PROLOG
Pulsierende, züngelnde Nebelschwaden
tauchten das Wohnzimmer in ein seltsames Licht. In dem matt
schimmernden Dunst konnte ich undeutlich Formen und
Schlingbewegungen in verschwommenen Farben erkennen. Der strahlend
goldene Schutzzauber des Hauses rankte sich wie freundlicher Efeu
um das seltsame Schauspiel.
Der Ort strahlte beinahe etwas Friedvolles aus.
Ich bezweifelte trotzdem, dass ich mich jemals daran gewöhnen
würde. Mara Danziger befand sich in der normalen Welt, während ich
mich im Grau aufhielt, aber ich konnte trotzdem das schlafende Kind
auf ihrem Schoß erkennen. Meine Freundin war umgeben von einem
Schleier aus blauem Licht und goldenen Funken. Ich konnte sie
hören, auch wenn es ein wenig so klang, als ob sie sich unter
Wasser befände.
»Dir ist sicher auch schon aufgefallen, dass du
jetzt nicht mehr aus Versehen einfach hineinstolperst«, meinte Mara
in ihrem typischen irischen Singsang. »Das ist wirklich gut. Siehst
du die Dinge eigentlich noch immer auf dieselbe Weise wie
zuvor?«
»Ja und nein«, antwortete ich und setzte mich auf
die Couch – die verschwommene Form einer Couch auf meiner Seite der
Welt -, um für einen Moment die Augen zu schlie ßen. »Wenn ich hier
drinnen bin, ist es nicht viel anders als
früher. Aber wenn ich draußen bin, kann ich das Grau jetzt
ansehen, ohne gleich hineinzustürzen. Außerdem erkenne ich
inzwischen auch Schichten und Farben … Die Menschen und die Dinge
haben … sie haben Farben bekommen – Fäden, Schlieren, Schleier.
Wenn ich will, kann ich sogar unter den Nebel tauchen und die
Energiestränge sehen.«
»Wirklich?«
»Ja. Der tiefere Teil des Grau ist wie … Na ja,
er besteht aus lauter hellen Linien – wie eine
Computeraufzeichnung.« Weiter sagte ich nichts. Ich wollte ihr
nicht erzählen, dass die Linien nicht nur Verbindungen oder Pfade
darstellten. Sie waren vielmehr lebendig und befanden sich in
ständiger Bewegung, aber ich hielt es für besser, ihr das zu
verschweigen.
Mara dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube,
das muss das Netzwerk sein. Du weißt schon – dieses Gitter, durch
das reine Magie fließt.«
»Und was sind das für Farben? Was bedeuten sie?«,
wollte ich wissen.
»Tut mir leid, aber diese Frage solltest du
eigentlich besser beantworten können als ich. Schließlich sehe ich
die magischen Kräfte nicht so wie du. Die Schleier stellen für mich
ganz eindeutig Auren dar, aber die anderen Farben … keine Ahnung.
Ich nehme an, dass es sich um Verbindungen handelt – wie
Stromkabel, die bestimmte Dinge im Grau miteinander verknüpfen.
Oder sie an das Netzwerk anschließen. Aber ganz sicher bin ich mir
nicht. Du kannst natürlich Ben fragen, falls er lange genug wach
bleiben sollte, wenn er heimkommt. Die Kurse an der Uni und das
Kind lassen uns kaum mehr Zeit, einmal richtig durchzuatmen.
Schrecklich anstrengend, kann ich dir sagen.«
Die Danzigers arbeiteten beide als Dozenten an
der University
of Washington in Seattle. Mara unterrichtete Geologie und Ben
Sprachen und Linguistik. Beide interessierten sich aber auch für
Übernatürliches und waren mir von Anfang an bei meinen Erfahrungen
mit dem Grau zur Seite gestanden. Ben galt als der Theoretiker,
während Mara als Hexe etwas praktischer an die Sache
heranging.
»Auf jeden Fall bist du schon viel besser als
noch vor einigen Monaten«, fuhr sie fort. »Aber fühlst du dich auch
besser?«
Ich holte tief Luft und schob das Grau von mir.
Dann öffnete ich die Augen und atmete langsam aus. »Mir ist jetzt
nicht mehr die ganze Zeit übel«, erwiderte ich. »Und zum Glück muss
ich ja auch nicht darin leben. Manchmal überwältigt es mich aber
noch, und ich stürze ohne Vorwarnung hinein. Meistens behalte ich
jedoch das Ruder in der Hand – und nicht das Grau.«
Mara lächelte mich von ihrem Platz auf dem Sofa
aus an. Ihre grünen Augen funkelten, als sie mit warnender Stimme
sagte: »Jetzt werde bloß nicht übermütig, Harper. Das Grau hat noch
ziemlich viele Tricks auf Lager. Das solltest du nie
vergessen!«
Ich schnaubte. Selbst zu diesem Zeitpunkt war das
wahrlich keine Neuigkeit mehr für mich.
Die Geschichte hatte vor einigen Monaten
begonnen. Mara und ich saßen auf den gegenüberliegenden Sofas im
Wohnzimmer der Danzigers und übten wie so oft meinen Umgang mit dem
Grau. Es war ein sonniger, gemütlicher Platz, der so gar nichts mit
der wabernden Nebelwelt des Grau zu tun zu haben schien – jenem
flüchtigen Ort, der wie ein Schattenreich zwischen der normalen und
der übernatürlichen Welt lag.
Das Grau war die Welt der Geister, der Vampire
und des dunklen Zaubers, und ich gehörte zu den wenigen, die dort
hinein- und wieder hinausgehen können. Es gab Menschen wie Mara –
also Hexen und so -, die das Grau in gewisser Weise berühren und
aus ihm Kraft oder auch Informationen gewinnen konnten. Aber soweit
ich wusste, lebten sonst nur Geister und diverse andere Ungeheuer
im Grau.
Was mich betraf, so befand ich mich die meiste
Zeit über halb drinnen und halb draußen. Ich konnte nicht zaubern
oder Geister exorzieren oder etwas ähnlich Cooles. Ich war ganz
einfach eine Grauwandlerin – ein Mensch, der das Grau betreten und
sich dort wie in der normalen Welt bewegen konnte. Zu diesem
Wandeln zwischen den Welten war ich allerdings erst in der Lage,
seitdem ich für einige Minuten meinen letzten Atemzug getan zu
haben schien.
Bisher konnte mir noch kein Mensch plausibel
erklären, warum mir und niemand anderem das passieren musste –
einem anderen, der ebenfalls durch die Wunder der modernen Medizin
dem Tod entronnen war. Aber ich schien die einzige Grauwandlerin im
Pazifischen Nordwesten zu sein. Offensichtlich gab es keine Heilung
oder irgendeine andere Möglichkeit für mich, nicht immer wieder ins
Grau zu müssen. Zum Glück brachten mir Mara und Ben bei, wie ich
das Ganze beherrschen konnte, um nicht ständig die Kontrolle zu
verlieren. Leider ließ sich das jedoch nicht immer vermeiden.
Meine Arbeit und das Grau schienen sich öfter als
mir lieb war zu überschneiden, und das stellte keine angenehme
Erfahrung dar. Als Privatdetektivin war ich normalerweise mit
ziemlich langweiligen Fällen beauftragt worden, aber nachdem mich
Geister und Vampire erst einmal ausfindig
gemacht hatten, konnte von Langeweile bald keine Rede mehr
sein.
Im Oktober – Monate nach jener ruhigen Stunde auf
der Couch – wünschte ich mir nichts mehr, als dass das Treffen, zu
dem ich gerade fuhr, völlig durchschnittlich und am besten sogar
langweilig verlaufen würde. Aber da ich von Ben empfohlen worden
war, der sich selbst als »Geister-Typ« bezeichnete, hegte ich nicht
viel Hoffnung.
Nur wenige Minuten nach meinem Eintreffen war
auch der letzte Rest verpufft.