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28. Juni
»Ich habe gehört, ihr beide hättet Streit gehabt.«
Matt Converse sah dem Mann direkt in die Augen. Er wich seinem Blick kurz aus und schaute ihn sofort wieder an. Der Kerl war sichtlich nervös. Matt hatte einiges über ihn in Erfahrung gebracht. Er hieß Keith Kenan, war sechsunddreißig Jahre alt, geschieden, arbeitete seit fünf Jahren bei Honda am Fließband, wohnte genauso lange in Benton und war bisher nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, wenn man einmal davon absah, dass man ihn einmal bei einer Rauferei und ein paar Mal alkoholisiert am Steuer erwischt hatte. Ja, Keith Kenan war nervös; dass jemand nervös war, hieß noch lange nicht, dass er schuldig war -doch man musste den Mann auf jeden Fall im Auge behalten.
»Wer hat das gesagt?«
Matt zuckte nur die Achseln.
»Na, und wenn schon? Das heißt doch nichts. Jeder hat mal Streit«, wehrte Kenan ab. Er wurde immer unruhiger. Matt stellte fest, dass sein Atem schneller ging, dass sich seine Gesichtsmuskeln anspannten und seine Augen sich verengten. Kenan war ein großer, kräftiger Kerl mit dunkelblondem Haar und kleinen blassblauen Augen. Auf einen der beiden hochgezüchteten Oberarme war ein von einem Dolch durchbohrtes Herz tätowiert. Er war nur mit einem ärmellosen Trikot und einer Nylon-Turnhose bekleidet. Die beiden Männer standen im Wohnzimmer der Wohnung, in der Kenan mit Marsha Hughes lebte.
Nein: gelebt hatte. Marsha Hughes galt seit einer Woche als vermisst. Es war bereits Matts zweites Gespräch mit Kenan. Das erste Mal hatte er vor fünf Tagen mit ihm gesprochen, nachdem eine von Marshas Arbeitskolleginnen sich Sorgen gemacht hatte, weil Marsha ohne irgendeine Erklärung von der Arbeit ferngeblieben war, und sich an den Sheriff gewandt hatte.
»Sicher, jeder hat mal Streit«, räumte Matt ein. Kenan begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Matt nützte seine Aufgewühltheit aus, um sich in der Wohnung umzusehen. Sie war sauber und ordentlich aufgeräumt, abgesehen von ein wenig Geschirr auf dem Esstisch, das wohl vom Abendessen des Vortags stammte; Kenan hatte sich, als er die Tür geöffnet hatte, beklagt, dass Matt ihn geweckt hatte. Der Teppich war schon etwas abgenutzt. Die goldfarbenen Vorhänge waren zugezogen, damit die strahlende Vormittagssonne nicht hereindringen konnte. An den weißen Wänden hingen ein paar nichtssagende Bilder. Es war, soweit er das beurteilen konnte, im ganzen Zimmer nichts Auffälliges zu erkennen. Da waren keine verräterischen braunen Flecken auf dem Teppich und auch keine dunklen Flecken an der Wand. Und unter der Couch ragten auch keine Gliedmaßen einer Leiche hervor. Matts Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. Wenn die Sache bloß so einfach wäre.
»Sehn Sie, Sheriff, ich bin ja nicht dumm. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, platzte Kenan heraus und wandte sich ihm wieder zu. »Ich hab Marsha nicht angerührt, das schwöre ich.«
»Das hat ja auch keiner behauptet«, erwiderte Matt in ruhigem Ton. Es hatte keinen Sinn, Kenan zu provozieren, indem man in diesem Stadium der Ermittlungen mehr sagte, als nötig war. Es war ja durchaus möglich, dass Marsha einfach weggegangen war; es konnte jederzeit passieren, dass sie plötzlich wieder auftauchte. Andererseits gefiel ihm die ganze Sache gar nicht. Mochte man es nun Instinkt nennen oder einfach nur logisches Denken - aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau, die fast ihr ganzes Leben hier in der Gegend verbracht hatte, die immer pünktlich zur Arbeit erschienen war, die ein absolut geregeltes Leben führte und die hier ihren Freundeskreis hatte, einfach so wegging, ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen.
»Sie ist einfach abgehauen«, sagte Kenan. »Sie ist in ihren Wagen gestiegen und weggefahren. Genauso war es, nicht anders.«
Matt wartete einen Augenblick und fragte dann: »Würden Sie mir vielleicht verraten, worum es bei dem Streit ging?«
Kenan machte ein gequältes Gesicht. »Um Wurst, verstehen Sie? Ich hatte etwas Wurst im Kühlschrank, und die war weg, als ich von der Arbeit heimkam und mir ein Sandwich machen wollte. Es stellte sich heraus, dass sie die Wurst einem verdammten Hund gegeben hat.«
Er holte tief Luft. »Es war einfach dumm. Eine dumme Sache, wie sie eben mal vorkommt.«
Matt sah über Kenans Schulter hinweg, dass sein Stellvertreter Antonio Johnson aus dem Badezimmer zurückkam. Antonio wurde in zwei Wochen fünfzig. Er war schwarz, etwa eins achtzig groß und fast genauso breit. Johnson hatte das finstere Gesicht einer Bulldogge und sah ganz allgemein wie ein Gangster in der Uniform eines Sheriff-Stellvertreters aus. Gleich nachdem sie hierher gekommen waren, hatte Johnson gefragt, ob er die Toilette benutzen dürfe, um sich so in den Bereichen der Wohnung umsehen zu können, die ein Sheriff oder sein Stellvertreter für gewöhnlich nicht zu sehen bekamen, wenn sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten. Sie hatten diese kleine List schon öfter angewandt und waren dadurch bisweilen auf interessante Informationen gestoßen. Diesmal hatten sie jedoch offensichtlich kein Glück damit. Antonio antwortete auf Matts fragenden Blick mit einem verneinenden Kopfschütteln.
»Danke«, sagte Antonio, als er zu ihnen ins Wohnzimmer kam. Kenan nickte und wandte sich wieder Matt zu.
»Ich hab ihr nichts getan«, sagte er und leckte sich nervös über die Lippen. »Das schwöre ich bei Gott.«
Matt sah ihn schweigend an. Kenan hielt seinem Blick stand.
»Sie meinen, außer dass Sie sie angeschrien haben«, erwiderte Matt in freundlichem Ton. »Und dass Sie ihr die Treppe hinunter nachgelaufen sind bis auf den Parkplatz hinaus. So war es doch, nicht wahr?«
Kenan sagte kein Wort. Das war auch gar nicht nötig. Sein erschrockener Blick war Eingeständnis genug.
»Sie können's auch gleich zugeben«, sagte Antonio, verschränkte die Arme vor seiner mächtigen Brust und starrte Kenan an. »Wir wissen Bescheid.«
Matt sagte nichts, doch er wusste nur zu gut, dass die Sache bei weitem nicht so einfach war. Was sie wussten, war im Wesentlichen das, was Kenan und seine Nachbarn ihnen erzählt hatten: Marsha hatte einen Streit mit ihm gehabt, war anschließend davongelaufen beziehungsweise aus der Wohnung gejagt und seither von niemandem mehr gesehen worden, der sie näher kannte. Solange es keine handfesten Beweise gab, dass Marsha etwas zugestoßen war, hatten sie absolut nichts in der Hand. Doch Antonio war ein unverbesserlicher Optimist. Er dachte immer, dass, wenn er nur genug Druck ausübte, ein potenzieller Verdächtiger zusammenbrechen könnte und alles gestand, wodurch er allen Beteiligten eine Menge Zeit und Ärger ersparte.
Manchmal funktionierte das sogar.
Kenan verzog verärgert das Gesicht, als er zu Matt hinüberblickte. »Ich habe Sie gesehen, wie Sie mit dieser verdammten Mrs. Myer gesprochen haben. Die hockt den ganzen Tag zu Hause. Sie behauptet, dass sie etwas am Rücken hat und nicht arbeiten kann - und jetzt steckt sie ihre Nase andauernd in anderer Leute Angelegenheiten.« Und mit hasserfüllter Miene fügte er hinzu: »Sie hat Ihnen das gesagt, nicht wahr?«
»Also, eigentlich sagen alle im Haus, die um diese Zeit daheim waren, so ziemlich das Gleiche«, antwortete Matt, immer noch in völlig neutralem Ton - doch er nahm sich vor, ein wenig auf Audrey Myer Acht zu geben, für den Fall, dass Kenan seiner blonden Haarfarbe gerecht wurde und etwas Dummes unternahm. Er griff nach einem gerahmten Bild, auf dem Kenan mit Marsha zu sehen war, die er wiedererkannte, nachdem er bei seinem ersten Besuch hier in der Wohnung ein Foto von ihr zu Identifikationszwecken mitgenommen hatte. Matt hielt inne und blickte zu Kenan hinüber, bevor er das Bild nahm. »Darf ich?«, fragte er.
»Bitte«, sagte Kenan, dessen innere Anspannung immer noch deutlich anzumerken war.
Matt hob das Bild auf und betrachtete es eingehend. Es war ein Schnappschuss, der auf einem Jahrmarkt oder in einem Vergnügungspark gemacht worden war und auf dem die beiden in altmodischen Kleidern posierten. Marsha trug einen großen Hut, der ihr rotes Haar fast zur Gänze bedeckte. Sie hatten jeder einen Arm um die Schulter respektive die Taille des anderen gelegt und grinsten vergnügt in die Kamera; offensichtlich verstanden sie sich zum Zeitpunkt der Aufnahme prächtig.
Konnte es sein, dass Kenan sie später getötet hatte?
»Eine gut aussehende Frau«, sagte Matt und stellte das Bild wieder auf den Beistelltisch. Sein Blick wanderte zurück zu Kenan. »Sie sind sicher verrückt vor Sorge um sie.«
Tatsache war, dass Kenan bisher kaum ein Anzeichen von übermäßiger Sorge um Marshas Verbleib gezeigt hatte, was doch ziemlich seltsam war. Es konnte wohl sein, dass Kenan zu den sprichwörtlichen stillen, aber tiefen Wassern gehörte und dass sich bei ihm viel mehr unter der Oberfläche verbarg, als Matt erkennen konnte. Es war auch möglich, dass Kenan überhaupt nicht unglücklich war, dass sie fort war, was aber noch lange nicht hieß, dass er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte.
Das Problem war, dass Matt sich überhaupt nicht sicher war, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden war. Sein Instinkt sagte ihm, dass die Chancen, dass Marsha Hughes wohlbehalten wieder auftauchte, nicht allzu groß waren, doch sein Instinkt hatte ihn auch früher schon mal auf eine falsche Fährte geschickt.
»Natürlich mache ich mir Sorgen«, sagte Kenan kämpferisch.
Matt registrierte seinen Ton genauso wie seine geballten Fäuste und sein gerötetes Gesicht.
»Es ist bekannt, dass Sie sie manchmal geschlagen haben«, sagte Matt mit fast freundlicher Stimme. Sein Anliegen war es, Informationen zu sammeln, und nicht, jemanden anzuklagen.
»Wer hat das gesagt?«, entgegnete Kenan. Er atmete schwer, obwohl er aufgehört hatte, im Zimmer auf und ab zu gehen.
Matt zuckte die Achseln.
»Diese verdammten Nachbarn müssen sich überall einmischen.« Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Er stand nun breitbeinig, in aggressiver Haltung da, die Schultern gestrafft, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Augen hatten einen harten Ausdruck, als er Matt ansah. »Sehen Sie, ich habe bereits gesagt, dass wir manchmal Streit hatten. Marsha ist nämlich auch kein Engel. Sie hat jedenfalls ganz gut austeilen können.«
»Haben Sie sie an dem Abend, als sie verschwand, auch geschlagen?«
»Nein! Nein, ich hab sie nicht angerührt. Sie ist weggelaufen, verstehen Sie? Wir hatten einen Streit, und sie lief weg. Sie stieg in ihren Wagen, und ich hab ihr nachgesehen, wie sie wegfuhr. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen.«
Antonio gab einen skeptischen Laut von sich, und Kenan drehte sich zu ihm um und sah ihn zornig an. Matt spürte, dass das Gespräch allmählich ynangenehm zu werden drohte. Es wäre nicht förderlich gewesen, Kenan so weit zu bringen, dass er kein Wort mehr sagte und sich einen Anwalt nahm. Besser, sie ließen es für diesmal gut sein und reizten den Mann nicht noch weiter.
»Nun, danke für Ihre Mitarbeit. Wir melden uns wieder«, sagte Matt und reichte Kenan die Hand. Dieser zögerte einen Augenblick und schüttelte dem Sheriff schließlich die Hand. Antonio verabschiedete sich ebenfalls von dem Mann - wenn auch widerstrebend, wie sein Gesichtsausdruck deutlich zeigte. Es gehörte nicht gerade zu Antonios Stärken, nett zu Leuten zu sein, die er für Schurken hielt.
Antonio neigte dazu, ein Verbrechen persönlich zu nehmen. Matt hatte in den beiden Jahren, seit er zum Sheriff von Screven County gewählt worden war, nicht wenig Zeit damit verbracht, Antonio zu besänftigen und zu verhindern, dass er handgreiflich wurde. Matt unterdrückte einen Seufzer und ging zur Tür. Als er den Türknauf schon in der Hand hatte, drehte er sich noch einmal um, so als wäre ihm eben etwas eingefallen.
»Nur damit Sie's wissen: Wir haben Marshas Bild und ihre Personalien an jede Polizeidienststelle im Südosten geschickt. Außerdem gehen wir hier in der Gegend ein paar Spuren nach. Wir finden sie garantiert.«
Sein Ton war bewusst optimistisch. Wenn Kenan sich um seine Freundin wirklich Sorgen machte, dann sollte ihm diese Feststellung ein klein wenig Zuversicht geben. Wenn er jedoch deshalb keine Sorge um die Frau zeigte, weil er sehr wohl wusste, wo sie sich befand, nachdem er sie selbst dorthin befördert hatte, dann sollte ihn Matts Feststellung beunruhigen.
»Ja, wir werden sie finden«, bekräftigte Antonio drohend, ehe er Matt in den Flur hinaus folgte.
Ohne ein Wort zu sagen, schloss Kenan die Tür hinter ihnen etwas lauter als nötig.
»Könntest du dich vielleicht bemühen, nicht ganz so aggressiv aufzutreten?«, fragte Matt, als sie in der drückenden Hitze des Stiegenhauses die Treppe hinuntergingen.
»Er war's garantiert. Der Mann ist ein Arschloch.«
»Also, mir ist nicht bekannt, dass es schon strafbar wäre, ein Arschloch zu sein. Wir haben keine Beweise gegen ihn, nur irgendwelchen Hausfrauentratsch.«
»Es ist bekannt, dass er sie geschlagen hat. Sie hatte in der Nacht, als sie verschwand, solche Angst vor ihm, dass sie weglief. Er ist ihr nachgelaufen. Wir haben ein halbes Dutzend Zeugen, die das beschwören können. Was willst du denn noch?«
»So einiges«, sagte Matt trocken, drückte die Tür auf und trat in die drückende Hitze hinaus. Es war jetzt schon seit neun oder zehn Tagen so glühend heiß und unerträglich schwül obendrein. Er hatte schon öfter erlebt, dass die Hitze jemanden verrückt machte. In den vergangenen beiden Wochen hatte es mehr Verbrechen gegeben - Kavaliersdelikte und auch schwerere Vergehen - als in den sechs Monaten davor. Seine acht Mann starke Truppe war völlig überfordert. Sie arbeiteten nahezu rund um die Uhr - und das galt auch für Matt selbst. Heute zum Beispiel war er seit fünf Uhr morgens damit beschäftigt, das Verbrechen zu bekämpfen; sein Arbeitstag hatte deshalb so früh begonnen, weil Anson Jarboe versucht hatte, sich in sein eigenes Haus zu schleichen und dabei von seiner Frau überrascht wurde, die ihn, mit einem Baseballschläger bewaffnet, im Wohnzimmer empfing. Ansons Schreie, als sie es ihm ordentlich gab, alarmierten die Nachbarn, die sogleich den Sheriff riefen. Es war jetzt fünf nach elf, und er wusste aus Erfahrung, dass der Tag - ein Freitag - noch lang werden konnte. Wenn die Leute erst von der Arbeit heimkamen, ging es wahrscheinlich erst richtig los. Dabei wünschte er sich für heute Abend nichts sehnlicher, als in seinem klimatisierten Haus vor dem Fernseher zu sitzen - ein kaltes Bier in der einen Hand und die Fernbedienung in der anderen - und^ich das Baseballspiel anzusehen, das heute Abend übertragen wurde.
Aber danach sah es leider gar nicht aus.
»Na ja, ich ...«, begann Antonio, hielt jedoch gleich wieder inne und grinste plötzlich vom einen Ohr zum anderen. Die ungewöhnlich vergnügte Miene seines stets so finster dreinblickenden Stellvertreters machte Matt sofort stutzig, und er blickte sich um, um den Grund dafür herauszufinden. Als er die Ursache sah, konnte er nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Er hatte gleich gewusst, dass es etwas Schlimmes sein musste, um Antonio ein Grinsen zu entlocken, doch das hier war nicht bloß schlimm - es war grauenhaft.
»Oh, Matt, da bist du!« Shelby Holcombs Gesicht begann zu strahlen, als sie ihn erblickte. Freudig winkend richtete sie sich auf, nachdem sie durch das Fenster seines Dienstwagens geblickt hatte, und kam sofort auf ihn zu.
»Hallo, Shelby«, antwortete er und verlangsamte seine Schritte.
Sie ließ sich von seiner nicht gerade begeisterten Reaktion nicht entmutigen und ging weiter auf ihn zu. Shelby war eine schlanke, attraktive zweiunddreißigjährige Frau, die in Benton geboren und vor vier Jahren in die Stadt zurückgekehrt war, um hier ein Immobilienbüro zu leiten. Als einziges Zugeständnis an die Hitze hatte sie ihr honigblondes Haar in einer hübschen Rolle hinten hochgesteckt. Sie hatte nicht mit Make-up gespart - bis hin zu dem hellroten Lippenstift, der in der Sonne leuchtete. Sie trug sogar ein Kostüm, was, wie Matt annahm, für Shelby nicht weiter schlimm war, weil diese Frau ohnehin nie ins Schwitzen zu geraten schien. Die Bluse war vorne aufgeknöpft, so dass gerade so viel von ihren Brüsten zu sehen war, wie sie für wirkungsvoll und geschmackvoll erachtete. Sie war des weiteren mit Strumpfhose und hochhackigen Schuhen bekleidet und trug außerdem dieses verdammte Notebook mit sich, ihre jüngste Waffe in ihrem Eroberungsfeldzug. Doch er war noch weit davon entfernt, ihrem Drängen nachzugeben.
Sie war schon seit Jahren hinter ihm her. Letzten Sommer, als wieder einmal eines der vielen unbedeutenden Abenteuer fällig war, die für sein Leben so typisch waren, hatte er den Fehler begangen, ihrem Drängen nachzugeben. Sie hatten eine Weile Spaß miteinander, gingen auf Partys, ins Kino und ein paar Mal nett essen. Alles in allem hatten sie eine gute Zeit miteinander. Doch dann begann Shelby ihn so nebenbei in Juweliergeschäfte mitzuschleppen und ihm auf manch andere Weise zu verstehen zu geben, dass sie die ganze Sache »für immer« wollte.
Dieses »für immer« war für ihn der reinste Albtraum. So etwas kam in seiner Lebensplanung einfach nicht vor. Für immer an eine Frau gebunden? Nein, das war nichts für ihn. Zumindest nicht in der näheren Zukunft. Für immer eine Frau und Kinder um sich zu haben und eine Hypothek zurückzahlen zu müssen - allein der Gedanke verursachte ihm Schweißausbrüche. Er hatte in seinen dreiunddreißig Jahren genug Verantwortung getragen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Er würde bestimmt nicht so dumm sein, neue Verantwortung auf sich zu laden -jetzt, da ihm endlich wieder die Freiheit winkte.
Er hatte irgendwelche lahmen Ausreden vorgebracht, von wegen, dass er nichts übereilen wolle, dass er seinen Freiraum brauche und dass sie überhaupt viel zu gut für ihn sei. Dann hatte er das Weite gesucht. Seither bearbeitete sie ihn mit allen Mitteln.
»Matt!«
Diese Stimme war ihm noch vertrauter als die von Shelby -und auch sie war mit gewissen Problemen verbunden. Es war Erin, einer der Menschen, für die er sich lange Jahre verantwortlich gefühlt hatte. Er drehte sich nach ihr um und sah seine Schwester, wie sie sich gerade aus dem Beifahrersitz von Shelbys rotem Honda schwang, der direkt hinter seinem Streifenwagen geparkt war. Erin hatte vor kurzem ihr Studium an der University of Georgia abgeschlossen, sie war zweiundzwanzig, zierlich gebaut und hübsch, hjtte kurzes, lockiges schwarzes Haar und ein spitzbübisches Grinsen, mit dem sie ihn auch in diesem Augenblick anstrahlte. Als sich ihre Blicke über das Dach des Autos hinweg trafen, musste er ebenfalls lächeln, wenn auch ein wenig säuerlich. Erin hatte auch eine Begabung dafür, ihm Probleme zu bereiten - hatte sie sich doch mit Shelbys jüngerem Bruder Collin verlobt, der voriges Jahr eine Anwaltskanzlei in Benton eröffnet hatte. Nachdem Matt die Kosten für die Hochzeit trug und Shelby das Fest organisierte, hatten sich ihre Möglichkeiten, ihn zu verfolgen, drastisch erhöht. In letzter Zeit kam es ihm so vor, als würde sie überall auftauchen, wo er war.
»Hallo, Erin«, sagte er mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton. Seine Schwester wusste, dass Shelby hinter ihm her war, und sie schien, so wie der Rest seiner Familie und halb Benton, fest entschlossen zu sein, ihn in die Falle zu locken.
»Ich wollte nur deine Meinung hören, bevor ich die Blumen bestelle«, sagte Shelby mit einem betont charmanten Lächeln. Matt blieb brav stehen, als sie bei ihm war und ihr Notebook direkt vor seiner Nase öffnete. Es war nicht das erste Mal, dass er diese Prozedur über sich ergehen ließ; sie zeigte ihm irgendetwas - ein Bild, einen Kostenvoranschlag, eine Liste -, und er nickte und sagte: »Sieht gut aus.« Danach tat sie dann, was sie wollte - mit seinem Geld. Es war zwar etwas kostspielig, aber immer noch besser, als sich auf lange Diskussionen mit ihr einzulassen.
Diesmal jedoch war der Betrag so hoch, dass er protestierte, ohne zu überlegen.
»Fünfzehnhundert Dollar? Für Blumen?« Er sah Shelby in die Augen, und sie erwiderte seinen Blick mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Lippen öffneten sich ganz leicht, und sie klimperte mit den Wimpern. Alle Alarmglocken begannen bei ihm zu läuten, und er blickte rasch auf die Preisliste hinunter.
»Ich habe ihr auch gesagt, dass das zu viel ist«, warf Erin entschuldigend ein. Sie trug kurze weiße Shorts, die nach Matts Ansicht viel zu viel von ihren sonnengebräunten Beinen sehen ließen, und ein lindgrünes rückenfreies Top, das sich an ihre prallen Brüste schmiegte. Er betrachtete sie mit gerunzelter Stirn und nahm sich vor, bei Gelegenheit einmal mit ihr darüber zu reden, dass es durchaus seine Vorteile hatte, wenn man auch noch etwas der Phantasie überließ. Sie hatte offenbar seine Gedanken oder seinen Gesichtsausdruck gelesen, denn plötzlich lächelte sie wieder und wackelte neckisch mit dem Oberkörper, bis ihre Brüste auf und ab hüpften.
Er sah sie vorwurfsvoll an, doch sie rümpfte nur die Nase, so dass sie sich eine Art stummen Meinungsaustausch lieferten. Schließlich kam ihm zu Bewusstsein, wie lächerlich die ganze Situation war. Bestimmt lachten sich die Engel im Himmel schief darüber, dass ausgerechnet er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, drei nicht gerade pflegeleichten Mädchen beizubringen, wie man sich als Frau benahm. Es war wirklich absurd.
»Ich gebe ja zu, es ist viel Geld«, räumte Shelby ein und legte ihre überraschend kräftige Hand um seinen Ellbogen. »Aber ich finde das Angebot des Floristen durchaus akzeptabel. Du musst bedenken, dass wir außer dem Brautstrauß noch Sträuße für die Brautjungfern brauchen, außerdem Knopflochblumen für Collin und die Brautführer, Blumen für die Kirche und für die Tische beim Fest, und dann noch ...«
»Wie du meinst«, fiel ihr Matt ins Wort. Er trug eine Khaki-Uniform mit langer Hose und kurzärmeligem Hemd, und Shelby nützte diesen Umstand aus, um ihre Hand unter den Hemdsärmel schlüpfen zu lassen und zärtlich über seinen Oberarm zu streichen. Als er ihre weiche, makellos gepflegte Hand auf seiner überhitzten Haut spürte, kam ihm nur zu deutlich zu Bewusstsein, dass er nicht mehr mit einer Frau geschlafen hatte, seit er die Affäre mit ihr Ende März beendet hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihn genau daran erinnern wollte.
Antonio verschränkte dj£ Arme vor der Brust und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Als Rose geheiratet hat...« - Rose war die Jüngere seiner beiden Töchter - »... da hab ich zu ihr gesagt, sie kann sich aussuchen, ob sie lieber die Blumen haben will, die sie sich wünscht, oder die Anzahlung für ein neues Auto. So viel haben nämlich die Blumen gekostet.«
»Und wofür hat sie sich entschieden?«, fragte Matt ohne allzu großes Interesse.
»Für die Blumen. Unglaublich, nicht wahr?«, antwortete Antonio und schüttelte den Kopf über die Verrücktheit der Frauen.
»Mein Vorschlag wäre, dass wir uns um die Blumen selbst kümmern«, sagte Erin und sah Matt mit einem schelmischen Lächeln an, das ihm sagte, dass sie genau wusste, wo Shelby ihre Hand gerade hatte. »Wir kämen dann mit fünfhundert Dollar aus und hätten praktisch das gleiche Ergebnis.«
»Wie du meinst«, sagte Matt noch einmal, in der Hoffnung, dieses Gespräch so rasch wie möglich beenden zu können. Es war schon schlimm genug, dass er mit jedem kleinen Detail der Hochzeitsvorbereitungen seiner Schwester konfrontiert wurde - aber dass das für Shelby ein willkommener Vorwand war, um ihn nicht mehr in Ruhe zu lassen, machte das Ganze unerträglich. In der Zeit, als er mit Shelby zusammen gewesen war, hatte er gar nicht bemerkt, wie hartnäckig sie sein konnte. Diese Frau hatte die Zähigkeit einer Bulldogge; wenn sie einmal etwas zwischen den Zähnen hatte, dann ließ sie es so schnell nicht wieder los. Umso dümmer war es von ihm gewesen, dass er sich überhaupt von ihr hatte erwischen lassen.
In diesem Augenblick klingelte das Handy an Matts Gürtel. Er hatte auch einen Pager, der aber nur von seinen Mitarbeitern aktiviert werden konnte. Viele seiner Freunde, Nachbarn, Verwandten und Bekannten zogen es aber vor, diese offizielle Prozedur zu umgehen, und riefen ihn lieber direkt an. Der Anruf verschaffte ihm wenigstens einen Vorwand, um sich ein paar Schritte von Shelby zu entfernen, ohne dass es auffiel, wie unbehaglich ihm angesichts ihres Verhaltens zumute war. Sie blickte ihm sichtlich enttäuscht nach.
Gott sei Dank waren es nur noch etwas mehr als drei Wochen bis zu Erins Hochzeit, dachte Matt. Das Ganze ging ihm mittlerweile mächtig auf die Nerven. Was ihn vor allem nervte, war dieses ständige Katz-und-Maus-Spiel mit Shelby, zumal er nichts sagen konnte, was Erins Verhältnis zur Familie ihres Mannes beeinträchtigen könnte. Es war überhaupt nicht lustig, in diesem Spiel die Maus zu sein.
»Ich muss los«, sagte Matt, nachdem er das Telefongespräch beendet hatte. Er bemühte sich, seine Erleichterung nicht zu zeigen, und wandte sich Antonio zu. »Mrs. Hayden führt ihren Hund schon wieder auf der Route 1 spazieren.«
Antonio machte ein säuerliches Gesicht.
»Na und?«, fragte Erin und sah die beiden Männer verständnislos an.
»Sie hat nichts an als ihre Schuhe und einen großen Sonnenhut«, erläuterte Matt. Mrs. Hayden war neunzig Jahre alt, und sie wurde immer vergesslicher. In letzter Zeit vergaß sie immer öfter, sich anzuziehen. Das war nun schon das vierte Mal seit März, dass ein schockierter Autofahrer anrief, weil die Dame mit ihrem ebenfalls hochbetagten Hund die Straße entlangspazierte.
»Kann sich denn nicht jemand anders darum kümmern?«, fragte Shelby mit einem Hauch von Ungeduld und trommelte mit den Fingern auf das Gehäuse ihres Notebooks.
»Sie mag Matt«, sagte Antonio, erneut lächelnd. Matt fiel auf, dass sein Stellvertreter, wenn er schon lächelte, dies fast immer auf seine Kosten tat. »Wenn ihr irgendjemand anders zu nahe kommt, geht sie mit dem Hut auf ihn los. Von Matt lässt sie sich nach Hause bringen.«
Erin kicherte, während Shelby verständnislos dreinblickte.
»Dann bis später«, sagte Matt und nützte die Gelegenheit zur Flucht, die der Himmel ihm geschickt haben musste. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass er einmal froh darüber sein würde, wenn man ihm mitteilte, dass Mrs. Hayden wieder einmal ihren schrulligen Tag hatte. Er hatte es allemal lieber mit einer nackten Neunzigjährigen zu tun als mit einer liebestollen Zweiunddreißigjährigen.
Antonio saß auf dem Beifahrersitz, als Matt seiner Schwester und seiner Exfreundin noch rasch zuwinkte, ehe er seinen Wagen aus dem Parkplatz manövrierte.
Die Frage nach Marsha Hughes' Verbleib rückte für den Augenblick in den Hintergrund, während er losfuhr, um Benton und Umgebung vor etwaigen Gefahren zu schützen, die von zerstreuten alten Ladys drohten.