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20. Juni

»Ich werd nicht mit so 'nem verlausten Köter unter einem Dach leben, also schaff ihn gefälligst hier raus!«

Der »Köter« kauerte sich ängstlich an ihre Beine. Marsha Hughes hob ihn hoch und wich langsam einen Schritt zurück. Sie war froh, dass Keith in der Tür zur Küche stand und nicht zwischen ihr und der Wohnungstür. Sie kannte diesen Ton genau. Sie kannte auch den Ausdruck auf seinem geröteten Gesicht. Sie wusste, was als Nächstes kam, nachdem sich seine kräftigen Arme strafften und seine fleischigen Hände zu Fäusten ballten. Das Tier, ein streunender Hund, den sie bei dem Müllcontainer hinter dem baufälligen Haus, in dem sie lebten, aufgelesen hatte, schien das auch zu spüren. In ihren schützenden Armen kauernd, ließ er Keith nicht aus den Augen und begann schließlich am ganzen Leib zu zittern.

»Okay, okay«, sagte Marsha beschwichtigend zu Keith und drückte den zitternden Hund noch etwas fester an sich. Er war vielleicht nichts Besonderes, und es lohnte sich nicht, Keith deswegen zu erzürnen - doch sie würde tun, was sie konnte, um zu verhindern, dass er dem Tier wehtat. Der Hund hatte irgendetwas an sich, das sie rührte. Er war nicht viel größer als eine Katze - ein mageres, schmutziges und verwahrlostes Tier, ein Weibchen mit dunklen Augen in einem fuchsähnlichen Gesicht, mit großen, aufgerichteten Ohren, einem kurzhaarigen mattschwarzen Fell mit einem weißen Fleck auf der Brust und einem buschigen Schwanz. Er war kein schöner Hund, aber sie hatte ihn gleich süß gefunden, als er zu ihr kam, nachdem sie nur mit dem Finger geschnippt hatte. Er hatte sich von ihr in den Arm nehmen und ins Haus tragen lassen, und er hatte dankbar ihre Hand geleckt, als sie ihm Wurst und Käse zu fressen gab; mehr hatte sie nicht im Kühlschrank gehabt, weil es Donnerstag Abend war und sowohl sie als auch Keith ihr Geld erst am Freitag bekamen. In den Stunden, die sie mit ckm Tier allein war, nachdem sie von ihrem Job als Kassiererin im Winn-Dixie-Supermarkt nach Hause gekommen war, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, dass sie den Hund vielleicht behalten könnte - bis Keith dann von seiner Arbeit im Honda-Werk heimkehrte und sofort einen Wutanfall bekam, als er das Tier sah. Wenn Keith abends nicht zu Hause war, wäre es schön gewesen, den Hund bei sich zu haben. Sie würde mit ihm reden und sich um ihn kümmern können, und vielleicht würde er ihr richtig ans Herz wachsen.

Eigentlich war es traurig, dass sie einen streunenden Hund brauchte, um etwas Liebe in ihr Leben zu bringen - aber wenn sich die Dinge für sie nun einmal so entwickelt hatten, dann musste man der Wahrheit ins Auge sehen. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, hatte rotes Haar und eine recht gute Figur, doch in ihrem Gesicht zeigten sich bereits erste Spuren des Älterwerdens. Es kam nicht mehr oft vor, dass sich ein Mann nach ihr umdrehte. Neulich in einer Rite-Aid-Drogerie hatte sie mit dem alerten jungen Mann geflirtet, der sie bediente. Er war ausgesprochen freundlich, doch als er dann »Ma'am« zu ihr sagte, bevor sie ging, da begriff sie sofort, dass er kein Interesse hatte. Die nackte Wahrheit war, dass ihre besten Jahre langsam der Vergangenheit angehörten, nachdem sie zwei Scheidungen hinter sich hatte und nicht mehr viel Nennenswertes vor sich - abgesehen von einem Leben mit diesem gut aussehenden, aber jähzornigen Mann und ihrem langweiligen Job.

»Also dann, weg mit dem Mistvieh«, sagte Keith in drohendem Ton und mit einem Blick, der ihr sagte, dass dunkle Gewitterwolken heraufzogen. Ihr Mund wurde trocken, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Wenn Keith gut aufgelegt war, dann konnte man wirklich gut mit ihm auskommen - wenn aber seine Stimmung umschlug, dann konnte er einem richtig Angst machen.

»Okay«, sagte sie noch einmal und ging zur Tür. Keith schien vorerst besänftigt und ging in die Küche. Erleichtert drückte Marsha den Hund noch etwas fester an sich, als sich die Küchentür hinter Keith schloss.

Der Hund leckte ihr übers Kinn.

»Tut mir Leid, Schätzchen«, flüsterte sie ihm bedauernd ins Ohr. »Aber du siehst ja, wie die Dinge stehen. Du musst wieder gehen.«

Der Hund winselte traurig, so als würde er verstehen, was sie ihm sagte, und es ihr nicht übel nehmen. Sie tätschelte ihn zärtlich. Er war ein süßer kleiner Kerl, um den es ihr wirklich Leid tat.

Plötzlich hörte sie Keiths Stimme aus der Küche. »Verdammt!«, stieß er hervor und fügte etwas lauter hinzu: »Wo, zum Teufel, ist die Wurst hingekommen?«

Sie hätte sich beinahe in die Hose gemacht vor Angst. Genau wie sie befürchtet hatte, suchte er nach einem Vörwand, um seine miese Laune doch noch an ihr auszulassen. Jetzt war er wahrhaftig in Rage. Und wie jedes Mal, wenn er derart geladen war, schien irgendetwas, das sie getan hatte, schuld daran zu sein. Diesmal war es wohl wegen der Wurst.

Die Kühlschranktür ging krachend zu.

Bei Marsha läuteten alle Alarmglocken. Sie schnappte ihre Handtasche, die unter dem Couchtisch lag, und lief rasch durch die Wohnungstür auf den Gang hinaus, als er auch schon ins Wohnzimmer gestürmt kam.

»Wo ist die Wurst, verdammt noch mal?«, brüllte er so laut, dass sie es nur allzu deutlich hören konnte, nachdem sie die Wohnungstür in ihrer Eile offen gelassen hatte. Als sie zur Treppe gelangte, kam er bereits auf den Gang hinaus.

»Ich weiß es nicht«, rief sie zurück, während sie mit lautem Geklapper die Eisentreppe hinuntereilte.

»Was heißt das - du weißt es nicht? Das ist doch Unsinn! Die Wurst war im Kühlschrank, als ich zur Arbeit fuhr, und jetzt ist sie weg. Da soll ich dir glauben, dass du nicht weißt, wo sie ist?« Er beugte sich über das Geländer und starrte mit zorngerötetem Gesicht auf sie hinunter.

»Ich gehe gleich in den Laden und hol noch etwas Wurst, okay?«, schlug sie atemlos vor, als sie den Hausflur erreichte. Mit dem Hund und der Handtasche in den Händen öffnete sie mit einiger Mühe die schwere Eisentür, die zum Parkplatz hinausführte. Die Handtasche brauchte sie unbedingt, weil ihre Auto-schlüssel darin waren. Den Hund hätte sie nicht unbedingt mitnehmen müssen - aber wenn sie ihn zurückließ, würde Keith seine Wut an ihm auslassen. Sie kannte Keith. Wenn er ausrastete, konnte er ziemlich gemein sein.

»Was hast du damit gemacht?«, rief er ihr nach. »Du magst doch gar keine Wurst. Hast du sie vielleicht dem Hund gegeben?«

Nein, sie konnte den Hund nicht zurücklassen. Als sie sich ängstlich umblickte, während sie die Tür aufriss, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Keith stand nicht mehr oben am Geländer, sondern eilte mit großen Schritten auf die Treppe zu. Obwohl ihr von ihrer überstürzten Flucht warm geworden war, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie in die Nacht hinauslief.

»Du hast es getan, gib's zu! Du hast die Wurst diesem verdammten Hund gegeben!«

Er war hinter ihr her. Ihr Herz schlug vor Angst wild in ihrer Brust. Er war jetzt wirklich geladen. Wenn er sie erwischte, würde er sie windelweich prügeln.

O Gott, bitte lass ihn mich nicht erwischen.

Sie verlor eine Sandale, als sie quer über den Parkplatz zu ihrem Wagen lief, einem acht Jahre alten Ford Taurus mit kaputter Klimaanlage, einem Seitenfenster, das sich nicht mehr schließen ließ, und 127.264 Meilen auf dem Buckel. Ohne stehen zu bleiben, befreite sie sich fluchend auch von der zweiten Sandale. Obwohl es erst der zwanzigste Juni war, herrschte bereits eine Gluthitze, und der Asphalt brannte unter ihren Fußsohlen. Nachdem sie auf dem Heimweg mit schlechtem Gewissen einen Hamburger mit Pommes verdrückt hatte, hatte sie den Wagen gleich neben dem Müllcontainer geparkt, damit sie die verräterische Verpackung beseitigen konnte, bevor Keith sie entdeckte. Keith mochte es nicht, wenn sie Fast Food aß. Er meinte, sie würde davon dick werden.

Der Müllcontainer stand ganz hinten auf dem Parkplatz. Sie musste durch drei Wagenreihen hindurchlaufen, um zu ihrem Taurus zu gelangen. Wenn Keith sie erwischte, wäre nur dieser verdammte Hamburger daran schuld.

Keith sagte oft zu ihr, dass sie sich eine Menge Ärger ersparen würde, wenn sie immer das täte, was er sagte.

Plötzlich kam ihr ein völlig neuer Gedanke: Vielleicht hatte sie ganz einfach genug von Keith.

»Wir haben's gleich geschafft, Liebling«, sagte sie atemlos zu dem Hund, riss die Autotür auf und ließ den Hund auf den Beifahrersitz hüpfen, während sie sich hinter das Lenkrad setzte. Sie trug heute ihre abgeschnittenen Jeans-Shorts, so dass der schwarze Vinylsitz heiß an ihren Oberschenkeln brannte. In der immer noch drückenden Hitze im Wagen roch es nach Hamburger und Pommes. Sie steckte den Autoschlüssel ins Zünd-schloss und blickte sich noch einmal um. Keith kam raschen Schrittes aus dem Haus geeilt; vor dem gedämpften Licht des Hausflurs wirkte sein Bodybuilder-Körper noch imposanter als sonst.

»Marsha! Komm sofort zurück!«

Für wie dumm hielt er sie eigentlich? Nein, auf keinen Fall würde sie jetzt zu ihm zurückgehen. Ihr Puls raste, als sie den Rückwärtsgang einlegte und den Wagen einige Meter zurücksetzte. Sie trat aufs Bremspedal und blickte sich erneut nach Keith um, der mittlerweile im Laufschritt auf sie zukam. Großer Gott, er sah aus, als wollte er sie umbringen. Keith ist völlig übergeschnappt, ging es ihr in ihrer Panik durch den Kopf, völlig übergeschnappt. Das kam vielleicht auch von den Anabolika, die er nahm, damit sich seine Muskeln schneller entwickelten. Jedenfalls war er nicht mehr er selbst, wenn er einen solchen Anfall bekam.

Er war nun schon irgendwo zwischen den parkenden Autos, als sie den ersten Gang einlegte. Sie trat aufs Gaspedal, als er auch schon zwischen zwei Wagen auftauchte. Er war höchstens zwei Meter von ihr entfernt. Ihre Blicke trafen sich einen beängstigenden Augenblick lang durch die Windschutzscheibe -dann schoss der Taurus an ihm vorüber.

»Du kommst auf der Stelle zurück, du Miststück!«

Sie warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und sah, wie er in ohnmächtigem Zorn dastand und drohend die Fäuste schüttelte. Der Typ ist absolut durchgeknallt, dachte sie, als sie scharf nach links abbog und von dem Parkplatz auf die Straße fuhr, die nach Benton führte. Gott sei Dank konnte er ihr nicht folgen; sein Pick-up stand gerade in der Werkstatt.

Sie brauchte einige Minuten, um sich einigermaßen zu beruhigen. Als ihr Herzschlag wieder annähernd normal war, wuss-te sie bereits, was sie tun würde: Sie würde bei ihrer Freundin Sue übernachten. Marsha warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war spät, fast schon Mitternacht, doch Sue, die wie Keith in der Nachmittagsschicht im Honda-Werk arbeitete, würde bestimmt noch auf sein. Sie war verheiratet, hatte drei Kinder und lebte mit ihrer Familie am anderen Ende der Stadt. Sues Familie wohnte ohnehin schon ziemlich beengt - doch Marsha war sich sicher, dass Sue sie trotzdem bei sich übernachten ließ. Morgen würde sie dann überlegen, welche anderen Möglichkeiten es gab.

Sie war sich jetzt ganz sicher, dass sie nicht zu Keith zurückgehen würde. Nicht heute Abend, und auch nicht morgen. Vielleicht überhaupt nie mehr. Auf mich kannst du lange warten, sagte sie in Gedanken zu Keith. Es war ein gutes Gefühl, einmal ganz dem eigenen Willen zu folgen.

Der Hund gab ein leises Winseln von sich. Marsha wandte sich ihm zu und sah, dass er artig auf dem Beifahrersitz saß und ängstlich zu ihr aufblickte.

»Ist ja gut«, sagte sie und streckte die Hand aus, um seinen kleinen Kopf zu streicheln. »Es wird alles gut, du wirst schon sehen.«

Der Hund leckte ihr über das Handgelenk, als sie die Hand von ihm wegnahm. Mit einem Mal fühlte sich Marsha viel wohler in ihrer Haut. Wenn sie nicht zu Keith zurückging, dann bedeutete das, dass sie den Hund behalten konnte. Es würde nicht leicht werden, aber wenn sie eisern sparte, konnte sie vielleicht eine eigene Wohnung mieten. Sie hatte außerdem noch einen Geheimplan, wie sie zu Geld kommen konnte, wenngleich die Sache ziemlich unsicher war. Wenn daraus nichts werden sollte, konnte sie immer noch abends als Kellnerin arbeiten, um etwas dazuzuverdienen. Auf diese Weise würde es irgendwie reichen, dass sie und der Hund genug zu essen hatten und sie auch noch regelmäßig die Miete bezahlen konnte. Die Mühe lohnte sich jedenfalls, wenn sie dafür Keith los wurde. Ab jetzt brauchte sie ihren Hamburger nicht mehr heimlich zu essen. Sie musste sich nicht mehr mit Bangen fragen, wann seine Stimmung das nächste Mal umschlug, und sie brauchte sich von ihm auch nicht länger belehren zu lassen. Damit war es nun endgültig vorbei.

Wie ein leerer vierspuriger Highway taten sich mit einem Mal allerlei verlockende Möglichkeiten vor ihr auf.

»Ja, so werde ich es machen«, sagte sie zu dem Hund, und ihr war mit einem Mal fast fröhlich zumute. Der Hund sah sie mit leuchtenden Augen an. Sie wusste, es war unsinnig, doch es kam ihr fast so vor, als würde das Tier sie verstehen. »Nein, Schätzchen, wir werden es so maxien«, verbesserte sie sich.

Sie war nur noch wenige Minuten von Sues Haus entfernt, als sie die grellen Lichter eines Geschäfts sah; es war einer der beiden Läden in Benton, die die ganze Nacht über geöffnet hatten. Ihr Kreditkartenlimit war so gut wie ausgeschöpft, doch sie hatte vorige Woche fünfzig Dollar eingezahlt, so dass sie zumindest so viel Kredit haben sollte, dachte sie, als sie zum Parkplatz einbog. Sie konnte sich ein paar Dinge besorgen, die sie morgen früh brauchen würde, wie zum Beispiel eine Zahnbürste und eine Feuchtigkeitscreme. Mit den Kleidern würde es ein Problem geben - sie konnte ja nicht gut in Shorts und einem Top zur Arbeit gehen -, doch vielleicht wäre es ohnehin am besten, wenn sie sich morgen krank melden würde. Morgen würde Keith noch wütender sein als heute, weil sie die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war. Wahrscheinlich würde er nach ihr suchen. Und wo würde er beginnen? Dort, wo sie arbeitete.

Zufrieden mit sich selbst, weil sie so vorausblickend war und sich Keith dadurch vom Leib halten würde, stellte sie den Wagen ab, stieg aus und schickte sich an, in den Laden zu gehen. Der Hund verfolgte mit besorgter Miene jede ihrer Bewegungen. Schließlich stellte er sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf das offene Fenster. Er wollte offensichtlich nicht allein im Wagen bleiben.

»Du wartest hier«, sagte Marsha eindringlich.

Der Hund sprang graziös wie eine Balletttänzerin aus dem Wagen.

»Schlimmer Hund.« Ein Glück, dass sie keine Kinder hatte, dachte Marsha. Sie konnte nicht einmal streng genug sein, um einen Hund im Zaum zu halten. Er kam auf sie zugelaufen und kauerte zu ihren Füßen nieder. Sie blickte einen Moment lang stirnrunzelnd zu ihm hinunter, dann seufzte sie und hob ihn hoch. Er war federleicht und warm und offensichtlich überaus dankbar. Wahrscheinlich wäre er ohnehin nicht im Auto geblieben, da sich das Fenster nicht schließen ließ. Wenn sie ihn allein zurückließ, würde er womöglich weglaufen oder - noch schlimmer - ein Auto würde ihn überfahren. Sie staunte, wie schlimm ihr diese Vorstellung erschien. Es war für sie jetzt schon so, als wäre es ihr Hund.

In dem Laden waren Hunde nicht erlaubt. Außerdem durfte man ihn nicht barfuß betreten. Sie verstieß gleich gegen beide Regeln und ging trotzdem hinein. Was sollten sie schon machen, dachte sie mit ihrem kurz zuvor erwachten Selbstbewusst-sein. Vielleicht die Polizei rufen?

Sie nahm eine Tube Zahnpasta, eine Feuchtigkeitscreme, eine Schachtel Hundefutter und an der Kasse auch noch eine Packung Twinkies. Jetzt, ohne Keith, konnte sie schließlich essen, was sie wollte, und sie hatte nun einmal eine Schwäche für Twinkies. Der Verkäufer, ein junger Bursche mit drei Ringen in einem Ohr sowie einem Zungenpiercing, nahm ihre Kreditkarte, ohne ein Wort über den Hund oder ihre nackten Füße zu verlieren, die, wie sie mit einem kurzen Blick nach unten feststellte, ziemlich schmutzig waren, so dass sie die Zehen verlegen auf den kalten Fliesen einzog. Sie konnte nur hoffen, dass die Frau hinter ihr so aufmerksam die Zeitungsschlagzeilen las, dass sie es nicht bemerkte.

»Darf's noch ein Lotterielos sein?«, fragte der junge Mann an der Kasse.

»Nein«, antwortete sie. Es hatte ohnehin keinen Zweck. Sie würde ja doch nichts gewinnen. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie etwas gewonnen, nicht einmal ein Stofftier auf dem Jahrmarkt. Wie hieß es doch so schön in der Fernsehwerbung? Irgendjemand gewinnt bestimmt - doch so sicher wie die Erde rund war, würde es nicht sie sein. Sie musste für ihr Geld hart arbeiten.

»Ich habe gehört, irgendjemand in Macon hat vorige Woche im LottoSouth gewonnen«^ sagte die Frau hinter ihr und streichelte den Hund, der dankbar mit dem Schwanz wedelte. »Vierundzwanzig Millionen.«

»Ja, das habe ich auch gehört. Muss ein angenehmes Gefühl sein.« Und ob sie davon gehört hatte. Sie hatte es von ihrer Freundin Jeanine erfahren, deren Schwester in Macon lebte und in dem Laden arbeitete, wo der Gewinner seinen Lottoschein abgegeben hatte. Marsha hatte daraufhin den Hörer aufgelegt und war auf die Toilette gelaufen, um sich zu übergeben. Das Leben war manchmal so ungerecht, dass es wehtat - aber das war ja nichts Neues. Sie lächelte der Frau zu, die das Lächeln erwiderte. Der Verkäufer gab Marsha ihre Kreditkarte zurück. Sie steckte sie in ihre Handtasche, nahm ihre Einkaufstüte und ging in die warme Nacht hinaus. Es war nicht ungewöhnlich, dass nur zwei andere Autos neben ihrem Taurus auf dem Parkplatz standen. Es war, als würde ganz Benton um diese Tageszeit schlafen.

In dieser Hinsicht war dieses Städtchen so wie sie selbst. Ihr begann eben erst bewusst zu werden, dass sie den Großteil ihres Lebens verschlafen hatte.

»Weißt du, Schätzchen, wir könnten nach Atlanta gehen«, sagte sie zu dem Hund, während sie die Wagentür öffnete und sich ans Lenkrad setzte. Der Gedanke, der ihr ganz spontan gekommen war, hatte etwas Aufregendes an sich.

Der Hund, der sich wieder auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, gab einen leisen Ton von sich, stellte sich auf die Beine und sah sie eindringlich an. Im nächsten Augenblick wurde ihr klar, warum er sie so gespannt ansah: Sie hatte gerade die Twinkies aus der Einkaufstüte genommen. Der Hund war offenbar genauso süchtig nach dem Zeug wie sie.

»Einen Augenblick«, sagte sie zu ihm.

Sie hielt die Packung mit einer Hand und riss sie mit den Zähnen auf, während sie losfuhr. Der süße Duft dieser wunderbarsten aller ungesunden Süßigkeiten stieg ihr in die Nase. Sie biss ab - es schmeckte einfach wunderbar - und brach dann ein Stück ab, das sie dem Hund gab. Die Straße war völlig leer, ein schmales schwarzes Band, das sich in der noch tieferen Schwärze der ländlichen Gegend verlor, die sich jenseits der Stadt erstreckte. Abgesehen von dem roten Licht an der letzten Ampel, bevor sie zu Sues Haus abbiegen musste, war es fast völlig dunkel ringsum. Es war, als wäre sie mit ihrem Wagen allein im Universum, dachte sie, als sie bremste. Diese verschlafene kleine Stadt hier - war das wirklich das Beste, was sie mit ihrem Leben anfangen konnte? Sie biss wieder in den Twinkie und ließ ihre Gedanken zu dem neuen Leben schweifen, das sie in Atlanta führen könnte. Marsha Hughes in der großen Stadt - wäre das nicht eine tolle Sache? Sie würde ganz neu anfangen und ...

Plötzlich war ihr, als würde sich hinter ihr auf dem Rücksitz etwas bewegen. Der Hund wich zurück, drückte sich mit dem eingezogenen Schwanz gegen die Tür und begann wie wild zu bellen. Seine Augen waren auf irgendetwas hinten im Wagen gerichtet. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Instinktiv blickte sie zurück, als sich plötzlich ein Arm um ihren Hals schloss. Sie stieß einen Schrei aus, der jedoch sofort erstickt wurde, und griff mit beiden Händen nach dem Arm. Ihre Fingernägel gruben sich in die nach Schweiß riechende, behaarte Haut. Dieser Geruch - sie kannte diesen Geruch von irgendwoher ...

Sie spürte die scharfe Spitze eines Gegenstands - vermutlich eines Messers - an ihrer Haut unterhalb des Ohrs. Sie hörte auf, sich zu wehren, als sie die warme Flüssigkeit ihren Hals herunterlaufen spürte und ihr klar wurde, dass es Blut war. Sie rang nach Luft, und kalter Schweiß trat ihr aus den Poren, während ihr Hals mit brutalem Griff umschlossen blieb.

»Hab ich dir nicht gesagt, dass du es keinem erzählen sollst?«, flüsterte ihr eine heisere Stimme ins Ohr.

Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Mit einem Mal verschwand alles um sie herum aus ihrem Bewusstsein -der bellende Hund, die Ampel, die auf Grün umsprang, und sogar die nächtliche Dunkelheit -, als ihr klar wurde, wer da hinter ihr im Wagen saß.

Der Schreck ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.