Die Wahrheit kommt ans Licht

Meine Ohnmacht hatte anscheinend nicht lange gedauert. Denn als ich erwachte, befand ich mich immer noch in dem großen prunkvollen Saal. Nur lag ich auf einmal in den Armen von Alexandré und nicht mehr in denen des Wachmannes. Geschockt riss ich mich von ihm los und taumelte einige Schritte nach hinten. Alexandré blieb regungslos stehen und schaute mich aus traurigen Augen an, doch ich schenkte ihm keinerlei Beachtung mehr. Wie von selbst glitt mein Blick durch den Raum und blieb bei meiner Mutter hängen. Diese sah mich ebenfalls an und wirkte zu tiefst erschrocken und in ihren großen Augen spiegelte sich Trauer wider.

››Mum‹‹, flüsterte ich erneut. Meine Stimme klang ganz anders als sonst. Viel rauer und tonloser. Doch das alles nahm ich nur am Rande wahr. Meine ganze Aufmerksamkeit lag auf meiner Mutter.

››Becca ich…‹‹ Auch ihre Stimme klang angeschlagen und anders als sonst. Am liebsten wollte ich auf sie zu rennen und mich in ihrem Arme schmeißen. Doch noch immer stand direkt hinter ihr einer der Wachmänner und hielt sie eisern fest.

››Ist das nicht schön? Ein richtiges Familientreffen.‹‹ Die tiefe Stimme von Alexandrés Vater durchbrach die erneute Stille. Er klang furchtbar amüsiert und in meinen Fingerspitzen zuckte es automatisch verdächtig. Ich wollte diesem miesen Sack am liebsten ins Gesicht schlagen. Wie konnte er es wagen meine Mutter einfach zu entführen, nur um mich damit quälen zu können? Das würde er bitterlich büßen. Dafür würde ich sorgen.

››Keren komm doch mit Judith näher.‹‹ Innerlich zuckte ich zusammen, als der Mistkerl den Namen meiner Mutter so aussprach, als würde er sie kennen. Und der böse Blick, den meine Mutter ihm daraufhin zuwarf, sah ebenfalls vertraut aus. Kannten sie sich etwa wirklich? Das war doch nicht möglich…. Nein das wäre vollkommen absurd. Warum sollte meine Mutter auch solch einen Idiot kennen?

Keren platzierte meine Mum auf einem der Esstischstühle und stellte sich bedrohlich hinter ihr auf. Als wenn sie auch nur eine Chance hatte zu fliehen. Das war ja lächerlich.

››Schatz es tut mir so leid, dass du nun ich so einer Situation bist‹‹, sprudelte es plötzlich aus meiner Mutter heraus. In ihren Augenwinkeln glänzten noch immer Tränen und ihre Wimperntusche war völlig verlaufen. Trotzdem sah sie einfach fantastisch aus. Wie immer eben.

››Ist schon gut Mum. Geht’s dir gut?‹‹ Meine Stimme zitterte heftig und ich musste ganz langsam reden, damit die Worte überhaupt über meine Lippen kamen.

››Ja mir geht es gut… Oh Gott Becca ich hab dich so vermisst.‹‹ Nun tropften Mums Tränen auf die Tischdecke und sie wischte sich schniefend über die nassen Wangen. Sofort begann auch ich zu weinen. Mein ganzer Körper bebte vor Trauer.

››Ich dich auch‹‹, flüsterte ich schniefend. Meine Mum lächelte schwach und ich tat es ihr gleich.

››Wie rührend‹‹, kommentierte Daddylein trocken und ich warf ihm einen finsteren Blick zu, den er aber vollkommen ignorierte. ››Also Rebecca ich denke, dass wir nun ins Geschäft kommen, oder sehe ich das etwa falsch?‹‹ Seine kalten Augen erdolchten mich beinahe und ich erschauderte und bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper. Er versuchte mich wirklich mit meiner Mutter zu erpressen. Dieses miese Schwein.

››Nein, lass sie in Ruhe Jerome‹‹, mischte sich sofort meine Mutter ein, doch Alexandrés Vater zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sein starrer Blick lag noch immer auf mir. Ängstlich sah ich zu Alexandré, doch dieser hatte den Blick gesenkt. So ein Feigling! Wütend krallte ich meine Fingernägel in die Tischdecke.

››Halt die Klappe‹‹, fauchte Jerome meine Mutter zornig an. Verwirrt sah ich zwischen den beiden hin und her.

››Kennt ihr euch?‹‹, entfuhr es mir ohne Vorwarnung und ohne dass ich es verhindern konnte. Sofort lagen die Blicke der beiden wieder auf mir. Plötzlich brach Jerome De Chevallie in lautes Gelächter aus und ich wurde immer ratloser. Was ging hier eigentlich vor?

››Natürlich kennen wir uns Prinzesschen‹‹, presste er zwischen seinen Lachern hervor. WAS? ››Woher?‹‹, versuchte ich mit ruhiger Stimme zu fragen, doch es gelang mir nicht wirklich.

››Sie war die Frau meines Bruders.‹‹ Als Alexandrés Vater meine verwirrte Miene sah, grinste er breit. ››Deines Vaters… Ich bin dein Onkel.‹‹ Vor Schreck fiel mir die Kinnlade herunter. Das konnte doch nicht sein ernst sein? Verängstigt sah ich meine Mutter an, doch diese schaute mit verbitterter Miene auf ihre verkrampften Hände. Es war also wahr! Dieser Mistkerl war mein Onkel. Und daher war Alexandré mein Cousin.

››Seid ihr alle vollkommen bescheuert? Ich betreibe doch keinen Inzest!‹‹, schrie ich aufgebracht und augenblicklich lagen alle Blicke im Raum auf mir.

››Dieses Mädchen hat wirklich keinerlei Anstand‹‹, meldete sich auf einmal die Mutter von Alexandré zu Wort – meine Tante. Ich ignorierte sie allerdings und schlug mit meiner Faust kräftig auf den Tisch. Neben mir zuckte Alexandré zusammen und auch meine Mutter sah mich verschreckt an.

››Na schön und wo ist dann mein Vater? Ist er wirklich tot, oder hast du mich damit auch angelogen?‹‹, wandte ich mich erbost an Mum. Einige Minuten herrschte Stille.

Totenstille.

››Nein, er ist wirklich tot‹‹, flüsterte sie dann leise. ››Er ist gestorben als du gerade einmal zwei Jahre alt warst.‹‹

››Wieso?‹‹, bohrte ich weiter. ››Er war ein Lamia und er hat sich an keine Gefährtin gebunden. Er ist gestorben.‹‹ Nun war ich wirklich vollkommen verwirrt.

››Was? Aber du und er? Er hat sich doch an dich gebunden.‹‹ Zaghaft schüttelte sie ihren Kopf und ihr liefen immer noch Tränen aus den Augen. Sie sah im Moment so schwach aus, dass ich sie am liebsten stützen wollte. Es tat weh meine Mutter so zu sehen, doch ich musste endlich die Wahrheit erfahren.

››Nein das hat er nicht. Lamias können sich nicht an Menschen binden‹‹, mischte sich Jerome De Chevallie mit lauter Stimme ein.

››An einen Menschen…‹‹, wiederholte ich leise. Das konnte doch nicht möglich sein… Ich hatte die ganze Zeit, die ich bei den andern verbracht habe gedacht, dass meine Mutter eine Gefährtin gewesen war und nach Vaters Tod sterblich geworden war. Mein Kopf fühlte sich an als würde er jeden Moment platzen und ich rieb mir meine Stirn. Das war alles zu viel für mich.

››Bin ich daher so wertvoll?‹‹, fragte ich nach einer Weile in die Stille.

››Ja, du bist seit 250 Jahren die erst Gefährtin, die von einem Lamia und einer Menschenfrau abstammt. Durch dich wird der an dich gebundene Lamia viel stärker als alle anderen.‹‹

››Daher kennt jeder Lamia meinen Namen‹‹, flüsterte ich weiter und ich sah wie Alexandrés Vater mit zufriedener Miene nickte.

››Und du wirst meinen Sohn – meinen Erben – diese Ehre zuteil kommen lassen. Er wird einer der wenigen mächtigen Lamias und ich kann beruhigt weiterleben, bis eines Tages meine Zeit gekommen ist zu gehen.‹‹

››Wie alt sind sie denn?‹‹, entfuhr es mir ungewollt und ich wollte mir am liebsten meine Hand vor den Mund schlagen.

››Sehr alt… dein Vater war mein jüngerer Bruder. Zwischen uns lagen über 60 Jahre Altersunterschied. Ich war nach unserem Vater der rechtmäßige Nachfolger. Daher bin ich auch seit jeher der Herrscher über die Sárgis von Frankreich. Dein Vater hingegen ist lieber gestorben, anstatt sich eine Gefährtin auszuwählen. Er hat sich für deine Mutter entschieden und dafür mit seinem Leben bezahlt. Und ich werde dies nicht noch einmal zulassen. Mein Sohn wird sich an dich binden und ich werde nichts anders erlauben.‹‹

››Sie sind ja vollkommen verrückt. Ich kann mich binden an wen ich will.‹‹

››Nun ich hatte gehofft du würdest kooperativer sein Prinzesschen.‹‹ Plötzlich hörte ich meine Mutter aufschreien und wandte meinen Blick von meinem Onkel ab. Keren hatte meine Mutter grob in den Haare gepackt und sie von ihrem Stuhl gezerrt. Ich stieß einen Schrei aus und wollte zu ihr rennen, doch ich wurde ebenfalls von hinten gepackt und festgehalten. Wie eine Wahnsinnige wehrte ich mich gegen den stahlharten Griff, doch ich hatte nicht die geringste Chance.

››Lass sie los du Arschgeige!‹‹, schrie ich so laut ich konnte und trat um mich, doch nichts nützte.

››Zeig doch unserem Prinzesschen was geschieht, wenn sie sich weiterhin so gegen die Verbindung mit meinem Sohn sträubt.‹‹ Jerome De Chevallie erhob sich nun ebenfalls von seinem Stuhl und trank einen großen Schluck aus seinem Weinglas, während er mit belustigter Miene das Schauspiel beobachtete. Der Wachmann nickte eifrig und zog den Kopf meiner Mutter weit nach hinten. Ich konnte sie vor Schmerzen röcheln hören und verkrampfte meinen Körper. Als Keren schließlich auch noch ein großes Jagdmesser hinter seinem Rücken hervor holte und es meiner hilflosen Mutter an die Kehle hielt, schrie ich noch lauter.

››NEIN! Bitte tu ihr nichts an! BITTE!‹‹ Meine Stimme klang schrill und dröhnte selbst mir in den Ohren. Doch Keren nahm das Messer nicht weg. Sein Blick war auf meinen Onkel gerichtet. Er schien auf seinen Befehl zu warten. ››Bitte lass sie in Ruhe. Sei nicht so herzlos! Dein Bruder hat sie geliebt!‹‹ Meine Stimme wurde etwas ruhiger, doch sie klang noch immer gehetzt und eine Oktave zu hoch.

››Und was hat ihm seine Liebe gebracht?! Er ist tot wegen diesem Miststück! Ich hätte sie schon längst umbringen sollen!‹‹ Jeromes Miene war kalt und grausam.

››Nein lass sie ihn Ruhe. Ich mache alles was du willst. Nur bitte tu meiner Mutter nichts. Ich habe doch nur noch sie.‹‹ Nun war meine Stimme nur noch ein leises Flüstern, kaum lauter als ein Windhauch, doch mein Onkel hatte mich trotzdem sehr wohl verstanden. Ebenso meine Mutter. Sie schrie sofort laut

››NEIN! BECCA NICHT!‹‹, doch ich biss mir auf die Unterlippe und hatte meinen Blick auf Jerome gerichtet. Dieser grinste nun selbstgefällig und ich wollte ihm sein doofes Grinsen am liebsten aus dem Gesicht schneiden und ihm die Augen auskratzen! Er zerstörte gerade mein Leben, doch ich nahm es auf mich. Ich würde bestimmt nicht zulassen, dass diese Hohlbirne meiner Mutter auch nur ein Haar krümmte.

››Sehr schön endlich kommst du zur Besinnung Prinzesschen.‹‹ Mein Onkel warf seinem Diener einen kurzen Blick zu und daraufhin ließ dieser meine zitternde Mutter los.

››Ich binde mich aber nur unter einer Bedingung an deinen Sohn.‹‹

››Du bist nicht in der Position Bedingungen zu stellen‹‹, knurrte mein Onkel sofort zornig, doch ich redete unbekümmert weiter.

››Ich binde mich an Alexandré, wenn du sie dann gehen lässt und ihr kein einziges Haar krümmst. Ich werde dann die perfekte Schwiegertochter‹‹, dieses Wort spukte ich förmlich aus, ››spielen und du kannst glücklich sein und lässt die Finger von ihr.‹‹ Jerome musterte mich einige Sekunden, dann seufzte er leise.

››Zu schade, ich hätte sie gerne dafür leiden lassen was sie meinem Bruder angetan hat… aber schön. Direkt nachdem du dich an meinen Sohn gebunden hast, lasse ich sie gehen. Du hast mein Ehrenwort.‹‹

››Ein Ehrenwort gilt nur, wenn es auch von einem Ehrenmann gesprochen wurde‹‹, fauchte ich leise. ››Ich will, dass Sie es schwören.‹‹ Sofort verdüsterte sich die Miene meins Onkels und er sah aus als würde er mir am liebsten an die Gurgel springen.

››Na schön. Ich schwöre das ich deine Mutter unbeschadet gehen lasse, solange du dich ebenfalls an die Abmachung hältst‹‹, zischte er leise und durchbohrte mich regelrecht mit seinen dunklen Augen. Stumm nickte ich und Jerome De Chevallie stieß ein seufzen aus.

››Keren bring sie weg und Alexandré führe deine zukünftige Frau auf ihr Zimmer. Ich benötige jetzt Ruhe.‹‹ Mein Onkel ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder und nahm einen großen Schluck Wein. Er sah tatsächlich erschöpft aus. Doch das war mir egal. Meine Aufmerksamkeit galt meiner Mutter, die mich aus traurigen Augen ansah, während sie aus dem Raum geschleift wurde. Erst als hinter ihr die Portaltüren geschlossen wurden, wandte ich meinen Blick ab. Tränen stiegen mir wieder in die Augen und ich blinzelte sie zornig weg. Ich hatte eindeutig genug geweint für heute. Immerhin hatte ich meine Mutter retten können. Auch wenn ich dafür einen hohen Preis zahlen musste. Ich nahm ihn in Kauf. Sie war es wert. Und ich würde das überstehen.

Alexandré umfasste sanft mein Handgelenk und zog mich mit sich aus dem Saal. Zusammen liefen wir schweigend den Gang entlang zu meinem Zimmer. Was sollte ich auch schon sagen? Hey ich will nicht deine Gefährtin werden, aber ich muss?... Ja! Bestimmt! Das alles war einfach nur vollkommen sinnlos. Ich konnte an meinem Schicksal nichts mehr ändern. Es war besiegelt. Ich würde mich an Alexandré, meinen Cousin, binden und Shane und die anderen nie wieder sehen. Wieder einmal musste ich meine aufsteigenden Tränen wegblinzeln und ein dicker fetter Kloß bildete sich in meinem Hals. Das durfte alles nicht wahr sein. Es musste ein Traum sein… ja ganz bestimmt. Das war ja gar nicht anders möglich. In zwei Tagen konnte sich mein Leben doch gar nicht so auf den Kopf stellen.

Doch es brachte nichts mich selbst zu belügen. Ich war verdammt. Mein restliches unsterbliches Leben würde ich in Frankreich verbringen müssen. Allein. Vollkommen allein. Ich verlor meinen Kampf gegen die Tränen. Sie flossen still meine Wangen herunter und tropften mit einem leisen Geräusch auf den antiken Steinboden.

Shanes Sicht:

Zwei lange Tage waren nun schon vergangen seit Rebecca von irgendwelchen Leuten entführt worden war und wir hatten immer noch keinerlei Anhaltspunkte. Die Typen schienen aus dem Nichts gekommen und dorthin auch wieder verschwunden zu sein. Ich hatte den ganzen Tatort auf den Kopf gestellt und halb München abgesucht. Doch es war zwecklos. Es war mir klar, dass sie sich mit ihr längst über alle Berge gemacht hatten. Wahrscheinlich hielten sie sich nicht einmal mehr in Deutschland auf. Es war zum Verzweifeln.

Dem Rat hatten wir noch nicht Bescheid gesagt, dass wie sie verloren hatten. Aber wir mussten es bald tun und dann würde uns eine gewaltige Strafe drohen. Vielleicht würden sie uns töten, vielleicht aber auch nur ins Exil sperren und warten bis wir von alleine starben. Ich wusste es nicht. Doch ich konnte mich auch nicht lange damit beschäftigen, denn meine Gedanken wanderten immer wieder zu ihr. Ich malte mir die ganze Zeit die schlimmsten Bilder aus. Vielleicht wurde sie genau in diesem Moment gefoltert oder gezwungen sich an irgendeinen Wichser zu binden. Bei dem Gedanken daran fuhr es mir eiskalt den Rücken herunter. Und was tat ich? Ich lag hier herum und konnte nichts tun. Ich war völlig machtlos. So verzweifelt und allein wie in den letzten zwei Tagen hatte ich mich noch nie gefühlt.

Es tat weh.

Es tat weh zu wissen, dass ich rein gar nichts tun konnte um ihr zu helfen. Es tat weh, zu wissen dass ich vermutlich nie wieder ein Wort mit ihr reden konnte und sie nie wieder in meine Arme nehmen konnte. Ich fühlte mich so leer ohne sie. Es war als würde mir ein Teil fehlen. Ein lebenswichtiger Teil.

Verdammt wo bist du nur Rebecca? Gib mir ein Zeichen, dass ich dich finden kann. Ich brauche dich… Ich brauche dich…