Kapitel 9

Der Teufel kommt auf leisen Sohlen.

Merrick beobachtete mit kaum verhohlener Erheiterung, dass Madeleine ihm einen langen, vernichtenden Blick zuwarf, ehe sie widerstrebend seine Hand ergriff, um sich in die Kutsche helfen zu lassen. Auch wenn er sie selbstredend verachtete, so hatte er durchaus nichts dagegen, sie ein wenig zu quälen. Offen gestanden hatte er der ungewöhnlichen Bitte des Jungen zum Teil genau deswegen zugestimmt: um Madeleine wütend zu machen. Deshalb empfand er es mehr als nur ein wenig demütigend, dass sein Mund beim Anblick ihrer blauen Seidenröcke, die sich provozierend über ihren Po spannten, trocken wurde.

Aber verdammt, sie war seine Frau. Die Frau, die er nie vergessen hatte. Die Frau, die er nicht berühren konnte. Es war ein Albtraum, und es hatte sein ganzes Leben zunichte gemacht. Würde er dieses Fegefeuer erdulden müssen, bis einer von ihnen beiden starb?

Sie hatte nicht gewartet, nicht wahr? Sie hatte sich einen anderen Mann in ihr Bett geholt, und ihre gestammelten Entschuldigungen über eine Annullierung ihrer Ehe waren nichts als von einem schlechten Gewissen zeugendes Geschwafel. In diesem Augenblick empfand Merrick die Situation unerträglicher als je zuvor.

Hinter ihm räusperte sich Treyhern. Merrick wurde bewusst, dass der Earl immer noch darauf wartete, dass Merrick einstieg.

Er folgte also dem Jungen in die Kutsche, einer wendigen, gut ausgestatteten Barutsche, nahm auf der freien Bank Platz und legte sich seinen Spazierstock quer über die Beine. Er und Madeleine saßen sich so eng gegenüber, dass ihre Knie sich berührten. Merrick unternahm keinen Versuch, sein Bein wegzuziehen. Ein heftiger Ruck ging durch die Kutsche, als sie anfuhr.

Das Schweigen in der Kutsche schien die Ohren zu betäuben. Der Junge wirkte nervös und unruhig und starrte aus dem Fenster, wobei er sich der Gegenwart der beiden Erwachsenen kaum bewusst zu sein schien. Merrick schaute Madeleine an und hielt ihren Blick gefangen. Er fragte sich, was sie dachte. Welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, wusste er - bedauerlicherweise.

»Ich finde es sehr seltsam«, eröffnete er schließlich mit ruhiger Stimme das Gespräch, »wie man sich durch einen einzigen Augenblick in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzt fühlen kann, und das zumeist dann, wenn man es am wenigsten erwartet.«

Madeleine zuckte mit den Schultern. »Möglich.«

Er lächelte ein wenig. »Ein Sommerregen hat fast etwas Romantisches an sich, nicht wahr?«, murmelte er. »Ich denke gerade zurück an eine Kutschenfahrt ähnlich wie diese. Am frühen Abend nach einem verregneten Nachmittag, als die Straßen so nass geglänzt haben wie heute.«

»Ich bin schon Hunderte Male in einer Kutsche über nasse Straßen gefahren«, entgegnete sie kühl. »Wir sind in England. Hier regnet es oft.«

»Das ist wohl wahr«, sprach er weiter. »Aber jene Fahrt, an die ich gerade denke, Lady Bessett, war eine, die man nicht vergisst. Die Abendstimmung war, nun, sie war so, wie sie es auch jetzt ist. Und der Geruch, der in der Luft lag - sagen Sie, Mylady, wie heißt dieser bezaubernde Duft, den Sie tragen? Es ist Jasmin, nicht wahr? Ja, die Luft war erfüllt von einem solchen Duft.«

Sie starrte ihn finster an, was ihrem Liebreiz jedoch keinen Abbruch tat.

Er lächelte, während er zum nächsten Schlag ausholte. »Sagen Sie, Lady Bessett, sind Sie jemals nördlich von Penrith durch das Tal von Eden gefahren?«

Bei seiner Frage wurde Madeleine kreidebleich.

Ja, sie war dort entlanggefahren - mit ihm, auf ihrer unüberlegten, erregenden Flucht nach Gretna Green. Für einen kurzen Moment schloss Merrick die Augen und dachte zurück. Guter Gott, sie waren damals verrückt nacheinander gewesen! Eine Berührung, ein Blick und das Verlangen flammte auf, als wäre es Wochen her und nicht nur wenige Stunden.

»Das Tal von Eden«, wiederholte er nachdenklich. »Das lässt einen an ... nun ja, an Sünde und Versuchung denken, habe ich nicht recht?«

Es war die zutreffende Beschreibung ihrer Situation. Sie waren eine Tagesreise weit von der Grenze entfernt gewesen, und Merricks verzweifelter Wunsch, Madeleine zu heiraten, war mit jeder zurückgelegten Meile drängender geworden. Unnachgiebig hatte er die Pferde angetrieben und war bis zum Abend durchgefahren. Die Zofe war, wie schon so oft auf dieser Fahrt, eingeschlafen und hatte zu schnarchen begonnen - eine Gewohnheit, die Merrick und Madeleine durchaus nicht störte. Irgendwann hatte Madeleine ein wenig ängstlich ihre kleine, warme Hand auf seinen Oberschenkel gelegt.

Er konnte sich nicht mehr erinnern, was Madeleine beunruhigt hatte; waren es die dunkler werdenden Schatten gewesen oder vielleicht eine gefährliche Kurve, die die Straße machte? Er wusste nur, dass er diese zärtliche Geste erwidert hatte, indem er seine Hand beruhigend auf ihre gelegt hatte. Und dann hatte er Madeleine geküsst, ein rascher, aber sanfter Kuss, der irgendwie länger nachgeklungen als ein einfacher Trost es erfordert hätte. Madeleine hatte sich als süße unersättliche Geliebte erwiesen. Ihre Hand war höher gewandert, der Druck ihrer Finger war stärker geworden.

Merrick hatte den Arm um sie gelegt und sie an sich gezogen. Und irgendwie, wie es so oft mit ihnen geschehen war, waren die Dinge außer Kontrolle geraten. Was auch immer Madeleine beunruhigt hatte, es hatte sich zu etwas anderem verändert. Sie hatten verlangende, heiße Blicke getauscht. Madeleines geschickte Finger waren weiter seinen Oberschenkel hinaufgeglitten, dann noch ein wenig weiter, bis sie begonnen hatte, den Beweis seiner wachsenden Erregung zu streicheln. Die Kutsche am Straßenrand anzuhalten und Madeleine herauszuheben, war eins gewesen.

Madeleine riss ihn aus seinen Erinnerungen, als sie an ihren Röcken zu zupfen begann, um die Falten zu glätten.

Er räusperte sich vernehmlich. »Ich glaube, Lady Bessett, von allen Straßen Englands ist es jene, an die ich mich am liebsten erinnere«, sagte er ruhig. »Es gibt viele Aussichtspunkte, an denen man anhalten und die - wie nennt man es doch so treffend? - ach ja, die Schönheiten der Natur bewundern kann.«

»Tatsächlich?«, bemerkte Madeleine kühl. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Oh doch, sie konnte sich erinnern! Merrick sah es in ihren Augen, die jetzt vor Zorn funkelten. Auch an jenem Abend hatte ein heißes Glühen darin geschimmert, wenn auch ein ganz anderes als jetzt. In der Abenddämmerung waren sie bis zu einer Wiese gegangen, weit genug, um ungestört zu sein. Wenn sie sich liebten, war es noch immer ein schnelles, leidenschaftliches Beisammensein, und das Risiko, dabei überrascht zu werden, wenn sie sich wie wilde Geschöpfe unter dem weiten, mondhellen Himmel vereinten, hatte wie ein Aphrodisiakum gewirkt. Auch wenn keiner von ihnen beiden eines gebraucht hatte.

Mit zitternden Händen hatte Merrick Madeleine entkleidet, Stück um Stück, mit nichts als den Sternen über ihnen, und der alten Wolldecke, die sie auf dem üppigen Gras ausgebreitet hatten, unter ihren erhitzten Körpern.

»Ich glaube, in Cumbria gibt es viele weiche Wiesen«, bemerkte er.

»Ja«, erwiderte sie angespannt. »Und auch dort regnet es von Zeit zu Zeit.«

In jener Nacht hatte er keinen Gedanken an das Wetter verschwendet. Der Boden war hart und das Gras feucht gewesen, als er sich ausgestreckt und die Hände um Madeleines schmale Taille gelegt hatte. Sie hatte gelacht und um ihr Gleichgewicht gekämpft, als er sie auf sich gezogen hatte. Ihre Augen waren groß vor Entzücken gewesen. Sie hatte ihre neu entdeckte Macht genossen, hatte rasch gelernt, wie sie ihn reiten konnte. Wie sie ihn quälen konnte. Wie sie ihre Muskeln fest um seine pochende Männlichkeit schließen und sich langsam auf und nieder bewegen musste, um sein Verlangen anzufachen und ins Unerträgliche zu steigern. Selbst jetzt, nach all den bitteren Jahren, sah er noch immer ihre kleinen, runden Brüste vor sich, auf denen der blasse Schein des Mondes schimmerte. Auf den festen, rosafarbenen Spitzen, die sich hart und stolz aufgerichtet hatten. Und er sah noch immer ihr Gesicht vor sich - wunderschön und erfüllt vom Wissen der nahenden Ekstase.

Ihre Brüste sind voller geworden, dachte er und starrte auf ihr Mieder. Er fragte sich, wie sie aussehen mochten. Waren ihre Knospen noch immer so köstlich empfindsam und rosafarben? Wie mochte es sich anfühlen, wenn sie sich in die großen Hände eines Mannes schmiegten? Würden sie seinen Mund füllen und ihn in den Wahnsinn treiben? Aber vielleicht war das schon längst geschehen.

»Lady Bessett, wussten Sie, dass es in Cumbria sehr heiß werden kann?«, fragte er. »Offen gestanden wird mir ganz warm, wenn ich an diesen besonderen Abend denke.«

Sie war zu zornig, um zu antworten. Merrick wusste nicht einmal genau, warum es ihn danach verlangte, sie zu quälen - oder sich. Aber in jener Nacht, die so lange Zeit zurücklag, war Madeleine es gewesen, der es danach verlangt hatte zu quälen.

Ihre schlanken, milchweißen Schenkel hatten im Mondlicht hell geglänzt, als sie sich auf ihm bewegt hatte, auf und ab geglitten war, ihn bis an den Rand der Ekstase getrieben und ihn dort in sich festgehalten hatte, bis ihr eigener Höhepunkt nahte. Sie hatte aufgeschrien und den Kopf in den Nacken geworfen, im blassen Mondlicht waren ihre Hände über ihren Körper geglitten, über ihren Bauch und ihre Brüste. Sie hatte sich selbst gestreichelt und ihre Lust weiter angestachelt, bis sie sich in der Erlösung verloren hatte. Er hatte ihr zugesehen und sich wie ein Voyeur gefühlt, während ein unbezähmbares Verlangen ihn mit ihr fortriss. Damals, als er sich mit all seiner lustvollen, jugendlichen Leidenschaft in ihr verströmt hatte, hatte er geglaubt, der glücklichste Mann auf Gottes Erdboden zu sein.

Merrick beugte sich weit zu ihr vor. »Ich kann Ihnen mit Gewissheit sagen, Lady Bessett, dass mich kaum ein anderer harter Ritt mehr befriedigt hat«, murmelte er. »Diese vollkommenen Formen und diese sanft geschwungenen Hügel. Die verborgenen Schätze. Die unbeschreibliche Üppigkeit dieser Schönheit. All das lässt einen wünschen, einfach die Hand auszustrecken und es ... nun, es zu berühren.«

Sie zuckte so heftig zurück, dass sie sich fast den Kopf stieß.

Er grinste sie an.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich fürchte, ich habe Kopfschmerzen. Würde es Ihnen etwas ausmachen?«

»Ausmachen ... was?«, fragte er eifrig. »Still zu sein? Nun, ganz und gar nicht, meine Liebe. Ich werde einfach hier sitzen und in meinen Erinnerungen schwelgen, in jedem noch so kleinen Detail. Und meinen Gedanken nachhängen. Still und stumm.«

»Wie rücksichtsvoll von Ihnen«, fauchte sie.

Ihr Gesicht hat sich mit einer feinen Röte überzogen. Als würde es ihr plötzlich bewusst werden, wandte Madeleine den Kopf ab. Der flackernde Schein der Kutschenlampe warf Licht und Schatten auf ihr Profil. Vollkommene Schönheit. Vollkommene Grausamkeit. Manchmal glaubte er, dass Madeleine der Inbegriff von beidem war. Und obwohl er wusste, was sie war, begehrte er sie. Verdammt!

Er ließ den Blick über ihr einfaches, aber gut gearbeitetes Kleid wandern. Er hatte genügend weiblichen Putz gekauft, um zu wissen, dass solche Eleganz ihren Preis hatte. Auch ihr Schmuck war teuer. Der verstorbene Lord Bessett, so schien es, hatte seine Witwe gut versorgt hinterlassen.

Aber vielleicht ist es nicht das Geld ihres Ehemannes, das Madeleine diesen Lebensstil ermöglicht, dachte er, während die Kutsche um die erste Ecke bog. Vielleicht war es das dieses Bastards Jessup. Oder vielleicht das enorme Vermögen, das nach dem Tod ihrer Mutter an sie gefallen war. Madeleine war eine reiche Erbin gewesen - eine Tatsache, von der er erst erfahren hatte, nachdem er sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte.

Aber welchen Unterschied hätte das gemacht? Er hatte es sich nicht ausgesucht, sie zu lieben - genau genommen, war es ihm sogar verdammt ungelegen gekommen. Er war zu jung und zu arm, um sich eine Ehefrau zu nehmen, und sie - nun, sie war einfach zu jung gewesen. Wie viele Mädchen ihres gesellschaftlichen Ranges und ihres Alters war Madeleine, das hatte er inzwischen begriffen, nur in die Vorstellung von Liebe verliebt gewesen. Nachdem sie das langweilige Leben eines kleinen reichen Mädchens auf dem Lande gelebt hatte, war sie, bereit für ein wenig Dramatik, nach London gekommen. Sie hatte sich gewünscht, im Sturm erobert zu werden. Und dummerweise war er dieser Sturm gewesen.

Merrick war fast dankbar, als der Junge etwas sagte, seine Stimme klang zögernd, als er zu Madeleine hochschaute. »Mummy, bist du böse auf mich?«

Merrick schaute auf Madeleines Hände, die sie zu Fäusten geballt auf dem Schoß hielt. »Geoffrey, ich bin dir nicht böse«, sagte sie. »Ich bin es nicht. Aber du darfst wirklich nicht derart verletzende Dinge sagen. Und wie um alles in der Welt bist du überhaupt auf so etwas Dummes gekommen?«

Merrick fragte sich, worüber zum Teufel sie sprachen, aber es ging ihn ohnehin nichts an. Madeleine schien seine Anwesenheit vergessen zu haben, und der Junge wand sich jetzt buchstäblich. »Ich weiß es nicht!«, rief er. »Es ist mir einfach so in den Sinn gekommen, das ist alles. Eben hatte ich mir noch die Karten angesehen, und dann ihre Hand, sie war ... sie war plötzlich in meiner. Und dann sind die Worte einfach aus mir herausgekommen.«

Madeleines Verzweiflung war offensichtlich. »Mein Liebling, du musst damit aufhören, mit solch unsinnigen Gedanken herauszuplatzen, wenn sie dir in den Sinn kommen«, tadelte sie ihn. »Habe ich dich nicht wieder und wieder ermahnt, diese Angewohnheit abzulegen?«

»Es ist keine Angewohnheit«, sagte der Junge.

»Nun, wie würdest du es denn nennen?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Ich hasse es! Ich hasse mich! Ich wünschte bei Gott, es würde aufhören.«

»Ich glaube, das ist genug des Selbsthasses für einen Abend, Geoffrey«, mischte sich jetzt Merrick ein. »Ich weiß nicht, wessen du angeklagt wirst, aber ...«

»Nein, das wissen Sie nicht«, sagte Madeleine schroff.

»... aber da ich gezwungen bin, dieses Gespräch mitanzuhören«, fuhr Merrick fort, »fühle ich mich verpflichtet, dir zu sagen, Geoff, dass ein Mann sich nicht seinem Selbstmitleid ergibt. Wenn er sich geirrt hat oder ihm ein gesellschaftlicher Fauxpas unterlaufen ist, dann schreibt er am nächsten Morgen einen Entschuldigungsbrief an seine Gastgeberin.«

Madeleines Augen sprühten von wütendem Feuer, aber der Junge wirkte jetzt nachdenklich. »Das könnte ich tun, denke ich«, entgegnete er, und in seiner Stimme schwang ein wenig Hoffnung mit. »Meinen Sie, das würde helfen?«

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Merrick. »Aber darauf kommt es auch gar nicht an. Ein Mann tut seine Pflicht - trotz allem.«

»Tut er das wirklich, Mr. MacLachlan?« Madeleine klang bitter. »Ich kannte leider einige Männer, die in dieser Hinsicht versagt haben. Wie freundlich von Ihnen zu erklären, wie die Dinge eigentlich ablaufen sollten!«

»Bitterkeit steht dir nicht, meine Liebe«, entgegnete er halblaut.

Aber die Wahrheit war, dass es ihr stand. Selbst im spärlichen Licht der Kutschenlampe funkelten Madeleines Augen vor Zorn. Ihre gerade, aufrechte Haltung drückte Hochmut aus. Das ist das Mädchen, an das ich mich erinnere, dachte er. Da war seine Madeleine. Die alte Madeleine, nicht die neue, eiskalte, herzlose Ausgabe.

Gott, ihre Schönheit war nicht zu leugnen. War es nie gewesen - damals nicht und ganz gewiss auch jetzt nicht. Madeleine hatte immer alle Blicke auf sich gezogen. Aber irgendwann in den vergangenen dreizehn Jahren hatte sich die großäugige Unschuld mit der fohlenhaften Anmut zu einer wunderschönen Frau gewandelt. Sie war mehr als atemberaubend, mit ihrem blonden Haar und den lebhaften grünen Augen. Die Nase war schmal und hatte eine kaum merklich nach oben gebogene Spitze, während ihre Lippen üppig und voll waren, vor allem ihre Unterlippe. Ihr Teint war noch immer so makellos wie früher. Nicht eine einzige Sommersprosse zeigte sich auf ihrer milchweißen Haut. Wie eine nordische Prinzessin, fand er einst, und das war noch immer ein passendes Bild.

Aber wie immer verhielt sich Madeleine, als wäre sie sich ihrer Schönheit nicht bewusst. Er fragte sich, warum das so war. Vielleicht war sie aber auch nur besonders clever. Sie schaute ihn an, während die Kutsche die Straße entlangrollte, die in weitem Bogen unterhalb des Hyde Parks verlief. In ihren Augen spiegelte sich noch immer ihr Zorn wider. Warum um alles in der Welt hatte er sie heute Abend so sehr provoziert? Es wäre ganz einfach gewesen zu sagen, sie wäre eine flüchtige Bekannte. Stattdessen hatte er behauptet, sie gut zu kennen, und seine Augen hatten vielleicht noch sehr viel mehr von seinen Gefühlen verraten.

Die Tatsache, dass seine Ansprüche, sowohl die ausgesprochenen als auch die unausgesprochenen, absolut begründet waren, entschuldigte ihn nicht. Er hatte Madeleine einst so gut gekannt, wie er sich selbst gekannt hatte - zumindest hatte er das geglaubt. Ohne Zweifel hatte er jeden Zentimeter ihres warmen, weichen Körpers gekannt. Selbst jetzt, wenn er an ihre langen nackten Schenkel dachte, fühlte er das Verlangen in seinen Lenden. Und er verdammte sich dafür.

Warum ließ er es überhaupt zu, es sich vorzustellen? Unschuld übte schon seit Langem keine sexuelle Anziehungskraft mehr auf ihn aus. Je härter und erfahrener eine Frau war, desto befriedigender war der Akt für ihn. Was er brauchte, war eine Geliebte. Eine reifere Frau. Eine Geliebte, die vielleicht nicht ganz so verdorben war wie Bess Bromley, aber über ähnliche Fertigkeiten verfügte. Eine dunkelhaarige Frau mit üppiger Figur und ausreichend zügellos, um die spezielleren Wünsche eines Mannes ohne viele Fragen zu erfüllen. Mrs. Farnham kannte seine Vorlieben; er würde sie bitten, jemanden für ihn zu engagieren.

Merrick wünschte, der Junge würde etwas sagen. Aber Geoff schien vergessen zu haben, dass Merrick in der Kutsche saß. In dem spärlich erleuchteten Fahrzeug wirkte der Blick des Jungen in die Ferne gerichtet. Er saß zusammengesunken gegen die Wand der Kutsche gelehnt, und sein Gesicht sah plötzlich alterslos und abgespannt aus. Merrick vermutete, dass der Junge müde war. Bei Kindern kam das wohl des Öfteren vor.

Er sah wieder Madeleine an. Der Zorn war aus ihren Augen verschwunden, stattdessen schaute sie fast beschützend auf ihren Sohn und strich ihm über das Haar. Es war eine sehr zärtliche, mütterliche Geste. Sie liebte das Kind. Zumindest auf diese Weise war sie fähig, aufrichtig zu lieben. Das ist besser als nichts, dachte Merrick.

Ich wünschte, ich könnte nur noch einmal mit ihr schlafen.

Der Gedanke war zurückgekehrt, ungewollt und aufwühlend. Lieber Gott! Madeleine war kalt wie Eis. Bestenfalls war sie ein verzogenes und verwöhntes reiches Mädchen. Schlimmstenfalls eine manipulierende Hexe. Aber als er sah, wie ihre Hand wieder über den Kopf des Jungen strich, wurde ihm klar, dass er einiges dafür geben würde, sie noch ein letztes Mal unter sich zu spüren. Noch einmal in diesem weichen Körper mit der cremefarbenen Haut zu versinken und sie zu reiten, bis seine verdammten Dämonen für immer von ihm ablassen würden.

Die Lebendigkeit seiner Fantasie war beunruhigend. Lieber Gott im Himmel, hatte er denn nicht genau das schon ein Mal zu oft getan? Oder mehr als fünfzehn oder zwanzig Mal zu oft. Ja, schon bevor es sein Recht als Ehemann gewesen war, hatte er Madeleine mit in sein Bett genommen und sie auf eine Weise besessen, die nicht mehr rückgängig zu machen gewesen war.

Damals jedoch waren seine Absichten ehrenhaft gewesen. Vom ersten Augenblick an, in dem er das Mädchen gesehen hatte, war er entschlossen gewesen, sie zu heiraten - oder sich bei der Verwirklichung dieses Vorhabens zu ruinieren. In dem unwiderstehlichen Wunsch, sie haben zu wollen, hatte er das Unaussprechliche getan. Weil er dummerweise gedacht hatte, dass es kein Zurück mehr geben würde, wäre es erst geschehen. Weil er geglaubt hatte, hätte Madeleine ihm erst gehört, würde niemand sie mehr aufhalten können. Dieselbe verrückte Logik hatte ihn auch dazu gebracht, mit ihr durchzubrennen.

Nun, Jessup hatte ihm den Fehler in dieser Rechnung klargemacht, und das drastischer, als Merrick es sich je hätte vorstellen können. Ein gebrochenes Herz war das eine. Ein gebrochenes Bein, eine ausgekugelte Hüfte und ein zertrümmerter Schädel - nun, das alles zusammen war das andere. Nein, diese Dinge schmerzten überhaupt nicht - nicht, bis man unglücklich genug war, sie zu überleben und wieder zu Bewusstsein zu kommen.

Er musste sie zu lange angestarrt haben. Madeleine sah ihn mit fast spöttischem Bedauern an.

»Ich fürchte, Ihr großzügiges Opfer war vergebens, Mr. MacLachlan«, sagte sie mit ruhiger, kehliger Stimme. »Wie es scheint, ist mein Sohn eingeschlafen.«

Doch der Junge war nicht eingeschlafen. Er starrte, fast wie benommen, auf den Boden der Kutsche. Aber Merrick hielt es nicht für nötig, Madeleine zu korrigieren. Er wusste so gut wie gar nichts über Windmühlen, und hätte nicht weniger Lust als in diesem Moment haben können, darüber zu reden. Oh, er mochte den Jungen durchaus - genau genommen, sogar sehr. Aber Merricks harte Erektion pochte, als hätte er sich mit einem Hammer auf den Daumen geschlagen, und der abscheuliche Geschmack der Selbstverachtung lag ihm bitter auf der Zunge. Er riss den Blick von Madeleine los und sah sie nicht wieder an. Stattdessen starrte er aus dem Fenster auf die letzten Ausläufer Belgravias, an denen sie jetzt vorbeifuhren. Ein Mann ergibt sich nicht seinem Selbstmitleid. Der Regen hatte wieder eingesetzt und glitzerte im Schein der Gaslaternen wie Öl und Diamanten. Hier und dort waren Fußgänger auf den Bürgersteigen zu sehen, unter großen schwarzen Regenschirmen, einige lachend und zu zweit, andere allein und finster dreinschauend. Und das spiegelt wider, wie die Welt aufgeteilt ist, dachte Merrick. Er wusste, zu welcher Kategorie er gehörte.

Bald darauf näherten sie sich dem Dorf. Vor ihnen lag jetzt noch das letzte, fast leere Stück Straße bis dorthin, das zu beiden Seiten von Steinwällen begrenzt wurde. Sie bildeten den letzten Übergang zwischen Chelsea und der noch ländlichen Umgebung Walham Greens. Der Regen lief in kleinen Bächen an den Fenstern der Kutsche herunter, vernebelte die Welt draußen und schuf in dem Gefährt einen falschen Anschein von Intimität. Als würde es sie beunruhigen, räusperte Madeleine sich.

In diesem Augenblick zerriss so etwas wie ein Schuss das eintönige Fahrtgeräusch. Die Kutsche machte einen scharfen Ruck nach links.

»Du lieber Gott!« Madeleine richtete sich kerzengerade auf. »Straßenräuber?«

»Unsinn!«, winkte Merrick ab. »Nicht in Walham Green.«

Aber die Kutsche wurde langsamer, und Madeleines Kutscher rief den Pferden den Befehl zum Stehenbleiben zu. Merrick drehte sich auf seinem Platz um und sah, dass seine Kutsche, die vor ihnen hergefahren war, stehen geblieben war. Schräg vor ihr stand ein offener Landauer, der fast die ganze Straße blockierte.

»Ich glaube, vor uns hat es einen Unfall gegeben«, vermutete er. »Und irgendein verdammter Narr ist bei diesem Regen in einem offenen Landauer gefahren.«

Aber er konnte weder eine umgestürzte Kutsche noch ein lahmendes Pferd entdecken. Madeleines Kutsche hatte inzwischen ebenfalls angehalten. Ungeduldig setzte sich Merrick seinen Hut auf und öffnete die Tür.

»Nein!«, rief Geoff scharf. »Das dürfen Sie nicht! Machen Sie die Tür zu!«

Das Entsetzen in der Stimme des Jungen klang echt. Merrick tat, was der Junge verlangt hatte. Die Kutscher riefen sich jetzt etwas zu, sie schienen beunruhigt zu sein. Madeleine griff unter ihren Sitz. »Hier«, sagte sie, nachdem sie einen langen sperrigen Gegenstand darunter hervorgezogen hatte.

»Guter Gott!«, sagte Merrick und schob die Pistole beiseite. »Ist das Ding etwa geladen?«

»Eine alleinstehende Frau muss sich selbst schützen.«

Merrick hatte keine Zeit, darüber zu diskutieren, denn Madeleines Kutscher sprang jetzt vom Kutschbock herunter auf die Straße. »Aber, Sir!«, hörten sie ihn rufen. »Was soll denn das? Nicht doch! Legen Sie das Ding weg, sage ich!«

»Was zum Teufel ist denn da los?« Merrick streckte wieder die Hand nach der Tür aus, aber Geoffreys Finger schlossen sich blitzschnell um sein Handgelenk und drückten es mit erstaunlicher Kraft. »Bleiben Sie bei uns«, wisperte er. »Bitte, Sir! Sie müssen hierbleiben!«

Über das Durcheinander hinweg erhob sich die verzerrt klingende Stimme eines Mannes. »Komm raus, MacLachlan!«, rief ein Mann lallend. »Steig aus deiner hübschen, feinen Kutsche und mach dich bereit für deinen Schöpfer, du elender schottischer Bastard!«

Plötzlich wurde es ihm klar. »Guter Gott!«, sagte Merrick. »Chutley?«

Madeleine beugte sich näher. »Wer?«

Merrick verzog das Gesicht. »Ein Mann, der mir nichts Gutes wünscht.«

»Na so was«, sagte Madeleine.

Der Mann rief noch immer nach Merrick. »Komm raus, sage ich!«, wiederholte er. »Ich werde dich Mores lehren, du gottverdammter betrügerischer Viehdieb! Für einen von uns ist es heute vorbei!«

»In der Kutsche ist niemand, Sir!«, rief Grimes vom Kutschbock herunter. »Machen Sie bitte den Weg frei, damit ich passieren kann.«

»Den Weg frei machen!«, brüllte Chutley. »Ich werde dir den Weg gleich frei machen! Den Weg zur Hölle!«

»Grimes!«, rief Merrick. Dieser betrunkene Verrückte würde seinen Kutscher nicht umbringen! Dieses Mal schnappte sich Merrick Madeleines Pistole und sprang aus der Kutsche, wobei er darauf achtete, auf seinem gesunden Bein zu landen. »Grimes, kommen Sie runter! Und laufen Sie!«

Aber Grimes war kein Narr. Er hatte den Kutschbock bereits verlassen. Schwere Schritte erklangen in Richtung der Hecke. Die Tür von Merricks Kutsche stand offen und schwang heftig in ihren Angeln hin und her. Er hatte sie fast erreicht, als ein zweiter Schuss aufpeitschte. Geoffreys markerschütternder Schrei durchschnitt die Luft. Sofort brach Chaos aus. Madeleines Pferde wieherten und gingen durch, stürmten auf den Graben zu und zogen die Kutsche holpernd mit sich. Merrick hörte das laute Klappern der Hufe und das Krachen von Holz. Er wagte nicht, sich umzudrehen. Chutley hatte offensichtlich den Verstand verloren, und war darauf aus, zu töten. Merrick griff nach dem Kutschenschlag, hob die Pistole und stieß die Tür weit auf.

Und Chutley hatte jemanden getötet.

Sich selbst. Zusammengesunken lag er auf der Bank, seine Hand umklammerte noch die Pistole. Ein heller Blutfleck breitete sich auf seinem Mantel aus und drang in schneeweißes Leinen ein. Seine Augen waren noch geöffnet, und aus seiner Kehle drang ein letztes schreckliches Röcheln. Dann entglitt die Waffe seiner Hand, schlug dumpf auf dem Boden der Kutsche auf und fiel von dort auf das regennasse Kopfsteinpflaster.

Merrick presste zwei Finger auf die Halsschlagader des Mannes und wandte sich zu Madeleine, um ihr etwas zuzurufen. Erst jetzt sah er, dass ihre Kutsche auf der Seite lag und nur noch von der hohen Steinmauer davor bewahrt wurde, ganz umzustürzen. Die Deichsel war verdreht. Grimes und der andere Kutscher taten ihr Bestes, die Pferde zu beruhigen.

Er rannte sofort los. Die Tür auf der Seite der Kutsche, auf der Madeleine gesessen hatte, hing in ihren Angeln. Madeleine kniete auf dem jetzt schräg geneigten Boden und hielt Geoffrey in den Armen. Die Stirn des Jungen blutete, und seine Augen waren geschlossen.

»Um Gottes willen!« Merrick nahm den Jungen in seine Arme und hob ihn aus der Kutsche. Er kniete sich hin, um ihn auf die Straße zu legen, und begann, ihn rasch zu untersuchen.

»Geoff!«, rief Madeleine und kroch aus Kutsche. »Geoff, sag doch etwas!«

Geoff war bewusstlos. »Sein Puls ist in Ordnung«, sagte Merrick, während er rasch die Kleidung des Jungen lockerte. »Er braucht nur Luft.«

Binnen Sekunden gab der Junge ein schwaches Seufzen von sich. Madeleine kniete jetzt neben ihm, Regen und Tränen strömten über ihr Gesicht. »Das ist deine Schuld!«, schrie sie und ballte die Fäuste, als wollte sie ihn schlagen. »Deine Schuld, Merrick! Deine! Hörst du!«

»Aye, das ist es«, sagte er ernst. »Geoff? Geoff! Kannst du mich hören, Junge?«

Grimes kam zurück und kniete sich auf ein Bein auf das Kopfsteinpflaster. »Armer kleiner Bursche!«, sagte er. »Hat es ihn am Kopf erwischt?«

»Aye, und das ziemlich hart, wie es aussieht«, sagte Merrick. »Er ist noch bewusstlos, aber er kriegt schon wieder etwas Farbe.«

»Was ist mit dem anderen Burschen?« Grimes wies mit dem Kopf auf Merricks Kutsche.

»Seine Farbe wird nicht wiederkommen«, sagte Merrick grimmig. »Nicht in diesem Leben. Aber Sie holen am besten einen Doktor, Grimes, und den Constable aus dem Dorf, wenn Sie ihn finden können. Der Name des Toten ist Chutley. Jim Chutley aus Camden Town. Er ... er hat dort Familie.«

»Jawohl, Sir.«

Merrick berührte mit dem Handrücken die Wange des Jungen. Geoff war jetzt weniger als eine Minute bewusstlos, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Genau in diesem Augenblick gab Geoff ein leises Wimmern von sich, und seine Augenlider flatterten. Merrick empfand eine unbeschreibliche Erleichterung.

»Mummy?« Geoffs Stimme wurde von dem stärker gewordenen Regen fast übertönt. »Mummy, was ...?«

Madeleine warf sich über ihr Kind. »Ich bin hier, Geoffrey!«, rief sie. »Mummy ist hier! O Gott! Oh, ich danke dir!«

Merrick schickte sich an, den Jungen hochzuheben. »Mach Platz, Madeleine«, sagte er, während er aufstand, Geoff in seinen Armen.

Madeleine sprang auf. »Was tust du?«, rief sie. »Wohin bringst du ihn?«

»Nach Hause«, sagte Merrick. »Die Wunde muss versorgt werden. Und was er jetzt absolut nicht brauchen kann, ist eine Lungenentzündung, weil er zu lange im Regen gelegen hat. Um den Rest hier können sich die Kutscher kümmern.«

Madeleine folgte ihm auf den Fersen, ihre Stimme bebte vor kaum unterdrückter Wut. »Du hättest uns alle töten können!«, sagte sie. »Wenn Geoffrey ernstlich verletzt ist, Merrick, werde ich dir das nie vergeben! Nie!«

»Du hast mir noch nie etwas vergeben, Madeleine«, stieß er hervor und ging etwas schneller. »Ein Leopard ändert seine Flecken nun mal nicht.«

»Du unerträgliches Scheusal!«, sagte sie. »Du und dieser ... dieser Wahnsinnige! Wer war das? Wie konntest zulassen, dass so etwas mit Geoff geschieht?«

Merrick unterließ es, darauf hinzuweisen, dass es Geoffrey gewesen war, der darauf beharrt hatte, dass sie zusammen fuhren, auch wenn er mit dieser Tatsache im Moment nichts anzufangen wusste. Und hätte der Gedanke an Chutleys Witwe nicht diese starken Schuldgefühle in ihm geweckt, hätte Geoffs seltsames Verhalten in der Mortimer Street jetzt vermutlich Vorrang in seinen Gedanken gehabt.

»Wo geht es lang?«, wollte er wissen. Sie hatten inzwischen die Hauptstraße erreicht. Der Regen hatte seine Kleidung durchnässt, und die Feuchtigkeit bereitete seiner Hüfte bei jedem Schritt einen teuflischen Schmerz.

»Weiter geradeaus«, sagte Madeleine und wies die Richtung. »Am Postamt vorbei und bis zum Ende des Weges.«

»Ich denke, ich kann gehen, Sir«, sagte Geoff. Sein Kopf ruhte an Merricks Schulter, und seine Stimme klang gedämpft. »Bitte, lassen Sie mich herunter.«

»Nein!«, sagte seine Mutter fest. »Geoffrey, du bist verletzt. Wir können von Glück sagen, dass du nicht getötet worden bist.«

»Nun überdramatisiere die Situation nicht, Madeleine«, wies Merrick sie zurecht. »So, wie es aussieht, hat der Junge schon genug Fantasie. Wenn du dir über etwas Sorgen machen willst, dann über Jim Chutleys Kinder.«

Madeleine machte große Schritte, um mit Merrick mithalten zu können. »Ja, vermutlich hat er ein ganzes Dutzend davon, dieser arme verrückte Mann!«, erwiderte sie. »Was hast du getan, Merrick, dass ein Mann wie er deinen Tod will?«

»Er war nicht der Erste«, stieß Merrick hervor. »Und er hatte dabei bemerkenswert weniger Erfolg als ein anderer, der es vor ihm versucht hat.«

»Ja, du hinkst«, sagte sie, als wäre es Anklage.

»Glaub mir, Madeleine, dessen bin ich mir sehr bewusst«, gab er zurück. »Ist das dein Cottage, dort am Ende des Weges? Wenn ja, dann geh bitte vor und öffne die Tür.«

»Warum um alles in der Welt bist du wütend auf mich?«, knurrte sie, während sie in ihrem jetzt nassen Ridikül kramte. »Es war dieser Mr. Chutley, der auf dich schießen wollte, nicht ich.«

»Bist du dir dessen ganz sicher, meine Liebe?«, erwiderte er.

»Ja, ganz sicher.« Madeleine zog endlich ihren Schlüssel hervor. »Hätte ich dich erschießen wollen, Merrick, hätte ich dich nicht verfehlt.«

Er wollte ihr sagen, dass er ihr nicht glaubte; dass er nicht glaubte, dass sie jemanden töten könnte. Aber in Anbetracht ihrer gegenwärtigen Stimmung war er sich dessen gar nicht mehr so sicher.

Sie war so ganz anders heute Abend. Es war, als wäre die alte Madeleine wieder zum Leben erwacht - aber nicht das junge, naive Mädchen, das er geheiratet hatte, sondern die Madeleine, wie er sich vorgestellt hatte, die sie eines Tages sein würde. Voller Selbstbewusstsein und Tatkraft und schlichter, unbeinflussbarer Entschlossenheit.

Die Familien MacGregor und MacLachlan hatten viele starke Frauen hervorgebracht; Frauen, die für den Lebensunterhalt ihrer Familie gesorgt hatten und deren Rückgrat gewesen waren. Frauen, die die Wiege wiegten, den Haushalt führten und die Felder bestellten - und alles ohne ein Jammern. Merrick kannte den Wert einer solchen Ehefrau sehr gut, und er hatte in Madeleine die Anlagen dazu erkannt. Er hatte nie erwartet, dass sein Leben einfach sein würde, und er war erleichtert gewesen, eine Frau gefunden zu haben, die es mit ihm schultern und durchstehen konnte. Was ihre feige Kapitulation umso bitterer zu ertragen machte.

Sie hatten den Eingang des Cottages erreicht. Madeleine steckte den Schlüssel ins Schloss, aber die Tür wurde aufgerissen, bevor sie ihn herumdrehen konnte. Eine Hausangestellte stand im Schatten des Eingangs und hielt eine Lampe hoch. Hinter ihr stand ein sehr korrekt gekleideter junger Mann.

Madeleine stürmte ins Haus. »Oh, Eliza!«, rief sie. »Und Mr. Frost! Gott sei dank, dass Sie wieder da sind. Geoffrey hatte einen Unfall.«

Merrick konnte Geoffs Verlegenheit spüren. Vorsichtig stellte er den Jungen auf die Füße, wobei er ihn mit einer Hand am Ellbogen fest stützte. »Unsere Kutsche hat sich fast überschlagen«, sagte der Junge. »Ich habe mir den Kopf gestoßen. Aber es geht mir jetzt wieder gut.«

Der junge Mann war vorgetreten, um die Verletzung in Augenschein zu nehmen. »Nun, das ist ja eine recht große Beule, mein Junge!«, sagte er, und es klang fast bewundernd. »Sieht aus, als hättest du einen Kricketschläger gegen den Kopf bekommen.«

»Hallo, Mr. Frost.« Der Junge wirkte traurig und, seltsamerweise, ein wenig schuldbewusst. »Ich habe es nicht einmal gemerkt.«

»Weil du das Bewusstsein verloren hattest«, sagte seine Mutter. Sie trat ein Stück zur Seite, um ihren nassen Mantel auszuziehen. Merrick bemerkte, dass sie versuchte, nicht zu schwanken. Aber es war ein harter Kampf.

Der junge Mann richtetet sich auf und bot Merrick die Hand. »Jacob Frost«, stellte er sich vor. »Ich bin Geoffs Lehrer.«

»MacLachlan«, erwiderte er. »Merrick MacLachlan.«

Ihm entging nicht, dass Eliza hörbar einatmete. Als er sie ansah, bemerkte er, dass sie ihn mit so etwas wie Hass in ihren Augen anstarrte.

Madeleine tat, als bemerkte sie es nicht. »Wir müssen in den Salon und alle Lampen anzünden, Eliza«, sagte sie, ihre Stimme klang vollkommen ruhig. »Ich möchte mir Geoffs Kopf genauer ansehen.«

»Ich bin so müde, Mummy«, sagte der Junge. »Darf ich jetzt nach oben gehen?«

Madeleine warf ihm einen ermahnenden Blick zu. »Sind Sie so gut und bitten Clara, uns eine Kanne Kaffee zu bringen, ehe sie schlafen geht, Eliza? Und bitte nehmen Sie Mr. MacLachlans nassen Mantel mit und trocknen ihn.«

Merrick legte das durchnässte Kleidungsstück bereitwillig ab, und die Angestellte verschwand damit in den Tiefen des kleinen Hauses - aber nicht, ohne Merrick zuvor noch einen finsteren Blick zugeworfen zu haben. Madeleine führte die beiden Herren in den Salon, und der junge Mann begann, die Lampen anzuzünden.

»Danke, Mr. Frost.« Madeleine setzte sich in einen großen, altmodischen Lehnstuhl. »Ich hoffe, Sie haben Ihre Familie bei Ihrem Besuch wohlauf vorgefunden?«

»Ja, danke, Mylady«, erwiderte er und stellte die Kerze ab. »Nun, wie sieht die Verletzung aus?«

Madeleine zog Geoff zu sich. »Grässlich«, sagte sie, während sie ihm das Haar zurückstrich. »Auf jeden Fall für ein paar Tage. Aber wenigstens wird sie wohl nicht genäht werden müssen.«

Mr. Frost ging neben Madeleines Stuhl in die Hocke. »Ich habe Bonbons aus Norfolk mitgebracht, Geoff. Von meiner Mutter«, sagte er. »Wir werden sie holen, wenn du dich besser fühlst.«

»Ich fühle mich aber besser«, behauptete der Junge. Aber auf seinem Gesicht lag noch immer der seltsame, erschrockene Ausdruck.

Madeleine nahm seine Hände. »Aber sicherlich ist dir doch kalt? Vielleicht solltest du ein warmes Bad nehmen?«

Geoff schüttelte den Kopf. »Ich bin zu müde, Mummy. Ich will nur meine nassen Kleider ausziehen.«

In diesem Augenblick war von der Tür her ein leises Geräusch zu hören. Ein stämmiges kleines Hausmädchen brachte auf einem Tablett den Kaffee. Sie stellte es ab und knickste. »Wünschen Sie sonst noch etwas, Mylady?«

Madeleine atmete aus und ließ die Schultern sacken, als fühlte sie sich plötzlich erschöpft. »Nein danke, Clara«, sagte sie. »Gehen Sie schlafen. Und Eliza auch. Es ist schon spät.«

Das Mädchen sah erleichtert aus und ging sofort.

Mr. Frost erhob sich jetzt. »Ich kann Geoff doch auch nach oben bringen, Ma'am«, schlug er vor. »Ich habe ein paar Skizzen von meiner Reise, die ich ihm zeigen kann. Ich werde heute Nacht auf der Liege schlafen.«

Madeleine sah ihn mit einem dankbaren Lächeln an. »Sie sind sehr freundlich, Mr. Frost. Ich denke, genau so sollten wir es machen.«

Aber auf der Türschwelle zögerte Geoff und wandte sich zu Merrick um. »Danke, dass Sie mich getragen haben, Sir«, sagte er ruhig. »Es tut mir leid, dass der andere Mann tot ist. Wirklich sehr leid.«

Merrick fühlte, wie sich seine Kehle verengte. »Mir tut es auch leid, Geoff«, gestand er. »Ich wünschte, es wäre nicht geschehen.«

Und so war es. Er konnte den Gedanken an Chutleys Familie einfach nicht aus dem Kopf bekommen. Merrick hatte in vollem Recht gehandelt, als er die Ziegelei des Mannes für sich beansprucht hatte - er hatte sogar alle Arbeiter behalten -, aber er hatte bei allem nicht ein Mal an Chutleys Familie gedacht. Nicht, bis der Mann, seinen letzten Atemzug tuend, vor ihm gelegen hatte. Nun, es nützte nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Reue brachte ihnen weder das Essen auf den Tisch noch bewahrte es ihnen das Dach über dem Kopf.

Merrick hatte vergessen, wo er war, als er den Kopf neigte und seinen Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger drückte, bis es wehtat. Morgen würde er Rosenberg nach Camden Town schicken, damit dieser der Witwe eine Zahlung aussetzte. Er bedauerte es nicht, dem Mann die Ziegelei genommen zu haben. Nein, das tat er nicht. Die Geschäfte mussten weitergehen, und Chutleys Hang zum Alkohol hatte ihn unfähig gemacht, seinen Aufgaben nachzukommen. Aber vielleicht könnte er etwas für dessen Familie tun. Vielleicht hätte er den Selbstmord verhindern können, wenn er einen Augenblick lang an die Familie gedacht hätte.

Bis er den Brandy roch, hatte Merrick nicht einmal bemerkt, dass Madeleine vor ihm stand. Sein Kopf fuhr hoch. Sie hielt zwei Gläser in den Händen und bot ihm eines an. »Ich dachte, ich brauche etwas Stärkeres als Kaffee«, sagte sie. »Ich möchte etwas über den Mann erfahren, Merrick. Wie hast du ihn kennengelernt?«

Merrick nahm das Glas und nahm einen langsamen, nachdenklichen Schluck. »Ich habe ihm Geld geliehen, damit er seine Ziegelei modernisieren kann«, antwortete er. »Er konnte es weder zurückzahlen noch konnte er die Ziegel liefern. Deshalb habe ich das Darlehen zurückgefordert.«

»Du hast dafür seine Ziegelei genommen?«

»Ich habe Baustellen in Wapping, Southwark und Walham, die ich hätte stilllegen müssen. Ich brauchte die Steine«, sagte er angespannt. »So ist das Geschäft, Madeleine.«

»Oh, mir gegenüber musst du dich nicht rechtfertigen.« Mit dem Glas in der Hand ging sie durch das Zimmer. »Aber der Witwe Chutleys gegenüber.«

Er stellte sein Glas so heftig ab, dass es klirrte. »Verdammt, Madeleine, meinst du, ich wüsste das nicht? Denkst du, mir macht Freude, was ich tun musste?«

Sie sah ihn an, ihre Augen wirkten im Lampenschein sehr schmal. »Das halte ich ganz und gar für möglich, ja.«

Er holte tief Luft, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Er wurde von einem plötzlichen, lauten Klopfen an die Tür gerettet. Madeleines Augen weiteten sich erschreckt.

Merrick war schon halb an der Tür zum Flur. »Ich werde mich darum kümmern.«

Madeleine stellte ihr Glas ab. »Das wirst du ganz sicher nicht«, sagte sie. »Ich glaube, du hast vergessen, wem dieses Haus gehört.«

Er blieb auf der Schwelle zum Salon stehen und ging zu ihr zurück. »Und ich denke, du hast vergessen, was das englische Recht sagt, meine Liebe. Vom juristischen Standpunkt her kann man sagen, das dies mein Haus ist.«

»Wie bitte?«

»Du bist meine Frau, Madeleine«, stieß er grimmig hervor. »Das Gesetz gesteht mir alles zu, was du besitzt oder mietest oder dir erschaffst - bis der Tod uns scheidet. Und wie du heute Abend gesehen hast, bin ich Bastard verdammt schwer umzubringen.«

»Großer Gott, du bist verrückt!«, sagte sie. »Du bedeutest mir gar nichts.«

»Zu unserer beider Bedauern bin ich dein Mann, Madeleine«, entgegnete er. »Und ich kann es beweisen. Oder hältst du mich für einen solchen Dummkopf, unseren Ehevertrag wegzuwerfen?«

»Du ... hast ihn noch?«, wisperte sie. »Und jetzt drohst du mir damit? Oh, du bist abscheulich!«

Das Klopfen ertönte wieder, noch lauter.

Merrick atmete erschöpft aus. »Um Himmels willen, setz dich endlich, Madeleine!«, sagte er. »Ich kann dir versichern, dass das nur der Constable des Dorfes ist. Möchtest du wirklich noch weiter in diese elende Sache verwickelt werden? Falls ja - bitteschön! Dann hole ich meinen Mantel.«

Madeleine zuckte zusammen. Gewiss wünschte sie nicht, die schrecklichen Ereignisse des Abends in der Gegenwart eines Polizisten noch einmal zu durchleben. Mit einem letzten warnenden Blick setzte sie sich in ihren Lehnstuhl.