31
Die Couch im Wohnzimmer war doch eigentlich recht bequem, redete er sich ein; die Frage war nur, warum er dann trotzdem nicht schlafen konnte. Schließlich warf Matt frustriert das Kissen auf den Boden und gab es auf - obwohl ihm der Schlaf bestimmt gut getan hätte. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte er vielleicht zwei Stunden geschlafen - trotzdem war im Moment an Schlaf nicht zu denken; immer wieder kehrten seine Gedanken zu der Frage zurück, wer der Bastard sein mochte, der Carly angegriffen hatte. Das wirklich Erschreckende an der Sache war, dass Matt sich ziemlich sicher war, dass der Kerl nicht eher aufgeben würde, bis er sie erwischte - oder bis er selbst erwischt wurde. Seine Aufgabe war es, den Bastard zu finden. Die State Police hatte sich zwar den Tatort angesehen, hatte ihm aber zu verstehen gegeben, dass sie aufgrund der Hitzewelle ebenfalls völlig ausgelastet waren. Und nachdem der Überfall auf zwei Frauen in deren Haus weder mit einer Vergewaltigung noch mit besonders schwerer Körperverletzung oder gar Mord verbunden war, hatte dieser Fall nicht unbedingt oberste Priorität. Das FBI war nicht zuständig und hatte auch kein Interesse an dem Fall, wenngleich ein Agent, den Matt gut kannte, ihm angeboten hatte, eine DNA-Analyse des Blutes zu machen, das Matt am Tatort gefunden hatte und das vom Täter stammen musste. Matt setzte keine allzu großen Hoffnungen auf diese Analyse, die nur dann zum Erfolg führen konnte, wenn die DNA des Täters bereits in der Datenbank gespeichert war. Deshalb setzte Matt mehr auf traditionellere Methoden, wie jene, alle Hinweise und Spuren zusammenzutragen und aneinander zu fügen. Er drehte sich auf den Rücken, starrte in die Dunkelheit und ging in Gedanken noch einmal alles durch, was er wusste.
Da war zunächst einmal das, was er an äußeren Merkmalen des Täters wusste. Der Bastard war zwei, drei Zentimeter größer als Sandra - er musste also knapp über eins achtzig sein. Außerdem war er stämmig gebaut und hatte hellblaue, fast wimpernlose Augen. Aus Letzterem konnte man schließen, dass er wahrscheinlich blond war. Bei blonden Menschen waren meist auch die Wimpern hell und deshalb nicht so auffällig, weshalb Carly den Eindruck hatte, dass er keine Wimpern habe.
Der Täter hatte trotz der Hitze eine Jacke und eine Kapuze getragen. Was konnte man daraus schließen? Möglicherweise wollte ihr der Kerl mit seiner Verkleidung Angst einjagen - doch wenn es ihm wirklich darum gegangen wäre, sich an der Angst seiner Opfer zu weiden, dann hätte man erwarten können, dass er versuchen würde, sie zu quälen, was jedoch nicht der Fall war. Er hatte Carly sofort zu töten versucht. Sein Aufzug hatte deshalb wohl nicht den Zweck, dem Opfer Angst einzujagen.
Vielleicht handelte es sich ganz einfach um einen Irren, dem es gefiel, sich zu vermummen. Aber war es dann wahrscheinlich, dass er so sehr auf Carly fixiert war? Möglich war es, aber Matt glaubte nicht recht daran.
Eine andere Möglichkeit war, dass der Kerl nicht erkannt werden wollte. Seine Vermummung half ihm, seine Identität zu verbergen, falls ihn jemand außer dem Opfer sah - Matt verwendete für sich das Wort Opfer, weil ihm das half, die Sache nüchterner zu sehen; der Gedanke, dass Carly diesem Mörder aufgeliefert war, löste eine solche Wut in ihm aus, dass er nicht mehr klar denken konnte - oder falls das Opfer überlebte und ihn somit überführen könnte. Was diese These besonders plausibel machte, war die Tatsache, dass der Kerl zu Carly gesagt hatte Jetzt erinnere ich mich wieder an dich. Die entscheidende Frage war, woher er sich an sie erinnerte. Es war natürlich gut möglich, dass er sich von seinem ersten Zusammentreffen mit Carly im Esszimmer des Hauses an sie erinnerte. Für Matt stand so gut wie fest, dass der Einbrecher und der Killer ein und derselbe waren. Matt neigte zu der Ansicht, dass der Täter in diesem Fall sein Opfer kannte, wie es in Mordfällen ohnehin meistens der Fall war.
Es handelte sich also um einen stämmigen blonden Kerl mit hellblauen Augen, der knapp über eins achtzig groß war und den Carly oder Sandra oder irgendein zufälliger Passant möglicherweise ohne Verkleidung erkennen würde.
Ein weiterer Hinweis war natürlich die Verletzung, die der Mann erlitten hatte. Dass Carly sich so tapfer gewehrt hatte, nötigte Matt übrigens großen Respekt ab; er kannte nicht viele Menschen, die so zäh waren wie sie. Jedenfalls wurde in allen Krankenhäusern im Umkreis nachgefragt, ob sie vielleicht einen Mann mit einer Verletzung behandelt hatten, die eventuell von einer Glasscherbe stammte. Was das Blut betraf, das reichlich am Tatort vorhanden war, so handelte es sich um Blutgruppe Null, wie sie etwa die Hälfte der Bevölkerung hatte. Das war also keine große Hilfe, wenn es galt, einen Verdächtigen zu finden. Natürlich war es nicht ausgeschlossen, dass man mit der DNA-Analyse Erfolg hatte. Dank der Blutspur - und Billy Tynans Hunden - war es gelungen, den Platz ausfindig zu machen, wo der Kerl seinen Wagen abgestellt hatte. Matt vermutete, dass es sich um einen Wagen mit Allradantrieb handeln musste, da der Wagen an einem schwer zugänglichen Platz verborgen war. Doch in dieser Gegend gab es viele, die einen solchen Wagen hatten. Bisher war es auch nicht gelungen, einen Reifenabdruck oder sonst irgendeine brauchbare Spur zu finden.
Matts vierter Hinweis war ein Fußabdruck. Der Täter war durch die Hintertür hinausgelaufen, als Matt durch die Haustür hereinkam, aber er war auf seiner Flucht an der Vorderseite des Hauses vorbeigekommen und hatte dabei einen Eimer mit roter Farbe umgestoßen. Er war mitten in die Farbe getreten und hatte dabei einen schönen Abdruck seines Schuhs hinterlassen. Matt hatte heute gleich einen Gipsabdruck machen lassen, der sofort analysiert wurde.
Und nicht zuletzt war da auch noch ein Taschentuch. Es war ein ganz gewöhnliches weißes Taschentuch, das mit irgendeinem Betäubungsmittel getränkt war. Auf diese Weise hatte der Kerl Sandra außer Gefecht gesetzt, nachdem er sie niedergeschlagen hatte. Er hatte das Gleiche auch bei Carly versucht, wenn auch ohne Erfolg. Der Kerl hatte das Taschentuch fallen lassen, als sie sich wehrte.
Matt ließ auch das Taschentuch analysieren, um zumindest herauszubekommen, was der Täter zur Betäubung verwendet hatte. Matt hatte schon einen Verdacht, doch er wollte erst die Laborergebnisse abwarten.
Aber das Beste an dem Taschentuch war ...
Ein Schrei zerriss die nächtliche Stille, der Schrei einer Frau, der von den Wänden widerhallte und der jeden Nerv in ihm in Aufruhr versetzte. Carly. Er wusste, wer da geschrien hatte, noch bevor er von der Couch heruntersprang und die Treppe hinaufstürmte. Die Angst verlieh seinen Füßen Flügel.
Der Hund fing an laut zu bellen, was Matts Schritte noch weiter beschleunigte.
Es konnte doch nicht etwa sein, dass der Kerl es geschafft hatte, hier hereinzukommen?
Matt fiel ein, dass er keine Pistole bei sich hatte. Sein nächster Gedanke war, dass er auch keine brauchen würde. Wenn dieser Dreckskerl wirklich bei Carly war, dann würde er ihn mit seinen bloßen Händen auseinander nehmen.
Und er würde jeden Augenblick genießen.
Matt stürmte durch die Tür zu seinem Zimmer - und er sah Carly schreiend im Bett sitzen. Ihre weit aufgerissenen Augen glitzerten in dem schwachen Licht, das durch die halb geöffnete Badezimmertür hereindrang. Der verdammte Hund sprang mit wütendem Gebell auf ihn zu und versuchte ihn ins Bein zu beißen. Matt wich aus und schaltete rasch das Licht ein. »Annie! Nein!«, rief er und sah, wie die Katze durch die Luft sprang und auf seinem Lehnstuhl landete.
Das Echo des Schreis war noch nicht ganz verhallt, als er mit Sicherheit sagen konnte, dass außer Carly, den Tieren und ihm selbst niemand im Zimmer war.
»Still, Annie«, sagte er zu dem Hund, der zwar zurückgewichen war, aber immer noch bellte. Zu seiner Überraschung verstummte Annie, nachdem sie ihn offenbar als Freund erkannt hatte.
Schwer atmend stand er mitten im Zimmer und sah, dass Carly allmählich zu sich kam.
»Matt...«, sagte sie mit zittriger Stimme, als seine Schwestern ebenfalls herbeigelaufen kamen und wild durcheinander riefen.
»Matt, was ist denn los?«
»Carly, ist alles in Ordnung?«
»Ist jemand eingebrochen?«
Matt drehte sich um und schüttelte den Kopf. Seine Schwestern, die mit leichten Sommerpyjamas bekleidet waren, starrten ihn mit großen Augen und auch etwas amüsiert an. Erst jetzt merkte er, dass er in der Unterhose dastand, und er sah die drei vorwurfsvoll an.
»Es tut mir Leid. Ich hatte einen Albtraum«, sagte Carly mit leiser Stimme. Matt wusste, dass sie es zu seinen Schwestern sagte.
»Okay, ich komme allein klar. Raus hier«, forderte er die drei auf und ging entschlossen auf sie zu - doch sie grinsten ihn ziemlich unverschämt an. Matt ignorierte ihr Grinsen und schloss die Tür vor ihren Nasen. Zur Sicherheit sperrte er auch noch ab.
Seine Schwestern konnten schon eine richtige Plage sein.
Schließlich wandte er sich wieder Carly zu. Sie war kreidebleich im Gesicht, und er sah, dass sie sich immer noch nicht ganz beruhigt hatte. Ihre blonden Locken standen wild durcheinander und umgaben ihr Gesicht wie eine Löwenmähne. Ihre blauen Augen waren weit geöffnet, und ihre Lippen zitterten. Sie sah klein und verwundbar aus, wie sie so aufrecht im Bett saß, aber auch sehr weiblich in ihrem pinkfarbenen Top. Auf der Schulter hatte sie ein großes Heftpflaster und an der Hand einen weißen Verband.
All das erinnerte ihn schmerzlich daran, wie nahe sie dem Tod gewesen war.
Er schaltete das Licht aus und hörte, wie sie einen leisen Laut des Erschreckens hervorstieß. Dann ging er ins Badezimmer und schaltete auch dort das Licht aus, ehe er zu ihr ans Bett trat, die Decke wegzog und sich neben sie setzte.
Sie lehnte sich mit einem leisen wortlosen Wimmern an ihn, das ihm einen Stich ins Herz gab. Er zog das Kissen ein Stück weit zu sich, legte sich auf den Rücken und nahm sie in die Arme, worauf sie den Kopf auf seine Brust bettete.
Sie roch wieder nach seiner Seife. Es war aber ein anderer Duft als beim letzten Mal, nachdem er die Sorte gewechselt hatte, weil es doch ziemlich lästig war, jedes Mal, wenn man duschte, einen Ständer zu bekommen. Nun duftete sie nach seiner neuen Seife, die er vermutlich ebenfalls bald gegen eine andere würde austauschen müssen.
»Erzählst du mir, was es war?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.
Sie erschauderte.
»Okay«, sagte er, während er nur allzu deutlich ihre warmen weichen Kurven spürte. Doch die Frau, die da bei ihm lag, war Carly - und sie war verängstigt und brauchte ihn, also kam es überhaupt nicht in Frage, jetzt auch nur an Sex zu denken, jedenfalls nicht heute Nacht. »Dann machen wir einfach ein Ratespiel daraus. War es einer der alten Albträume oder ein ganz neuer?«
»Es waren die Augen«, sagte sie mit einem Schaudern. »Ich habe von seinen Augen geträumt. Sie haben mich angestarrt. Und dann habe ich von dem Heim geträumt.«
Matt begriff sofort, dass sie die Augen des Kerls meinte, der sie angefallen hatte. Er drückte sie unwillkürlich etwas fester an sich, und sie schmiegte sich noch enger an ihn. Er vergaß immer, wie klein sie eigentlich war, doch wenn er sie so nahe wie jetzt bei sich spürte, konnte ihm ihre Größe unmöglich entgehen. Ihre Füße reichten nur bis zur Mitte seiner Waden hinunter, und es kam ihm so vor, als hätte sie überhaupt kein Gewicht; alles was er spürte, waren ihre Rundungen, ihre Wärme und ihre üppige Weiblichkeit...
Nein, vergiss das.
»Du hast mir nie etwas von dem Heim erzählt. Du warst ja nicht lange dort, nicht wahr? Eine Woche? Oder zwei?« Er fragte nach dem Heim, weil er dachte, dass ihr das vielleicht angenehmer war, als an den Bastard zu denken. Allein die Vorstellung, dass Carly irgendjemandem hilflos ausgeliefert war, der viel größer und stärker war als sie, ließ ihn in Gedanken zum Mörder werden. Wenn es nach ihm ging, so sollte sie am besten gar nicht mehr an die Sache denken.
»Acht Tage.«
»Aber was ist da passiert, dass du nach so vielen Jahren immer noch Albträume davon hast? Haben sie dich schlecht behandelt? Oder gar misshandelt?«
Er spürte, wie Carly den Kopf schüttelte und sich der Griff ihrer Hand an seiner Schulter verstärkte. Man konnte nicht sagen, dass sie ihn umarmte - es war eher so, als würde sie sich in großer Bedrängnis an ihn klammern.
»Curls?«, fragte er. Er nannte sie absichtlich so, wie um sich selbst daran zu erinnern, dass sie wie ein alter Kumpel für ihn war, das Mädchen, das ihm einst in ihrer Kindheit überallhin nachgelaufen war. Am Anfang war sie ihm ziemlich lästig gewesen, doch auch später, als er den kleinen Quälgeist lieb gewonnen hatte, wäre es ihm nicht im Traum eingefallen, dass er eines Tages neben ihr liegen und sich geradezu nach ihr verzehren könnte.
»Sie waren recht nett zu mir«, sagte sie mit zittriger Stimme und schmiegte sich noch enger an ihn. »Aber ich hatte Angst. Ich war erst acht Jahre alt und vermisste meine Mutter so sehr. Und ich hatte ja keine Ahnung, warum sie mich von unserer Nachbarin weggebracht hatten, die ja auf mich aufpassen sollte, bis meine Mutter zurückkam. Und es hat sich auch niemand die Mühe gemacht, es mir zu erklären. Wahrscheinlich haben sie gedacht, ich wäre noch zu jung, um es zu verstehen. Aber es war nicht so schlimm in dem Heim, es gab genug zu essen, jeder hatte sein eigenes Bett und einen kleinen Schrank für seine Sachen - nicht dass ich viel gehabt hätte und wir durften auch hinausgehen. Da war ein großer Garten hinter dem Haus, und ein Schuppen und ein paar Tiere. Sie hatten sogar einen Esel, der hat andauernd IA gemacht.«
Sie hielt inne und holte tief Luft.
»Dann wurde ich krank, und sie brachten mich ins Krankenhaus. Die Albträume handeln immer vom Krankenhaus.«
Sie hielt erneut inne. Matt spürte, wie sie zitterte.
»He«, sagte er und tätschelte tröstend ihren Rücken. Zumindest hatte er sie nur trösten wollen - doch ihre seidenweiche Haut erinnerte ihn unwillkürlich an andere Stellen, die sich noch weicher anfühlten. »Ich bin ja bei dir. Hier kann dir nichts passieren. Erzähl mir vom Krankenhaus.«
Sie rieb ihre Wange an seiner Brust. Matt spürte die feuchte Wärme ihres Atems an seiner Brustwarze und biss die Zähne zusammen. Carly brauchte ihn, sagte er sich, aber nicht, damit er mit ihr schlief. Sie brauchte jemanden, auf den sie sich verlassen konnte und der ihr ein Gefühl von Sicherheit gab. Dafür war er hier bei ihr. Es wurde ihm bewusst, dass sie im Grunde niemanden hatte außer ihm.
»Es war eine Art Schlafsaal, aber nicht besonders groß. Wir waren zu viert da drin. Die anderen waren alle älter als ich, und zwei der Mädchen waren ziemlich wild, und ich hatte ein wenig Angst vor ihnen. Sie beachteten mich kaum, ich war ihnen wahrscheinlich zu klein -, aber ich hörte ihnen bei ihren Gesprächen zu. Wir hatten Etagenbetten mit Eisenfedern, die jedes Mal quietschten, wenn man sich bewegte. Ich hatte eines der oberen Betten.«
Sie hielt inne, und Matt ließ ihr etwas Zeit. »Okay«, sagte er schließlich, »du hast oben gelegen* Was war weiter?«
Carly holte tief Luft. »Ich weiß es nicht genau. Ich erinnere mich nur, dass ich da oben im Dunkeln lag und die Betten quietschen hörte. Davon handeln meine Träume immer. Ich liege immer im Dunkeln und höre ein Bett quietschen.« Sie zitterte. »Ich weiß auch nicht, warum mir das solche Angst macht. Vielleicht habe ich damals zum ersten Mal so richtig Angst bekommen, dass meine Mutter nicht mehr zurückkommen könnte. Wenn man acht Jahre alt ist, gibt es wohl kaum etwas, das einem mehr Angst machen kann.«
Ihre Mutter war tatsächlich nicht zurückgekommen, dachte Matt grimmig. Soviel er wusste, hatte Carly sie nie wiedergesehen. Sie starb irgendwo in Kalifornien, als Carly noch ein Teenager war. Matt erinnerte sich, dass Carly und ihre Großmutter zur Beerdigung flogen und dass Carly danach für einige Wochen sehr still und in sich gekehrt war. Es war gerade Sommer, und er machte sich damals solche Sorgen um das kleine Großmaul, dass er oft mitten in der Nacht zu ihrem Fenster hinaufkletterte, um sie zu kleinen nächtlichen Abenteuern zu verleiten und sie ein wenig aufzuheitern. Wenn ihre Großmutter davon gewusst hätte, wäre es Carly wohl schlecht ergangen. Doch als die Schule wieder begann, war Carly schon wieder ganz die Alte.
»He«, sagte er, um sie ein wenig aufzuheitern. »Weißt du noch, wie du damals von dem hohen Baum unten am Bach gefallen bist und dir die Hand gebrochen hast?«
»Nur weil du gesagt hast, dass da eine Schlange auf dem Baum ist und dass ich schnell hinunterklettern soll, damit sie mir nicht ins Hemd kriecht, weil Schlangen von der Wärme angezogen werden. Ja, ich erinnere mich noch gut«, sagte sie heiter und ein wenig vorwurfsvoll.
»Ich war damals dreizehn«, wandte er ein. »Ich hatte ein Fort da oben auf dem Baum, und du warst ein lästiges kleines Mädchen. Dreizehnjährige Jungs lassen lästige kleine Mädchen nun mal nicht gern in die Nähe ihrer Forts.«
»Dann hast du mich nach Hause gebracht und meiner Großmutter gesagt, dass ich mir die Hand gebrochen hätte, weil ich im Garten über eine Wurzel gestolpert wäre.«
Matt lächelte. »Sie hat es nicht so gern gesehen, dass du mit mir im Wald warst, nicht wahr? Und es gefiel ihr auch nicht, dass du auf Bäume geklettert bist. Ich dachte mir, das Mindeste, was ich tun kann, nachdem du wegen mir vom Baum gefallen warst, ist, dass ich dafür sorge, dass du keinen Ärger bekommst.«
Sie lächelte; Matt spürte, wie sich ihre Gesichtsmuskeln an seiner Brust bewegten. Sie fühlte sich jetzt sehr entspannt an, und auch sehr warm und weich. Es war ihm nur allzu bewusst, dass er fast nackt war und dass sie auch nicht viel mehr anhatte, und dass sie eine Frau war und ...
Sie gähnte. »Ich bin so unglaublich müde.«
Das war also die Wirkung, die er auf sie hatte. »Dann solltest du schlafen.«
»Matt.« Sie ließ ihre Hand nach unten gleiten und knapp über seiner Taille ruhen, was ihn alles andere als kalt ließ.
»Hmm?«
»Danke.«
»Wofür?«
»Dass du mir gestern Nacht das Leben gerettet hast. Und für das hier. Dass du hier bist. Ich habe keine Angst mehr, wenn du da bist, und ich habe es so satt, Angst zu haben.«
»Kein Problem.« Obwohl es eigentlich schon ein gewisses Problem war - denn er wollte sie so sehr, dass er sich Carly als lästiges kleines Mädchen vorstellen musste, damit er nicht in Gefahr geriet, sie an sich zu drücken und ...
»Du gehst nicht weg, oder? Kannst du nicht heute Nacht hier bei mir schlafen?«, sagte sie schläfrig.
»Ja, ich kann heute Nacht hier sthlafen«, sagte er ein klein wenig mürrisch. Schlafen war nicht gerade das, an was er jetzt dachte, aber für sie ... »Ich bin heute dein ganz persönlicher Teddybär.«
Er spürte, wie sie wieder lächelte.
»Das gefällt mir«, sagte sie und gähnte herzhaft. »Gute Nacht, Matt.«
»Gute Nacht.«
Wenige Sekunden später hörte er ein leises Schnarchen und stellte fest, dass sie schlief. Er verzog das Gesicht und starrte frustriert zur Decke hinauf. Das war so, wie wenn man mit einem Kind in einen Süßwarenladen ging und ihm dann sagte, dass man ihm nichts kaufen würde. Einfach grausam. Aber wenigstens war sein Bett etwas bequemer als die Couch. Obwohl Carly praktisch auf ihm lag und er einen Ständer hatte wie noch nie in seinem Leben, fühlte er sich wohler als vorher. Er war sogar schon nahe daran, selbst einzuschlafen, als die verdammte Katze auf das Bett sprang und sich direkt neben seinen Kopf legte. Er schob sie weg. Sie kam zurück. Er schob sie wieder weg. Sie kam zurück. Das Ganze ging so lange hin und her, bis er es aufgab und die Katze ihren Willen bekam. So lag er noch eine ganze Weile da und hörte sich an, wie Carly ihm in das eine Ohr schnarchte, während die Katze ihn an seinem anderen Ohr mit ihrem Schnurren quälte, bis er endlich auch einschlafen konnte.
Es geht nichts über das traute Beisammensein in den eigenen vier Wänden, war sein letzter Gedanke, ehe er in den Schlaf hinüberglitt. Er hatte jedenfalls das Gefühl, dass es irgendwo da oben im Universum jemanden gab, der sich köstlich auf seine Kosten amüsierte.
Als er am nächsten Morgen sein Zimmer verließ, ging es genauso spaßig weiter. Alle drei Schwestern saßen bei Tisch in der Küche, wohin er sich einerseits aus reiner Gewohnheit, andererseits von dem verlockenden Kaffeeduft angezogen begeben hatte. Er hatte geduscht, sich rasiert und seine Uniform angezogen, ohne Carly oder die Katze aufzuwecken, die immer noch neben seinem Kissen schlummerte. Nur der Hund ging mit ihm hinunter. Er brummte ein »Guten Morgen«, während die Mädchen mit ihrem Tratsch innehielten und ihn auf eine Weise ansahen, dass er gleich wusste, worüber sie gesprochen hatten. Er ging quer durch die Küche und ließ Annie in den Garten hinaus. Dann drehte er sich resigniert um und stellte sich den neugierigen Blicken, die auf ihn gerichtet waren.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte Erin gut gelaunt.
»Okay«, sagte er, entschlossen, die Sache hier und jetzt aus der Welt zu schaffen, während er zur Kaffeemaschine hinüberging. »Carly hatte einen Albtraum. Sie hat Angst gehabt. Ich bin bei ihr geblieben. Ende der Geschichte.«
Er wusste, dass sie sich damit noch lange nicht zufrieden gaben.
»Wie steht es eigentlich mit deiner Regel - du weißt schon: >Kein Sex unter meinem Dach<?«, fragte Lissa grinsend.
»Wir hatten keinen ... Moment, ich werde ganz sicher nicht mit meinen Schwestern über mein Liebesleben reden«, sagte Matt mit einem vorwurfsvollen Blick und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Und die Regel gilt immer noch.«
»Sie ist süß, Matt«, sagte Dani. »Ich würde sogar sagen: Ihr zwei zusammen seid süß.«
»Moment mal«, wandte Matt empört ein. »Sie ist eine gute Freundin.«
»Sieh den Tatsachen ins Auge, großer Bruder: Du bist verliebt«, sagte Erin grinsend. Der Gedanke ließ Matt das Blut in den Adern gefrieren. Nein, nie im Leben. So etwas war einfach undenkbar.
»Wurde aber auch Zeit«, warf Dani ein.
»Würdet ihr vielleicht endlich mal damit aufhören?«, fragte er ein wenig gereizt, weil die dref wieder einmal etwas zusammenfantasierten, das absolut nicht der Wirklichkeit entsprach. Was wussten sie schon von ihm und von der Liebe? Nichts. Sie waren junge Mädchen und sahen in jedem Kuss gleich die große Liebe. Mit diesem beruhigenden Gedanken nahm Matt einen Schluck Kaffee und hätte sich beinahe daran verschluckt, weil er irgendwie abartig nach Vanille schmeckte. »Himmel, wer hat denn den Kaffee gemacht?« »Ich«, antwortete Erin. »Es ist eine Spezialmischung. Collin mag Gourmet-Kaffees.«
Ihre drei Geschwister verdrehten gleichzeitig die Augen.
»He, Matt, du siehst wirklich heiß aus in der Unterwäsche«, sagte Lissa und kicherte. Die beiden anderen nickten grinsend.
»Okay«, sagte Matt, stellte seine Tasse ab und sah die drei Quälgeister mit festem Blick an. »Jetzt ist es aber genug.«
»Nur damit du's weißt«, sagte Dani und bemühte sich, ernst dreinzublicken, während sie ein schelmisches Funkeln in den Augen hatte. »Mädchen stehen mehr auf Boxershorts.«
»Müsst ihr drei nicht vielleicht irgendwohin?«, fragte Matt und goss den Rest seines Kaffees in die Spüle.
»Heute ist Sonntag. Kirchgang.«
»Oh, ja.« Nun fiel Matt auf, dass sie Kleider und Stöckelschuhe trugen, was bei ihnen entweder einen heißen Samstag Abend oder Kirchgang bedeutete. Nein, bei den züchtigen Kleidern, die sie anhatten, kam eigentlich nur die Kirche in Betracht. »Na«, fragte er, zu Erin gewandt, »wo ist eigentlich dein Loverboy?«
»Falls du Collin meinst, er wird gleich hier sein«, sagte Erin würdevoll.
»Was ist mit den beiden anderen Quälgeistern?«
»Er meint Andy und Craig«, sagte Dani, zu Lissa gewandt. Matt stellte fest, dass sie nicht besonders beleidigt klang - vielleicht, weil die Beschreibung nicht ganz falsch war. Bestimmt wäre ihm auch für Collin noch ein etwas passenderer Ausdruck eingefallen, wenn er sich bemüht hätte.
»Er will doch nur das Thema wechseln. Aber das funktioniert nicht«, sagte Lissa und wandte sich wieder Matt zu. »Wir wollen lieber über dich und Carly reden.«
»Das geht euch nichts an«, entgegnete Matt und goss den Inhalt der Kaffeekanne in die Spüle.
»He, der war für Collin«, protestierte Erin. »Er wird gleich hier sein.« »Er kann froh sein, dass ich die Brühe weggeschüttet habe.«
»Wir haben abgestimmt«, sagte Dani. »Über dich und Carly. Wir sind einverstanden.«
»Na, da bin ich aber froh«, sagte Matt und drehte den Wasserhahn auf, um die Kanne auszuspülen und außerdem mit dem Rauschen den Chor der Frauenstimmen zu übertönen.
»Dir ist aber schon klar, dass du da ein kleines Problemchen hast«, sagte Erin, nachdem er das Wasser abgedreht hatte. »Shelby wird auch gleich hier sein. Sie geht mit uns in die Kirche.«
»Scheiße«, knurrte Matt und stellte sich vor, dass Carly vielleicht noch rechtzeitig herunterkam, um der fröhlichen Runde zu begegnen. »Kannst du nicht jemand anders als ausgerechnet Shelbys Bruder heiraten?«
»Ich könnte schon«, sagte Erin, als Matt zur Tür ging, sie öffnete und nach Annie pfiff. Zu seiner Erleichterung kam der Hund tatsächlich hereingelaufen. »Aber warum?«
»Vielleicht weil Collin ein Arschloch ist?«, fragte Dani in neckendem Ton.
»Ist er nicht!«, erwiderte Erin wütend.
»Doch«, warf Lissa ein und verzog das Gesicht. »Ist er schon.«
»Matt...«, wandte sich Erin flehentlich an ihren Bruder.
»Mich geht das nichts an, Ladys. Solange ich keine rosa Fliege zur Hochzeit tragen muss, kann Erin diesen Collin von mir aus gern heiraten.« Er sah draußen Mike Toler kommen, der heute Morgen die Wache bei Carly übernahm, und winkte ihn herein. »Selbst wenn er ein Arschloch ist.«
»Wer?«, fragte Mike neugierig.
»Die Mädchen werden es dir erklären«, sagte Matt, winkte Erin spöttisch zu und ging zur Arbeit.
Und den ganzen Tag ging ihm ein altes Lied nicht aus dem Kopf, in dem von love and marriage und von horse and carriage die Rede war - von Dingen, die angeblich untrennbar zusammengehörten ...