27

Hatte Matt sie tatsächlich soeben gebeten, ihn zu heiraten? Carly starrte ihn mit großen Augen an; sie konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Er sah einfach zum Anbeißen aus, wie er da groß und dunkel auf dem weißen Laken lag. Eine Hand hatte er unter den Kopf gelegt, die andere lag warm und entspannt auf ihrem Rücken. Sein Haar war zerzaust, in seinen Augen lag ein dunkles, geheimnisvolles Funkeln, das sie sofort wieder an Sex denken ließ, und sein Mund war zu einem resignierenden Lächeln verzogen.

Er machte ein resigniertes Gesicht, wenn er ihr gerade einen Heiratsantrag machte?

»Du machst Witze, nicht wahr?«, fragte sie und zupfte ihn an seinem Brusthaar.

»Au!«, protestierte er und drückte ihre Hand an seine Brust, damit sie nicht noch einmal auf die Idee kam, ihm wehzutun. »Nein, ich scherze nicht.«

»Du willst, dass ich dich heirate?«

»Es hat ganz danach geklungen, oder? Ja, ich möchte, dass du mich heiratest.« Sein Gesichtsausdruck war immer noch alles andere als enthusiastisch.

»Hast du jemals was von Kerzenlicht und Blumen gehört? Manche Männer knien sogar nieder, wenn sie einen Antrag machen.«

»He, ich mache dir immerhin einen Antrag - ist das nichts?«

Offensichtlich dachte er, dass er ihr damit einen großen Gefallen tat. Wahrscheinlich fühlte er sich schuldig. Man spürte das nur allzu deutlich, auch wenn er es nicht offen sagte. Sie konnte es nicht glauben, dass sie sich in eine solche Situation gebracht hatte. Schuld daran war nur, dass sie in einem bestimmten Moment die Kontrolle über sich verloren hatte und ich liebe dich geflüstert hatte, wo sie es sich eigentlich nur denken wollte. Bei jedem anderen hätte sie so tun können, als hätte sie es nicht so gemeint - aber nicht bei Matt. Er kannte sie einfach zu gut.

Sie hatte schon davon gehört, dass jemand aus Mitleid mit jemandem schlief. Aber aus Mitleid einen Heiratsantrag zu machen - das war ihr neu.

»Du Idiot«, zischte sie, stieß ihn in die Rippen und rollte sich von ihm herunter.

»Au! Wofür war das denn nun schon wieder?« Er rieb sich die schmerzende Stelle und sah sie vorwurfsvoll an, während sie aufstand und, die Hände in die Hüften gestemmt, mit vernichtendem Blick auf ihn hinuntersah.

»Hör mal, wenn ich sage >keine Bindung< - was ist daran so schwer zu verstehen?«, presste Carly zwischen den Zähnen hervor und bückte sich, um ihre Kleider aufzuheben. Als sie sah, wie er sie bewundernd anstarrte, legte sie einen Arm über ihre Brust, um sie vor seinen Blicken zu verbergen. Im selben Moment wurde ihr klar, dass es auch nicht gerade sittsam war, sich vor seinen Augen zu bücken.

»Jetzt beruhige dich doch, Curls«, sagte er und beobachtete sie mit wachsendem Interesse. Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, während sie sich damenhaft auf ein Knie niederließ, um ihre Kleider aufzuheben.

»Du würdest doch nur zu gern Ja sagen, das weiß ich genau. Sag es schon, und komm wieder zu mir ins Bett. Wir haben doch noch Zeit«, fügte er hinzu und blickte auf die Uhr, »eine ganze Stunde noch.«

»Weißt du was, Matt?«, sagte Carly, hob auch seine Jeans vom Fußboden auf, strich sie glatt und warf sie ihm aufs Bett. »Du kannst mich mal.«

»Vielleicht will ich das ja gerade«, sagte er mit einem trägen Lächeln. »Wir haben noch genug Zeit dafür.«

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging Carly ins Badezimmer.

Als sie geduscht und angezogen zurückkam und wieder so herzeigbar aussah, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, hatte er bereits das Licht eingeschaltet und sich ebenfalls angekleidet. Er stand mitten im Zimmer und telefonierte mit seinem Handy. Er runzelte die Stirn, während er sprach, und strich sich mit der Hand durchs Haar, so als würde ihn das, was er soeben hörte, über die Maßen frustrieren. Er sah so verdammt gut und attraktiv und selbstsicher aus, dass sie ihn hätte umbringen können.

Sie hätte seine Wohnung am liebsten auf der Stelle verlassen, doch er stellte sich direkt vor sie hin und versperrte ihr den Weg. Einen Moment lang überlegte Carly, ob sie ihn k.o. schlagen sollte. Das Problem war nur, dass sie gegen ihn kaum eine Chance hatte. Aber sie hätte es nur zu gern getan.

Ihre Augen mussten ihm ihre Gedanken verraten haben, denn er grinste sie ein wenig spöttisch an.

Er verabschiedete sich am Telefon und beendete das Gespräch. Dann nahm er ihre Hand, was ihn einige Mühe kostete, weil sie sich zuerst dagegen wehrte, ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und drückte ihre Hand an sein Herz. Sie spürte seine Wärme und seine Kraft durch sein T-Shirt hindurch.

Carly war zu verblüfft, um irgendetwas zu sagen, und starrte ihn nur mit großen Augen an.

»Mit Kerzenlicht und Blumen kann ich im Moment nicht aufwarten, aber niederknien kann ich gern. Carly, mein Schatz, willst du mich heiraten?«

»Nein«, antwortete sie und zog rasch ihre Hand zurück. Als er wieder aufstand, klingelte sein Handy, was sie ausnützte, um an ihm vorbeizuhuschen und hinauszugehen.

In der Garage war es stockdunkel, außerdem heiß und stickig. Wahrscheinlich war es ein Fehler, die wackelige Treppe hinunterzusteigen, wo sie nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnte. Aber wenn sie dadurch von Matt wegkam, dann war sie gern bereit, das Risiko einzugehen.

Das Licht ging gerade rechtzeitig an, um sie davor zu bewahren, sich das Genick zu brechen. Im nächsten Augenblick erkannte Carly, dass Matt ihr folgte - doch sie blickte sich nicht einmal nach ihm um.

»Was soll das heißen - nein?«, rief er ihr nach. Als sie unten angekommen war, drehte sie sich um und starrte ihn wütend an. Er war noch mitten auf der Treppe und sah ebenfalls ziemlich verärgert aus.

Hatte er wirklich erwartet, dass sie Ja sagen würde? Hatte er wirklich gedacht, dass sie so verrückt nach ihm war, dass sie nach seinem Heiratsantrag schnappen würde wie ein Hund nach einem Knochen, nur weil er vor lauter schlechtem Gewissen bereit war, sie zu heiraten?

»Soll ich es buchstabieren? Oder willst du es schriftlich haben? N-E-I-N. Nein. Ist das so schwer zu verstehen?« Sie ging auf seinen Wagen zu. »Bring mich nach Hause«, sagte sie.

»Du warst es doch, die gedroht hat, mir die Eier abzuschneiden, wenn ich es noch mal so machen würde, dich küssen und dann abhauen.« Er folgte ihr quer durch die Garage. »Also solltest du dich doch freuen. Diesmal mache ich es nicht so. Ich mache dir einen Heiratsantrag, verdammt noch mal.«

»Ja, und ich hab dir schon gesagt, wohin du dir deinen Antrag stecken kannst.«

»Komm schon, Curls, jetzt sei doch mal ehrlich. Es ist doch im Grunde das, was du willst.«

Man sagt oft, dass die Wahrheit wehtäte. In Carlys Fall war es etwas anders; die Wahrheit machte sie rasend vor Wut.

»Hör zu - nur damit du's weißt: Für immer, das ist eine lange Zeit. Und so gut bist du auch wieder nicht im Bett.«

Sie öffnete die Autotür, setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. Im Wagen war es noch heißer und stickiger als in der Garage, doch das war ihr egal. Ihr war alles recht, was sie möglichst schnell von Matt wegbringen würde.

Das Garagentor ging mit lautem Geklapper auf, und das Licht ging aus, so dass es plötzlich völlig dunkel in der Garage war. Dann öffnete er die Autotür und setzte sich ans Lenkrad.

»Also, sehe ich das richtig?«, fragte Matt, während er den Wagen anließ und rückwärts aus der Garage fuhr. »Du bist sauer auf mich.«

Typisch Matt, dachte sie - er merkte aber auch wirklich alles. Carly lachte kurz und bitter auf. »Ach, meinst du?«

»Würdest du mir vielleicht verraten, warum?«

Weil du auf meinen Gefühlen herumtrampelst, dachte sie sich, doch das konnte sie ihm nicht sagen. Nein, das würde sie für sich behalten. Schließlich hatte sie auch ihren Stolz.

»Vielleicht, weil du ein Esel bist?«, antwortete sie mit süßlicher Stimme.

Er sah sie kurz an, ehe er ausstieg und das Garagentor schloss. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte beinahe halb elf an. Er musste in einer halben Stunde im Büro sein. Gut. Je früher sie ihn los war, umso besser. Er setzte sich wieder ans Lenkrad, fuhr im Rückwärtsgang die Zufahrt hinunter und bog dann in die Straße ein, ehe er schließlich etwas sagte.

»Schau mal«, sagte er in dem Ton, in dem ein vernünftiger Mensch versuchen würde, einen unvernünftigen zu überzeugen. »Wir stehen uns nahe, seit wir Kinder waren, ich mag dich, du magst mich, wir haben viel gemeinsam. Wenn dann noch Sex dazukommt, dann ist das doch die logische Konsequenz. Mehr kann man sich doch gar nicht wünschen.«

»Es ist überhaupt nicht ...«, begann Carly wütend. Sie war froh, dass es dunkel war und dass er ihr gerötetes Gesicht nicht sehen konnte, und sie suchte nach irgendeiner Notlüge, um von der erniedrigenden Wahrheit abzulenken, die Matt ohnehin ahnte - nämlich dass sie bis über beide Ohren in ihn verliebt war.

»Lass mich mal kurz ausreden«, warf Matt ein und hob eine Hand. Zähneknirschend verschränkte Carly die Arme vor der Brust und starrte regungslos durch die Windschutzscheibe hinaus. Die Scheinwerfer erleuchteten einen halb leeren Parkplatz und einen Wohnhauskomplex, als sie an eine Kreuzung kamen und rechts abbogen. »Ob's dir nun gefällt oder nicht - wir haben eine Beziehung, die keiner von uns beiden einfach so im Handumdrehen wieder aufgeben kann. Tatsache ist, dass ich mit dem Motto >toller Sex, keine Bindung< ganz gut leben könnte, aber du nicht. Das weiß ich, und ich akzeptiere es. Verdammt, das Ganze hätte auch seine Vorteile. Wenn wir heiraten, dann können wir es haben, so oft wir wollen. Und wir würden uns auch den ganzen Klatsch ersparen«, fügte er mit dem Hauch eines Lächelns hinzu.

Carly kochte vor Wut. Er trampelte auf ihren Gefühlen herum und fand das auch noch lustig? Sie fragte sich, warum sie überhaupt überrascht über das alles war. Schließlich hatte sie es von Anfang an gewusst.

»Weißt du, es ist wirklich nett von dir, dass du dir über mich und meine Bedürfnisse Gedanken machst - aber ich bin nun mal nicht auf einen zweiten Ehemann aus«, erwiderte sie zuckersüß. »Ja, je länger ich es mir überlege, umso mehr finde ich, dass du mir als One-Night-Stand lieber bist.«

Matt verdrehte missmutig die Augen. »Ich kann's nicht glauben. Da frage ich einmal in meinem Leben eine Frau, ob sie mich heiraten will - und sie nimmt es mir auch noch übel.«

Und wie sie es ihm übel nahm.

»Ich hab's dir schon einmal gesagt, dass die Art, wie du mit Frauen umgehst, noch entwicklungsbedürftig ist.«

Er sah sie eindringlich an, doch bevor er etwas sagen konnte, klingelte sein Telefon. Er stieß einen kurzen Fluch hervor und zog sein Handy aus der Tasche.

»Was ist los?«, rief er mürrisch ins Telefon. Seine schlechte Laune hob ihre Stimmung ein klein wenig an. Was sie am wenigsten vertrug, war der amüsierte Ton, in dem er sie manchmal zu belehren versuchte, oder neuerdings der resignierte Ton, in dem er sich bereit fand, eine weitere Verantwortung auf seine Schultern zu laden.

Nein, sie war bestimmt nicht jemand, für den Matt Verantwortung übernehmen musste. Und das wollte sie auch nicht sein, so lange sie lebte. Was sie sich wirklich wünschte, war, dass er so verliebt in sie war, wie sie es zu ihrem größten Bedauern in ihn war. Und danach sah es nach den jüngsten Ereignissen unter dem Motto »toller Sex« nun leider überhaupt nicht aus.

»Du machst wohl Scherze«, sagte er, während er am Telefon zuhörte und sich gleichzeitig auf die Straße konzentrierte. »Okay, ich bin schon unterwegs. Höchstens zwanzig Minuten.«

Er beendete das Gespräch und sah Carly an.

»Antonio hat gerade seinen Wagen zurückgesetzt und ist Knight über den Fuß gefahren. Das heißt, wir haben noch einen Mann weniger.« Er sah sie an und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Zeit für das alles.«

Wenig später kamen sie bei ihrem Haus an. Die Scheinwerfer beleuchteten sein Motorrad, das noch dort stand, wo er es abgestellt hatte. Carly blickte zu den schwach erleuchteten Fenstern des großen weißen Hauses hinauf, in dem sie jetzt daheim war. In diesem Augenblick war sie so froh, das Haus zu sehen, dass ihr Tränen in die Augen traten.

Vielleicht hatten die Tränen aber auch ein wenig mit Matt zu tun.

Sie war so unglaublich verliebt in ihn, und er hatte sie einfach nur gern, wie er sagte. Wie erniedrigend und verletzend das war.

»Weißt du was? Ich glaube, du hattest Recht. Es ist doch keine so gute Idee, dass wir beide miteinander schlafen«, sagte sie, während sie die Wagentür öffnete. »Und nachdem wir uns ja jetzt einig sind, können wir es ja in Zukunft lassen.«

Sie stieg aus, knallte die Tür zu und ging den dunklen Hügel zu ihrem Haus hinauf. Die Laubfrösche begrüßten sie mit ihrem lauten Quaken - und die Insekten stimmten summend mit ein. Hoch über ihr thronte der bleiche Mond. Der ganze Himmel war von Sternen übersät. Die Luft war heiß und feucht und erfüllt vom Duft der Magnolien und von gemähtem Gras.

»Glaubst du wirklich, dass wir uns daran halten würden?«, erwiderte Matt, als er sie eingeholt hatte.

Carly sah ihn finster an. »Ich sehe jedenfalls kein Problem.«

»Ich schon.«

»Wie soll ich sagen - das ist wirklich Pech für dich.«

»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber wenn ich dich kurz erinnern dürfte, dass du es warst, die mich praktisch angefleht hat, dass ich mit dir ins Bett gehe. Wenn ich mich nicht irre, dann warst es du, die gesagt hat, sie hätte zwei Jahre keinen Sex mehr gehabt.«

»Na ja«, entgegnete Carly, »jetzt erinnere ich mich wieder, warum ich es so lange habe bleiben lassen.«

»Erzähl mir keine Märchen. Du bist doch gekommen - mehr als einmal.«

Carly hätte ihn umbringen können. »Na und? Glaubst du, dass du deswegen was Besonderes bist? Das schafft mein Vibrator auch.«

Matt blieb wie angewurzelt stehen. Carly spürte, wie sich sein Blick förmlich in ihren Rücken bohrte. Ha, sagte sie sich, daran hast du jetzt ein Weilchen zu knabbern, was?

Er holte sie wieder ein. »Also, ich habe jetzt genug von diesem Quatsch. Das ist deine letzte Chance. Willst du mich heiraten oder nicht?« Er klang so, als hätte er die Nase gestrichen voll. Doch das Gleiche galt auch für Carly - und sie hatte eine Stinkwut obendrein.

»Danke, nein.« Carly stellte fest, dass sie immer noch weiche Knie hatte, was sie nur noch wütender machte.

»Na gut, ich habe dich gefragt. Dann will ich diesen Blödsinn von wegen ich würde dich küssen und dann abhauen nie wieder hören.«

»Keine Angst, das wirst du nicht.«

»Was heißt das genau?«

»Denk mal scharf nach.«

Er gab keine Antwort. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

Vor Wut schäumend, warf ihm Carly einen kurzen Blick zu. »Ich dachte, du müsstest irgendwohin?«

»Muss ich auch. Ich begleite dich zuerst zum Haus.«

»Ich will aber nicht, dass du mich begleitest. Ich will, dass du gehst.«

»Tja, wie schade.«

»Weißt du, ich habe die Nase gestrichen voll davon, dass du dich immer als der große Boss und Beschützer aufspielst.«

»Ach, wirklich? Na ja, das wirst du wohl aushalten müssen.«

Sie erreichten die Treppe, und Carly eilte ohne zu zögern hinauf. Matt folgte ihr mit mürrischer Miene.

Das sanfte gelbe Licht auf der Veranda war warm und einladend. Sandra hatte die Vorhänge nicht zugezogen, und Carly stellte fest, dass das Wohnzimmer von der Veranda aus elegant und freundlich wirkte. Selbst das aus der Nähe eher finster wirkende Porträt ihres Urgroßvaters sah von hier draußen recht anheimelnd aus. Es sah ganz so aus, als hätte Sandra jede Lampe im Haus eingeschaltet, was aber kein Wunder war. Erst jetzt wurde Carly bewusst, dass Sandra wahrscheinlich ganz allein zu Hause war, als die Nacht hereinbrach.

Sie zog ihre Schlüssel aus der Tasche, und er nahm sie ihr ohne zu fragen aus der Hand, fand sofort den richtigen Schlüssel und sperrte die Tür auf. Als er aufmachte und einen Schritt zurücktrat, um sie eintreten zu lassen, ging das blecherne Summen der Alarmanlage los.

Okay, was das betraf, hatte Matt Recht gehabt; die Alarmanlage gab ihr tatsächlich ein Gefühl der Sicherheit. Genauso wie die Nägel, mit denen sie die Fenster im ersten Stock gesichert hatte.

Hugo hockte auf dem Schrank bei der Tür und wedelte mit dem Schwanz. Carly hob ihn hoch und wandte sich Matt zu, der hinter ihr eintrat.

»Gute Nacht«, sagte Carly mit Nachdruck.

Das Licht des Kronleuchters im Flur fiel auf sein finsteres Gesicht, so dass er etwas Bedrohliches an sich hatte, wie er aus verengten Augen und mit zusammengekniffenem Mund auf sie hinunterblickte. Sie kannte ihn jedoch zu gut, um sich noch von ihm einschüchtern zu lassen. Netter Versuch, dachte sie. »Ich wünsch dir noch eine angenehme Nacht.«

»Weißt du was, Curls? Du bist eine richtige Nervensäge«, erwiderte er mit hartem Blick und leiser Stimme.

Sie kannte diesen Gesichtsausdruck und diese Stimme genau. Er war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. Nun, umso besser. Sie hatte die ihre schon vor einer halben Stunde verloren.

»Und was bist du?«, fragte sie, als sein Handy erneut klingelte.

»Verdammt noch mal, hört denn das gar nicht mehr auf«, knurrte er und zog das Handy aus der Tasche. »Bin schon unterwegs«, murmelte er und beendete das Gespräch gleich wieder.

»Ich habe keine Zeit für das hier«, sagte er mit finsterer Miene. »Nicht heute Nacht. Wir sehen uns morgen.«

»Das wird sich zeigen«, sagte Carly und war sich bewusst, dass sie sich ein klein wenig kindisch benahm. Matt warf ihr noch einen kurzen Blick zu, ehe er sich abrupt umdrehte und hinausging. Sie schloss die Tür hinter ihm und eilte dann mit Hugo in den Armen in die Küche. Sie wusste nicht, wie lange der Wortwechsel mit Matt gedauert hatte, aber sie hatte bestimmt nicht mehr viel Zeit, bevor der Alarm losging.

Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, setzte Hugo nieder und tippte den Code ein. Der Warnton verstummte, sie stellte die Alarmanlage neu und sah sich um. Im Spülbecken lag noch Geschirr, doch ansonsten war die Küche aufgeräumt. Die Hintertür war versperrt. Die Vorhänge waren zugezogen. Einen Moment lang stand sie, auf die Arbeitsplatte gestützt, da und atmete tief durch, um alle Gedanken an das Desaster der vergangenen Stunden zu verdrängen, bevor Sandra sie sah und sofort gewusst hätte, dass irgendetwas Bedeutsames mit ihr und Matt geschehen war.

Gott, hatte sie etwa alles vermasselt?

Die Sache mit dem tollen Sex war leider total in die Hose gegangen. Irgendwann in der Hitze des Gefechts war ihr ein kleines ich liebe dich, Matt entschlüpft, und jetzt wusste er Bescheid. Und das Schlimmste war, dass sie ihm Leid tat.

Carly stöhnte frustriert auf. Nein, sie ertrug es einfach nicht, auch nur daran zu denken. Sie ging zum Kühlschrank hinüber, öffnete ihn und blickte hinein. Es wurde ihr bewusst, dass sie das Abendessen ausgelassen hatte. Stattdessen hatte sie Sex gehabt - aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Der Inhalt des Kühlschranks, der ihr eben noch verlockend erschienen war, reizte sie plötzlich überhaupt nicht mehr. Außerdem war sie sowieso nicht hungrig. Sie hatte weiche Knie und fühlte sich ziemlich matt. Sex konnte einen ganz schön müde machen - zumindest mit Matt war es so.

Es war ein einziges Feuerwerk gewesen.

Nein, nicht daran denken, sagte sie sich entschlossen und nahm sich eine Tüte Orangensaft. Sie schenkte sich ein Glas ein, trank einen Schluck und stellte die Tüte wieder in den Kühlschrank zurück. Jetzt musste sie erst einmal ihren Blutzuckerspiegel anheben, dann würde sie sich nicht mehr so fühlen, als wäre sie von einem Lastwagen überfahren worden. Und dann würde es ihr auch gelingen, Matt aus ihren Gedanken zu verbannen.

»Sandra! Ich bin wieder da«, rief sie und ging mit ihrem Glas zum zweiten Wohnzimmer hinüber, wo, wie sie hören konnte, der Fernseher lief. Sie konnte jetzt etwas Abwechslung gebrauchen, und die würden ihr Sandra und der Fernseher bieten -auch wenn Sandra sie bestimmt mit Fragen über ihren Abend mit Matt löchern würde.

Sandra gab keine Antwort. Sie war nicht mehr im Wohnzimmer, musste aber eben noch hier gewesen sein, denn neben ihrem Lieblingssessel lag eine Zeitschrift und auf dem Tisch davor stand eine offene Dose Diet Mountain Dew, ihr neues Lieblingsgetränk. Hugo hatte sich aus dem Staub gemacht, und es war völlig still im Haus - fast zu still. Normalerweise wäre Annie längst auf sie zugestürmt, um sie zu begrüßen. Sie vermisste den kleinen Hund sehr, was ziemlich bemerkenswert war, wenn man bedachte, dass er erst seit kurzer Zeit bei ihr lebte. Während Hugo für gewöhnlich seine eigenen Wege ging, war Annie eine treue Gefährtin. Unglaublich, dass sie irgendwo etwas Giftiges gefressen hatte. Gott sei Dank würde sie es überleben. Gleich morgen, sagte sich Carly, würde sie nach der Ursache suchen. Vielleicht hatte Miss Virgie etwas gegen die Mäuse ausgestreut.

»Sandra?«, fragte Carly und ging zum vorderen Wohnzimmer zurück. Da hörte sie plötzlich das Geräusch von fließendem Wasser. Sandra ließ sich offenbar gerade ein Bad ein. Natürlich, es war fast elf Uhr. Sandra duschte für gewöhnlich morgens, musste aber beschlossen haben, noch ein Bad zu nehmen, bevor sie zu Bett ging.

Carly nahm noch einen Schluck von dem Orangensaft und stellte erleichtert fest, dass sie schon geduscht hatte. Der Boiler war schon ziemlich alt - wieder etwas, das erneuert werden musste - und lieferte kaum genug heißes Wasser für zwei Vollbäder hintereinander.

Hugo kam wieder zurück und schlich um Carlys Füße herum, während sie einen Rundgang durch das Erdgeschoss machte, um die Lichter auszuschalten. Seit sie im Esszimmer auf einen Einbrecher gestoßen war, hielt sie sich nachts hier drin nicht gern allein auf - und das war auch an diesem Abend so. Auch das Wissen, dass Sandra oben war, nahm ihr nicht das mulmige Gefühl, das sie jedes Mal überkam, wenn sie im Esszimmer das Licht ausschaltete. Doch Strom war teuer, und sie konnten es sich nicht leisten, das Haus die ganze Nacht zu beleuchten wie einen Christbaum - auch wenn ihr die Dunkelheit insgeheim Angst machte. Dafür hatten sie ja die Alarmanlage. Als Carly noch einmal durch die Küche ging, um das letzte Licht im Erdgeschoss auszuschalten, sagte ihr das tröstliche rote Auge des Sicherheitssystems, dass die Anlage in Betrieb war und das Haus bewachte.

Nachdem es im Erdgeschoss dunkel war und Carlys Herz lächerlicherweise schneller zu schlagen begann, eilte sie die altmodische breite Treppe hinauf. Hugo lief ihr voraus; er schien es genauso eilig zu haben, in den ersten Stock zu kommen, wie sie selbst. Hier oben war es nicht besonders hell, doch die kleine Lampe über dem oberen Treppenabsatz war eingeschaltet, und auch das Licht im hinteren Badezimmer brannte, nachdem Sandra ja dort drinnen war. Und wenn sie erst in ihrem Zimmer war, rief sich Carly angesichts ihrer Beklommenheit in Erinnerung, konnte sie ja die Tür zusperren. Wenn man dann noch bedachte, dass die Fenster vernagelt waren und die Alarmanlage das Haus bewachte, so konnte man wohl sagen, dass ihr Zimmer ein absolut sicherer Ort war.

Sie wusste, dass es lächerlich war - aber seit sie hier in diesem Haus lebte, machte ihr die Nacht wieder Angst.

Carly verbannte diesen Gedanken ebenso aus ihrem Kopf wie die Gedanken an Matt, wenngleich ihr Letzteres nur zum Teil gelang, wie sie sich eingestehen musste. Sie holte tief Luft, nahm noch einen Schluck Orangensaft zur Beruhigung und begab sich raschen Schrittes zu ihrem Zimmer. Sie fühlte sich schon wieder etwas besser, jetzt, da sie sich nicht mehr im Dunkeln bewegen musste. Hugo, der den gewohnten Ablauf bereits gut kannte, ging ihr voraus. Das Badezimmer, in dem sich Sandra aufhielt, lag zwischen ihren beiden Zimmern. Unter der Tür war Licht zu erkennen, genau wie Carly vermutet hatte. Die Tür zu Sandras Zimmer war geschlossen, die zu ihrem Zimmer hingegen nur angelehnt, so wie sie sie zurückgelassen hatte. Beide Zimmer waren dunkel. Außer dem Licht im Flur und dem Licht, das aus dem Badezimmer herausdrang, war es völlig dunkel im Haus.

Und das hatte nicht irgendeinen unheimlichen Grund, wie Carly sich vorsagte, sondern kam allein daher, dass sie selbst alle Lichter ausgeschaltet hatte.

»Sandra, ich bin wieder da!«, rief sie erneut.

Keine Antwort. Wahrscheinlich konnte Sandra sie nicht hören, weil das fließende Wasser so laut rauschte.

Hugo blieb vor der Tür zu ihrem Zimmer stehen, sah sich nach ihr um und miaute. Ihr Miauen klang irgendwie seltsam, fand Carly.

Carly verlangsamte ihre Schritte. Das Wasser lief nun schon sehr lange - die Wanne hätte eigentlich längst voll sein müssen ...

»Sandra?«

Hugo scharrte an der Badezimmertür. Sie ging einige Zentimeter weit auf, gerade weit genug, damit Carly erkennen konnte, dass der Duschvorhang zugezogen war, so dass er die altmodische, auf Klauenfüßen ruhende Wanne fast vollständig umgab. Der Vorhang ließ jedoch eine kleine Lücke frei, durch die Carly ein Stückchen von Sandras Kopf erkennen konnte, der am Rand der Wanne ruhte.

Sandra nahm ein Bad im fließenden Wasser und hatte dabei den Duschvorhang zugezogen?

Hugo, der für so etwas wie Privatsphäre nicht viel übrig hatte, ging zur Wanne hinüber und miaute.

»Sandra?«

Sandra rührte sich nicht.

»Sandra?«, rief Carly noch einmal und stieß die Tür weit auf. Das Rauschen des fließenden Wassers hallte von den Badezimmerfliesen wider. Der Wasserdampf, der die Luft erfüllte, hatte den Spiegel beschlagen.

»Sandra?«

Keine Reaktion. Nichts. War Sandra vielleicht in der Wanne gestürzt? Oder...?

Bei diesem Gedanken stürmte Carly sofort zur Wanne hin, riss den Vorhang zurück und erstarrte. Sie hielt den Atem an, und ihr Herz machte einen Sprung. Sandra lag vollständig bekleidet in der Wanne; die Knie waren gebeugt, und ihr Kopf lag schlaff am Rand der Wanne. Ihre Fußknöchel waren mit einem Strick zusammengebunden. Ihre Hände waren hinter dem Rücken verborgen; Carly zweifelte nicht daran, dass sie auch an den Händen gefesselt war. Sie war völlig durchnässt, und von ihrem Gesicht tropfte Blut in das rötlich gefärbte Wasser herab, das sich knöcheltief ansammelte, ehe es im Abfluss verschwand. Ihr Mund war von einem Stück Klebeband verschlossen.

Carly stieß einen erschrockenen Laut aus. Sandras Augen öffneten sich. Sie blinzelte, wahrscheinlich ohne etwas zu erkennen.

»Sandra! Mein Gott, Sandra, was ist denn passiert? O Gott, o mein Gott.«

Carly beugte sich über die Wanne und griff nach dem Klebeband über Sandras Mund, als Sandras Augen, die zuerst benommen auf ihr Gesicht gerichtet waren, plötzlich etwas anderes zu erblicken schienen - etwas, das sich hinter Carly befand. Ihre Augen weiteten sich plötzlich, und ihr Blick war voller Angst.

Carly wusste in diesem Augenblick, dass irgendetwas - oder jemand - hinter ihr war.

Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Sie richtete sich jäh auf und wirbelte herum.