Kapitel 5
Man kennt einen Menschen erst,
wenn man einen Scheffel Salz mit ihm gegessen hat.
Die Fahrt mit der Kutsche durch die Außenbezirke Londons bis in die City dauerte wegen des dichten Verkehrs fast zwei Stunden. Madeleine hielt ihre Hände gefaltet in ihrem Schoß und versuchte, sich in Geduld zu üben. Sie hätte ihr Ziel zu Fuß oder mit einer der kleineren, wendigeren Kutschen, die man überall in der Stadt mieten konnte, viel schneller erreichen können. Ihr verstorbener Vater jedoch hatte ihr immer wieder gesagt, wie wichtig es war, wie eine wohlhabende, gut erzogene Lady aufzutreten, wenn man einen Besuch machte - gleich, welcher Art.
Madeleine war überrascht gewesen, als sie heute Morgen Mr. Rosenbergs Schreiben erhalten hatte, in dem er sie um einen Besuch gebeten hatte. Sie hatte die vergangenen drei Tage damit verbracht zu entscheiden, ob sie ihn noch einmal in seinem Büro aufsuchen sollte. Und inwieweit sie, falls sie es tat, dabei etwas von ihm erfahren könnte, ohne seinen Verdacht zu erregen. In ihrem Hinterkopf nagte ein Verdacht. Aber durch seinen Brief hatte Rosenberg ihr diese Entscheidung aus der Hand genommen. Seine Nachricht war während des Frühstücks von einem Boten in Livree überbracht worden. Die Bitte um einen Besuch war außerordentlich höflich formuliert gewesen, fast kriecherisch - und hatte Madeleines brennende Neugier geweckt.
Von Zeit zu Zeit reckte sie den Hals, als könnte ihr das den Weg durch die Wagen und Kutschen bahnen, die die Straße vor ihnen verstopften. Ihr Blick fiel auf ein Straßenschild; Fleet Street stand darauf. Madeleine hatte noch nie davon gehört, denn sie war erst einmal in ihrem Leben im Londoner Osten gewesen - um den Kaufvertrag für ihr neues Haus zu unterschreiben. Genau genommen hatte sie, abgesehen von den drei Monaten, die sie als Kind in Mayfair verbracht hatte, bisher nichts von dieser großen, so lebendigen Stadt gesehen.
Während ihres ersten Besuchs in London war es ihr kaum möglich gewesen, etwas anderes von der Stadt zu sehen als die exklusiven Läden in der Bond Street. Die gewundenen, schmalen, weniger eleganten Straßen übten zwar eine seltsame Faszination auf sie aus. Madeleine war jedoch von ihrem Vater und ihrer Tante Emma, die sie in die Gesellschaft einführen sollte, schon sehr früh und sehr oft daran erinnert worden, wie unschicklich es für eine junge Debütantin war, an Orten gesehen zu werden, die weniger kultiviert waren als Astley's oder weiter östlich lagen als Hatchard's, der Buchladen.
In der Kanzlei des Anwalts in der Threadneedle Street wurde Madeleine überaus höflich von einem jungen Mann empfangen. Er bat sie, Platz zu nehmen, ehe er die Treppe hinaufeilte, um seinen Herrn über ihre Ankunft zu unterrichten. Mr. Rosenberg begrüßte sie herzlich und ließ Kaffee servieren.
Madeleine stellte eine Reihe von Fragen über das Haus, die der Anwalt bereitwillig beantwortete. »Ich habe dies hier für Sie vorbereiten lassen«, sagte er, als sie sich für einen Moment unterbrach, um Luft zu holen. Er schob ihr über den Schreibtisch einige Dokumente zu. »Es war mein Wunsch, dass Sie sie sofort bekommen. Wie Sie sehen können, hat der Verkäufer sie gegengezeichnet. Wir benötigen nur noch Ihre Unterschrift - hier bitte -, um alles rechtmäßig zum Abschluss zu bringen.«
Er deutete auf den unteren Rand des letztes Blattes, doch der Name, der dort stand, war Madeleine unbekannt. »Und wer ist dieser Mr. ... Mr. Evans?«
Rosenberg machte eine winkende Handbewegung. »Oh, das ist nur eine Formalität«, sagte er. »Evans überwacht die täglichen Bautätigkeiten. Er hat Zeichnungsbefugnis für alle Urkunden und Verträge.«
Madeleines Augenbrauen zogen sich zusammen. »Sie meinen damit, dass er so etwas wie ein Sekretär ist?«
Rosenberg lachte. »Nun, ein sehr hochgestellter Sekretär in diesem Fall«, erwiderte er. »Wir sprechen über ein außerordentlich großes, bemerkenswert erfolgreiches Unternehmen, das in ganz London diverse Geschäftsinteressen wahrnimmt.«
»Aber diese Firma, die mein Haus baut - sie gehört allein Mr. MacLachlan, nicht wahr?« Madeleine senkte unschuldig den Blick. »Ich glaube, jemand erwähnte es mir gegenüber.«
Rosenberg schien leicht verwirrt. »Nun, ja. Natürlich.«
Madeleine sah das nicht als »natürlich« an, aber sie lächelte weiterhin ihr höflich-nichtssagendes Konversationslächeln. »Ich frage mich, Mr. Rosenberg, ob Sie mir noch eine letzte Frage beantworten würden?«
»Ich werde es versuchen.«
Madeleine entschied sich, ganz direkt diese eine Frage zu stellen, auf deren Antwort sie brannte. »Ich bekenne mich zu meiner übergroßen Neugier«, sagte sie. »Wie hat Mr. MacLachlan es angefangen, ein so außerordentlich großes Unternehmen aufzubauen?«
Rosenberg runzelte die Stirn. »Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Ihre Frage verstehe, Lady Bessett.«
»Nun, manch einer erbt ein Familienunternehmen«, fuhr sie fort. »Andere bauen sich über zwei oder drei Jahrzehnte ihre eigene Firma auf. Mr. MacLachlans Aufstieg, vermute ich, ist kometengleich gewesen. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wie ein so junger Mann so rasch so erfolgreich sein konnte.«
Mr. Rosenberg lächelte freundlich. »Ja, er ist noch sehr jung, nicht wahr?«, entgegnete er. »Und sein Ehrgeiz - lassen Sie uns es so nennen - steht außer Frage. Aber ich denke, ich verstehe, warum Sie danach fragen, Lady Bessett. Mr. MacLachlans Unternehmen hat so bescheiden angefangen wie viele andere auch. Er bekam ein Darlehen von einem Mitglied seiner Familie.«
»Ein Darlehen?«, wiederholte sie ungläubig. »Hat er das so genannt?«
Wieder ein freundliches Nicken. »Und er hätte auch nichts dagegen, dass ich es so nenne«, fuhr der Anwalt fort. »Seine Großmutter mütterlicherseits hat seine ersten geschäftlichen Schritte finanziert. Daher auch der Name.«
»Der Name?«
»MacGregor«, sagte der Anwalt. »MacGregor & Company.«
»Er hat es nach seiner Großmutter benannt?«
Mr. Rosenberg sah sie jetzt seltsam an. »Sie sehen skeptisch aus, Lady Bessett«, bemerkte er. »Haben Sie einen Grund, etwas anderes anzunehmen?«
Madeleine schüttelte rasch den Kopf. »Nein.« Sie nahm die Papiere vom Schreibtisch. »Nein, ich war nur neugierig.«
Mr. Rosenberg schob seinen Stuhl zurück und faltete die Hände über seinem recht stattlichen Bauch. »Nun, es war mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen, Lady Bessett«, sagte er. »Da nun alles geregelt ist, lassen Sie mich bitte noch meiner Überzeugung Ausdruck geben, dass Sie sich in Ihrem neuen Heim sehr wohl fühlen werden.«
Madeleine verstand diese Bemerkung nicht ganz. »Das werde ich«, versicherte sie ihm und erhob sich. »Sie benachrichtigen mich doch bitte, sobald alles vorbereitet ist, damit ich Ihnen den Wechsel überbringen lassen kann?«
»Den Wechsel?« Er schien überrascht zu sein.
Madeleine schaute auf die Papiere in ihren Händen. »Dies ist doch die Abschrift meines Kaufvertrages, nicht wahr? Und ich muss nun binnen vierzehn Tagen einen Wechsel ausstellen und den Besitz eintragen lassen, nicht wahr?«
Rosenberg schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte er ruhig. »Nein, Lady Bessett. Was Sie in Händen halten, ist bereits die Besitzurkunde.«
»Aber - aber ich habe doch noch nichts an Sie gezahlt bis auf die anfänglichen zehn Prozent der Kaufsumme«, protestierte sie.
»Ein Betrag, der an Ihre Bank zurücküberwiesen worden ist«, sagte Rosenberg. »Mr. MacLachlan hat Ihnen den Besitz übereignet, als Ihr Eigentum.«
Madeleine sank auf ihren Stuhl zurück. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Er ... er hat was?«
Rosenberg schien noch verwirrter als sie zu sein, wenn das überhaupt möglich war. »Mr. MacLachlan sagte, ihm sei es unter den gegebenen Umständen der Gedanke eines Kaufes nicht angenehm«, versuchte der Anwalt zu erklären. »Er sagte ... er sagte, Sie würden es verstehen, da Sie eine ... Verwandte sind, oder so etwas Ähnliches.«
Ein Gefühl des Zorns begann in Madeleine zu brennen. »Das hat er gesagt?«, fragte sie. »Nun, er muss den Verstand verloren haben!«
Rosenberg zog sich um einige Zentimeter zurück. »Sie sind nicht mit ihm verwandt?«
Madeleine spürte, wie ihr Zorn sie zu überwältigen drohte. »Wir sind nichts dergleichen!«, rief sie und warf die Urkunde zurück auf den Schreibtisch, wo sie mit einem satten Plopp! zu liegen kam. »Ich ... nun, ich kenne diesen Mann kaum! Er kann sich doch nicht einbilden ... Nun, er kann doch nicht wirklich glauben ... O Gott! Was denkt er sich nur?«
Rosenberg hob abwehrend die Hände. »Das kann ich wirklich nicht sagen, Ma'am«, versicherte er ihr. »Ich weiß nichts über dieses Geschäft. Ich arbeite für ihn, mehr nicht. Sie müssen Ihren Disput - wenn es denn tatsächlich ein solcher ist - mit dem Gentleman selbst klären.«
»Und ob ich das klären werde!«, sagte Madeleine schroff. Nach kurzem Überlegen nahm sie die Urkunde wieder an sich. »Und ob!«
Der dunkelhaarige Junge war wieder da. Dieses Mal saß er auf dem Rand eines alten Brunnens, der, von Unkraut umwuchert, gut fünfzig Schritte entfernt sein mochte. Vor einigen Monaten hatte Merrick an jener Stelle ein altes Cottage und einen Kuhstall abreißen lassen, um Platz für die nächste Häuserzeile zu schaffen. Aber den Brunnen hatte man vorerst erhalten, damit die Maurer sich von dort das Wasser zum Anrühren des Mörtels holen konnten.
Merrick hatte den Jungen vor vielleicht vierzehn Tagen zum ersten Mal bemerkt. Er war die Straße entlanggeschlendert gekommen, die durch das Dorf zum Fluss hinunterführte. Er hatte Steinchen mit dem Fuß angestoßen und die Hände tief in seinen Manteltaschen vergraben. Irgendetwas bei den Ausschachtungsarbeiten am Fuß des Hügels hatte die Aufmerksamkeit des Jungen erregt, und er war gefährlich nah an den Rand der Grube herangetreten.
Merrick hatte einen der Zimmermänner zu ihm geschickt, einen grauhaarigen alten Griesgram namens Horton, um den Jungen zu verwarnen und wegzuschicken. Eine Baustelle war ein gefährlicher Ort. Und Kinder, ganz besonders junge Burschen, die sich langweilten, waren immer auch eine Gefahr für sich selbst.
Aber der Junge war wiedergekommen. Wenn auch nicht mehr so nah heran. Ein wenig erhöht stand Merrick jetzt in der warmen Sonne, er hatte seinen Mantel beiseite geworfen und sich die Hemdsärmel hochgerollt, und überlegte, was zu tun war. Seit der Verwarnung hatte der Junge eine gewisse Distanz eingehalten. Und im Grunde dürfte ihm dort, wo er saß, keine Gefahr drohen. Aber er war da und beobachtete stumm alles, was um ihn herum geschah - fast so, wie Merrick es auch oft tat.
Vielleicht sollte er dieses Mal selbst zu dem Jungen gehen und die Sache endgültig regeln. Plötzlich hielt der Junge sich etwas vor die Augen und legte den Kopf ein wenig in den Nacken. Das Sonnenlicht spiegelte sich hell auf dem Gegenstand in seiner Hand.
Kurz entschlossen verließ Merrick den Staub und Dreck des Bauplatzes und überquerte die Straße. Seine Neugier zog ihn, trieb ihn den Weg hinunter und hin zu dem unkrautbewachsenen Flecken Erde. Als er den Brunnen erreichte, erkannte Merrick, dass der Junge durch ein Opernglas schaute, das so zierlich war, dass es offensichtlich einer Dame gehörte. Auf seinem Gesicht lag ein fast hingerissener Ausdruck, während er die Dacharbeiten beobachtete. Er war in sein Tun so versunken, dass er Merricks Näherkommen nicht gehört zu haben schien.
»Diese hohe Vorrichtung nennt man einen Kran«, sagte Merrick ruhig.
Sofort ließ der Junge das Opernglas sinken. »Hallo«, sagte er und ließ sich vom Brunnenrand gleiten. »Ich schaue nur zu. Ehrlich. Ich stehe nicht im Weg.«
»Das sehe ich«, sagte Merrick.
Er hatte ganz vergessen, dass es seine Absicht gewesen war, den Jungen fortzuschicken. Stattdessen verschränkte er die Arme auf dem Rücken und betrachtete ihn. Er war groß und schlank, aber eine gewisse Kindlichkeit in seinem Gesicht strafte seine Größe Lügen. Der Junge konnte nicht älter als zwölf sein, vielleicht sogar weniger. Merrick kannte sich mit Kindern nicht aus. Esmée hatte eine zweijährige Schwester, aber er vermied ein Zusammentreffen mit dem kleinen Teufelsbraten, wo immer es ging.
Dieser Junge jedoch - nun, er sah nicht ganz so Furcht erregend aus wie eine Zweijährige, die einen Wutanfall bekam. Er sah ... eher interessant aus. In seinen dunkelgrünen Augen lag eine erwachsene Klugheit, und ihn umgab eine Aura von Ernst, die Merrick daran erinnerte, wie er selbst in diesem Alter gewesen war.
»Ein Kran ist ein System aus Flaschenzügen«, erklärte er dem Jungen und wies auf das Baugerät. »Und es gibt diese Schwenkvorrichtung - dort oben, siehst du? -, die es uns möglich macht, die Schieferplatten leichter auf das Dach zu befördern. Hast du schon einmal einen Kran aus der Nähe gesehen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nur Zeichnungen davon«, sagte er. »Aber die griechischen Tempel wurden mithilfe von Kränen erbaut. Mein Vater hat gesagt, dass sie eingesetzt wurden, um die Säulen der Säulengänge aufzurichten. Er hat gesagt, dass die Säulen sehr schwer waren, und dass es keine andere Möglichkeit gab, wie es sonst hätte gemacht werden können.«
»Damit hat dein Vater ganz recht«, sagte Merrick.
In diesem Moment bemerkte er das kleine Skizzenbuch, das auf dem Rand des alten Brunnens lag. »Was hast du denn da? Einige Zeichnungen, hm? Ich hoffe, du stiehlst nicht meine Betriebsgeheimnisse.«
Der Junge riss erschrocken die Augen auf. »N ... nein, Sir«, sagte er. »Ich habe einiges gezeichnet, aber ich wollte nichts stehlen.«
»Ich habe nur Spaß gemacht«, beruhigte Merrick ihn. »Aber ich vermute, mein Junge, dass du jemandem dieses Opernglas stibitzt hast.«
Die Wangen des Jungen röteten sich, und er ließ den Kopf hängen.
»Wem gehört es?«, fragte Merrick ruhig.
»Meiner ... meiner Mutter.« Der Junge murmelte die Antwort in Richtung seiner Schuhe. »Aber ich habe es nicht gestohlen. Ich ... ich habe es mir nur ausgeliehen.«
Ah ja. Aber der Zorn der Mutter des Jungen war nicht Merricks Sorge. Um das Thema zu wechseln, griff er nach dem Skizzenbuch des Jungen. »Hast du etwas dagegen, wenn ich einen Blick hineinwerfe?«
Der Kopf des Jungen fuhr hoch. »N ... nein, Sir«, sagte er. »Ich glaube nicht. Aber es ist nichts, wirklich. Nur Skizzen.«
Merrick lächelte und schlug das Buch auf. Langsam und mit wachsendem Erstaunen blätterte er die Seiten um. Die Zeichnungen waren keinesfalls die eines Kindes, wie er es erwartet hatte. Stattdessen waren sie sehr detailliert und auch verblüffend genau. Einige waren aus leichter Hand entstandene Aufrissskizzen - er hatte von jungen Architekten, die für ihn gearbeitet hatten, schon schlechtere gesehen. Andere wiederum konnte man fast künstlerisch nennen. Es gab eine Zeichnung von Ridley, den Maurerpolier, der geschickt einen Stein mit Mörtel versah, um ihn zu setzen. Man sah die Bewegung von Ridleys knotigen Fingern, die raue Kante des Steins, wo er aus dem Rahmen gebrochen worden war. Und sogar den Klumpen Mörtel, der gleich von der Kelle fallen würde.
Eine weitere Zeichnung zeigte Merrick selbst, wie er hoch oben auf einem Dachbalken balancierte, um das Gleichgewicht zu halten. Er erinnerte sich gut daran, es lag vielleicht drei oder vier Tage zurück, dass er auf das Dachgerüst geklettert war, weil er wollte, dass die Zimmerleute wussten, zu was er in der Lage war - zumindest, wenn das Wetter trocken und seine Hüfte ausgeruht war. Die Männer wussten nichts von seiner Beeinträchtigung. Er wollte, dass sie spürten, dass seinen Augen nicht der kleinste Fehler entgehen würde - auch nicht siebzig Fuß über dem Erdboden.
In der Zeichnung des Jungen sprach Merrick mit einem der Dachdecker und monierte eine schlecht ausgeführte Arbeit. Sein Gesicht war im Profil dargestellt, und sein Blick war kalt und hart. Er hatte nicht bemerkt, dass das Kind ihn beobachtet hatte. Er hoffte zu Gott, dass der Junge nicht die raue und recht deftige Standpauke gehört hatte, die er den Männern gehalten hatte.
Die letzte Seite im Zeichenbuch des Jungen zeigte eine Gesamtansicht der Häuserzeile, die sich den Hügel hinaufzog. Aber die Einheitlichkeit der einzelnen Häuser und deren Dächer wich von der Realität ab. Der Junge hatte sie ein wenig abgewandelt; ein Walmdach auf dem einen, außerordentlich fantasiereich gestaltete Giebel auf einem anderen, und ein Mansardendach auf einem dritten.
»Du schätzt meine Dachlinien wohl nicht besonders, nehme ich an«, sagte er und schmunzelte insgeheim.
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Das ist nur so, wie ich sie gemacht hätte, wenn es meine Häuser wären«, erwiderte er. »Ich würde nicht wollen, dass sie sich alle so ähnlich sehen.«
»Aber diese Gleichheit spart Kosten«, erklärte Merrick. »Es versetzt uns in die Lage, die Häuser terrassenförmig anzulegen und teures Bauland zu sparen und das Baumaterial in großen Mengen abzunehmen. Die Kosten spielen eine große Rolle, selbst für die wohlhabenden Leute, die diese Häuser kaufen werden.«
»Wirklich?« Der Junge schien überrascht zu sein.
»Ja, und solltest du vielleicht einmal Architekt werden, dann bitte ich dich, daran zu denken«, sagte er. »So wie es aussieht, kommen schon genug unerfahrene Absolventen von den Universitäten.«
Der Junge lachte, und für einen Moment verließ ihn sein Ernst.
»Wie ist dein Name?«, fragte er den Jungen.
»Geoffrey. Geoffrey Archard.«
Merrick reichte ihm die Hand. »Und ich bin Mr. MacLachlan.«
Geoffrey sah voller Ernst zu ihm auf. »Bauen Sie noch etwas anderes außer Häuser, Mr. MacLachlan?«
Merrick hob beide Augenbrauen. »Nun, ich besitze auch eine Baufirma, die Straßen und Bürgersteige anlegt«, sagte er. »Und ein Unternehmen, das Kupferrohre produziert. Einen großen Eisenhandel. Und seit Kurzem besitze ich eine Ziegelei. Ich könnte noch mehr aufzählen, aber das ist eigentlich nicht das, was du meintest, nicht wahr?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine, bauen Sie auch andere Gebäude? Kirchen vielleicht oder Bankgebäude oder - oder Paläste?«
Merrick grinste. »Nein, einen Palast noch nie«, bekannte er. »Aber als ich noch ein junger Mann war, habe ich einige öffentliche Gebäude entworfen, wie zum Beispiel Rathäuser. Und sehr viele Landhäuser. Einige davon waren so groß wie ein Palast.«
Doch das Gesicht des Jungen war plötzlich blass geworden. Seine lebhaften grünen Augen hatten einen starren, leeren Ausdruck angenommen, als würde er nicht mehr zuhören. Einen kurzen Augenblick lang fürchtete Merrick einen epileptischen Anfall. »Geoffrey?« Er berührte das Kind leicht an der Schulter. »Geoffrey, was ist los?«
Der Junge schluckte mühsam und schaute zu ihm auf. Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Furcht? Schuld? »Der Kran, Sir«, keuchte er. »Der Kran. Einer der Flaschenzüge ... wird sich lösen.«
»Was?« Merrick hockte sich hin, um dem Jungen in die Augen zu schauen. »Geoffrey, was sagst du da?«
Der Junge ging an ihm vorbei, rannte dann zum Rand der von Unkraut überwucherten Wiese und starrte dabei wie gebannt auf den Kran. »Er wird sich lösen!«, wiederholte er. »Die Männer ... S ... sagen Sie es ihnen ... sagen Sie ihnen, sie sollen sofort weglaufen!«
Merrick richtete sich auf. Er packte den Jungen an den Schultern und drehte ihn zu sich herum. Auf dem Gesicht des Jungen spiegelte sich Panik wider. »Geoffrey, was sagst du da? Wie kannst du das wissen?«
Für einen Moment zogen sich die Augenbrauen des Jungen zusammen. »Ich ... ich hab' es durch das Opernglas gesehen!«, rief er. »Ich hatte es wieder vergessen. Vergessen, es zu sagen. Bitte! Bitte! Sie sollen weglaufen!«
Merrick zögerte nicht länger. Er lief über die Straße und zum Polier. »Weg da!«, rief er. »Kelly, alle weg da! Weg vom Kran! Lauft!«
Kelly sah Merrick an, als hätte dieser den Verstand verloren, aber er war es gewohnt, blind zu gehorchen. Er stieß den Mann, der neben ihm stand, zur Seite und rief den anderen zu, sie sollten sich in Sicherheit bringen. Und plötzlich brach die Hölle los. Ein Kreischen von Ketten und Metall durchschnitt die Luft, dann folgte ein langes, hohl klingendes Ächzen. Der Behälter mit den Schieferplatten, der am Kran hing und ungefähr fünfzig Fuß über dem Erdboden schwebte, schwankte einmal, dann noch einmal, und stürzte zu Boden. Er riss die Außenkante des Dachs mit sich; Schiefer und Kupfer splitterte durch die Luft. Seile, Ketten und Teile der Traufe folgten. Alles fiel in Trümmern in sich zusammen, als hätte es ein Erdbeben gegeben.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als Merrick bei Kelly ankam. »Mutter Gottes!«, stieß der Polier hervor und bekreuzigte sich.
Merrick packte ihn an der Schulter. »Sind alle vollzählig?«
Kellys Blick glitt über die Hand voll Männer. »Aye, es sind alle da.« Die Erleichterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Mutter Gottes! Was ist denn passiert?«
»Vermutlich hat eine der Halterungen nachgegeben«, sagte Merrick. Er wies mit dem Kopf auf den Kran. »Der Junge hat es durch sein Opernglas gesehen.«
Kelly sah ihn verständnislos an. »Weiter!«
Plötzlich legte Horton seine Hand auf Merricks Schulter. »Aye, der Junge war das?«, fragte er rau. »Stellen Sie sich vor, Sie hätten ihn wegschickt, Mr. MacLachlan!« Seinen Worten folgte ein Laut, der entweder wie ein keuchendes Lachen oder wie ein schwindsüchtiges Keuchen klang; Merrick war nicht sicher, was von beidem es war.
Auf dem Dach über ihnen waren die Dachdecker bis zur zerstörten Traufe gekrochen und spähten zu ihnen herunter, ihre Gesichter waren schneeweiß. Die Männer am Kran, deren Aufgabe es war, ihn zu bedienen und die Schieferplatten zu verladen, hatten ihre Mützen abgenommen und starrten auf den Schutthaufen, als läge einer von ihnen darunter begraben. Aber sie waren alle heil davongekommen. Und dafür hatten sie sich bei dem Jungen zu bedanken.
Merrick wandte sich um und starrte hinüber zum alten Brunnen, aber der Junge war fort.
Einer der Männer, der gegenüber den Keller ausgehoben hatte, wandte sich an Merrick. »Er ist weg, Sir«, sagte der Arbeiter. »Weiß wie ein Laken war er. Er ist zum Dorf gelaufen und dort dann scharf nach rechts.«
»Gut.« Merrick stand jetzt am Straßenrand. »Ich verstehe. Danke.«
Er musste noch einmal zum Brunnen gehen. Einige Augenblicke lang stand er nur da und starrte in die steinerne Tiefe, dabei rieb er sich nachdenklich den Nasenrücken. Er war dem Jungen dankbar, ja. Aber warum hatte der Junge ihn nicht früher gewarnt? Seine Panik war offensichtlich gewesen. Er musste also die Tragweite dessen, was er gesehen hatte, begriffen haben.
Mit einem Seufzen wandte sich Merrick zum Gehen, als er mit der Schuhspitze gegen etwas Hartes stieß. Er schaute herunter und sah das Opernglas in einem dichten Büschel Sauerampfer liegen. Er bückte sich danach und hob es auf. Es war ein teures Glas, erkannte er, während er es in den Händen wog. Um es auszuprobieren, hob er es an die Augen und richtete den Blick auf die Baustelle. Er konnte die Arbeiter sehen, jeden einzelnen von ihnen. Aber auf diese Entfernung zu erkennen, dass sich ein Flaschenzug löste ...
Merrick ließ das Fernglas sinken. Der Junge hatte verdammt gute Augen, so viel war gewiss. Was ihn selbst betraf, so akzeptierte Merrick widerstrebend die Wahrheit und ergab sich, gerade eben fünfunddreißig, der Plage, die dieses mittlere Alter mit sich brachte: Er brauchte vermutlich eine Brille.
Er kehrte an den Ort des Unglücks zurück und wies Walters an, den Kran herunterzuholen und einer gründlichen Inspektion zu unterziehen. Wenn jemand es versäumt hatte, seinen Job gewissenhaft zu versehen, wollte Merrick wissen, wer das gewesen war. Walters machte sich sofort ans Werk. Drei der Männer bahnten sich bereits ihren Weg durch die zerschmetterten Schieferplatten, um zu sehen, wie viele davon noch zu gebrauchen waren. Oben auf dem Dach wurde bereits der abgebrochene Rand der Traufe entfernt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würden die Männer sie vermutlich ersetzt haben.
Hier war nichts mehr für ihn zu tun. Es war ein verdammt bedrückender Besuch gewesen, aber jetzt war es an der Zeit, sich wieder den Geschäften zuzuwenden. Er und Evans hatten eine Verabredung mit einem Bodenspekulanten aus Greenwich. Zeit, Ebbe und Flut - ganz zu schweigen von geschäftlichen Erfordernissen - warteten auf niemanden.