14
»Ich glaube, so was nennt man Fahrerflucht«, sagte Sandra mit leichtem Unbehagen. »Und das war noch dazu der Briefkasten des Sheriffs. Es ist wahrscheinlich keine Kleinigkeit, den Briefkasten des Sheriffs umzufahren und dann einfach abzuhauen.«
»Der Sheriff kann mich mal«, sagte Carly und fuhr weiter.
»Oho, ist da vielleicht heute Morgen jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden?«, bemerkte Sandra und fügte mit einem vielsagenden Blick hinzu: »Oder kann es sein, dass da jemand auf den flotten Sheriff steht?«
Carly gab keine Antwort, sondern trat noch etwas kräftiger auf das Gaspedal. Sandra musste sich an der Halteschlaufe festhalten, als der Lieferwagen schaukelnd und rumpelnd auf die Hauptstraße auffuhr - und zwar ungefähr doppelt so schnell, als es hier erlaubt war.
»Ich dachte, du wolltest heute nach Chicago zurückfahren. Oder wer war denn das, der letzte Nacht noch gemeint hat: >Solche alten Häuser sind mir unheimlich und ich hab genug von dieser Einöde hier<?«, fragte Carly beißend.
»Ich habe beschlossen, Benton noch eine Chance zu geben«, antwortete Sandra mit unschuldiger Miene.
Carly schnaubte verächtlich. »Könnte es nicht vielleicht sein, dass da jemand auf den flotten Sheriff-Stellvertreter steht?«
Carly dachte nicht daran, Gas wegzunehmen, als sie durch das kleine Ortszentrum von Benton brauste, das, gottlob, völlig verlassen war, nachdem alle entweder in der Kirche waren oder sich zumindest nicht beim Schwänzen erwischen lassen wollten.
Sandra reagierte auf Carlyj Bemerkung keineswegs verärgert, sondern grinste nur. »Na ja, ich hab nun mal was übrig für Männer, die gutes Essen zu schätzen wissen. Ich gebe ja zu, dass der Sheriff-Stellvertreter nicht ganz so flott aussieht wie dein Sheriff - aber wer weiß, vielleicht können wir uns ja am Ende beide den Richtigen angeln.«
»Ich will mir aber niemanden angeln.«
»Ich schon. He, ist das da vor uns eine rote Ampel, oder bilde ich mir das nur ein?«
Die Warnung war unnötig. Carly war bereits auf die Bremse getreten. Sie hatte etwas spät bemerkt, dass Benton eine neue Verkehrsampel bekommen hatte - und es war ihr allein deshalb aufgefallen, weil der Wagen der beiden Sheriff-Stellvertreter davor stand, ohne zu ahnen, dass er Gefahr lief, von hinten gerammt zu werden.
»Bist du vielleicht schlecht aufgelegt oder was?«, rief Sandra erschrocken aus, als der Lieferwagen nur wenige Zentimeter hinter der Stoßstange des Streifenwagens zum Stillstand kam. »Also weißt du, heute ist kaum Verkehr, es regnet nicht, und es ist auch nicht dunkel. Vielleicht sollte ich fahren.«
»Wenn ich das nächste Mal eine gewisse Todessehnsucht verspüre, lasse ich dich vielleicht ans Lenkrad. Außerdem bin ich nicht schlecht aufgelegt. Ich hab's nur verdammt eilig, endlich aus diesem verdammten Wagen rauszukommen.«
Das war nicht einmal gelogen. Nachdem die Klimaanlage ausgefallen war und die Sonne hereinbrannte, war es im Führerhaus unerträglich heiß. Da Hugo offensichtlich immer noch die feste Absicht hatte, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Reißaus zu nehmen, konnte sie auch die Fenster nur einen Spalt öffnen. Dazu kam, dass der unglückliche verängstigte Hugo jede Menge Haare verlor und ihr mit seinem buschigen Schwanz ständig in ihrem verschwitzten Gesicht hin und her wedelte.
»Wem sagst du das«, antwortete Sandra.
Die Ampel sprang auf Grün um, und der Streifenwagen fuhr gemächlich los. Carly stieg aufs Gas und folgte den beiden Männern.
»Weißt du, diese Katze verliert büschelweise Haare. Meinst du nicht ...«, sagte Sandra, während der U-Haul-Lieferwagen Fahrt aufnahm.
»Nein«, fiel ihr Carly ins Wort. Sie hatten diese Diskussion bereits des öfteren geführt, als sie ihre Pläne für die Frühstückspension schmiedeten. Sandra hatte eine Abneigung gegen Katzen. Und Carly hatte eine Katze. Doch Carly war in diesem Punkt nicht bereit, auch nur einen Millimeter nachzugeben. Sandra würde sich mit der Katze abfinden müssen.
»Na gut. Aber nur damit du's weißt - du bist für das Staubsaugen zuständig.«
»Gut.«
Die First Baptist Church tauchte auf der linken Straßenseite auf. Es handelte sich um ein kleines Backsteingebäude mit einem hohen Kirchturm. Der große Parkplatz hätte auch für ein durchschnittliches Fußballstadion ausgereicht - und er war voll. Als Carly vorüberfuhr, hatte sie plötzlich eine Vision von kleinen Teufeln, die sie mit Mistgabeln verfolgten, weil sie nicht in der Kirche war. Sie stieg aufs Gas.
»Solltest du je wieder vorhaben zu heiraten, könnte die Katze ein Problem sein. Es gibt viele Männer, die keine Katzen mögen.«
»Da kann man nichts machen. Ich sehe das so: Wer mich mag, muss auch meine Katze mögen.« Carly hielt inne, um Hugos Schwanz von ihrem Mund zu entfernen. »Außerdem habe ich nicht vor, noch einmal zu heiraten. Das habe ich hinter mir.«
»Ja.«
Sandra konnte deshalb so gut nachfühlen, was Carly empfand, weil sie selbst eine gescheiterte Ehe hinter sich hatte. Als Carly vor vier Jahren ihr Restaurant eröffnet hatte, war Sandra ihre erste Mitarbeiterin gewesen. Sandra hatte damals gerade mit ihrer Scheidung zu kämpfen und war dementsprechend mürrisch und deprimiert. Carly hatte sie als Kellnerin engagiert - doch wenn Sandra etwas nicht war, dann eine gute Kellnerin. Wenn sich zum Beispiel ein Gast darüber beschwerte, dass irgendeine Soße einen seltsamen Geruch hätte, dann konnte es schon vorkommen, dass Sandra ihm antwortete, das Einzige, was hier einen seltsamen Geruch habe, sei er selber. Carly war schon drauf und dran, sie zu feuern, als ihr sündteurer Küchenchef an einem hektischen Samstag Abend in der Küche ausrastete und davonlief. Während Carly verzweifelt versuchte, das restliche Küchenpersonal, das ebenfalls bereits stark gestresst schien, zusammenzuhalten, tauchte plötzlich Sandra in der Küche auf. Sie weigerte sich, ein Boeuf Stroganoff zu servieren, das, wie sie sich ausdrückte, wie Hundekotze aussehe. Sie schob den verdutzten Souschef zur Seite und begann selbst zu kochen - und das wie eine wahre Meisterin. Carly verfolgte staunend, wie Sandra an diesem Abend ein köstliches Gericht nach dem anderen hervorzauberte - und ihre Gäste waren sichtlich zufrieden. Als der Abend zu Ende ging, machte sie Sandra zu ihrer neuen Küchenchefin. Danach half sie Sandra, ihre Scheidung zu bewältigen, und Sandra tat etwas später das Gleiche für sie. Sie führten gemeinsam das Restaurant, und als sie infolge von Carlys Scheidung alles verloren, schmiedeten sie Pläne für einen Neuanfang. Vor zwei Tagen war Carly aus der kleinen Wohnung ausgezogen, die sie gemietet hatte, nachdem sie ihre schicke Eigentumswohnung im Zuge der Scheidung verloren hatte. Sandra zog ihrerseits aus dem kleinen Haus aus, in dem sie zusammen mit einer Tante und einer Cousine die letzten drei Jahre gewohnt hatte, und so packten sie all ihre Habseligkeiten und Carlys Kater in den Lieferwagen und fuhren nach Benton, Georgia.
»Okay«, sagte Sandra nach einigem Überlegen, »wir wollen vielleicht nicht wieder heiraten - aber das heißt noch lange nicht, dass wir nichts mehr mit Männern zu tun haben wollen. Mit Männern kann man doch auch Spaß haben. Zumindest mehr Spaß als mit einem Vibrator.«
»Wer sagt das?«
»Hat dir ein Vibrator schon mal ein Geschenk mitgebracht? Oder dir die Füße massiert? Willst du mir etwa weismachen, du würdest nicht gern mal ein kleines Schäferstündchen mit diesem Sheriff einlegen? Ich hab doch gesehen, wie du ihn angestarrt hast.«
»Verdammt, Sandra ...« Carly sah ein, dass es zwecklos gewesen wäre, empört zu reagieren, deshalb entschied sie sich für die halbe Wahrheit. »Also gut, er sieht ja ganz nett aus, das ist mir auch aufgefallen. Na und? In seinem Fall täuscht das Aussehen aber. Glaub mir, ich kenn mich da aus.«
»Na, und wenn schon«, murmelte Sandra nicht recht überzeugt und griff wieder nach der Halteschlaufe, als Carly ziemlich zügig die nächste Kurve nahm. »Für mich sind Männer wie Schuhe. Es ist alles andere als einfach, welche zu finden, die einem wirklich passen. Wenn man doch einmal fündig wird, dann heißt es zugreifen, bevor es jemand anders tut.«
»Gute Philosophie.« Wenn Männer wirklich wie Schuhe waren, dann war Matt wie ein Paar todschicke Schuhe mit Pfennigabsätzen, die aber absolut unbequem zu tragen waren.
»Also, Antonio, der ist Löwe. Ich hab ihn danach gefragt. Fisch und Löwe - also, bei dieser Kombination, da sprühen die Funken. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ein paar Funken würden mir nicht schaden«, sagte Sandra und wandte sich Carly zu. »Weißt du zufällig, wann der Sheriff Geburtstag hat?«
Natürlich wusste Carly das. Es war der 16. November. Jahrelang war es eine der wichtigsten Fragen in ihrem Leben gewesen, was sie ihm schenken sollte.
»Nein«, sagte sie. »Übrigens, wenn du Antonio schon gefragt hast, wann er Geburtstag hat - hast du ihn da vielleicht auch gleich gefragt, ob er zufällig ^erheiratet ist?«
Sandra sah sie entgeistert an. »Das hab ich vergessen zu fragen. Ich versteh nicht, warum ich daran nicht gedacht habe.«
»Na toll. An das Wichtigste denkst du zuletzt.«
Nach der nächsten Biegung tauchte auf dem Hügel zur Rechten das Haus von Carlys Großmutter auf - nein, es war jetzt ihr Haus. Carly erkannte, dass es ihr nicht leicht fallen würde, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Jetzt, in der strahlenden Sonne, wirkte das Haus inmitten der alten Bäume malerisch und heimelig und ganz und gar nicht unheimlich. Einen beunruhigenden Moment lang dachte Carly an den Einbrecher zurück und daran, welche Ängste sie in der vergangenen Nacht ausgestanden hatte - doch dann sah sie den Streifenwagen den Hügel hinauffahren und erinnerte sich daran, dass Matt und seine Leute die ganze Gegend durchkämmt hatten und nichts Ungewöhnliches finden konnten. Bei allen Fehlern, die Matt haben mochte - und sie wollte gar nicht damit anfangen, sie sich alle in Erinnerung zu rufen, weil sie dann wahrscheinlich den ganzen Tag und die ganze Nacht zu nichts anderem mehr gekommen wäre -, war sie doch überzeugt, dass er sie sofort darauf aufmerksam machen würde, wenn sie in ihrem Haus nicht hundertprozentig sicher wäre. Jedenfalls würde sie sich von diesem nächtlichen Einbruch nicht davon abhalten lassen, hier ihr neues Leben zu beginnen.
Als sie auf den Streifenwagen zufuhr, der vor dem Haus angehalten hatte, stiegen die beiden Sheriff-Stellvertreter aus und kamen auf den Lieferwagen zu. Der stämmige dunkelhäutige Antonio sah aus, als würde ihn irgendetwas bedrücken. Mike hielt sich eine Hand über die Augen, um sie vor der Sonne abzuschirmen. Der gut gebaute und - abgesehen von dem schauderhaften Bürstenhaarschnitt - recht gut aussehende junge Mann sah den Wagen, in dem die beiden Frauen saßen, ebenfalls ziemlich skeptisch an.
»Bilde ich mir das ein, oder sehen die beiden wirklich irgendwie bedrückt aus?«, fragte Carly und stellte den Motor ab.
»Vielleicht haben sie das mit dem Briefkasten mitbekommen«, mutmaßte Sandra ein wenig unsicher, während die beiden Männer näher kamen.
»Das kann ich mir nicht...«, begann Carly und hielt erschrocken inne, als Sandra die Tür öffnete. Doch es war schon zu spät. Hugo erkannte sofort die Gelegenheit, zu entwischen, und schoss wie ein Pfeil ins Freie hinaus. Carly versuchte vergeblich, ihn zurückzuhalten.
»Tut mir Leid«, sagte Sandra und verzog schuldbewusst das Gesicht, während sie aus dem Wagen stieg.
»Schon gut«, sagte Carly und atmete tief durch.
Solange nicht irgendein wild gewordener Köter auftauchte, hatte Hugo wahrscheinlich nichts zu befürchten.
»War das die Katze?«, fragte Mike, nichts Gutes ahnend.
»Ja«, antwortete Sandra und verdrehte die Augen.
»Oh, Mann, das war vielleicht ein Spektakel«, sagte Mike grinsend. »Sie hätten Matt sehen sollen, wie er ...«
Er sprach den Satz nicht zu Ende, nachdem Antonio ihn unsanft mit dem Ellbogen angestoßen hatte. Mike griff sich an die Rippen und sah Antonio vorwurfsvoll an. Doch im nächsten Augenblick grinste er schon wieder.
»Wollen Sie, dass wir ihn einfangen?«, fragte Antonio, zu Carly gewandt. Mike hörte abrupt zu grinsen auf und machte plötzlich ein ziemlich beunruhigtes Gesicht. Carly hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war.
»Nein«, sagte sie seufzend, »ich glaube nicht, dass das notwendig ist.«
Hugo war im Grunde in der gleichen Situation wie sie selbst. Auch er musste alles Gewohnte aufgeben und ganz neu anfangen, auch wenn es ihm schwer fiel.
»Zu Ihrer Information - wir haben ein Tempolimit hier in der Stadt, nämlich fünfundzwanzig Meilen«, sagte Antonio in sachlichem Ton. »Sie haben wahrscheinlich die Schilder nicht gesehen.«
Sandra murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
»Nein, hab ich nicht«, sagte Carly wahrheitsgemäß. Carly musste sich eingestehen, dass es einen kleinen Nachteil hatte, wenn man so geladen war, wie sie es seit vergangener Nacht ohne Zweifel war: Man hatte absolut kein Auge mehr für die kleinen Dinge des Lebens, wie zum Beispiel Verkehrsschilder.
Antonio nickte und wandte seine Aufmerksamkeit Sandra zu, worauf Carly aus dem Führerhaus des Wagens stieg. Sie blickte sich nach Hugo um - doch der war nirgends zu sehen. Gestern um diese Zeit wäre sie noch sehr besogt darüber gewesen. Sie machte sich immer noch Sorgen, wie ihr bewusst wurde, doch sie fand sich mit der Situation ab. Es war nun einmal so, dass sie und Hugo ins kalte Wasser gesprungen waren - und jetzt musste sich zeigen, ob sie schwimmen konnten. Sie hätte sich eine so radikale Änderung der Lebensumstände nicht unbedingt gewünscht - doch vielleicht würde ihnen beiden gerade das gut tun. Es war eine dieser berühmten Gelegenheiten, zu wachsen und Erfahrung zu sammeln, von denen man die Leute immer wieder reden hörte - vor allem in diesen Fernseh-Talkshows, für die Carly viel zu viel Zeit gehabt hatte, nachdem es mit dem Treehouse vorbei war.
Carly musste sich eingestehen, dass sie ihr Restaurant vermisste, genauso wie ihre frühere Wohnung, ihren Wagen und das Geld, das sie einst auf dem Konto hatte. Eines jedoch vermisste sie überhaupt nicht, wie sie ein wenig überrascht feststellte, nämlich ihren Exmann John. Rückblickend sah sie mit absoluter Klarheit, dass es in dieser Ehe immer nur darum gegangen war, Sicherheit, Erfolg und einen gewissen Status im Leben zu erreichen - und nie um so etwas wie Liebe oder Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie fragte sich, wie ihr Leben ohne ihn sein würde. Nun, dachte sie voller Entschlossenheit, in ihrem Leben ohne ihn würde sie endlich so sein können, wie sie immer schon sein wollte.
Plötzlich taten sich endlose und faszinierende Möglichkeiten vor ihr auf.
Als Carly um den Wagen herumging, hörte sie Sandra sagen: »Das ist wirklich nett von euch. Wie wär's, wenn ihr irgendwann diese Woche mal mit euren Frauen zum Essen vorbeikommt -als eine Art Dankeschön?«
Carly kannte Sandra gut genug, um zu wissen, dass die resolute Frau nicht ohne Grund in einem so ungewohnt süßlichen Ton sprach.
»Ich bin nicht verheiratet«, sagte Mike. »Aber gegen ein gutes Essen hätte ich nichts einzuwenden.«
»Ich auch nicht«, sagte Antonio. »Ich meine, ich bin Witwer, aber zum Essen würde ich gern kommen. Sie sind wirklich eine tolle Köchin.«
»Danke«, sagte Sandra mit einem strahlenden Lächeln und warf Carly einen kurzen Blick zu, der so viel bedeutete, als hätte sie mit dem Daumen nach oben gezeigt. Eines musste Carly ihrer Freundin lassen: Sie wusste, was sie wollte, und sie tat etwas dafür, dass sie es auch bekam.
»Die beiden netten Männer«, sagte Sandra, »wollen uns helfen, unsere Sachen abzuladen.«
»Das ist wirklich nett«, sagte Carly, »aber können Sie das wirklich einrichten? Ich will nicht, dass Sie Schwierigkeiten bekommen, weil Sie in der Dienstzeit...«
Carly hätte die Hilfe der beiden Männer durchaus gebrauchen können, doch sie dachte sich, dass es wahrscheinlich gewisse Vorschriften gab, was die Leute im öffentlichen Dienst während der Dienstzeit zu tun hatten und was nicht.
»Wir sind nicht im Dienst«, versicherte ihr Mike. »Außerdem hat Matt gesagt, dass wir Ihnen helfen sollen.«
Carlys Augen verengten sich.
»Wir tun es wirklich gern«, fügte Antonio hastig hinzu. »Da wir gerade von Matt sprechen, er hat mich soeben über Funk gefragt, ob wir zufällig wissen, was mit seinem Briefkasten passiert ist. Anscheinend hat ihn irgendein Nachbar angerufen und ihm gesagt, dass der Briefkasten auf dem Boden liegt. Er hat doch noch gestanden, als wir wegfuhren, da bin ich mir ziemlich sicher. Zumindest glaube ich, dass es uns aufgefallen wäre, wenn ihn jemand umgefahren hätte. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen, als Sie wegfuhren? Der Briefkasten stand gleich bei der Zufahrt zum Haus.«
Sandra machte ein Gesicht, als hätte sie eine Kröte verschluckt.
»Es wäre uns bestimmt aufgefallen, wenn ihn jemand umgefahren hätte«, antwortete Carly und legte mit einem unschuldigen Lächeln ihre Hand an Sandras Ellbogen. Es war immer ein gutes Gefühl, wenn man die Wahrheit sagte, dachte sie. Als Matts Briefkasten umgefahren wurde, hatten sie und Sandra es sehr wohl bemerkt. Sie war nur nicht bereit, zuzugeben, dass sie selbst es getan hatte. Sie dachte sich, dass alles, was ein wenig Ärger in Matts Leben brachte, eine mehr als verdiente Buße für den Ärger war, den er ihr bereitet hatte.
»Das denke ich mir auch«, bestätigte Antonio achselzuckend. »Wenn Sie den Wagen hinten aufmachen, dann können wir mit dem Abladen anfangen.«
Carly holte tief Luft, um das Angebot abzulehnen; es ging einfach nicht an, eine Hilfe anzunehmen, die indirekt von Matt kam. Doch bevor sie etwas sagen konnte, trat ihr Sandra auf die Zehen.
»Au!«, rief Carly und zog ihren schmerzenden Fuß zurück.
»Oh, tut mir Leid«, sagte Sandra heuchlerisch. Sandra nahm Carly die Schlüssel ab und gab sie mit einem strahlenden Lächeln an Antonio weiter. »Wir wissen das wirklich zu schätzen, danke vielmals.«
»Kein Problem«, sagte Antonio und ging mit Mike ans hintere Ende des Lieferwagens.
»Bist du verrückt? Untersteh dich, ihnen zu sagen, dass wir keine Hilfe brauchen«, zischte Sandra Carly zu, als sie allein waren. »Heute Vormittag ist es heiß wie in einem Backofen. Wenn du unbedingt hier schuften willst, dann kannst du das ohne mich tun. Was hat dir der Sheriff denn getan, dass du so wütend auf ihn bist?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ja, ja.« Sandra wandte sich ab und holte ihre und Carlys Reisetasche aus dem Wagen; sie vergaß auch nicht die Pfanne, die sie in der vergangenen Nacht so ausgiebig geschwungen hatte. »Komm schon, fangen wir an, bevor die beiden merken, wie heiß es ist, und abhauen.«
Carly machte ein säuerliches Gesicht, doch sie musste zugeben, dass Sandra Recht hatte. Sie hob ihre Reisetasche auf, die so schwer war, als wäre sie mit Blei gefüllt, und trottete den Hügel hinauf - gefolgt von Sandra, Mike und Antonio. Mike trug mehrere Besen und Mopps sowie den Staubsauger, während Antonio mit verschiedenen Kisten beladen war.
Es war ein drückend heißer Tag. Carly spürte die Feuchtigkeit, die in der Luft hing, bei jedem Schritt den Hügel hinauf. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Vögel sangen, die Grillen zirpten, und die Stechmücken strömten in Scharen herbei, um sich ihre Opfer zu suchen. Wenigstens boten die dichten Baumkronen einen gewissen Schutz vor der sengenden Sonne. Als Carly die Veranda erreichte, war sie so weit, dass sie den feuchtheißen Sommer hier im Süden liebend gern gegen die kühle Brise des Michigansees eingetauscht hätte. Sie hatte ganz vergessen, wie heiß der Juli in Georgia sein konnte.
»Ich hab mein Handy gefunden«, verkündete Sandra triumphierend. Carly drehte sich zu Sandra um, die grinsend ihr Handy hochhielt. Sandra leuchte wie eine Dampflok und schwitzte aus allen Poren - dennoch hatte Carly sie nie glücklicher gesehen als in diesem Moment. Man brauchte kein Psychologe zu sein, um zu wissen, warum: Antonio hatte zu ihr aufgeschlossen und ging jetzt neben ihr her.
Es wurden eben tatsächlich neue Lebensgeister geweckt, wenn man sich für jemanden interessierte.
»Gut«, sagte Carly und stellte ihre bleischwere Tasche auf den Boden. Sie gab vor, auf die anderen zu warten, und betrachtete das alte Haus, das da vor ihr stand. Mit seinem achteckigen Turm, der breiten Veranda und den schönen Fensterläden strahlte das Gebäude den Charme des neunzehnten Jahrhunderts aus, was der neuen Verwendung als Frühstückspension durchaus förderlich sein konnte. Doch die Farbe blätterte schon ab, einige der Fensterläden hingen ein wenig schief, und das Verandadach hing an einem Ende etwas durch. Carly erinnerte sich daran, dass sie vergangene Nacht ein Tropfgeräusch gehört hatte, was darauf hindeutete, dass auch das Dach ausgebessert werden musste. Dann waren da noch die Wasserleitungen, die elektrischen Leitungen und ...
Wütendes Gebell zerriss die Stille. Zu ihrer größten Bestürzung sah Carly, wie Hugo unter der Veranda hervorgeschossen kam, verfolgt von dem Köter, der letzte Nacht schon hier war. Carly brauchte einen Augenblick, um sich aus ihrer Erstarrung zu lösen, dann riss sie Mike einen Besen aus der Hand und stürmte mit einem Kriegsruf, der jedem Indianerhäuptling zur Ehre gereicht hätte, los, um ihrer Katze beizustehen.
»Hugo!«
Als Carly, den Besen schwingend, die Stufen zur Veranda hocheilte, sah sie, wie Hugo sich auf die Lehne des kleinen Sofas flüchtete, wohin der Hund ihm nicht folgen konnte. Laut kläffend und bellend sprang er um die unerreichbare Katze herum.
»Böser Hund!«, rief Carly und schlug mit dem Besen direkt vor dem Hund auf den Boden. Das Tier jaulte auf, und im nächsten Augenblick sprang Hugo auf Carly zu. Der Besen flog hoch in die Luft, als die Katze gegen ihre Schulter prallte - in dem fehlgeschlagenen Versuch, in ihren Armen Schutz zu finden. Rückwärts taumelnd versuchte Carly die Katze aufzufangen ... und stürzte die Verandatreppe hinunter.
Hals über Kopf purzelte sie hinunter und bekam einen kurzen, aber anschaulichen Eindruck davon, wie es einem Fußball ergehen musste, ehe sie schließlich im dichten Gras landete. Einen Moment lang lag sie flach auf dem Rücken, während sich über ihr alles drehte. Dann spürte sie plötzlich etwas Warmes und Feuchtes an ihrer Wange. Sie blickte zur Seite und sah sich Auge in Auge mit dem verdammten Hund.