe, die du so zweckmäßig vergessen hast, plötzlich wieder eine Rolle spielen. Und es wird ebenso unbequem für mich werden. Die nächste Zeit nicht in London zu sein, wird vermutlich das Ende für die Hälfe meiner Geschäfte bedeuten. Aber dafür wird Geoffs Welt in Ordnung sein - vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.«
Sie berührte mit den Fingerspitzen ihre Stirn. »O Gott! Ich kann das nicht glauben.«
»Maddie, irgendjemand muss dem Jungen helfen«, sagte er und legte die Hände auf ihre Unterarme. »Kannst du es? Ich denke, wir haben bereits gesehen, dass du es nicht kannst. Und Gott weiß, dass ich es auch nicht besser könnte. Aber jemand könnte dazu in der Lage sein. Und ich denke, dieser Jemand ist meine Großmutter MacGregor.«
Madeleine rang die Hände. In seinen Worten lag so viel Wahres. Geoff war seltsam. Sie hatte es immer gewusst. Und Geoff selbst wusste es jetzt auch - und es brachte ihn um. »Wie kann sie ihm helfen, Merrick?«, fragte Madeleine leise. »Kann sie ... kann sie bewirken, dass es weggeht?«
Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, räumte er ein. »Aber ich weiß, dass jemand den Jungen lehren muss, dass es zwei verschiedene Dinge sind - Ereignisse vorherzusehen und für etwas verantwortlich zu sein. Jemand muss ihm erklären, dass Künftiges vorauszusehen nicht bedeutet, dass man es ändern kann - oder es ändern sollte. Und jemand muss ihm zeigen, wie er sie beherrschen kann - diese Sinneseindrücke. Guter Gott, man kann nur ahnen, was alles in diesen letzten Jahren auf das Bewusstsein des Jungen eingestürmt ist.«
Madeleine schloss die Augen. Lieber Gott! Was Merrick da beschrieb, war so nahe an der Wahrheit - an der Wahrheit, soweit sie sie kannte -, dass es ihr das Blut in den Adern stocken ließ. Und er hatte recht: Sie wusste nicht, was zu tun war. Die schottische Gabe. Madeleine war noch nicht bereit zu akzeptieren, dass so etwas überhaupt existierte. Aber wenn es sie gab ... Wenn sie existierte und sie nichts unternahm, ihm zu helfen ...
»Wie lange«, fragte sie leise. »Wie lange werden wir fort sein?«
»Das kann ich nicht sagen«, räumte er ein. »Vermutlich Wochen.«
Madeleine fuhr sich mit der Hand durch das Haar und löste dabei einige Strähnen aus ihrer Frisur. »Geoffs Unterricht - er kann nicht einfach aussetzen ...«
»Frost muss mitkommen«, unterbrach Merrick. »Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«
»Du lässt mir kaum eine andere Wahl, nicht wahr?«, sagte sie leise.
»Nein, keine«, erwiderte er grimmig. »Weil Geoff keine Wahl hat. Und auf diese geringe Weise kann ich ihm vielleicht helfen. Du hast mich bis jetzt um das Recht betrogen, ihm zu helfen, wie jeder Vater seinem Sohn helfen würde.«
Sie hob den Blick zu seinem und hielt ihn fest. »Ich werde mitgehen«, sagte sie. »Aber nur, weil ich alles tun würde, um meinem Sohn zu helfen. Und ich stelle eine Bedingung.«
Er verengte die Augen. »Und wie lautet diese Bedingung?«
»Beweise mir, dass es wirklich nur darum geht, Geoff zu helfen, Merrick. Dass es nicht darum geht, mich zu bestrafen. Sag ihm nicht die Wahrheit über Bessett.«
Er warf ihr einen langen dunklen Seitenblick zu. »Die Wahrheit über mich, meinst du«, korrigierte er sie. »Du möchtest nicht, dass er erfährt, dass ich sein Vater bin.«
Sie nickte. »Ich bitte dich nicht darum, dich nicht mit ihm anzufreunden oder keine Zeit mit ihm zu verbringen. Ich bitte nur darum - für jetzt, jedenfalls -, dass wir in seinem Leben kein Chaos anrichten.«
Er presste die Lippen zusammen, als müsste er bittere Worte zurückhalten, und ohne Zweifel tat er das. »Ich kann es nicht versprechen«, sagte er schließlich. »Es könnte vielleicht nicht möglich sein. Wenn wir in Argyllshire sind, wird es Fragen geben, Madeleine. Vielleicht sogar Gerede.«
Sie wandte sich ab und ging zum Fenster. Der Gedanke, Merrick nachzugeben, verletzte ihren Stolz. Der Gedanke, Hunderte von Meilen in seiner Gesellschaft zu reisen, war noch schlimmer. Aber welche Wahl hatte sie? Oh, sie war darüber hinaus, sich um Gerichte oder Magistrate zu sorgen. Sie war sogar darüber hinaus, sich dessen zu schämen, was sie gestern Abend mit ihm getan hatte. Schließlich und endlich bot Merrick ihr einen Weg - wenn auch einen dornigen -, Geoff zu helfen.
Madeleine ließ die Schultern sinken. »Ich werde mitgehen«, sagte sie ruhig. »Aber ich werde es nicht tun, weil ich Angst vor dir habe, Merrick. Ich werde mitgehen, weil ... weil so haarsträubend deine Erklärung auch klingt, ich keine bessere habe. Genau genommen habe ich überhaupt keine.«
»Nun, zumindest bist zu ehrlich, Madeleine«, sagte er schroff. »Und jetzt geh bitte packen. Wir haben eine lange und beschwerliche Reise vor uns.«